Sven Zimmermann saß vor seinem Computer und haderte mit
seinem Schicksal. Soeben war er wieder einmal von seinem Abteilungsleiter nach Strich und Faden abgekanzelt worden, weil er die Präsentation, die am nächsten Tag auf der Abteilungsleiterkonferenz gehalten werden sollte, nicht rechtzeitig fertig gestellt hatte. „Ich brauche Mitarbeiter, auf die ich mich hundertprozentig verlassen kann!“, hatte sein Chef wütend ausgerufen. Als sich Sven dann erboten hatte, bis zum Ende der Woche jeden Tag eine Stunde länger zu bleiben, um die Arbeit fertig zu stellen, hatte er kopfschüttelnd hinzugefügt: „Was nützt mir eine Präsentation, wenn ich sie erst dann bekomme, wenn schon alles vorbei ist?“ „Ich möchte, dass Sie das, was Sie bisher erarbeitet haben, sofort an Herrn Wieland übergeben“, hatte er ihm noch aufgetragen und damit Sven endgültig blamiert. Der wusste nämlich nicht so recht, was er eigentlich dem Auszubildenden Wieland übergeben sollte. Um die Wahrheit zu sagen, hatte er mit der Arbeit noch nicht einmal begonnen. Er konnte selbst nicht sagen, warum das so war, denn er hatte eigentlich keine anderen wichtigen Aufgaben zu erledigen gehabt. Aber immer, wenn er sich mit dem Projekt befassen wollte, hatte er tausend Vorwände gefunden, es dann doch lieber bleiben zu lassen und sich stattdessen mit angenehmeren Dingen zu beschäftigen.
So war es nicht weiter erstaunlich, dass sich Sven schon am Ersten des kommenden Monats in der Poststelle der Versicherung wieder fand, natürlich nach vorangegangener Abmahnung und mit einer empfindlichen Kürzung seines Gehaltes. Man hatte ihn vor die Wahl gestellt, entweder die Versicherung ganz zu verlassen oder aber den gerade frei gewordenen Job in der Poststelle zu übernehmen. Um nicht ganz ins Leere zu fallen, hatte er sich zunächst einmal für die Poststelle entschieden, aber natürlich dachte er nicht im Traum daran, in den nächsten Jahren eine Arbeit zu verrichten, die eigentlich jeder Trottel tun konnte. Dafür hatte er nicht an der Hochschule Betriebswirtschaftslehre studiert. Und schon gar nicht war er bereit, Herrn Hansen, den Leiter der Poststelle, als seinen Vorgesetzten zu akzeptieren. Das wäre ja noch schöner, verfügte dieser Mann doch nur über eine lächerliche kaufmännische Berufsausbildung.
Herr Hansen war nicht gerade begeistert von seinem neuen Mitarbeiter, von dem er schon so einiges gehört hatte, aber was sollte er gegen die Entscheidung der Direktion tun? Nach dem Einweisungsgespräch ließ er Sven zunächst einmal in Ruhe. Er hatte ihm klar gemacht, dass er größten Wert darauf legte, dass alle eingehende Post umgehend verteilt und die ausgehenden Sendungen noch am selben Tag abgeschickt wurden und ging nun davon aus, dass er sich daran hielt. Sven hatte zwar genickt, sich dann aber nicht weiter darum gekümmert. Vielmehr hatte er seine Arbeit gleichmäßig auf die jungen Angestellten Willi Huber und Sonja Kaminski verteilt. Während die beiden zähneknirschend seine Arbeit erledigten, hatte er sich die tristen Bürostunden mit Kaffeetrinken, Computerspielen und Schüren von Bürointrigen vertrieben. Natürlich hatte es nicht lange gedauert, bis sich Willi und Sonja bei ihrem Abteilungsleiter beschwerten. „Wie kommen Sie dazu, Frau Kaminski und Herrn Huber Anweisungen zu erteilen und ihnen obendrein auch noch Ihre Arbeit aufzuhalsen?“, erkundigte sich dieser. Sven stotterte etwas von ‚delegieren’, bis Herr Hansen ihn wütend unterbrach „Der einzige, der in dieser Abteilung Anweisungen erteilt und Arbeit delegiert, bin ich. Merken Sie sich das gefälligst. Sie haben hier eine Sachbearbeiterstelle, nicht mehr und nicht weniger. Haben wir uns verstanden?“ Natürlich hatte Sven verstanden, doch statt sich von nun an um eine zügige Postabwicklung zu bemühen, verschwanden immer mehr Briefe und Päckchen in den unermesslichen Tiefen seines Schreibtisches und tauchten erst wieder auf, wenn die erbosten Nachfragen und Beschwerden aus den Abteilungen nicht länger ignoriert werden konnten.
