Cover

Prolog - Wie alles begann


Prolog
Wie alles begann.



Seine skeptischen Blicke machen mich langsam nervös. Was habe ich denn bitteschön getan? Ich hab ihm ein Eis angeboten, und? Kann er nicht einfach ja oder nein sagen?
 „Eis?“, fragt er schließlich. Äh, ja, Eis.
 „Äh, ja, Eis …“, antworte ich sichtlich verwirrt. Ich hab eher eine Frage wie „Was soll der Scheiß?“ oder „Lenk doch nicht ab!“ erwartet. Stattdessen stellt er mir jetzt so eine unangebrachte Gegenfrage.
 „Was für ein Eis?“ Er schaut mich noch immer mit hochgezogenen Brauen an. Sind wir hier im Kindergarten? Kann Man(n) noch nicht Mal eine normale Unterhaltung führen …?
 Ich seufze schließlich. „Also, wir haben Vanille, Erdbeere, Himbeere …“
 Er stellt sich zu mir neben den Kühlschrank, den ich zuerst geöffnet hab. Gedankenverloren starrt er in das Eisfach und begutachtet die verschiedenen Packungen. Was ist denn mit dem los? Waren alle Leute aus dieser Gegend so? Dann grinst er. Ich seufze.
 „Kannst du dich nicht langsam Mal entscheiden? Sonst schmilzt uns das Eis hier drinnen noch weg …“
 „Himbeere.“ Eine einfache Antwort, war doch gar nicht Mal so schwer, oder?
 „Himbeereis für dich, Erdbeereis für mich …“, murmle ich und seufze noch einmal. Ziemlich unangenehm, diese Situation. Sonst haben wir nichts zu sagen, da wir uns ja nicht Mal richtig kennen …

 Wie das alles gekommen ist?

 Dieses Eisdesaster hat ja ursprünglich damit angefangen, dass Jonas in unsere Nachbarschaft eingezogen ist. Ein neuer Einwohner in einer voll bewohnten Straße, und alles ändert sich schlagartig. Denn zufälligerweise kennen meine Eltern die Maurers vom Studium. Und was heißt das für mich? Jeden Abend alleine vor der Glotze hocken und mich langweilen – was ich sowieso jeden Abend tue, aber jetzt ist es irgendwie noch langweiliger – da meine Eltern bei den Nachbarn drüben sind und ihre Studiumszeit noch einmal durchleben. Was heißt das für sie? Jeden Abend lachend am Tisch drüben im Keller neben der Kellerbar sitzen, sich vollaufen lassen und sich die guten, alten Zeiten wieder ins Gedächtnis rufen. Dabei können sie richtig peinlich werden, ich kann froh sein, dass die gesagten Erinnerungen schön im Keller bleiben und nicht an die Außenwelt dringen …! Denn was ich schon erzählt bekommen habe, das will ich lieber keinem meiner Freunde erzählen … sonst würden sie meine Eltern garantiert für peinlich halten.
 Da gibt’s nur ein Problem: ich habe leider keine Freunde. Nein, eigentlich tut’s mir ja nicht mal Leid. Ich brauch keine, weil ich sowieso nicht mit Menschen umgehen kann. Die einzigen Menschen, die ich an mich ranlasse sind meine Mutter, mein Vater und meine Schwester. Und die ist zwanzig und schon außer Haus. Ich bin also so gut wie alleine zu Hause, den ganzen lieben langen Tag. Und was heißt das wiederum für mich? Ja, genau, lernen, fernsehen, PC zocken, am Laufband meiner Mutter trainieren und hin und wieder einkaufen gehen. Ach ja, da gäbe es noch jemanden, den Kaufmann aus der Trafik. Der heißt Phil und kommt ursprünglich aus Amerika. Kann aber ziemlich gut Deutsch.
 Ja, und dann kommt da noch Jonas ins Spiel.
 Also, über den Typen gibt’s eigentlich nicht viel zu sagen, außer, dass er total auf Sport abfährt, zumindest im Fernsehen, sich alle fünf Minuten irgendwo im Spiegel betrachten und seine Stirnfransen richten muss, auf Hardrock steht, gerne solche kranken Autorennen auf seiner Playstation fährt und dabei immer höllisch zu grölen anfängt, und schlussendlich, sich gerne bis zum Koma betrinkt.
 Yo, das ist Jonas.
 Ach ja, etwas hab ich vergessen. Er ist der absolute Mädchenschwarm. Warum? Weil er höllisch gut aussieht!
 Hach, und ich mühe mich immer noch damit ab, auf meinen Passfotos ein halbwegs annehmbares Lächeln zu lächeln, und der schmeißt dir ein perfektes Promilächeln so nebenbei ins Gesicht. Da kann Man(n) schon Mal eifersüchtig werden.
 
Na ja, jetzt jedenfalls sitze ich hier am Tisch, beäuge mein Gegenüber ganz nebenbei, wie der gedankenverloren an seinem Löffel nuckelt und beim Fenster rausstarrt. Aufregend. Der Typ benimmt sich wie ein Kleinkind. Man könnte fast meinen, der wäre jünger als ich. Määäp, falsch. Der ist älter, um ein verdammtes halbes Jahr.
 „Habt ihr hier Schokosoße?“
 Seine Stimme reißt mich ganz aus meinen Gedanken. Völlig verblödet gaffe ich ihn jetzt an.
 „Was?“
 „Ob ihr hier Schokosoße habt!“
 Ich blinzle einmal, dann stehe ich auf. Schokosoße … schmeckt doch scheußlich auf Himbeereis. Na ja, das muss gerade jemand sagen, der keine Schokosoße mag. Woher weiß ich, wie die auf Himbeereis schmeckt?!
 Vorsichtig öffne ich den Kühlschrank. Es ist bei uns schon öfters vorgekommen, dass einem der ganze Inhalt, der in der Tür steckt, entgegengekommen ist. Nicht sehr lustig … und ich spreche aus Erfahrung.
 Also nehme ich die Schokosoße und schließe die Tür. Als ich mich umdrehe, sieht mich Jonas schon mit großen Augen an. Ich hebe eine Braue und stelle ihm die Soße auf den Tisch.
 „Da hast du deine Schokosoße“, murmle ich und lasse mich wieder auf den Stuhl fallen, um mein halb geschmolzenes Erdbeereis zu löffeln. Jonas greift grinsend nach der Soße und öffnet den Deckel.
 „Weißt du“, beginnt er, als er anfängt, sich die Soße übers Eis zu leeren, „ohne Schokosoße schmeckt das Eis doch langweilig. Ich meine, Himbeere, das bekommt man auch so. Aus dem Garten, aus dem Laden, als Nachtisch … aber mit Schokolade, das gibt’s nur selten!“
 „Also erst Mal, wenn du uns schokosoßenarm machen willst, dann schütte dir weiter tonnenweise Kalorien in dein Eis, und zweitens, mit mir brauchst du nicht über Schokolade reden, ich esse nur Gummi.“
 Jonas hat aufgehört, seinen Eisbecher in Schokolade zu ertränken und sah mich nur an, als wäre mir auf einmal ein Loch zwischen meinen Augen gewachsen.
 „Du isst keine Schokolade?!“
 „Warum sollte ich …?“
 „Mann“, staunt er, „das würde ich nicht durchhalten …“
 Ich zucke mit den Schultern und beende unser geistreiches Gespräch für eine Weile. Dann, als ich schon halb mit meinem Becher fertig bin, fällt mir eine Frage ein.
 „Sag Mal, warum hängst du eigentlich den ganzen Tag bei mir rum?“
 Jonas sieht auf.
 „Na ja, ich hab ´nen älteren Bruder, aber der studiert schon. Jetzt bin ich den ganzen Tag alleine zu Hause und weiß nicht, was ich machen soll. Freunde hab ich hier keine, alle Typen aus deiner Klasse gehen mir nur aus dem Weg. Und mit Mädchen kann ich nicht umgehen …“
 … Wow …
 „Wow“, bringe ich nur heraus.
 „Was ‚wow’?“
 „Na ja …“ Soll ich ihm erzählen, dass es mir genauso geht?
 „Was ‚na ja’?“
 Also nerven kann der Typ schon Mal ganz gut.
 „Ich hab auch keine Freunde, meine Schwester studiert auch und ich bin auch tagtäglich alleine.“ So, jetzt hat er seine Antwort.
 Erstaunt beobachte ich, wie er zu lächeln beginnt. Man, ich möchte auch so lächeln können!
 „Cool, dann sind wir uns ja ziemlich ähnlich …!“, grinst er und schiebt sich einen Löffel Schokolade in den Mund.

Horrorfilme und andere romantische Dinge


Eigentlich hasse ich Popcorn und Schnulzen. Und trotzdem sitze ich hier neben Jonas auf dem Sofa, schiebe mir tonnenweise Popcorn in den Mund und begaffe den riesigen Flachbildfernseher, der in seinem Zimmer hängt. Und was läuft da? Irgendeine billige Liebesgeschichte. Und warum läuft die da? Damit Jonas nebenbei noch Englisch lernen kann, ohne abgelenkt zu werden. Nachdenklich schweifen meine Blicke durch den riesigen Raum, der die Größe zweier Wohnzimmer hat. Also zweier Wohnzimmer, wie man sie in einem Einfamilienhaus halt hat. Groß genug, aber nicht riesig. Dieses Zimmer jedoch war eindeutig riesig!
 „Sag Mal …“, beginne ich und kaue auf den – eindeutig zu buttrigen – Popcorn, „… wie könnt ihr euch das alles leisten? Ich meine, ihr wohnt hier im größten Haus, dass es in unserem Viertel gibt, und deine Eltern sind auch keine Millionäre …“
 „Mhm …“, murmelt Jonas und sieht nicht einmal auf. Ich sehe ihn an.
 „Hallo!“, meine ich und lege den Kopf schief.
 „Meine Großeltern haben Mal im Lotto gewonnen und uns das Geld vererbt, als sie gestorben sind. Mein Vater hat Glück mit seinen Aktien und meine Mutter ist Zahnärztin.“
 Meine Augen haben jetzt sicher die Größe zweier Tennisbälle.
 „Lotto?“, hauche ich nur und Jonas sieht auch endlich einmal auf.
 „Was denn?“
 Ich blinzle einmal.
 „Komm schon, Lotto! Wie viel Glück muss man haben, um dort überhaupt eine Summe von über fünf Euro zu gewinnen?!“
 Jonas zuckt mit den Schultern, wendet sich wieder seinem Englischheft zu und murmelt: „Anscheinend nicht viel.“
 Ich wende mich verärgert dem Fernseher zu. Nicht viel …! Was bildet sich dieser Angeber eigentlich ein? Lotto … pah. Hat das Haus eines Milliardärs und tut so, als sei es das Normalste, zwei Pools und einen Kleiderschrank in der Größe meines Zimmers zu haben …!
 „Ich weiß was du denkst.“
 Ich starre weiter kalt auf den Fernseher. Der Typ kann mich doch Mal. Wenn er jetzt auch noch mit der Ich-weiß-aber-es-ist-halt-so-Es-trifft-halt-nur-die-Besseren-Nummer kommt, springe ich aus dem nächsten Fenster und verdufte.
 „Du denkst jetzt wahrscheinlich, dass ich ein reiches, angeberisches, schleimiges, verwöhntes Arschloch bin.“
 „Ungefähr so.“ Ich sehe ihn noch immer nicht an. Das knutschende Pärchen ist viel interessanter!
 „…“ Jonas schweigt. Gibt er mir etwa Recht?
 „Sorry, Jonas, aber ich mag solche Leute nicht, ich … J-Jonas …!“ Entsetzt starre ich auf den zitternden Jonas, der neben mir sitzt. Tränen rinnen über seine Wangen und gequält starrt er auf sein Englischheft, das er in den bebenden Händen hält.
 „J-Jonas … es tut mir leid, ich…“
 „Ich will nicht so sein! Ich will nicht mehr so auf andere wirken! Alle meiden mich! Jeder geht mir aus dem Weg!“ Verzweifelt versucht er, sich zu beherrschen, doch seine zitternde Stimme wird immer höher, und schließlich schluchzt er einmal herzhaft. Geschockt beobachte ich, wie sich ein Wasserfall aus Tränen über sein Heft ergießt und er es immer noch krampfhaft in den Händen hält. Meine Güte, hab ich ihn wirklich so aus der Fassung gebracht?
 „Hey Jonas, tut mir Leid … ich hab nicht gewusst, dass dich das so trifft. Ich … nehme alles zurück, sorry …“
 Der Blonde sieht gequält auf, in meine Augen. Augenblicklich versetzt es mir einen Stich in die Nähe meines Herzen. Was war das? War es sein Blick? Wahrscheinlich … er erinnert mich an den Blick eines Hundes.
 „Ach Dennis.“ Das ist alles was er sagt. Aha. Ach Dennis.
 Ich sehe auf den Boden. Das Pärchen hat aufgehört sich zu küssen. Nicht mehr interessant. Und Jonas’ Tränen trocknen auch langsam wieder. Gut so, die paar Schuldgefühle, die sie in den vergangenen zwei Minuten ausgelöst haben, sind sichtlich genug.
 „…“
 Stille. Sehr unangenehm. Eigentlich hasse ich die Stille, aber ich muss sie eh Tag für Tag aushalten. Also, es ist eigentlich nichts Ungewöhnliches mehr. Aber jetzt bin ich nicht alleine, jetzt ist das irgendwie etwas anderes. Unangenehm eben …
 „Jonas, es tut…“
 „Schon gut Dennis.“
 Erstaunt schaue ich auf. Hat er etwa wieder zu weinen begonnen?
 Nein, Gott sei Dank nicht. Aber …
 … oh Gott.
 „Du brauchst dich nicht mehr zu entschuldigen. Eigentlich höre ich das eh jeden Tag, es sollte mir nichts mehr ausmachen.“
 Wie er mich ansieht …
 Und jetzt lächelt er …!
 „Wollen wir uns einen Horrorfilm reinziehen? Immerhin bin ich jetzt mit Englischlernen fertig …“
 Gedankenverloren betrachte ich den leichten Rotschimmer, den die Tränen auf seinen Wangen zurückgelassen haben.
 „Dennis, welchen Film?“
 Ich blinzle und fahre verschreckt ein Stück nach hinten. Jonas sitzt vor mir und wedelt mit den Händen vor meinem Gesicht hin und her.
 „Hallo! Ich hätte da ein paar Teile von ‚SAW’ … etwas von Stephen King … irgendwas mit Vampiren und Werwölfen … Was willst du sehen?“
 „Ähm … is mir egal … such du was aus …“ Er kennt sich sichtlich nicht mit Horrorfilmen aus. Gehören ihm diese absolut scharfen Killerfilme überhaupt?
 „Ich finde, das sieht ziemlich schrecklich aus …“, meint Jonas und zieht eine Hülle aus dem kilometerlangen Regal und flitzt zum DVD-Player. Ich sehe ihm nur hinterher. Alles, was zuerst geschehen ist, hat er schon wieder vergessen. Wie naiv …
 „Achtung, fängt gleich an!“, meint er aufgeregt und schmeißt sich neben mich aufs Sofa.

„AAAAAH!“

 „AAAAH!“
„Lass mich! AAAAAH!“
 Mit weit aufgerissenen Augen starrt Jonas auf den Fernseher und seine Brust hebt und senkt sich schnell. Ich sitze da, sehe zu, wie der eine Typ eine Frau grausam ermordet und schiebe mir ein Popcorn in den Mund. Wäh, diese Dinger sind so klebrig und salzig, dass…
 „AAAAAH!“ Jonas kreischt abermals und wirft sich mir an die Schulter. Zitternd klammert er sich an mein Hemd und ich sitze nur erstarrt da und starre geschockt aus dem Fenster in die dunkle Nacht.
[style type="italic"] „Stirb!“[/style] Ein nervenzerreißender Schrei ist zu hören, und dann knackt es einmal. Jonas zuckt bei dem ekligen Geräusch zusammen und sein Griff wird noch fester.
 „Ääähm … s-sollten wir uns nicht w-was anderes ansehen … wenn du dich so fürchtest …“
 
 … Okay … also, der Beschreibung von Jonas am Anfang wäre da noch etwas hinzuzusetzen. Er betrinkt sich also gerne bis zum Koma und schlussendlich … er fürchtet sich bei Horrorfilmen zu Tode. Passt alles irgendwie nicht zusammen, finde ich.

 Na ja. Also, da sitze ich jetzt, halte die mühsam ergatterte Fernbedienung in den Händen und ersticke fast, weil Jonas seine Arme noch immer so fest um meinen Bauch gelegt hat. Und was heißt das für mich? Warten, bis die Atemwege wieder frei sind, und ihn dann zur Rede stellen. Was heißt das wiederum für ihn? DASS MIR DIESER KLEINE IDIOT ERKLÄRT, WARUM ER SICH HORRORFILME ANSIEHT, OBWOHL ER DABEI FAST AN EINEM HERZINFARKT GESTORBEN WÄRE!
 „Jonas, du Spinner.“ Ich entscheide mich, die Sache vielleicht doch etwas ruhiger anzugehen. „Warum hast du das gemacht?“
 „Weiß nicht …“, wimmert Jonas und versucht, tief durchzuatmen.
 „Etwa wegen mir …?“
 Jonas nickt wild und ich spüre, wie schnell sein Herz schlägt. Huch, ich glaube der wäre wirklich bald an einem Herzinfarkt gestorben!
 „Wieso wegen mir …?“ Ich bin von seinem Kopfnicken irgendwie verwirrt.
 „Ich will, dass wir uns verstehen … du magst Horrorfilme, hast du mir vorgestern erzählt, jetzt hab ich mir gedacht, das würde sicher lustig werden …“
 „Man Jonas!“
 Mit bebendem Körper und klappernden Zähnen sieht er zu mir auf und sieht mich gequält an.
 „Sorry, wenn ich das jetzt sage, aber du bist ein Idiot. Du hättest mir sagen können, dass du keine Horrorfilme magst!“
 „Aber…“
 „Jetzt sitzt du hier, scheißt dir die Hosen voll und alles nur, weil ich gesagt habe, dass ich Horrorfilme mag! Das ist unverantwortlich! Wetten, dass…“

 Ich reiße erschrocken die Augen auf.
 Jonas … er …
 Seine Lippen liegen verzweifelt auf meinen, und ich kann nichts dagegen tun.
 Mein Herz schlägt Saltos, und ich kann nichts dagegen tun.
 Ich bin ihm wehrlos ausgeliefert.

 Und dann ist es vorbei. Vielleicht hat er mich nur zwei Sekunden lang geküsst, vielleicht sind es auch drei Tage gewesen. Aber der eine Moment, seine weichen Lippen, das alles hat sich in mein Hirn eingraviert.
 „J-Jonas…“
 „Dennis, ich bin schwul.“
 Wow, toll, das kommt ja genau zur rechten Zeit.
 Ich kann nicht verhindern, dass mein Atem laut und unregelmäßig geht … aber … wow!
 „Is mir egal.“ Ein Satz. Cool, ich hab was gesagt. Ist zwar nicht weltbewegend, aber es ist nun mal so. Nein, Jonas ist schwul, und es macht mir nichts aus. Nö, null.
 Und er lächelt. Wieder einmal sein bezauberndes lächeln.
 „Darf ich das von vorher wiederholen?“
 „Wenn du dich dann nicht mehr fürchtest …“
 „Nein, versprochen …“
 
 Und schon wieder … mein Herz flattert schon wieder. Sanft bewegen sich seine Lippen … auf … zu … immer im gleichen Rhythmus. All (seine) Angst ist verflogen. Nur wir beide, hier auf dem Sofa … und nichts anderes.
 Langsam wandern seine Hände hoch zu meinem Hals und er schmiegt sich an mich. Ich streichle sanft seinen Rücken und lasse mich nach hinten fallen.

 Habe ich vielleicht eine Popcorn-Überdosis intus oder so?

Hausarrest


Mein Handy läutet. Genervt befördere ich den Bleistift, den ich eben noch in meiner Hand gehalten habe, in die andere Ecke meines Zimmers. Schon seit drei Stunden sitze ich an diesen – verflucht sollen sie sein! – Hausaufgaben. Warum sind Lehrer immer so unbarmherzig …? Jetzt haben wir Mal eine Woche frei, und die knallen uns zu mit Aufgaben …
 Ich greife nach meinem Scheppernden Telefon und hebe ab.
 „Hallo …?“ Genervt schnauze ich den Typen an der anderen Leitung an.
 „Hey Dennis.“
 „Oh!“ Sofort werde ich rot und lasse mich aufs Bett fallen. Jonas. „Sorry, hab nicht auf den Display geguckt.“
 „Schon okay!“, erwidert Jonas fröhlich und ich muss lächeln. „Wie lange hast du noch?“
 „Zwei Wochen …“, antworte ich bedrückt und lasse mich rücklings aufs Bett fallen. „Mir is richtig langweilig!“
 „Hahaha“, lacht Jonas sarkastisch und meint noch: „Zwei Wochen … ich wünschte, ich hätte nur mehr zwei Wochen …“
 „Wie viel …“, frage ich neugierig.
 Jonas seufzt und antwortet: „Vier Wochen.“
 „Ein Monat?!“, erwidere ich entsetzt und schlucke. Wow, hat der strenge Eltern.

 Ihr fragt euch jetzt sicher, wie das alles gekommen ist. Nun ja … Jonas liegt da halb auf mir, wir knutschen so am Sofa rum, alles wunderbar, Schmetterlinge im Bauch, und dann kommt da diese berühmte plötzlich-kommen-die-Eltern-rein-Szene. Na ja, die haben schön geguckt, als die ihren Sohn mit dem Nachbarjungen knutschend auf dem Sofa erwischt haben … Jonas weicht aber auch erst circa ein bis zwei Minuten später von mir weg, als er plötzlich gehört hat, wie seiner Mutter die Handtasche auf den Boden gefallen ist. Man, die Frau muss da wohl Ziegelsteine drinnen gehabt haben …

 „Wissen deine Eltern, dass du schwul bist?“, frage ich vorsichtig. Jonas schnaubt.
 „Ja. Und am liebsten hätten sie mich wahrscheinlich schon längst aus der Familie ausgeschlossen …“
 „Was ist so schlimm dran?“
 „Na ja“, beginnt Jonas, „für meine Eltern existiert Homosexualität nicht. Wenn ich schwul bin, ist es für sie, als hätte ich irgendeinen tödlichen, ansteckenden Virus. Ekelhaft halt …“
 Ich bin erstaunt. So schlimm …
 „Was ist mit deinen Eltern?“, fragt Jonas und ich grinse, obwohl ich weiß, dass Jonas das nicht hören kann.
 „Wir sind gestern Abend noch zusammen am Tisch gesessen. Meine Mutter war fast happy, mein Vater zutiefst geschockt. Der hat vielleicht eine Miene gezogen. Dann hat er mich gefragt, ob ich denn jetzt wirklich schwul sei, oder nur bi…“
 „Was hast du gesagt?“, unterbricht mich Jonas aufgeregt.
 „Also, ich steh schon auch auf Mädchen … aber gestern …“, ich räuspere mich, „das war schon aufregend.“
 „Also hast du gesagt…“
 „…das ich wahrscheinlich bi bin. Jep, meinem Vater ist wortwörtlich die Kinnlade heruntergefallen. Meine Mutter hat so komisch gekreischt und mich stürmisch umarmt … schon verrückt …“
 „Ach Dennis, du hast’s gut …“, seufzt Jonas, „meine Eltern haben mich nicht mehr angesehen, mir nur eine Nachricht auf meinen Nachttisch gelegt.“
 „Scheiße, was hast du für kaltblütige Eltern …“
 „Ich kann sie dir vorlesen, was hältst du davon?“
 „Ja, sicher.“
 Es raschelt kurz, dann beginnt Jonas zu lesen:
 „Jonas,
 Wir sind zutiefst entsetzt, was deine Liebesinteressen anbelangt. Das war das Letzte, was wir von dir erwartet hätten. Du warst immer so ein braver Junge, und jetzt das? Willst du uns damit irgendetwas heimzahlen? Wenn ja, was haben wir falsch gemacht? War es deine Erziehung? Du bist beim Essen gerade gesessen, du hast immer ‚Bitte’ und ‚Danke’ gesagt, das alles haben wir dir beigebracht. Du weißt genau, was wir davon halten. Und das ausgerechnet du jetzt Homosexuell bist, wir haben letzte Nacht nicht geschlafen. Unsere Sorgen, wir haben uns Vorwürfe gemacht, uns den Kopf zerbrochen. Warum tust du uns das an?
 Jonas, wenn du das liest, bitte denk noch einmal nach.
 Sei ein schlaues Kind und such dir eine nette Freundin.
 Deine Eltern.“
 Jonas schweigt. Ich lasse mir die Worte noch einmal durch den Kopf gehen.
 „Man, was ist denn das?“, bringe ich nur heraus.
 „Ich bin dann heute schnurstracks ins Arbeitszimmer gerannt, hab ihnen einmal gründlich die Meinung gesagt, und dann finde ich vor einer halben Stunde wieder so nen blöden Zettel!“, schimpft er.
 „Wird mir der auch vorgelesen?“
 „Klar!“, schnauzt Jonas wütend ins Telefon und fängt an zu lesen:
 „Jonas,
 Deine Entscheidung, homosexuell zu bleiben, hat uns abermals schockiert. Wir haben uns von dir mehr Vernunft erhofft.
 Vier Wochen Hausarrest. Außerdem bekommst du Besucherverbot und darfst diesen Nachbarjungen nicht mehr treffen.
 Deine Eltern.“
 Ein Klos bildet sich in meinem Hals.
 „Schrecklich, oder?“, meint Jonas bedrückt.
 „Du darfst mich nicht mehr treffen?“, frage ich mit belegter Stimme und warte auf eine Antwort.
 „Ja. Die Schule wird wohl der einzige Ort sein, wo wir uns sehen können.“
 
 Shit.