Eines Morgens, als Sven gut gelaunt zur Arbeit erschien und ein bisschen mit seiner Kollegin Sonja plauderte, wurde er von Herrn Hansen in sein Büro gebeten. „Ich habe gestern Nachmittag als Sie schon weg waren, nach einem eiligen Brief gesucht, der schon vor drei Tagen von der Vertriebsabteilung erwartet worden war. Raten Sie doch mal, wo ich ihn gefunden habe?“, knurrte Herr Hansen böse. Sven spürte, wie er errötete, zuckte aber mit den Schultern. „Sie wissen ganz genau, dass nur Ihr Schreibtisch infrage kommt“, fuhr Herr Hansen fort. „Und Sie wissen auch, dass dieser Brief nicht der einzige ist, den Sie dort versenkt haben.“ Herr Hansen räusperte sich. „Wegen Ihrer Nachlässigkeit hat die Versicherung große Verluste erlitten, und das bedeutet, dass Sie für uns nicht länger tragbar sind.“ Erst jetzt bequemte sich Sven zu antworten. „Und was heißt das genau?“, wollte er wissen. „Das heißt, dass Sie fristlos entlassen sind. Ein entsprechendes Schreiben wird Ihnen gleich von der Personalabteilung gegen Unterschrift ausgehändigt werden.“ Sven schluckte und schaute den Vorgesetzten ungläubig an. „Das glauben Sie doch selber nicht. Nur weil ich es einmal nicht geschafft habe, die Arbeit noch am selben Tag zu erledigen, wird hier ein Theater veranstaltet, als ginge die Welt davon unter.“ „Es geht nicht nur um einmal, sondern in Ihrem Schreibtisch befinden sich etliche Briefe, die schon vor zwei Wochen und noch eher hier eingegangen sind, darunter auch Schadensmeldungen, die umgehend zu erledigen waren“, antwortete Herr Hansen. „Aber langer Rede kurzer Sinn, Herr Huber wird Sie jetzt zu Ihrem Arbeitsplatz begleiten, wo Sie Ihre persönlichen Sachen einpacken können. Ich wünsche Ihnen viel Glück für Ihre Zukunft.“ Erst jetzt bemerkte Sven den jungen Mann, der verlegen am Fenster stand und so tat, als gäbe es draußen auf der Straße irgendetwas besonders Interessantes zu sehen.