 „Ja, bis morgen dann …“ Ich lege auf. Lange hat unser Gespräch nicht mehr gedauert. Ein paar lästernde Kommentare über seine Eltern, das war’s auch schon. Na ja.
 Ich werfe mein Handy also auf den Schreibtisch, dabei fällt wieder einmal der Akku heraus,  ich stehe auf, baue es wieder zusammen, stopfe die Hefte in eine Lade und schmeiße mich wieder auf mein Bett.
 Und ich stelle mir wieder die eine Frage.
 Wie kann man wohl die Beziehung zwischen Jonas und mir beschreiben?
 Freunde? Weiß nicht, wir kennen uns erst eine Woche lang. Kann man da schon Freunde werden?
 Ist es mehr? Na ja, wenn wir noch nicht Mal Freunde sind, können wir doch wohl nicht mehr sein, oder?
 Also greife ich wieder nach meinem Uralttelefon und schreibe Jonas eine SMS.
 Dann lasse ich die Hand mit dem Handy wieder aufs Bett sinken und starre an die Decke. Eine Spinne hockt dort, klein und schwarz. Ich hasse Spinnen. Die beißen mich immer, und das juckt höllisch. Soll ich sie mit dem Sauger holen? Nö, am Besten, ich kill sie demnächst mit nem Taschentuch und meiner Hand.
 Mein Handy vibriert. Ich öffne die SMS.
 „Klar sind wir Freunde!“, steht da, schwarz auf weiß.
 Ich muss lächeln. Jonas hat wohl versucht, eine Animation mitzusenden. Da stehen haufenweise Formeln auf dem Display. Tja, mein Handy halt …

 Nach einer halben Stunde rumlümmeln beschließe ich, etwas trainieren zu gehen. Auf den Dachboden. Manch einer glaubt jetzt wohl, der Dachboden sei alt, staubig, lauter Kisten stehen dort herum, aber nein, unser Dachboden ist mit Laufband und Dusche ausgestattet, alles ist ausgefliest und immer schön geputzt. Der Dachboden ist eigentlich der schönste Raum in unserem Haus, und auch der teuerste.
 Also ziehe ich mir meinen Trainingsanzug an, hol mir nen Energydrink und sause rauf auf den Dachboden. Als ich im weißen Raum ankomme, sehe ich die wunderschön glänzende Trainingsmaschine vor mir stehen. Ich lasse meinen Drink neben das Waschbecken fallen, öffne das Fenster und schalte das Laufband ein. Es beginnt zu surren. Langsam drehe ich die Geschwindigkeit höher und steige gekonnt auf das Band. Sofort habe ich den Takt und laufe.
 Beim Laufen fallen mir immer haufenweise Sachen ein. Tests, Träume, Aufgaben, und so manch eine Erkenntnis. Zum Beispiel habe ich einmal die Erkenntnis gehabt, dass ich mich in ein Mädchen aus einer Parallelklasse verknallt habe. Ist aber schon drei, vier Jahre aus.
 Und jetzt habe ich die Erkenntnis, dass ich offenbar wirklich bi bin. Mit dreizehn war’s Lena, jetzt ist es Jonas.
 Ich steigere die Geschwindigkeit. Man, vor einer Woche wäre mir nie in den Sinn gekommen, einen Jungen zu küssen! Und gestern ist es passiert. Eigentlich macht es mir eh nichts aus. Nein, es war eine positive Erfahrung in meinem Leben. Aber wenn ich jetzt so darüber nachdenke … Wenn ich in der Schule zugeben würde, dass ich bisexuell bin, wäre ich sofort ganz unten durch. Und öffentlich knutschen, hahaha. Sehr lustig. Besonders wenn es zwei Männer sind.
 Ich greife nach der Flasche, schraube den Verschluss herunter und trinke ein paar Schlucke. Oh man, was ich für Sorgen habe. Am liebsten würde ich die Schule schmeißen, die macht sowieso nur Probleme. Aber andererseits … dann könnte ich Jonas nicht mehr sehen. Und das will ich nun auch wieder nicht.

 Nach einer Dreiviertelstunde schalte ich schließlich das Laufband ab. Ich ziehe ein Handtuch aus dem untersten Fach eines Regals an der Wand und springe pfeifend zur Dusche. Nach dem Entkleiden schiebe ich die Plastikwand zur Seite und will in die Dusche steigen, als mir mein verschwitzter Trainingsanzug ins Auge fällt. Den vergesse ich sicher wieder nach dem Duschen. Also lege ich ihn auf den Rand des Waschbeckens und stelle mich endlich unter den Duschkopf. Ich schalte das Wasser ein und beginne zu summen. Eine meiner schlechten Angewohnheiten.  Ich kann nicht wirklich gut singen.
 Eine große Portion Shampoo landet auf meinen Haaren, sodass mir der Schaum nach einiger Zeit schon von den Schultern rinnt. Alles wird vom warmen Wasser weggespült. Nach dem Einseifen und abermals Abduschen steige ich aus der Dusche, wickle mir das Handtuch um die Hüften und schmeiße pfeifend meinen Trainingsanzug in die Wäschetonne. Die leere Energydrinkflasche landet mit einem eleganten Wurf im Mülleimer und ich will mich gerade daran machen, das Fenster zu schließen, als ich circa zehn Meter vor mir jemanden winken sehe.

 Ich glaube, so rot wie ich in diesem Moment werde, bin ich noch nie in meinem Leben gewesen. Nein, absolut nicht. Mit hochroten Wangen starre ich Jonas an. Der grinst mir entgegen.
 „Hey Dan!“, ruft er fröhlich und winkt noch einmal.
 „Hallo …“, stottere ich laut.
 „Du kannst echt schnell laufen! Bist du gut im Sport?“, fragt er neugierig.
 „Na ja …“, erwidere ich verlegen, da schießt mir eine Frage durch den Kopf, die mich noch röter werden lässt. „Seit wann sitzt du hier und siehst mir zu?!“
 „Hm, ich glaub, jetzt sind es ungefähr fünfzehn Minuten.“
 „Heißt das, du hast alles gesehen?“ Mein Schädel pocht und wird heiß.
 „Ich hab dich laufen sehen, dich trinken sehen, und dich …“, sogar in zehn Metern Entfernung kann ich sehen, wie sich ein leichter Rotschimmer auf seine Wangen legt, „… duschen sehen. Und jetzt stehst du hier.“
 Ich glaube ich werde ohnmächtig. Wie peinlich! Obwohl … in der Schule dusche ich wöchentlich mit anderen Kerlen. Warum ist es mir genau bei Jonas so unangenehm?
 „Morgen ist doch wieder Schule, oder?“, höre ich plötzlich seine Stimme in mein Ohr dringen.
 „Ja, warum?“ Mein Gesicht bekommt langsam wieder eine andere Farbe.
 „Na ja, ich sitz gerade neben einem ziemlichen Idioten. Kann man das nicht irgendwie ändern?“
 „Wir können den Lehrer fragen, ob du dich zu jemand anderem setzen darfst.“ Will er auf etwas hinaus?
 „Okay. Ähm … ich glaube, unsere Sitznachbarn kennen sich doch, oder? Also, dann könnten wir uns doch zusammensetzen, oder?“
 Ich nicke. Ich hab’s doch gewusst.

Sitznachbarn


„Herr Leitner, wäre es möglich Sven und Alex zusammenzusetzen, damit sich Jonas zu mir setzen darf? Wir kennen uns.“
 „Jonas zu dir?“, fragt der Lehrer und sieht uns beide abwechselnd an. „Wenn er damit einverstanden ist …“
 „Klar bin ich das!“, meint Jonas sofort und sieht den Lehrer mit großen Augen an.
 „Also gut, ihr beide könnt euch auf den hinteren Tisch setzen … Sven und seinen Freund will ich vorne bei mir haben …“ Herr Leitner wendet sich wieder dem Klassenbuch zu.
 „Supiii!“, quietscht Jonas und zieht mich sofort zu unserem neuen Tisch. Überrumpelt lasse ich es über mich ergehen und gelange schließlich heil an unserem Sitzplatz an.
 „Wir müssen noch die Bankfächer leer räumen!“, meint er dann aufgeregt und zieht sofort Svens Sachen aus dem Bankfach. „Uh, was ist das?!“
 Neugierig starre ich auf den Heftehaufen, den Jonas in seinen Händen hält. Was da alles dabei ist, lässt mich zu kichern beginnen.
 „Sind das … Por-“
 „Hey du kleiner Drecksack, gib mir meine Schulhefte!“, kommt es wütend vom anderen Ende der Klasse. „Was machst du da unter meiner Bank?!“
 „Ich sitze ab jetzt hier!“, antwortet Jonas grinsend und drückt Sven die Hefte in die Hand. „Und soweit ich weiß bist du noch keine achtzehn, um dir so was reinziehen zu können.“
 „Ich zieh dir gleich eine über, wenn du nicht sofort den Rand hältst!“, knurrt Sven und ich krümme mich daneben vor lachen. Irgendwie ist das gerade megakomisch. Der kleinere, grinsende Jonas und der wütende Sven, der sicher einen Kopf größer ist, als der Blonde.
 „Was lachst du so blöd, Arschloch?!“
 „Nihihihichts …“, heule ich und halte mir den Bauch. Ich glaube ich sterbe, mein Lachorgan fällt aus.
 Ich hab eindeutig zu viel Spongebob geschaut …
 
 Es läutet. Herr Leitner erhebt sich und beginnt mit seiner Mathestunde.
 „Was ist so komisch, Dennis?“
 „Nihihichts … entschuldigen Sie, Heheherr Professor!“

 „Das war ja ein Tag …“, seufze ich und strecke mich. Oh Gott, ich hab mir glaub ich einen Klassenbucheintrag eingeholt, weil ich noch die halbe Mathestunde einen Lachanfall gehabt hab. Jonas hat das auch ziemlich amüsant gefunden und Sven wäre glaub ich irgendwann aufgesprungen, hätte uns der Lehrer nicht auf den Gang geschickt, um uns zu beruhigen.
 Jonas neben mir beginnt zu grinsen.
 „Sven ist ein lustiger Typ …“
 „Lustiger Typ, haha …“, meine ich sarkastisch und lasse die Hände in meine Hosentasche gleiten. „Wenn der lustig ist, bin ich Bernd das Brot …“
 „Mist!“, meint Jonas grinsend und ich lache wieder. „Nein, Mal im Ernst, warum fürchten sich alle so vor dem?“
 „Er hat Mal einen aus der A verprügelt, dass er im Krankenhaus gelandet ist. Da hätte er sich schon fast einen Schulverweis eingefangen, wäre da nicht sein Vater. Der ist Anwalt und hat ihn sofort verteidigt. Ich finde, seine ganze Familie besteht nur aus Idioten …“
 „Warum?“
 „Weil sein Vater ein Schleimer übelster Sorte ist. Der ist sicher Best Friend mit dem Direktor …“
 „Und was sagt das über seine Familie aus?“
 „Weiß nicht …“, meine ich schließlich, aber dann füge ich noch hinzu, „… aber seine Mutter hat Mal mit meiner Mutter am Elternsprechtag gesprochen, und meine Mom hat erzählt, dass sie Barbie aus „Barbie in Schwanensee“ sein könnte. Und aufgeblasen ist sie auch noch.“
 „Uh, Barbie.“ Jonas verzieht das Gesicht. „Das erweckt Erinnerungen …“
 Ich grinse. Ich kann mich noch genau erinnern, wie meine große Schwester noch im Barbiefieber war … und das hat ziemlich lange gedauert …
 Ich bin gerade abgeschweift, doch auf einmal lenkt etwas meine volle Aufmerksamkeit wieder auf Jonas.
 Sein kleiner Finger berührt meine rechte Hand, die ich aus der Hosentasche genommen habe.
 Es ist nur eine kleine Berührung, aber die Stelle, wo sein Finger meine Hand berührt, brennt wie Feuer und das Blut schießt mir in den Kopf.
 „Dennis …?“
 „H-Hm…?“
 Jonas spricht sanft und leise.
 „Ich werde mich zu Hause sicher zu Tode langweilen …“
 „Ich mich auch.“
 Jonas schweigt. Ich schweige mit ihm. Sein Finger streicht an meiner Handinnenseite entlang. Es kitzelt wie verrückt, doch ich halte still. Ich muss meine Augen kurz schließen, sonst hätten sie sich wahrscheinlich nach hinten gedreht …!
 „W-Wenns dir unangenehm ist, musst du’s sagen …“, murmelt Jonas mit belegter Stimme und ich sehe ihn erstaunt an. Das ist irgendwie das erste Mal, dass er knallrot im Gesicht ist. Schüchtern blickt er zurück. Dann lächelt er unsicher. Ich muss auch lächeln.
 Du bist so unglaublich süß, wenn du lächelst, denke ich … und ohrfeige mich sogleich für diese Gedanken. Hat er mich denn schon so verschwult …?
 „Dennis …“ Jonas’ Finger schieben sich zwischen meine und er bleibt stehen. Fragend sehe ich ihn an, doch er steht nur da und starrt auf meine Lippen. Inzwischen hat er sachte an meinem Ärmel gezogen und auch so meine andere Hand aus der Hosentasche gelockt. Zaghaft verschlingt er auch die Finger seiner anderen Hand in ihr.
 „Ich bin so froh, dass ich dich hab …“, flüstert er und sieht zur Seite. Ich kann nicht antworten. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und ich versuche, ruhig zu atmen.
 Irgendetwas muss ich tun!, schießt es mir durch den Kopf. Irgendetwas …
 Verzweifelt grüble ich nach. Da fällt mir etwas ein.

 „Dennis …?“
 Sanft streiche ich über Jonas’ Wange.
 „Ich bin auch froh, dich zu haben …“
 Jonas lächelt und greift auf meine Hand, die auf seiner Wange liegt.
 Gerade habe ich all meine Nervosität vergessen, die Hemmungen sind wie weggeblasen. Ich beuge mich ein Stück zu Jonas hinunter, er reckt sich ein bisschen, und …

Cousinen und Tanten, Cousins und Onkel


„Verdammte Scheiße!“, fluche ich und schieße den armen Bleistift wieder mal gegen die Wand. Mein Taschenrechner hat auch schon dran glauben müssen, und darum liegt er jetzt auf dem Boden, das Glas ist gesprungen, die Batterien sind irgendwo unter meinem Bett und ich glaube, er funktioniert nicht mehr …!
 Wütend greife ich in die quietschgelbe Dose auf meinem Schreibtisch und fische mir einen zwei Zentimeter langen Pseudobleistift heraus, um diese blöden Formeln fertig zu schreiben. In einer halben Stunde muss ich fertig sein, da kommt meine Familie.
 Was heißt das für mich?
 Einen halben Tag meine drei nervigen Cousins aushalten, die eigentlich schon über sechzehn sind und sich trotzdem aufführen, wie unreife, pubertierende Teenager im alter von dreizehn Jahren, und mich von meinen zwei vierzehnjährigen Cousinen die ganze Zeit über hübsche Jungs in der Nachbarschaft ausfragen lassen. (Wobei ich ihnen sicher nichts über die Anwesenheit des hübschen Jonas’ erzählen werde …!)
 Kurz gesagt: Zum Kotzen.

 Noch was: Ihr wollt sicher wissen, was letztens auf unserem Heimweg noch passiert ist.

 Also, ich küsse Jonas gerade, und das ist das erste Mal, dass das von mir aus gegangen ist. Und plötzlich hält da so ne Limousine am Straßenrand.
 Nun ratet mal wer drinnen gesessen ist …
 Jonas’ Eltern wollten ihn heute zufällig von der Schule abholen. Sein Vater wollte die Familie anscheinend zum Essen ausführen. Und als sie uns … ich meine … „ihn“ … nicht bei der Schule gefunden haben, sind sie einfach wieder losgefahren und wollten nach Hause, als sie ihren Sohn da schon wieder knutschend mit dem Nachbarsjungen am Gehsteig vorfinden.
 Und das heißt für Jonas: Ab jetzt zwei Monate Hausarrest.

 „Dennis, Schatz?“, ruft meine liebste Mutter die Treppe hoch.
 „Ja …?“, maule ich.
 „Christoph und Hilde sind da! Kommst du runter?“
 „Klar, Mom …“
 Christoph, mein liebster Onkel, Bruder meines Vaters, und seine liebe Frau, meine Tante Hilde … beide schon über 50 und ihre Kinder fast jünger als ich … zwei von fünf zumindest …
 „Dennis!“
 „Ich komme schon, Mama!“
 Erschöpft vom vielen Rechnen raffe ich mich hoch und verlasse das Chaos meines Zimmers. Vielleicht wäre es mal ratsam, ein bisschen aufzuräumen … Aber auch nur vielleicht …
 Müde stolpere ich die Treppen hinunter und laufe meiner Mutter fast hinein.
 „Da bist du ja, begrüßt du unsere Gäste einmal, während ich den Tisch decke?“
 „Klar …“ Toll, jetzt hab ich diese Horde aus Verrückten am Hals … Jonas, hilf mir!
 „Dennis, bist du das?“, hallt die hohe Stimme meiner Tante aus dem Vorzimmer, und mit gequältem Gesichtsausdruck biege ich um die Ecke, in den Raum des Verderbens hinein.

 Ich bin … baff …
 Dort, im Vorzimmer steht ein älteres Ehepaar. Daneben ein schwarzhaariger Junge, zwar gepierct, aber trotzdem nicht so chaotisch, wie ich Michael in Erinnerung habe. Seine Haare sind nicht strubbelig und ungepflegt, sondern wurden mit Haarspray sogar einigermaßen in eine passable Jungenfrisur verwandelt  …
 Und da steht Angelina … sie ist auch erwachsener geworden. Ihre rötlichen, langen Haare fallen ihr leicht über den Rücken und einzelne Strähnen haben sich vorne auf ihre Bluse verirrt. Wow … hübsch, mein Cousinchen.
 Ich drehe mich zu Fabian und Vincent. Die beiden grinsen mich an, wie es die Zwillingsbrüder halt schon immer gemacht haben. Sie haben sich die Haare gefärbt, früher waren sie dunkelbraun, nun sind sie blond. Die gleichen Jeans, dasselbe Hemd, typisch Fabi und Vinc.
 Und meine letzte Cousine Steffi strahlt mich an, ihre blonden Locken sind wieder voller Volumen und mit ihrem hübschen Sommerkleidchen strahlt sie wie eine Sonne zwischen ihrer Familie heraus.

 „Ihr habt euch verändert …“, begrüße ich meine Lieblings-Verwandten schließlich und bleibe wie benommen im Türrahmen stehen. Diese Aura … so viel Schönheit lässt einen ja erblinden! Meine Tante lächelt amüsiert und mein Onkel fängt zu lachen an.
 „Und unser Dennis hat sich überhaupt nicht verändert! Schlabberiges T-Shirt mit Kaffeeflecken und eine Joggingshose. Wie immer!“, grinst mein Onkel und kommt zu mir, um mich zu umarmen.
 „Hey Christoph, du erdrückst mich …!“, keuche ich und schiebe meinen dicken Onkel von mir weg. Auf nette Weise, versteht sich.
 „Komm zu mir, Dennis!“, trällert meine Tante und nimmt mich in die Arme, um mir einen großen roten Kussmund auf die Wange zu küssen.
 Nachdem ich mir den Lippenstift mit meinen Händen ins T-Shirt gewischt habe, sieht mich Michael schon lächelnd an.
 „Schön dich zu sehen, Dan.“
 „Hi, Michi …“
 Wir schütteln uns die Hand, dann tritt er wieder einige Schritte zurück und lässt seine Zwillingsbrüder zu mir nach vorne. Diese umarmen mich stürmisch und wuscheln mir über meine Ich-kämme-mich-in-der-Früh-nicht-Frisur.
 Danach werde ich von meinen Cousinen noch mit der typischen Küsschen-Links-Küsschen-Rechts-Nummer begrüßt und als die ganze Partitur vorbei ist, kann ich sie schließlich in das Esszimmer führen. Das ist auf einmal blitzblank geputzt und meine strahlende Mutter begrüßt meine Verwandtschaft  freudig, währenddessen mein Vater seinen Bruder umarmt und sofort mit ihm über die neusten italienischen Autos zu reden beginnt.
 „Ihr habt sicher Hunger!“, beginnt meine Mutter und lächelt fröhlich in die Runde. „Deshalb habe ich heute so was wie ein Buffet hergerichtet, nehmt euch was ihr wollt!“ Sie deutet in die Küche und ein bewunderndes Raunen ist zu hören.
 Die Küche ist vollgestopft mit Tellern und Töpfen, in oder auf denen sich die sagenhaftesten Speisen befinden. Es riecht herrlich und sofort stürmt alles in die Küche und belädt sich den Teller.
 „Wow, so gut hast du schon seit Jahren nicht mehr gekocht!“, lobe ich meine Mutter, die das allerdings falsch versteht und sich beleidigt zu meiner Tante zurückzieht. Ups …

 Als wir dann alle am Tisch sitzen, werden sofort die Schulischen Leistungen der Unter-Achtzehn-Jährigen angesprochen.
 „Also Michael hat in allen Fächern eine eins! Seine Klassenlehrerin hat gesagt, dass er eine Klasse überspringen darf!“, berichtet Tantchen stolz und meine Eltern nicken interessiert. Streberkind …
 „Und Vincent und Fabian bekommen auch eine Auszeichnung!“, fügt Onkel Christoph noch hinzu.
 Ich bin wohl umgeben von Streberkindern …
 „Und was ist mit euch zweien? Seid ihr auch auf dem Streber-Trip?“, frage ich meine Cousinen, und fange mir mit dieser Aussage ein paar angepisste Blicke seitens meiner Cousins ein.
 „Na ja, Zweier haben wir schon, aber ich will Friseurin werden und Steffi hat auch vor, einen Schönheitssalon zu eröffnen, da braucht man nicht so gute Noten …“
 Also doch Streberkinder …
 „Und was ist mit dir, Dennis?“, fragt Michael und grinst blöd. Haha, ich hab gewusst, dass das kommt …
 „Mich braucht ihr gar nicht zu fragen … zwischen euch kommt sich ein Junge wie ich vor wie ein Oberloser …!“
 „Er ist Klassenbester in Mathe!“, meint meine Mutter und sieht mich böse an. Hallo, was soll das?!
 „Was kriegst du denn?“ Noch eine unangebrachte Frage von Michael …
 „Nen dreier …“
 Vinc und Fabi prusten los. Was ist so komisch dran?! Bei uns kriegt die halbe Klasse einen Fetzen ins Zeugnis … in Mathe jedenfalls.
 „Aha, Klassenbester …“, kichert Michael und schiebt sich schnell einen Löffel Chili in seinen Mund. Bah, noch mehr solche blöden Meldungen und ich verpiss mich, echt!

 Mein Handy vibriert. Schnell schaue ich auf den Display und sehe dort ein „Jonas“ stehen.
 „Sorry, mich ruft wer an, bin in meinem Zimmer …“, murmle ich und verlasse den Tisch. Gott sei Dank, mein Engel rettet mich … o Gott, wie kitschig das klingt …?! Ich sollte wohl an einem Verhaltenskurs für Heteros teilnehmen, um mich wieder einigermaßen normal aufzuführen ...!
 Schnell düse ich in mein Zimmer, knalle die Türe zu, stolpere über meine Schultasche, lande auf der Bettkante, jaule auf und hebe ab.
 „H-Hi Jonas …“, stöhne ich schmerzvoll und halte mir den Bauch.
 „…Dennis, alles okay?“, höre ich meine Lieblingsstimme aus dem Hörer und aller Schmerz ist vergessen.
 „Ja, geht schon …“, meine ich und dieses nervige Dauergrinsen macht sich auf meinem Gesicht breit. „Warum rufst du an?“
 „Ich hab da ne Frage wegen den Hausaufgaben …“, meint Jonas verlegen und ich sause sofort zum Schreibtisch. Auf dem Weg dahin fliege ich wieder einmal über einen Haufen Hefte, der am Boden liegt.
 „Also, weißt du, wie die letzte Nummer geht?“
 „Ja, ich hab auch ziemlich lange gebraucht, aber ich kann’s dir erklären!“, lächle ich und beginne, Jonas den Lösungsweg zu erklären. Der checkt die Rechnung Gott sei Dank relativ schnell, denn ich bin nicht sonderlich gut im Erklären und hätte es ihm nicht besser erklären können.
 „Danke Dennis“, meint Jonas dann glücklich und ich lächle ins Telefon.
 „Kein Problem!“

 Da wird die Zimmertür aufgerissen und Vincent, Fabian und Michael strömen herein.
 „Hey Danny, geiles Zimmer haste!“, kommt es von Vinc, welcher sich sofort auf mein Bett wirft.
 „Da liegt ja überall Zeug herum …“, grinst Michael und lässt sich auf meine Zwei-Meter-Couch fallen.
 „Was soll der arme Taschenrechner auf dem Boden?“, beschwert sich Fabi und hebt das Teil auf, um es sogleich auf den Schreibtisch zu fetzen, auf dem es dann in noch mehr Einzelteile zerspringt.
 „Sorry Jonas, aber ich muss auflegen, die Idioten haben soeben mein Zimmer eingenommen …“, seufze ich und atme tief durch, um ruhig zu bleiben.
 „Welche Idioten denn?“, fragte Jonas aufmerksam und ich drehe mich um und schreie wütend: „Meine megatollen Trottel-Cousins!“
 „Danke, wir haben dich auch lieb!“, trällert Fabi und lässt sich neben Vinc aufs Bett fallen.
 „Okay, viel Spaß noch …“, meint Jonas bedrückt.
 „Man Jonas, sei nicht so trübselig!“
 „Was soll ich denn sonst sein?! Ich sitze hier alleine zu Hause und du kannst dir einen Spaß mit deinen Cousins machen …“ Haha, Spaß …
 Ich seufze. „Kannst du dich nicht irgendwie rüberschmuggeln?“
 „Nee, das kriegen meine Eltern bestimmt raus …“
 Ich seufze abermals. „Sorry, dann kann ich aber nichts machen.“
 „Ich weiß.“
 „Hey Danny, wir sind auch noch da! Die Gäste sind König und es ist unhöflich, sich mit jemand anderem zu unterhalten, wenn Besuch da ist!“
 „Ach halt die Klappe, Vinc!“, schnauze ich meinen Cousin an und meine dann wieder sanft zu Jonas: „Wir sehen uns morgen, ja?“
 „Morgen ist Wochenende …“
 „Shit!“
 „Na ja, ich ruf dich dann morgen halt wieder an … wegen dem Referat …“
 „Geht klar … tschüss dann …“
 „Ciao …“
 Ich lege auf.
 „Wer war das? Ein Freund?“, fragt Michael und sieht mich interessiert an.
 „Ja, mein … ich meine, ein Freund“, bessere ich mich schnell aus. Oh man …
 Michael grinst schon wieder. Man, ich hasse dieses Grinsen!
 „Soso … gibt es da etwa etwas, das wir nicht wissen …?“, fragte Fabi grinsend, welcher gerade in den Armen seines Bruders lag.
 „Hört schon auf damit, auf meinem Bett ein schwules Inzest-Ehepaar zu spielen …“
 „Wir haben dich was gefragt …!“
 Ich seufze und sehe einmal jeden nach der Reihe an. „Nur weil ihr alle schwul seid, heißt das nicht, dass ich es auch bin!“
 „Also bist du hetero? Hast du denn eine Freundin?“
 „N-Nein … wieso sollte ich?“ Ich hasse diese elende Fragenstellerei.
 „Aber du bist hetero …!“
 „Jetzt lasst ihn doch mal in Ruhe!“, meint Michael vorwurfsvoll und sieht seine Brüder tadelnd an. „Lasst ihn doch hetero oder schwul sein, es ist nicht unser Problem!“
 „Wenigstens einer, der zu mir hält …“, murmle ich.
 „Man, ihr seit solche Spielverderber! Komm Vinc, wir gehen!“, beschließt Fabi und packt seinen Zwillingsbruder am Handgelenk.
 „Au, Fabi hör auf!“, quietscht dieser, lässt sich aber aus dem Zimmer ziehen.
 
 „Puh, endlich bin ich diese Nervensägen los …!“, sage ich schließlich erleichtert und werfe einen Blick auf mein Handy. Zehn nach sieben …
 Es ist verdächtig ruhig in meinem Zimmer. Michael sitzt wohl schweigend auf meiner Couch. Was kümmert’s mich … wenn ihm langweilig ist, soll er sich verziehen, wie Vinc und Fabi auch.
 „Danke, dass du die zwei vertrieben hast … ich bin dir was schuldig …“, seufze ich und will mich umdrehen, als ich plötzlich warmen Atem an meinem Nacken spüre. Eine Gänsehaut läuft mir den Rücken hinunter und erst jetzt realisiere ich, dass das mein Cousin ist, der mir gerade so unendlich nah an die Pelle rückt.
 „Michi … lass das …!“, versuche ich vergebens ihn zu verscheuchen. Ich lehne mich in meinem Sessel ein Stück nach vorne, doch Michael haut nicht ab.
 „Du bist mir also was schuldig …?“, haucht der und berührt mit seiner Nase mein Ohr.
 „Na ja … muss nicht unbedingt sein …“, stottere ich plötzlich und kneife die Augen zusammen.
 „Gut, dann will ich etwas haben …“, säuselt Michael weiter in mein Ohr und ignoriert meine vorige Antwort.
 „W-Was denn?“
 „Einen Kuss …“

Wie gut küsst mein Cousin?