Einige Wochen waren ins Land gegangen. Sven saß im Zimmer seines Vermittlers bei der Agentur für Arbeit, der ihm helfen sollte, eine neue Arbeitsstelle zu finden. Er hatte zwar mit allen Mitteln gegen die fristlose Entlassung gekämpft, aber ohne Erfolg, zumal sich der Betriebsrat auch nicht gerade ein Bein für ihn ausgerissen hatte. Der Arbeitsvermittler blätterte in seiner Akte. „Also, Herr Zimmermann, ich hatte Ihnen ja drei Stellen vorgeschlagen. Wie ist es denn so gelaufen? Waren Sie erfolgreich?“ Sven rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. „Leider nicht“, murmelte er. „Und warum nicht, wenn ich fragen darf?“ „Weil, weil ich …“ Sven stammelte irgendetwas Unverständliches vor sich hin. „Entschuldigen Sie, aber ich habe nicht verstanden, was Sie gesagt haben. Könnten Sie bitte deutlicher sprechen?“, sagte der Vermittler, ahnte aber schon, was jetzt kommen würde, denn er hatte längst seinen persönlichen Eindruck von Sven gewonnen: unzuverlässig, faul und sich maßlos überschätzend. „Also, ich habe es nicht geschafft, den Vorstellungstermin wahrzunehmen“, sagte Sven. „Alle drei Termine nicht?“ „Nein, ich hatte nur einen Termin vereinbart. Die beiden anderen Stellen entsprachen nicht im Entferntesten meiner Qualifikation.“ Von welcher Qualifikation sprechen Sie überhaupt, Herr Zimmermann?“ „Nun, immerhin habe ich einen Bachelor in Betriebswirtschaftslehre“, antwortete Sven. Der Vermittler musste an sich halten, um nicht laut loszulachen. „Herr Zimmermann“, sagte er, „eine Qualifikation nur auf dem Papier genügt leider nicht, „Sie sind kein Berufsanfänger mehr. Darum sind die Betriebe in erster Linie an den Zeugnissen Ihrer früheren Arbeitgeber interessiert, und da haben Sie sich ja nicht gerade mit Ruhm bekleckert.“ „Wollen Sie damit sagen, dass ich zwei linke Hände habe?“, brauste Sen auf. Nun, wenn Sie es so ausdrücken wollen. Auf jeden Fall erwarte ich von Ihnen, dass Sie so schnell wie möglich auf den Boden der Tatsachen herunterkommen und sich in Zukunft auf alle freie Stellen, die ich Ihnen anbiete, bewerben.“
Natürlich passte es Sven nicht, dass sich dieser junge Schnösel – wie er ihn insgeheim nannte - anmaßte, ihm Vorschriften zu machen, wie er sein Leben zu leben hatte, schließlich war er ein freier Bürger dieses Landes. So kam es, dass er sich immer seltener bei seinem Vermittler blicken ließ, dem seinerseits nichts anderes übrig blieb, als die Leistungen einzustellen. Nach einiger Zeit wurde Sven aufgefordert, sich einer psychologischen Untersuchung zu unterziehen. Wie zu erwarten war kam er auch dort nie an.
*****
Zwei Tippelbrüder sitzen auf einer Bank in der warmen Frühlingssonne und unterhalten sich. Der eine hat einen Einkaufswagen aus dem Supermarkt vor sich stehen, in dem sich sein spärliches Hab und Gut befindet. Der andere wühlt in einer großen Plastiktüte mit seinen Habseligkeiten und fördert schließlich eine halbvolle Flasche Wodka zutage.
„Was du nicht sagst, Doc, im Management hast du also gearbeitet?“, sagt der mit der Wodkaflasche und nimmt einen kräftigen Zug. „Du musst besser hinhören, Manni“, antwortet der andere ungeduldig, ich habe Top-Management gesagt, das ist ein riesengroßer Unterschied.“ „Wenn du das sagst, dann wird das wohl so stimmen.“ Die Wodkaflasche wechselt den Besitzer. „Ah, ist das ein guter Stoff“, stöhnt Doc mit geschlossenen Augen, nachdem er sich auch einen gierigen Schluck genehmigt hat. Er wischt sich mit seinem zerschlissenen Mantelärmel über den Mund. „Du glaubst gar nicht, welche Verantwortung auf meinen Schultern gelastet hat, Verantwortung für über 500 Angestellte, und darüber hinaus musste ich auch noch den Aktionären Rede und Antwort stehen.