„W-Was?!“, kreische ich plötzlich ziemlich mädchenhaft und springe auf. Mein Cousin will doch etwa nichts von mir …?! Oder doch?
 „Komm schon, Danny … ich will doch nur wissen, wie gut mein Cousin küssen kann!“
 „Das hat dich überhaupt nicht zu interessieren!“, schreie ich mit hochrotem Kopf. Ob der vor Wut aussieht wie eine Tomate, oder vor Scham, ich weiß es nicht. „Immerhin bist du mein Cousin, und nicht mein Freund!“
 Da lächelt Michael auf einmal.
 Hä?
 „Du bist schwul, nicht wahr?“
 „W-Was?!“
 „Du hast mich schon verstanden …“
 „N-Nein …, ich meine, nein, ich bin nicht schwul!“
 Michael kommt wieder etwas näher. Er hat seine Hände in den Hosentaschen und sieht lächelnd zu Boden.
 „Ach komm schon! Dann bist du halt bi, und immerhin sind wir keine Geschwister, da ist es doch egal!“, meint er und sieht mich wieder an.
 „Trotzdem …! Außerdem …“, ich hole einmal tief Luft, „… habe ich schon einen Jungen geküsst und wir haben so was wie eine Beziehung!“
 
 Da werden Michaels Augen aber groß. Hätte nicht gedacht, dass ihn das so verwundert … er bleibt vor mir stehen und sieht mich skeptisch an.
 „Du hast einen Freund?“
 „Nein … also, ja …! Eigentlich schon …“
 „Ach komm, du lügst mich doch an“, meint Michael und lächelt, klingt aber trotzdem etwas unsicher.
 „W-Was?! Nein! Ich lüge nicht!“, verteidige ich mich vorwurfsvoll und sehe Michael beleidigt an. Der zieht eine Braue hoch.
 „Alter … wenn du einen Freund hast, dann bin ich Kaiser …“
 „Warum ist die Tatsache, dass ich einen Freund habe, so unglaubwürdig?!“, schreie ich meinen Cousin an.
 „Du hattest ja noch nicht einmal eine Freundin … außerdem hast du dich in der Gegenwart von hübschen Weibern immer aufgeführt wie ein Vollidiot. Dass du also gleich einen Jungen abkriegst … unvorstellbar!“
 Da läutet mein Handy. Ich atme innerlich auf, schiebe mich an Michael vorbei und greife nach meinem Telefon.

 Meine Erlösung! Jonas ruft noch einmal an!

 Und ich habe einen Plan.
 „Hi Schatz!“
 „…“ Stille an der anderen Leitung. Jonas scheint ziemlich verblüfft zu sein.
 „Warum rufst du an?“
 „Ääh … also …“
 Ich stelle mich zum Fenster. Jonas steht drüben in seinem Zimmer und starrt mit hochrotem Kopf an die Wand. Hoffentlich sieht er mich.
 „Warum rufst du an?“, wiederhole ich und starre zu ihm hinüber.
 „Na ja … ich wollte dich noch mal wegen … wegen morgen fragen. Wegen dem Referat. Meine Mutter erlaubt mir, dass ich zu dir komme um zwei Stunden mit dir zu arbeiten …“
 „Ah … morgen also …“, meine ich und da dreht sich Jonas zu mir und sieht mich verwundet an. Verzweifelt deute ich mit meinen Augen auf den Kerl der hinter mir steht. Jonas’ Augen blitzen auf und sofort spielt er das Spielchen mit.
 „Geht’s so morgen Abend oder eher Nachmittag?“ Die Betonung liegt auf „Abend“.
 „Hmmm, Nachmittag passt nicht, aber am Abend sind meine Eltern nicht da, da sind wir ungestört“, deute ich an und Jonas kichert.
 „Soll ich was mitnehmen?“
 „Kondome?“
 Jonas fängt zu prusten an. Hoffentlich hört man das nicht aus dem Telefon, sonst fliegt noch alles auf.

 „Also, bis morgen Abend!“
 „Ja, bis dann …“
 „Ich liebe dich.“
 Jonas ist still.
 Ich seufze und lege auf. Dann drehe ich mich zu Michael.
 „Wie’s scheint hast du wirklich einen Freund …“, kommt es von dem und ich fange an zu grinsen.
 „Tja, ich lüge halt nicht!“, sage ich und sehe ihn an.
 Michael lächelt wieder. „Aber du schuldest mir noch immer was!“
 Ich seufze. Man, was will er denn?! Ich habe einen Freund!
 „Aber nix mit küssen oder so!“
 „Hach …“, seufzt Michael und kommt mir wieder näher, „… nur einen Kuss, mehr will ich nicht von dir …“
 War das aus einem Ärzte-Lied…?
 „Michi! Ich hab nen Freund! Und den will ich nicht be…“
…trügen.

 „Und, wie war ich …?“
 Mit hochrotem Kopf stehe ich an die Wand gepresst da und weiß nicht, was ich tun soll. Er hat mich wirklich geküsst! Verdammte Scheiße, er hat mich geküsst!
 „Grottenschlecht …“, murmle ich, stoße ihn unsanft weg und flüchte ins Bad. Schnell schließe ich die Tür ab und lasse mich die Wand hinunterrutschen.
 Scheiße …
 Das ist gar nicht gut.
 Ich habe Jonas betrogen!
 Verfluchter Mist …
 Ich stehe wieder auf und wanke zum Waschbecken. Dort sehe ich in den Spiegel und erkenne einen weinenden Dennis im Glas wieder.
 … weinend? …
 Schnell wasche ich mir das Gesicht und sehe wieder auf. Schon besser … aber das Wasser stoppt die Tränen nicht.
 Schluchzend lasse ich mich zurück auf den Boden fallen. Verdammt! Das ist so ein ungutes Gefühl! Auf einmal habe ich das Bedürfnis mich umzubringen …
 „Schon gut …“, murmle ich immer und immer wieder. „Jonas wird dich eh killen, also macht es keinen Unterschied …“
 Diese Selbstmordgedanken werden noch dadurch gestärkt, als es plötzlich an der Tür klopft.
 „Dennis? Dennis, bist du noch da drinnen?“
 Jetzt habe ich das Bedürfnis einen Amoklauf zu starten.
 „Dennis, es tut mir Leid! Wenn ich etwas Falsches gemacht habe, dann lass mich rein um mich zu entschuldigen!“
 „Halt die Schnauze du elender…“, beginne ich, muss aber laut aufschluchzen und verschlucke den Rest des Satzes.
 „Du … weinst ja …“, kommt es erschüttert von der anderen Seite. Ja nee, hört sich bloß so an …
 „… Ich werde mir das nie mehr verzeihen können … Michael, du Arschloch …!“
 „Lass mich rein …“, höre ich ihn sagen, „bitte.“
 Er hört sich wirklich schuldbewusst an. Ich wische mir mit meinem Ärmel über meine Augen, krieche zur Tür und ziehe mich an der Klinke hoch. Meine Finger schließen sich um den Schlüssel. Langsam drehe ich ihn.
 Dann mache ich die Tür auf.
 
 Michael sieht mich an. Dann betritt er das Badezimmer, macht die Türe zu und schließt sie wieder ab.
 „Was soll das?!“, protestiere ich lauthals, doch Michael geht zum anderen Ende des Raumes und setzt sich auf den Deckel der Kloschüssel.
 „Tut mir Leid. Es tut mir wirklich Leid.“
 Ich stehe nur da, ein paar einzelne Tränen kullern noch meine geröteten Wangen hinunter. Irgendwie will ich ihm ja verzeihen, aber gerade geht das überhaupt nicht.
 „Warum hast du das gemacht …“, frage ich und lasse mich zu Boden fallen.
 „Weil du süß bist.“
 „Halt die Klappe! Ich mein’s ernst!“
 „Hm … ich auch …“
 Ich starre ihn wutentbrannt an. Sind jetzt alle rund um mich verrückt geworden …?! Jetzt würde ich wirklich gerne einen Amoklauf starten …
 Obwohl … was ist denn eigentlich so schlimm dran, schwul zu sein? Ich weiß es selber nicht … ich hab mich noch nicht mal ganz mit dem Gedanken angefreundet, bi zu sein …
 „Kannst du mir verzeihen?“, fragt Michael abermals. Am liebsten hätte ich ihm eine in die Fresse gehauen, denn er weiß wahrscheinlich selbst, wie schwer das gerade für mich sein würde. Aber ich bleibe nur da sitzen wo ich gerade sitze und starre auf die weiß-bläulichen Fließen unseres Badezimmers.
 „Kannst du oder willst du nicht mehr mit mir reden …?“ Langsam wird er nervig, ich überlege, ob wir hier irgendwo eine Falltür eingebaut haben …
 Ich schüttle den Kopf und wische mir über Augen und Nase. Ich komme mir vor wie ein Wasserfall … aus Tränen und Rotz.  
 Wortlos schießt mir Michael eine Klopapierrolle rüber, die ich fange und das Toilettenpapier gleich einmal als Taschentuch missbrauche.
 „Es tut mir wirklich sehr Leid, das wird nicht mehr vorkommen.“ Das waren Michaels letzte Worte, bevor er aus dem Badezimmer verschwindet.


Das Ende vom Anfang oder Vergebung der Sünden?


Meine Mutter ist vor einer halben Stunde die Treppe rauf gekommen und wollte mich zwingen, aus dem Badezimmer zu kommen und mich nach unten zu den anderen zu gesellen, doch ich habe echt keinen Bock, den Rest des Tages Michaels blöde Fresse vor mir zu haben. Also sagte ich ihr durch die verriegelte Badezimmertür, dass mir echt verdammt schlecht wäre  und ich gleich kotzen müsste. Was ja eigentlich gar nicht so unwahr war, denn ich hocke schon den halben Nachmittag neben der Kloschüssel und weine mir mein Hirn aus den Augen. Irgendwie kann ich nicht aufhören, der Strom ist für heute wohl nicht mehr zu stoppen. Meine Mum war von meiner kratzigen Stimme ziemlich schockiert und fragte, ob sie einen Arzt rufen sollte, doch ich verneinte nur und redete meine angebliche Übelkeit auf den Thunfischsalat und den danach getrunkenen Orangensaft aus, was jetzt zwar ziemlich einfallslos und ungläubig klingt, mir aber schon mehrmals Magenschmerzen bereitet hatte.
 Nach ein paar tadelnden Worten voller Mitleid meiner Mutter ließ sie mich dann auch wieder in Ruhe und leistet den anderen wieder Gesellschaft. Ohne mich.
 Ich hoffe, Michael wird an seinen Schuldgefühlen ersticken.

Nach einer vollen Stunde war ich schlussendlich zu schwach, um auch nur das kleinste Tränchen aus mir herauszupressen, und lag völlig fertig neben dem Klo am Boden. Mein Gesicht war kreidebleich mit roten Flecken, man könnte meinen, ich hätte eine Art Hautkrankheit.
Mittlerweile sind mir die schrecklichsten Gedanken in den Sinn gekommen: Was, wenn Jonas uns gesehen hätte? Wenn er noch vor dem Fenster gesessen hätte? Was, wenn ich es ihm beichte und er unsere Freundschaft in den Sand setzten würde? Wenn er mich hassen würde? Das alles bereitet mir unerträgliche Bauch- und Herzschmerzen. Wir kennen uns gerade mal ein paar Wochen und seine Dummheit würde alles zunichte machen. Meine erste Freundschaft, meine erste wirkliche Beziehung! Aber nein, dann kommt Michael und zerstört alles!
In diesem Moment empfinde ich so unendlich großen Hass für Michael, dass mir wieder übel wird. Ich kann es gar nicht beschreiben, was für ein egoistisches Arschloch er doch ist! Meine Gefühle schienen mich zu übermannen und wutentbrannt rappelte ich mich auf und reiße die Badezimmertür auf. Mit festen Schritten poltere ich die Treppe hinunter und renne schnurstracks ins Wohnzimmer, wo sich die ganze Bagage eingenistet hat. Blicke treffen mich, Fragen werden mir gestellt, doch ich höre nicht zu, sondern nähere mich mit verzerrtem Gesicht dem Schwarzhaarigen. Der sieht mich nur geschockt an, sei es wegen meiner Fratze oder wegen meiner grässlichen Farbe im Gesicht. Wörter kommen aus seinem Mund, doch die werden auch überhört. Ich bin nur noch etwa fünf Schritte von ihm entfernt, also lege ich einen Zahn zu, bis ich vor ihm stehe und … schlage ihn mit der Faust mitten ins Gesicht.

 „Rhaaaaar! Blödes Arschloch! Michael, ich hasse dich, du hässlicher Hund! Tritt mir nie wieder unter die Augen, ich hasse dich! Ich hasse dich!!“

 Jetzt, zwei Stunden später, weiß ich eigentlich gar nicht mehr, was mich so wild gemacht hat. Ich meine, klar, ich bin noch immer wütend auf ihn, aber ich hätte ihn nie geschlagen …! Aber ich habs echt getan. Und jetzt bin ich eingesperrt in meinem eigenem Zimmer und habe, wer hätte das gedacht, ein ganzes Monat Hausarrest! Yippieh, besteht das Leben eines Teenagers eigentlich auch noch aus etwas anderem als Hausarrest? Naja, zurück zum Thema. Also, ich hab Michael voll eine in die Fresse gehauen, sein Kopf ist richtig nach hinten aufs Sofa geknallt und er hat wirklich merkwürdige Geräusche gemacht. Seine Nase triefte nur so vor Blut, und obwohl ich mit voller Wucht zugeschlagen hatte, sah sie noch immer perfekt aus. Das deprimierte mich für einen Moment, aber dann realisierte ich die ganze Situation erst. Vorsichtig drehte ich mich ein Stück, und bemerkte sofort, dass alle Blicke auf mich gerichtet waren. Meine Eltern sahen mich schockiert an, meine Cousinen auch, aber dann wanderte mein Blick zu Fabian und Vincent, welche grinsend ihre Daumen hochreckten. Schließlich waren da noch meine Tante, die jetzt ihren Sohn tadelnd ansah und mein Onkel, der bereits aufgestanden war, mir auf die Schulter klopfte und seinen Sohn am Kragen aus dem Zimmer beförderte.
 Ich frage mich, warum er das nicht mit mir gemacht hat, wo ich doch derjenige bin, der seinem Sohn Schaden zugefügt hat. Aber irgendwie finde ich Christophs Methoden zwar fragwürdig, seinen Sohn zu beschimpfen und nicht mich, doch was reg ich mich eigentlich auf, ich sollte froh sein, jetzt nicht meine ganze Familie als Feind zu haben. Aber was würde das schon heißen …? Wäre mir ehrlich gesagt egal, noch von ein paar Leuten mehr verarscht zu werden oder Drohbriefe zu erhalten …
 Es klopft an der Tür. Verwundert drehe ich mich um und höre, wie jemand den Schlüssel im Schloss dreht. Bitte, denke ich, bitte lass es nicht Michael sein! Die Tür quietscht, als sie geöffnet wird, und halleluja, Christoph tritt ein. Mit schuldbewusstem Blick, den ich ehrlich gesagt wirklich habe, sehe ich meinen Onkel an, doch der lächelt nur und setzt sich zu mir aufs Bett.
 „Hast ihm ja richtig eine gedroschen“, meint er und ich sehe betroffen zu Boden.
 „Es tut mir Leid, ehrlich“, versuche ich mich zu entschuldigen, doch Christoph winkt ab und lacht: „Er hat’s verdient! Nach dem, was zwischen euch zweien passiert ist …“
 „Er hat es dir erzählt?!“ Geschockt starre ich meinen grinsenden Onkel an und werde sogleich knallrot im Gesicht. Was für ein Trottel, posaunt es gleich in der Weltgeschichte herum! Peinlicher kann’s echt nicht werden. Beschämt vergrabe ich mein Gesicht in den Händen.
 „Hey, das muss dir nicht unangenehm sein, so ist Michael nun mal. Der treibt es mit allem und jedem, da kannst du froh sein, noch mit einem Kuss davongekommen zu sein …!“
 Jetzt bin ich echt sprachlos. Solche Worte aus dem Mund eines Vaters zu hören! Mit großen Augen sehe ich Christoph nun an. Ich verstehe die Logik der Welt echt nicht mehr …!
 „Was ist?“, fragt mein Onkel scheinheilig, und ich schüttle verstört den Kopf und murmle etwas Unverständliches.
 „Schau, ich kenne meinen Sohn schon sein ganzes Leben lang, und ich kenne ihn besser, als jeder andere. Er ist ein Aufreißer, und du bist ein ganz besonderes Ziel, weil du erstens gut aussiehst-“„Da muss ich dir widersprechen!“ „-und zweitens sein Cousin bist. Er steht auf so was, wie oft glaubst du, habe ich ihn schon mit Vinc oder Fabi erwischt?“
 „Aufhören, das ist ja krank!?“, rufe ich verzweifelt und halte mir instinktiv die Ohren zu. Was ist das nur für eine Familie?! Ich glaube ich ändere meinen Namen und ziehe nach New York, hier, zwischen so vielen Irren, halte ich es nicht aus!
 „Tut mir Leid, aber es ist so. Und du musst das verstehen, meine Familie ist zwar sonderbar, aber keines Falls abnormal. Jeder Mensch kann den lieben, den er lieben will. Egal welches Geschlecht er hat. Und wenn Michael jetzt auf Inzestbeziehungen steht, meine Güte, ich kann es nicht ändern! Er wird sowieso das machen, was er sich in seinen Schädel setzt. Aber ich habe es zu akzeptieren, denn ich will meinen Sohn nicht verschmähen, nur weil er etwas andere Vorlieben hat, was sein Liebesleben betrifft … Ich habe ihm nur gesagt, dass sich niemand ernsthafte Schäden dabei zuziehen darf, weil ich nicht will, dass irgendjemand wegen ihm in Schwierigkeiten kommt, auch nicht er selbst. Und ich finde deine Handlung absolut nachvollziehbar, denn du bist anscheinend in einer Beziehung, und Michael sollte das nicht kaputt machen.“
 Mein Mund steht sperrangelweit offen. Was mir Christoph soeben erzählt hat, das hat mich echt berührt. Wie wahr, denke ich nur. So einen verständnisvollen Vater hätte ich auch gerne.
 „Kannst du das nicht einmal deinem Bruder erzählen, oder am Besten gleich meinen neuen Nachbarn?“, frage ich schwach lächelnd, und Christoph lacht.
 „Glaub mir, dein Vater will so etwas gar nicht hören. Und deine Nachbarn … ich bezweifle, dass mir jemand von denen zuhören wird, ich kenne sie von deinem Vater aus dem Studium, die haben ihren eigenen Schädel und lassen sich von niemandem etwas sagen.“ Entschuldigend sieht er mich an, aber ich lächle nur und winke ab. „War eh nicht ernst gemeint.“

 „Bis zum nächsten Mal!“, höre ich vom Vorraum nach oben in mein Zimmer dringen. Ich gehe zum Fenster und öffne es, um mich wenigstens von hier zu verabschieden. Meine Mutter hat sich noch immer nicht beruhigt, sie ist etwas streng, was körperliche Gewalt anbelangt. Ich glaube, ich werde sowieso den Rest meines Lebens hier drinnen verbringen müssen.
 Die ersten kommen aus der Haustüre. Mein Onkel umarmt meinen Vater und meine Mutter gibt meiner Tante einen Kuss auf wie Wange.
 „Schön war es heute, aber ich entschuldige mich nochmals für das Verhalten von Dennis …!“ Das war meine Mutter. Danke, ich glaube, wenn sie es ihnen noch mehr einhämmert, werden sie zum Schluss wirklich noch nachtragend.
 „Ach Yvonne, du brauchst dich für ihn doch wirklich nicht zu entschuldigen, Michael hat ihn wütend gemacht, es ist absolut nicht Dennis’ Schuld!“
 Da sehe ich Michael. Er steht etwas abseits, hat sich anscheinend schon von jedem verabschiedet. Seine Hände sind in den Jackentaschen vergraben und sein Hals eingezogen. Ich glaube, er fühlt sich wirklich schuldig. Sogleich tut er mir irrsinnig Leid, Christoph hat ihm anscheinend eine Standpauke erteilt. Also schnappe ich mir ein Blatt Papier, kritzle ein paar entschuldigende Wörter drauf und erläutere ihm, dass ich ihn immer noch gern habe und dass er mir verzeihen soll. Das falte ich zu einem Pseudopapierflieger und schieße es nach unten. Glücklicherweise treffe ich genau seinen linken Fuß und sein Blick trifft meinen. Ich lächle ihm zu und rufe: „Bitte lies es dir durch.“
 Anscheinend versteht er meine Geste und faltet das Papier auseinander. Nach einigen Minuten Schweigen seinerseits blickt er auf und grinst verschmitzt.
 „Mir tut’s Leid Danny, wird nicht mehr vorkommen!“ Und dann wirft er mir einen Kussmund zu und ich tippe mir an die Stirn und knalle das Fenster zu.
 So ein Idiot, aber wenigstens geht es unserem Gewissen jetzt besser.

 Ich war total aufgeregt, denn das ist seit langem wieder ein Abend, an dem Jonas und ich alleine sein würden. Aber einen Haken hatte die Sache: Ich will ihm sagen, was gestern zwischen Michael und mir passiert ist. Ich will ehrlich sein, und hoffen, dass er mir vergibt.
 Also warte ich nervös im Wohnzimmer auf meinen mehr als besten Freund und denke mir mein Hirn kaputt. Was, wenn er es nicht akzeptieren würde? Wenn er mich hassen würde? Ich glaube, ich könnte es nicht ertragen. Wahrscheinlich würde ich mich erhängen oder von einer Brücke stürzen oder so einen Scheiß … Nein, das vielleicht nicht, aber ich könnte es mir schon vorstellen, für lange Zeit in Selbstmitleid zu versinken.
 
 Da läutet es. Das Geräusch der Haustürklingel fährt durch meine Vene wie ein Blitzschlag. Langsam erhebe ich mich vom Sofa, das ich die letzte Stunde durchgehend besetzt habe, und gehe zur Tür. Ich öffne sie langsam, und erblicke Jonas. Sein freudiges Gesicht bereitet mir Schmerzen, die Vorstellung, diesen Engel betrogen zu haben, macht mich fast verrückt.
 „Hey Dennis …“, haucht Jonas verlegen und kommt auf mich zu. Seine Bäckchen sind ganz rot vom kalten Herbstwind, obwohl er nur 20 Meter bis zu meiner Wohnungstür hat.
 „… Hey …“, meine ich und versuche zu lächeln. Klappt aber nur zur Hälfte. Unsere Lippen treffen aufeinander, und der Kuss bleibt kurz und süß. „Komm rein, ich hab uns einen Tee gemacht.“
Jonas geht lächelnd an mir vorbei, und ich schließe die Wohnungstür. Dann folge ich ihm ins Wohnzimmer und deute ihm, sich auf dem bereits von mir vorgewärmten Sofa niederzulassen, während ich noch einen Abstecher in die Küche mache, und uns den Tee hole.
 Mit einem mit Keksen und Tee befülltem Tablett in der Hand, komme ich zurück ins Wohnzimmer und stelle es auf dem Couchtisch ab, bevor ich mich zu Jonas auf das Sofa fallen lasse.
 Schweigen.
 „Also … wollen wir zuerst was für die Schule machen …?“, fragt Jonas dann, und ich zucke mit den Schultern.
 „Können wir, wenn du willst …“ Scheiße! Warum trau ich mich nicht, es anzusprechen …?
 „Hast du die Bücher?“
 „Ja klar, alles da“, sage ich und deute auf den Couchtisch, auf dem ich schon alle vorbereitet habe. Jonas nickt. Unsere Blicke treffen sich. Perplex sehe ich zur Seite, und ohrfeige mich sofort dafür. Wenn ich so weitermache, spricht er mich noch darauf an, und das wär echt unangenehm.
 „Dennis, was ist los? Du benimmst dich heute irgendwie total merkwürdig!“ Mit fragendem Blick werde ich von meinem Gegenüber gemustert. Verdammt, er hat mich darauf angesprochen.
 „Jonas, ich muss dir etwas sagen …!“
 „Erst, wenn du mir meine Frage beantwortet hast.“
 Mit verzweifeltem Blick sehe ich ihn an. Sofort verändert sich seine Miene.
 „Was ist passiert?“, fragt er leicht geschockt.
 „Bitte, bitte sei mir nicht böse, wenn ich es dir erzähle …“, flüstere ich, und sehe wieder zu Boden.
 Jonas schweigt und sieht mich einfach nur abwartend an. Ich sehe wieder in seine Augen.
 „Gestern … Michael … er hat mich … er hat mich geküsst, einfach so … und … und ich konnte nichts dagegen tun …“, murmle ich wirr daher und sehe Jonas immer wieder verzweifelt an. „Bitte, ich konnte echt nichts dagegen tun, er hat mich einfach überrumpelt und nachher hab ich ihn sogar geschlagen, es tut mir einfach so Leid, ich fühle mich einfach nur schlecht deswegen und würde mich am liebsten umbringen und … mmh!“
 Jonas warme Lippen scheinen die Tränen zu stoppen, die plötzlich angefangen haben, über meine Wangen zu laufen.
 „Dennis, ist schon gut. Ich verzeih dir, es war ja nicht deine Schuld …!“
 „W-Wirklich …?“
 Er lächelt nur, und verschließt meine Lippen wieder mit den Seinen. Ich bin so froh, so verdammt froh. Mein Bauch fühlt sich an, als wäre er mit Millionen heißen Schmetterlingen gefüllt, und mein Herz scheint vor Freude zu zerspringen.

 „Du bist viel zu gut für mich, Jonas …!“, flüstere ich ihm ins Ohr, als wir eng umschlungen auf dem Sofa liegen, und ich ihm Kekse in den Mund stecke.
 „Nein, ich bin genau perfekt für dich, Dennis …!“, haucht er, und gibt mir einen zuckersüßen Kuss, der nach Früchtetee schmeckt.

Referat oder Frühere Liebschaften - Was ist interessanter?