“ Manni nickt beeindruckt. „Hattest du denn auch ne flotte Sekretärin, ich meine so was Schnuckeliges, wie man immer im Fernsehen und in den Illustrierten sieht?“ „Na klar, was glaubst du denn? Sonja hieß sie. Ach ja, dann waren da noch meine beiden persönlichen Assistenten: Wieland und Huber.“ „Wozu brauchtest du die denn?“ „Na, zum Delegieren, Manni. Als Spitzenmanager kannst du dich doch nur um höherwertige Aufgaben kümmern und hast für die Routinesachen keine Zeit.“ „Ach so ist das“, antwortet Manni, nachdem er einen weiteren Schluck Wodka konsumiert hat. Er gibt Doc die Flasche und denkt einen Moment angestrengt nach. „Was ich aber nicht verstehe, Doc: Warum hast du diesen tollen Job eigentlich aufgegeben oder ist das im Top-Management so üblich, dass man eine Auszeit nimmt, um als Pennbruder auf die Walz zu gehen?“ „Mensch, Manni, wie stellst du dir das denn vor? Für eine Auszeit hat man doch in einer solchen Position überhaupt keine Zeit.“ „Das dachte ich mir schon“, antwortet Manni und schaut verträumt hinüber zu dem großen Versicherungsgebäude,
Dort hat gerade die Mittagspause begonnen. Einige Angestellte kommen in den kleinen Park herüber und setzen sich auf die leeren Bänke, um die ersten Sonnenstrahlen des Jahres zu genießen. Einige haben belegte Brote dabei, die sie auspacken und verzehren. Plötzlich stößt Manni Doc mit dem Ellenbogen in die Seite. Kennst du den Typen da gegenüber, Doc? Wieso starrt der uns so an?“ Doc ist froh, dass Manni seine eigentliche Frage wieder vergessen hat. Der Mann gegenüber nickt ihnen freundlich zu. „Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so anstarre, aber Sie erinnern mich an jemanden, der hier früher mal gearbeitet hat“, richtet er das Wort an Doc. Sven Zimmermann war sein Name. Er war zuletzt in unserer Poststelle beschäftigt. Niemand weiß, was aus ihm geworden ist.“ Doc und Manni erheben sich umständlich von der Bank. „Ein Sven Zimmermann ist mir bislang noch nicht untergekommen“, antwortet Doc mürrisch und gibt seinem Einkaufswagen einen kräftigen Stoß. „Mir auch nicht“, sagt Manni, während er die leere Wodka-Flasche in seiner Plastiktüte verstaut. Dann setzen sich beide gemächlich in Bewegung. „Einen schönen Tag noch“, ruft ihnen Abteilungsleiter Wieland hinterher und beißt in sein Butterbrot. Nach einer Weile sagt er zu seinem Nachbarn: „Ich hätte schwören mögen, dass der mit den langen grauen Haaren und dem Siebentagebart Sven Zimmermann ist.“ „Tja, so kann man sich täuschen“, antwortet Abteilungsleiter Huber, „Sven Zimmermann hat sicher schon längst irgendwo Karriere gemacht. Bei seinem Talent, der Arbeit aus dem Wege zu gehen, kann er eigentlich nur ganz oben gelandet sein.“ Sie schauen sich an und fangen an zu lachen.
Doc und Manni gehen noch ein paar Schritte zusammen. Dann verabschieden sie sich von einander. „War schön, dich mal wieder getroffen zu haben“, sagt Doc und klopft Manni auf die Schulter. „Wo soll’s denn diesen Sommer hingehen?“, fragt Manni. „Zunächst einmal nach Paris, und der Rest wird sich finden.“ „Wie kommst du denn gerade auf Paris?“ „Von dieser Stadt haben früher einige meiner Kollegen im Vorstand so sehr geschwärmt: Eiffelturm, Mulin Rouge und so weiter, du verstehst schon?“ „Ja, besonders und so weiter“, kichert Manni leicht angeheitert. „Wenn du schon mal da bist, dann wirf mal für mich ein paar Münzen in den Brunnen.“ „Das verwechselst du jetzt mit Rom, Manni.“ „Ob Rom oder Paris, darauf kommt’s doch gar nicht an. Mach’s gut Sven.“ „Du auch, Manni, bis zum nächsten Winter in unserem Obdachlosenheim.“
Tag der Veröffentlichung: 08.07.2011
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