„… und die Bakterien verteilen sich dann … mit Medikamenten … muss man vorbeugen …-nnis ..? Dennis …? Dennis! Hörst du mir zu?“
 Ich schaue erschrocken auf. Jonas sieht mich belustigt an.
 „Bist du schon so müde? Ich kann auch gehen, wenn du willst …“, meint er, aber ich schüttle nur panisch den Kopf und reibe mir meine Schläfen.
 „Nein, bleib hier, ich bin nur gerade abgedriftet …!“, erwidere ich und reibe nun auch meine müden Augen. Wir sitzen nun schon geschlagene vier Stunden an dem blöden Referat und es ist mittlerweile halb zwölf. Draußen vor dem Fenster stürmt es und man hört hin und wieder lautes Donnergrollen. Ich sehe, wie Jonas immer wieder unruhig aus dem Fenster starrt. Er ist nervös … oder verängstigt, ich weiß es nicht.
 „Jonas?“
 „Ja?“
 Ich sehe ihn etwas länger an. Er sieht nur zurück. Dann rücke ich näher zu ihm, nehme seinen Kopf zwischen meine Hände und gebe ihm einen sanften Kuss. Er blickt zuerst etwas verwirrt drein, dann schließt aber auch er die Augen und genießt es. Ich muss lächeln. Jonas tut mir gerade unheimlich gut. Er tut mir gut, seit wir uns das erste Mal getroffen haben. Und ich bin froh, mit ihm zusammen zu sein.
 „Jonas …“, flüstere ich dann wieder, und lehne mich zu seinem Ohr. Er verharrt in seiner jetzigen Position und hauchte zurück: „Ja …?“
 Ich lächle und drücke ihn an mich. „Ich hab dich so unheimlich gern Jonas …“
 Freudig spüre ich, wie er mich ebenfalls umarmt und mir einen Kuss auf die Wange drückt.
 „Danke Dennis, ich hab dich auch lieb“, flüstert er zurück. Er hebt seinen Kopf von meiner Schulter und sieht mich an. Schmunzelnd erkenne ich den leichten Rotschimmer auf seinen Wangen. Das passt ihm so unglaublich gut…!
 „Lass uns für heute aufhören, jetzt kann ich mich sowieso nicht mehr konzentrieren …“, schnurre ich und komme seinen Lippen wieder näher.
 „Ach, warum denn nicht?“, grinst Jonas, und weicht mir langsam aus, ohne den Blickkontakt abzubrechen. Ich muss ebenfalls grinsen und lehne mich Stück für Stück weiter nach vorne.
 „Ach, weißt du, da gibt es so einen hübschen Kerl, der heißt Jonas. Mit dem muss ich gerade an einem äußerst uninteressanten Referat arbeiten, aber ich habe absolut keine Lust mehr.“
 „Na so ein Pech! Was wirst du jetzt machen?“
 „Hm, ich glaube, ich werde schauen, ob er nicht auch Lust hat, anderwärtig Spaß zu haben …!“
Mit neckischem Grinsen weicht Jonas weiter zurück, doch plötzlich stößt er an die Couch und kommt nicht mehr weiter.
 „Ha, jetzt ist er mir wohl in die Falle getappt …!“
 Jonas zuckt nur unschuldig mit den Schultern und legt dann seine Arme um meinen Nacken. Er fängt an zu lächeln und meint dann: „Ich glaube, dieser Jonas hat jetzt sehr viel Lust, Spaß mit Dennis zu haben …!“
  Perplex starre ich ihn an und bin sprachlos. Wow …
 „Was ist?“, fragt er nur, und ich kann einfach nicht aufhören, ihn anzustarren.
 „Jonas … du …“
 „Was denn?“
 Ich komme ihm immer näher. Sein Schlafzimmerblick eben hat mich völlig aus der Fassung gebracht.
 „ … Du sahst gerade einfach unheimlich sexy aus …!“
 Sofort wird Jonas’ Kopf rot wie eine Tomate und er sieht beschämt zur Seite. Ich lächle aber nur und drehe seinen Kopf wieder vorsichtig zu mir. Er ist einfach so unheimlich süß, ich kann mir nicht helfen.
 „Was hast du denn, das war ein Kompliment“, lache ich leise.
 „Tut mir Leid … das war nur irgendwie so ungewohnt …!“, lächelt er und legt seine Lippen auf meine. Ich erwidere seinen Kuss.
Diese Gefühle … es ist etwas ganz Neues, obwohl wir uns jetzt schon eine Weile so nahe sind. Ich kann immer wieder aufs Neue spüren, wie wichtig mir Jonas ist, und das ist mir einfach eine riesige Freude.
 Verspielt saugt Jonas an meiner Zunge, und gekonnt kontere ich seinen kleinen, süßen Angriffen. Wir merken wohl beide, wie schnell sich unser Kuss intensiviert, und bald spüre ich, wie Jonas mich auf den Boden zu drücken versucht. Überrascht über diese Aktivität lasse ich ihn gewähren und schließe die Augen. Was will er jetzt mit mir anstellen? Im Moment ist es mir sowieso egal, denn es fühlt sich gerade viel zu gut an, um irgendetwas zu denken.
 „Dennis…“, spüre ich Jonas in den Kuss hauchen, und ich kann fühlen, wie sich alles bei mir aufstellt.
 Wortwörtlich alles.
 Schnell rapple ich mich auf, löse den Kuss, ziehe Jonas jedoch in meine Arme und presse etwas gequält hervor: „Jonas … wenn du so weitermachst … dann werde ich noch verrückt …!“
 Etwas perplex starrt Jonas mich an, während ich mit hochrotem Kopf an ihm hänge und unkontrolliert atme. Ganz langsam wandert sein Blick an mir herunter, und als dieser eine Weile dort unten hängen geblieben ist, sieht er mich mit einem breiten Grinsen an.
 „Es tut mir wirklich leid, ich wollte das nicht …!“, murmle ich, doch Jonas packt meinen Kopf und drückt ziemlich stürmisch seine Lippen auf meine. Überrumpelt weiß ich erst nicht, was ich machen soll, doch dann spüre ich Jonas‘ fordernde Küsse und lasse mich mitreißen, in einen Fluss aus Lust, der uns beide auf einmal in die Tiefe zieht. Nicht, dass mir das nicht gefallen würde …!
Keuchend lasse ich mich wieder auf den Rücken fallen und ziehe Jonas mit mir. Dieser hat mir seinem umwerfenden Zungenkampf aufgehört, hat jedoch gleich begonnen, mein Kinn entlang zu meinem Hals zu küssen, wo er auch eine Weile bleibt. Ich spüre, wie er an ihm saugt, wie er mit seiner Zunge über meine Haut kitzelt. Genüsslich seufze ich und lege meine Hand in seinen Nacken.
„Dennis …“, höre ich ihn hin und wieder hauchen.
„Mmh …?“, brumme ich nur genüsslich mit geschlossenen Augen, habe definitiv keine Lust auf viel Gelaber.
„Ich … bin noch nie so weit mit jemandem in einer Beziehung gegangen … Wenn es also unangenehm ist, oder dir keinen Spaß macht, musst du es mir sagen“, flüstert er, in seiner Bewegung verharrend.
Erstaunt sehe ich auf. Will er etwa … hat er vor, noch weiter zu gehen …?
„Jonas … willst du … willst du etwa mit mir schlafen?“

Perplex starren mich zwei blaue Augen an. Ich schaue zurück, mit fragendem Blick. Dann auf einmal errötet mein Gegenüber und sieht blinzelnd auf eine Stelle auf meiner Brust.
„Hat … hat sich das gerade wirklich so eindeutig angehört …?“, fragt er mit schüchterner Stimme, und ich sehe ebenfalls zur Seite, ebenfalls etwas rot werdend.
„I-ich hab so etwas noch nie mit einem Jungen getan, deshalb … habe ich keine Ahnung, wie man es macht, und-“
„N-nein! So meinte ich das nicht, ich wollte nur sagen, dass … ahrg!“ Jonas kneift die Augen zusammen und schlägt sich die Hände vors Gesicht. Zwischen seinen Fingern nuschelt er nur undeutlich „Ich hab das anders gemeint …“ hervor, und plötzlich wird mir die Peinlichkeit und die Unsinnigkeit dieses Gesprächs erst bewusst.
„Also … also gut, vergessen wir das Ganze!“, sage ich schnell und setze mich wieder auf. Ich sehe Jonas ruhig an, beruhige mich wieder und gebe somit auch ihm zu verstehen, sich nicht so sehr zu verkrampfen. „Wir … sollten uns einfach treiben lassen, und wenn der Zeitpunkt gekommen ist, dann sind wir beide bereit.“
Jonas sieht mich an, dann lächelt er.
„Danke Dennis.“ Das steht wohl für die Wartezeit und für die Beendung dieses Gespräches.
Ich lächle zurück und nehme mein hübsches Blondchen in die Arme. Glücklich seufzend entspannt er sich in meinen Armen, legt seine ebenfalls um mich und gibt mir einen sanften Kuss auf die Stirn.
„Weißt du … ehrlich gesagt hatte ich schon Freunde vor dir … das habe ich dir bisher verschwiegen. Aber das war nie so wie mit dir jetzt …“
Erstaunt sehe ich ihn an. Heute scheint ja der Tag der Wahrheiten zu sein …! Mir soll‘s recht sein …
Die Tatsache, dass ich nicht sein Erster bin, erweckt keinerlei Misstrauen oder Ärger in mir, glücklicherweise. Nein, ich bin sogar froh, dass mir Jonas mal etwas von sich erzählt.
„Das freut mich aber, hört sich an, als wäre ich ein Einzelfall …!“, meine ich stolz und Jonas kichert.
„Nein, du bist einfach nur jung und naiv wie ich, das passt gut …!“ Was bitteschön meint er denn damit … jung und naiv wie er? Heißt das …
„Waren deine vorigen Freunde etwa alle älter als du?“, frage ich etwas unsicher, doch Jonas nickt ehrlich und lehnt sich wieder mehr an mich.
„Meinen ersten Freund hatte ich mit dreizehn. In diesem Alter hab ich auch selbst erkannt, dass ich Mädchen uninteressant finde, ihre … Geschlechtsorgane fand ich einfach nur eklig, allein die Vorstellung mit einer Frau zu schlafen fand ich widerlich. Ich hab mir damals oft Pornos angesehen, aber das hat mich eigentlich nie wirklich angeturnt … bis ich dann die Schwulenszene entdeckt hab …“
Wow, das ist ja mal was. Mit dreizehn …? Verdammte Scheiße, ist das früh … aber gut, ich will ihn nicht unterbrechen, er soll weiterreden.
„Wie gesagt, ich hab im Internet einen kennengelernt, der aus dem Nachberstädtchen kam. Er war immer ganz nett zu mir, auch bei unserem ersten Treffen. Er hatte mir anfangs zwar gesagt, er sei erst vierzehn, doch beim ersten Date kam raus, dass er eigentlich schon achtzehn war. Doch das hat mich damals nicht gestört, im Gegenteil, ich fand es wirklich aufregend.“
Jonas schweigt eine Weile, und ich schweige mit ihm. Für mich ist das ein ernsteres Thema, ich will keine Scherze machen oder unnötige Kommentare loslassen.
Schließlich redet Jonas weiter und ich höre ihm gespannt zu.
„Aufregend war es bis zu jenem Zeitpunkt. Er hatte seine Schule beendet und wollte ausziehen. Ständig redete er mir ein, ich sollte von zuhause weglaufen und mit ihm kommen, doch das traute ich mich nicht, nicht weg von meinen Eltern. Er ist immer grober geworden, hat mich manchmal sogar geschlagen, doch ich war auch ein Junge, also hab ich zurückgeschlagen. Er hat es als Spaß gesehen, es geduldet, bis zu jenem Tag. Ich hab ihm fast die Nase gebrochen, und dann ist er wild geworden und hat mich …“
Betrübt sieht Jonas zu Boden. Ich schlucke. Ich glaube, ich weiß, was dann passiert ist, und es musste sehr, sehr schmerzvoll gewesen sein.
„Das heißt … gegen deinen Willen …?“
„Nein, nicht ganz … zur Hälfte. Denn meine Gefühle und meine Hormone fuhren zu dieser Zeit noch Achterbahn, und es war mir nicht möglich zwischen Lust und Liebe zu unterscheiden. Ich habe es über mich ergehen lassen, wie man sein erstes Mal nun einmal über sich ergehen lässt, war danach sogar ziemlich befriedigt, doch danach war er weg, und ich hatte geglaubt, mich nun endgültig und vollständig in ihn verliebt zu haben.“
Ich sehe Jonas an. Warum erzählt er mir das? Irgendwie leide ich darunter. Doch wahrscheinlich hat er es bis jetzt noch nie jemandem erzählen können … Also will ich weiter zuhören.
„Ein Jahr später war es ein Oberstufenschüler unseres Gymnasiums. Er hat mich anscheinend auf einer der Schwulenseiten im Internet gefunden und mich ab da immer verfolgt. Ich bin durch die Bekanntschaft mit ihm sogar bis in die Schülervertretung gekommen, und meine Eltern waren richtig stolz auf mich. Doch er hat alle Fäden gezogen, ich hab mir eigentlich nichts verdient. Und so kam es, dass er für alles eine Entschädigung haben wollte. Also kamen wir zusammen. Er war netter und fürsorglicher als mein Ex, doch für mich war alles immer so gezwungen und aufgesetzt. Seine Nettigkeit, seine Fürsorge, er gab sich immer Mühe, mir alles recht zu machen, doch das wollte ich nicht. Mit jedem Tag wuchs mein schlechtes Gewissen, und schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich ging nicht mehr zur Schule, und meine Eltern wurden von Tag zu Tag strenger und gehässiger. Schließlich zwangen sie mich, und da war er. Und er war nicht mehr nett und fürsorglich, nein, er sagte ich hätte ihn betrogen, und er verfolgte mich, machte mir das Leben schwer, und suchte bei mir schließlich noch die Befriedigung, die er brauchte.“
Jonas seufzt. Ich hab mittlerweile den Atem angehalten.
„Jonas …“ Meine Stimme ist leise und fast mitleiderregend.
Doch Jonas lächelt nur und sieht mich ruhig an. „Du musst kein Mitleid mit mir haben, all das ist vorbei, abgeschlossen, und ich hab die beiden seit über einem Jahr nicht mehr gesehen.“
Er legt mir seine Hand auf meine Wange, streicht einmal über meine Haare.
„Dieses Mal wird es nicht so enden, das weiß ich …“, haucht er.
„Ja, denn dieses Mal sind zwei pubertierende Teenager zusammen, die ihre verwirrten Gefühle teilen können …“
Jonas kichert, und gibt mir einen Kuss auf den Mund. Dann greift er nach hinten und schiebt mir einen Keks in den Mund. „Ab jetzt musst du leider mit diesen Süßen vorlieb nehmen, meine Mutter killt mich eh schon, ich bin bereits zwei Stunden zu spät …!“
Ich lächle zurück, lasse mich von ihm hochziehen und komme ihm näher, sodass er die andere Kekshälfte abbeißen kann.
„Na dann, bis Montag, mein Schatz.“
„Red‘ nicht so schwul, das passt nicht zu dir …!“, lacht Jonas, küsst mich noch einmal stürmisch, nur um dann grinsend aus unserem Haus in den Regen zu verschwinden.
… So ein süßes Blondchen …!

Anruf zu späten Stunden


Stumm liege ich auf meinem Bett zwischen Pullis, meiner Decke, ein paar Playstation Portable Spielen und kaue auf einem Kuli. Es ist halb vier Uhr morgens und ich kann nicht schlafen. Ob Jonas wohl eine heftige Standpauke seiner Eltern bekomme hat …? Irgendwie habe ich manchmal wirklich Angst um ihn, seine Eltern sind wegen seiner Neigung so … kalt zu ihm. Ich kann mir das gar nicht vorstellen … meine können zwar schon ziemlich streng sein, aber sie würde mir nie solche Blicke zuwerfen.
Die hab ich schon öfter gesehen, diese Blicke zwischen Jonas und seinen Eltern. Nicht schön, sag ich euch, sie starren ihn manchmal an, als wäre er ein Alien, und er starrt zurück, hasserfüllt.
Seufzend drehe ich mich auf meinen Bauch, werfe den Kuli über den Rücken ans Fußende meines Bettes und starre auf das Poster einer halbnackten Frau, das vor meinem Bett klebt und frage mich wie so oft in den letzten Wochen, ob ich nicht doch irgendwie abartig bin oder so. Aber das mit Jonas fühlt sich nicht falsch an, und deswegen bleibe ich bei meiner Meinung: Wir werden das durchstehen, das mit unseren Elter, das in der Schule und mit Freunden und Verwandten, und zwar gemeinsam.
Aber was er mir da erzählt hat, von seinen Exfreunden … es schockiert mich nicht wirklich, nein, irgendwie bewundere ich das sogar … Er hat schon Erfahrungen gemacht, hat schon geliebt und wurde auch schon mit Enttäuschungen konfrontiert, die ich nicht kenne. Und auf einmal fühle ich mich um so vieles jünger, unerfahrener und naiver als er.
„Shit …“
Meine Stimmung schwingt um … von Euphorie ins depressive … mein Gott, ich bin so ein Weichei geworden.
Plötzlich klingelt mein Handy. Zuerst glaube ich, schon Halluzinationen zu erleiden, da mich zu dieser unmenschlichen Uhrzeit doch niemand anrufen würde, doch als ich aufsehe, sehe ich auf meinem Schreibtisch das Display meines Handys blinken. Langsam wühle ich mich aus dem Zeug auf dem Bett und trete vor den Schreibtisch.
Jonas.
Warum ruft er an? Es ist bereits kurz nach vier, er sollte längst schlafen!
„Jonas?“, frage ich deshalb gleich nach dem Abheben, doch es antwortet mir nicht Jonas, sondern …
„Hallo? Bist du Dennis? Ich ruf an, weil dein Freund hier grad mehr oder weniger K.O. an mir hängt und sich die Seele aus dem Leib kotzt. Das war die erste Nummer, die ich gefunden hab, deshalb wollte ich fragen, falls du grad Zeit hast … ob du vielleicht kommen könntest um ihn abzuholen …“
Was … zur Hölle …
„Hallo, bist du noch dran? Dennis?“
„J-ja, ich bin noch da, was …“
„Warte, es ist grad ziemlich- Hey hey, nicht umfallen, ich halt dich fest, ganz ruhig, nicht weinen! … Ah sorry, dein Freund – ist er überhaupt dein Freund? Ich weiß ja nicht, wie du zu ihm stehst, aber du hattest Kurzwahlnummer eins, deswegen dachte ich mir-“
„Schon gut, ich hole ihn, wo seit ihr?“, frage ich energisch um den Redeschwall des Fremden zu unterbrechen. Oh Gott, was war hier nur los? Jonas, was hast du schon wieder angestellt …?
„Äh, okay, ahm, wir sind vorm ‚Flashlight‘, weißt du wo das ist?“
„Ich hab keinen blassen Schimmer“, antworte ich, während ich schlampig in irgendwelche wärmeren Klamotten schlüpfe und aus dem Zimmer laufe.
„Dennis Schatz? Was ist denn los?“, höre ich plötzlich die verschlafene Stimme meiner Mutter hinter mir, doch ich drehe mich nicht um, rufe einfach zurück: „Jonas geht’s nicht gut, er ist in der Stadt, ich muss ihn abholen!“
„Wenn du die Haupstraße länger entlangfährst, am ‚Corpse‘ und am ‚Labelle‘ vorbei, diese Pafümerie, dann musst du nach der dritten Ampel rechts, dort ist das ‚Flashlight‘“, begann der Fremde zu erklären. Das war nicht weit, wir wohnten nur zwei Straßen von der Hauptstraße entfernt, und auch von diesem ‚Flashlight‘ war es kein weiter Weg bis zu uns.
„Okay, ich bin in fünf Minuten da!“, rufe ich ins Telefon, lege auf, kralle mir den Schlüssel, der neben der Haustüre hängt und stürme aus dem Haus. Wie von einer Horde Büffel verfolgt rase ich durch die nächtlichen Straßen, mein Atem geht schnell, mein Herz schlägt mit einem monströsen Tempo, und ich habe Angst, schreckliche Angst, dass Jonas etwas Schlimmes zugestoßen sein könnte.
Mit einem Affenzahn überquere ich die Seitenstraße und laufe die Bundesstraße entlang, am ‚Labelle‘ vorbei hinauf zu den Ampeln.
Ich passiere die erste Ampel. Autos rasen an mir vorbei, obwohl es noch so früh ist, merkwürdige Menschen weichen mir aus, besoffene Jugendliche schreien mir dämliche Dinge nach.
Da ist die zweite Ampel. Verdammt, warum hat Jonas das gemacht? Was hat ihn dazu getrieben? Ich vermute sehr stark, dass dieses ‚Flashlight‘ irgendein Club ist, und Jonas wird sich dort sicher betrunken haben, weswegen er sicher am Reiern ist.
Dritte Ampel. Jetzt nur mehr in die Straße, dort müsste es sein.
„Jonas?“, rufe ich laut. „Jonas? Bist du hier?“
„Bist du Dennis?“, höre ich plötzlich die Stimme des Anrufers von der anderen Straßenseite. Sofort wirble ich herum, erkenne ein paar Meter weiter auch schon die Leuchtenden Buchstaben über dem Eingang des ‚Flashlight‘ und sehe daneben einen großen jungen Mann stehen, der meinen Jonas wirklich in seinen Armen hält. Mit Herzklopfen laufe ich über die Straße, nähere mich ihnen und komme keuchend und röchelnd vor ihnen zum Stehen, stütze mich auf meinen Oberschenkeln ab.
„Scheiße … Jonas, was machst … du nur immer …?“, krächze ich außer Atem und sehe auf.
„D- … Dennis …? Bissu das …?“, nuschelt der nur, und ich richte mich langsam auf, schenke nun dem guten Samariter meine Aufmerksamkeit.
„Danke, dass du Jonas rausgebracht und ihm geholfen hast …!“, meine ich leise, sehe ihn an. Verdammt, was ist das, ist das ein neuzehnjähriger Brad Pitt oder so?! Nein … er ist ein wenig schmäler … generell etwas hagerer. Aber blond ist er, und tolle Augen hat er.
„Schon okay, Jonas ist wirklich ein Zuckerstück, ich glaube da drinnen hätte es noch zwanzig andere Jungs gegeben, die ihm gerne rausgeholfen hätten …!“
… BITTE WAS?!
Okay okay, ganz ruhig Dennis …!
„Ä-ähm … wie meinst du das?“
Das muss ich erst einmal verdauen … Hört sich das gerade wirklich so an, wie es sich anhört …?
„Naja, Jonas ist ja schon ein hübscher Bursche. Und sicher nicht älter als zwanzig, und auf sowas stehen die meisten Kerle von heute: jung und knackig. Aber was rede ich da, du wolltest ihn gerade nach Hause bringen. Ich könnte dir helfen ihn zu tragen, gehen kann er glaub ich nicht mehr …“
„M-M-Moment mal, Jonas war wirklich gerade in einer SCHWULEN-BAR?!“, kreische ich aufgebracht und sehe den Brad Pitt mit aufgerissenen Augen an. Der schaut nur etwas irritiert und bricht dann in schallendes Lachen aus.
„Sag mir nicht, ich hab dir grad sein größtes Geheimnis verraten und dir erzählt, dass er schwul ist …!“, kichert er noch immer, aber ich schüttle nur verwirrt den Kopf.
„Nein, das weiß ich, ich meine, ich … wir … wir sind zusammen …“ Verdammt, warum erzähle ich ihm das überhaupt? Ich kenne diesen Typen doch gar nicht …!
„Autsch, Beziehungskrise?“, fragt der nur – will anscheinend auf Jonas‘ Aufenthalt in besagter Bar hinweisen – mit einem Gesichtsausdruck, der irgendwie mitleidig aussieht.
„Nein … Nein! Ganz und gar nicht! Ach … ist egal, i-ich … ich nehme ihn jetzt mit nach Hause …“, seufze ich nur erschöpft, und ein Dröhnen in meinem Kopf macht mich wiedermal auf die inhumane Uhrzeit aufmerksam.
„Also willst du keine Hilfe …?“
„Nein, es geht auch so …“
„Okay“, meint Brad, geht einige Schritte auf mich zu und hilft mir, mir Jonas irgendwie um die Schulter zu hängen. Schließlich habe ich die Idee, ihn einfach Huckepack zu tragen, was dann schließlich auch irgendwie angenehmer für uns beide – Jonas und mich – ist.
„Also dann, viel Glück bei eurer Heimreise …!“, ruft mir Mr. Pitt hinterher, und fügt dann noch ein lachendes „Ach ja, und mein Name ist übrigens Stephan!“ hintenan. Ich bedanke mich nochmal lautstark, während ich langsam aber sicher den Heimweg antrete, mit einem halb schlafenden und vor allem grummelnden und sabbernden Jonas auf dem Rücken.
„Was du immer für Sachen anstellen musst, Jonas …“, murmle ich, während ich mich den dunklen Gehsteig entlangquäle. Jonas mag ja schlank sein, aber leicht war er deswegen nicht gerade … besonders auf Dauer. Und wieder einmal beginne ich über die möglichen Gründe von Jonas‘ Sauftour nachzudenken. Ich wette dass es wegen seinen Eltern war. Gott, ich kann seine Eltern wirklich nicht ausstehen …! Diese ignoranten, großkotzigen … ich verliere mich. Ähm ja … hach … ich sollte so schnell wie möglich nach Hause, Jonas fängt schon an auf meinem Rücken zu zittern.
„D-Dennis …“, flüstert er zischend, krallt sich in mein Hemd und vergräbt seinen Kopf in meiner Halsbeuge.
„Alles wird gut, Jonas, gleich bist du bei mir zuhause …“, meinte ich halb abwesend, um ihn zu beruhigen. Es waren nur mehr wenige hundert Meter bis zu meinem Haus. Gott sei Dank, Jonas wird mittlerweile wirklich immer schwerer.
Schließlich bin ich vor unserer Haustür angekommen. Vorsichtig lockere ich den Griff um Jonas‘ Schenkel, lasse ihn langsam an meinem Rücken runter gleiten, drehe mich um und halte ihn fest, damit er nicht umfällt.
„Wir sind bei mir Zuhause, Jonas, gleich kannst du dich hinlegen“, flüstere ich ihm zu, während ich mit meiner anderen Hand, die ihn nicht festhält, umständlich die Wohnungstüre aufsperre. Wie sich herausstellt kann Jonas mittlerweile wieder etwas besser gehen, denn er schafft es auf eigenem Fuß in den Vorraum, taumelt gleich zu den Treppen. Ich kicke meine Schuhe schnell in eine Ecke und helfe meinem Freund die Treppen hoch, führe ihn in mein Zimmer.
„Geschafft“, seufze ich erleichtert, als ich Jonas zum Bett bringe und er sich erschöpft darauf fallen lässt. Ich lasse mich ebenfalls neben ihn sinken, bleibe jedoch noch etwas sitzen, sehe Jonas unverwandt an.
„Warum hast du das gemacht, Jonas?“, frage ich ihn leise, konnte den Missmut in meiner Stimme nicht ganz unterdrücken. Angesprochener dreht seinen Kopf nur langsam etwas in meine Richtung, sieht mich jedoch nicht an. Ich starre ihn noch immer an, als er schließlich leise und mit heiserer Stimme antwortet: „Ich … ich hatte plötzlich das Bedürfnis … mich zu … betrinken.“
„Und warum, wenn ich fragen darf?“ Diese Seite kenne ich noch nicht von ihm, und ehrlich gesagt bin ich nicht gerade froh darüber, sie kennen zu lernen.
„Meine Eltern ham‘ total den Aufstand gemacht, als ich so spät nach Hause gekommen bin … Wir ham‘ uns gestritten … sie wollten mir verbieten überhaupt noch raus gehen zu dürfen, weil sie gedacht haben, ich würde dieses Treffen nur als Vorwand für Partyfeiern benutzen. Also bin ich ausgerastet und abgehaun.“ Er klingt müde, erschöpft und ein wenig reuevoll.
„Und du musstest unbedingt in einen Schwulenklub abhauen …?“, frage ich ein wenig skeptisch.
„Sorry … ich … ich schwöre dir, ich hab mit niemandem-“
„Schon gut, Jonas, schon gut“, unterbreche ich ihn leise, sehe seinen leicht verzweifelten Blick, und zwinge mir ein Lächeln auf. „Vergessen wir das, du solltest ein Wenig schlafen. Morgen ist Sonntag, wenn du willst kannst du ein wenig hierbleiben, bevor du zu deinen Eltern gehst.“
Er lächelt mich dankbar an, hebt seine Hand und zieht mich an meinem Nacken näher zu sich. Er riecht sehr stark nach Alkohol, als er mir mit leiser Stimme zuflüstert: „Danke Dennis. Ich liebe dich.“
„Ich dich auch, du riesiger Idiot“, flüstere ich, bevor ich mich neben ihn sinken lasse, ihm noch einen zärtlichen Kuss gebe und dann die Decke über uns ausbreite.
„Schlaf gut, Jonas.“


___________
TBC

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 04.03.2012

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /