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               Urlaubsgewitter

 Fröstelnd zog Ruth Bergmann die Schultern zusammen, obwohl die Sonne warm vom wolkenlosen Himmel schien. Nachdenklich betrachtete sie den blühenden Fliederstrauch und die vielen bunten Blumen in dem kleinen Garten, den ihr Mann und sie so liebevoll gestaltet hatten. Wie viel Mühe und Zeit hatten sie investiert, um diese Pracht entstehen zu lassen. Jetzt stand sie alleine hier und schaute hinaus.
 

Kastanienbraune Locken umrahmten das schöne ovale Gesicht. Niemand sah ihr an, dass sie die Vierzig bereits überschritten hatte. Die tiefblauen Augen bekamen einen träumerischen Ausdruck, als sie an ihre Mädchenjahre zurückdachte, an die Zeit des ersten verliebt seins. Harald, ein Studienkollege, war ihre große Liebe und mit 18 hatte sie ihn gegen den Willen der Eltern geheiratet. Als Sandra geboren wurde, war sie überglücklich. Ihre Ehe verlief harmonisch, unterbrochen von einigen Stürmen, doch ohne tiefgreifende Ereignisse.

Seit drei Jahren war sie verwitwet. Sandra wohnte bereits über zwei Jahren in München und kam nur gelegentlich am Wochenende nach Hause.

Ruths Mann war Abteilungsleiter in einer großen Firma. Er hatte gute Aussichten in seinem Beruf weiter zu kommen, doch ein Herzinfarkt machte seine Pläne plötzlich zunichte. Sie betäubte ihren Schmerz über den Verlust ihres Mannes, mit viel Arbeit. Heute war ihr erster Urlaubstag und sie überlegte, ob sie nicht doch einige Tage wegfahren sollte.

"Diese ewige Grübelei bringt mich auch nicht weiter“, murmelte sie und verließ mit energischen Schritten die Terrasse. Einer plötzlichen Eingebung folgend, packte sie ein klei­nes Köfferchen, verschloss sorgfältig die Türen ihres kleinen Reihenhauses und holte den Wagen aus der Garage. Der Tag war so richtig für einen Ausflug gemacht, blauer Himmel und Sonnenschein. Ruth fuhr einfach aufs Geradewohl los. Automatisch lenkte sie das Auto auf die Münchner Straße. Doch da wollte sie gar nicht hin. An der nächsten Abzweigung bog sie in Richtung Rosenheim ab.

In gemächlichem Tempo fuhr sie Landstraßen entlang, durch kleine saubere Ortschaften. Ein paar Mal hielt sie an und freute sich an der schönen Umgebung. Gegen Mittag erreichte sie Kufstein. Sie entdeckte ein kleines idyllisch gelegenes Gasthaus. Tische mit rotkarierten Decken, luden zur Einkehr. Ihr Magen meldete sich vernehmlich und so  beschloss sie zu bleiben.

Das Essen war ausgezeichnet und die Kellnerin bediente sie schnell und freundlich. Gut gelaunt bestellte sie sich noch Kaffee und beobachtete den Verkehr an der vorbeiführenden Landstraße. Langsam begann sie Freude an ihrem spontan ausgeführten Ausflug zu verspüren. Wo es ihr gefiel, hielt sie an, machte einen kleinen Spaziergang und besichtigte die Sehenswürdigkeiten.

Gegen Abend erreichte sie ein kleines schmuckes Dorf in der Nähe von Hall in Tirol. Die Ortschaft lag verträumt in der Abendsonne, angeschmiegt an einen Berghang.

Hier bleibe ich, dachte sie spontan. Der Ort wirkte beruhigend und vermittelte ihr den Eindruck von Ruhe und Geborgenheit. Langsam fuhr sie durch das Dorf auf der Suche nach einem Quartier. In einem großen Hotel wollte sie nicht übernachten. Da entdeckte sie einen Dorfgasthof mit Fremdenzimmern.

"Das ist genau das Richtige für mich“, frohlockte sie und parkte den Wagen vor dem Haus“. 

"Ein Einzelzimmer möchten Sie? Hoffentlich ist noch etwas frei. Einen Moment, ich hole die Chefin“.

Die Wirtin entpuppte sich als eine energische Endfünfzigerin. Sie warf einen Blick in das Anmeldebuch und meinte mit heftigem Kopfnicken: "Sicher haben wir für die Dame noch ein Zimmer frei. Wie lange wollen Sie denn bleiben“?

Ruth überlegte kurz: "Einige Tage sicher, ich weiß es selber noch nicht genau“.

Sie füllte das Formular aus und der Hausdiener ging mit ihrem Koffer voran die Treppe hinauf. Das Zimmer lag im ersten Stock, hatte Balkon und war mit viel Holz ausgestattet. Die hellen Vorhänge und die bunte Bettwäsche verliehen dem Raum eine gemütliche Atmosphäre. Ruth fühlte sich sofort wohl und packte, ein Lied vor sich hin summend, fröh­lich ihre Sachen aus, dann trat sie auf den Balkon hinaus und atmete tief die würzige Bergluft ein. Der Blick reichte weit ins Tal. Die Berge ringsumher hatten eine beruhigende Wirkung auf sie. Wie lange war es her, dass sie sich so frei und zufrieden gefühlt hatte?

Sie nahm ihre Schreibsachen vom Tisch und begab sich in die Gaststube. Die Bedienung wollte sie in den angrenzenden Speisesaal führen, doch Ruth lehnte freundlich ab.
 

"Nein, ich sitze lieber hier unter den Einheimischen. Ich mag den Touristenrummel nicht“.

Die Bedienung, führte sie zu einem kleinen Tisch, der sich in der Nähe des Stammtisches befand.

"Leider ist nur noch dieser Platz hier frei. Hoffentlich stört Sie der Lärm nicht. Bei den Einheimischen geht es manchmal recht laut zu“, meinte sie  entschuldigend.

Ruth winkte lachend ab: "Keine Sorge, das macht mir nicht das Geringste aus. Hier kann ich in Ruhe essen und meine Karten schreiben“.

Langsam füllte sich die Gaststube. Es waren überwiegend Dörfler, die an dem großen Stammtisch Platz nahmen.

Ruth bestellte sich ein Glas Wein und lauschte voller Interesse der Unterhaltung der Männer. Nachdenklich streifte ihr Blick die stämmigen Bergbauern. Die Sonne hatte ihre Gesichter gebräunt und besonders die alten Männer hatten eine Haut wie gegerbtes Leder. Ihr gefiel auch die Tracht, die die meisten hier trugen.

Plötzlich fühlte sie sich beobachtet. Ihr Blick wanderte weiter, da begegnete sie einem Paar forschender, auffallend grauer Augen. Irritiert schlug sie den Blick nieder und las was sie zuletzt geschrieben hatte. Ruth konnte sich nicht mehr auf den Inhalt des Briefes, den sie an ihre Tochter schrieb, konzentrieren. Immer noch sah sie diese Augen vor sich.

Energisch hob sie den Kopf und sah wieder zum Stammtisch hinüber. Das wäre doch gelacht, wenn ich mich von einem Mann aus der Ruhe bringen ließe, dachte sie mit einem Anflug von Humor. Suchte aber trotzdem nach dem vermeintlichen Tiroler mit diesem eindringlichen Blick. Der, den sie meinte, stand eben auf und klopfte zum Abschied kurz auf den Tisch.

"Servus Stefan, hast du es aber heute eilig. Hast du was vor“, riefen ihm die Männer zu.

"Nein, ich muss noch arbeiten. Habe die letzten Tage ganz schön verbummelt“.

Er drehte sich dem Ausgang zu und verließ den Gastraum, nicht ohne Ruth noch einen spöttischen Blick zuzuwerfen.

Stirnrunzelnd sah sie ihm nach. Dieser Ausdruck in seinem Gesicht ärgerte sie. Was bildete sich dieser arrogante Bauer eigentlich ein, verstimmt konzentrierte sie sich wieder auf ihren Block. Nach einigen vergeblichen Versuchen gab sie auf und packte das Schreibzeug zusammen. Den Brief an Sandra konnte sie am nächsten Tag auch noch zu Ende bringen. Sie überlegte gerade, ob sie sich schon auf ihr Zimmer zurückziehen sollte, als ein Mann vom Stammtisch zu ihr herüber rief:

"Wenn's mit ihrem Schreibert´s fertig sind, dann setzen Sie sich doch zu uns! Was wollen´s denn so alleine am Tisch, bei uns ist es viel lustiger“.

Sie zögerte ob sie das Angebot annehmen sollte, da nahm ihr Maria, die Bedienung, die Entscheidung ab:

"Kommens doch rüber Frau Bergmann. Ein bisserl Unterhaltung schadet doch nicht“.

Kurz entschlossen stand sie auf und ging zu den Männern an den großen Tisch. Sofort wurde ihr Platz gemacht. Maria brachte einen neuen Schoppen und es dauerte nicht lange und man konnte Ruths helles Lachen hören. Angeregt unterhielt sie sich mit den Bergbauern. Zum ersten Mal seit langer Zeit, lachte sie wieder aus vollem Herzen.

Der Abend wurde so schön und war so lustig, dass Christoph, der neben ihr saß, Ruth das Versprechen abnahm, dass sie am nächsten Abend unbedingt wieder an ihrem Tisch Platz nehmen müsste.

Es ging bereits auf Mitternacht zu, als sie müde und zufrieden unter die Bettdecke schlüpfte und sofort einschlief. Vielleicht tat der Wein seine Wirkung, vielleicht aber auch, weil sie sich gelöst und glücklich fühlte

Ruth war bereits früh auf den Beinen, die Sonne lachte vom wolkenlosen Himmel. Nach einem ausgiebigen Frühstück lief sie Stundenlang kreuz und quer durch die Ortschaft, entdeckte sie immer wieder etwas Neues und Sehenswertes.

Nach dem Mittagessen streckte sie sich müde im Garten auf einer Liege aus und war wenige Minuten später eingeschlafen.

Wie ein Feuerball verschwand die Sonne hinter den Bergen. Ruth bürstete ihre Haare. Sie freute sich auf den Abend. Hoffentlich wird es wieder so lustig wie gestern, dachte sie und ein Paar grauer Augen geisterten plötzlich durch ihre Gedanken. Ärgerlich auf sich, legte sie die Bürste hin und verließ das Zimmer.

Bei ihrem Eintritt in die Gaststube wurde sie von Christoph und Bernd herzlich begrüßt:

"Hallo Ruth, kommen Sie, setzen Sie sich zu uns“.

"Ich wollte eigentlich erst etwas essen“, meinte sie ein wenig zögernd."

"Das können Sie hier auch“, brummte Josef und schob seine Pfeife in den anderen Mundwinkel.

Während sie das Abendessen genoss, hörte sie mit sichtlichem Vergnügen den Tirolern zu. Christoph und Bernd gerieten sich wieder einmal in die Haare. Bernd, ein gebürtiger Berliner, lieferte sich mit dem Tiroler, wie schon des Öfteren, ein hitziges Streitgespräch.

Immer mehr Männer beteiligten sich an dem halb im Ernst und halb im Spaß geführten Disput. Ruth musste einmal über die ans kuriose grenzenden Ausdrücke so lachen, dass sie sich fast verschluckte.

Mit großem Appetit aß sie und hob ihren Blick erst wieder, als sie das Besteck auf den leeren Teller legte. Geradewegs blickte sie in Augen, die ihr nicht mehr aus dem Kopf gingen. Unmerklich zuckte sie zusammen, sie hatte sein Kommen nicht bemerkt.

Als könnte er ihre Gedanken erraten, verzog er die Lippen zu einem Lächeln:

"Guten Abend, Sie waren so in ihr Essen vertieft, dass Sie meinen Gruß überhörten. Wie ich sehe, hat es Ihnen geschmeckt“.

"Danke, das hat es“, gab sie kurz zurück und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den anderen Männern am Tisch zu, die sich laut unterhielten.

Jeder wollte den anderen mit seiner Stimme übertönen. Rechts von Ruth saß ein alter Bergbauer, der Sepp gerufen wurde und gerne derbe Witze zum Besten gab.

Es dauerte auch nicht lange und seine anzüglichen Bemerkungen gingen ihr auf die Nerven. Eine Zeitlang versuchte sie ihn zu überhören, doch als seine Witze immer ordinärer wurden, sagte sie ein wenig verstimmt:

"Komm Sepp, lass gut sein, für diese Art der Unterhaltung bin ich nicht die Richtige“.

Sie hatte sehr leise gesprochen, damit die anderen nichts hörten. Stefan, der den beiden genau gegenüber saß, hatte es aber gehört und seine Miene drückte Erstaunen aus.

"Sind Sie in Urlaub hier“?

"Ja, ich bin einfach blind drauflos gefahren und hier hat es mir so gut gefallen, dass ich beschloss zu bleiben“.

Seine unergründlichen Augen fixierten sie:

"Vor wem sind Sie denn davon gerannt“?

"Ich habe es nicht nötig vor irgendjemand oder irgendetwas davonzurennen“, erwiderte sie aufgebracht,

"vielleicht mag das auf Sie zutreffen, auf mich bestimmt nicht“.

Stefan nickte bedächtig:

"Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich staune über ihre Menschenkenntnisse. Das ist man im Allgemeinen von Frauen nicht gewohnt“.

"Ach du liebes Lieschen, wieder einer von der Sorte Mann der glaubt, er müsse alle Frauen in Grund und Boden verdammen. Wie sehr muss eine Frau Sie verletzt oder gekränkt haben, dass Sie so blindwütig auf alles weibliche reagieren“, rief Ruth lachend.

Stefan hörte den Spott in ihrer Stimme, warf ihr einen bösen Blick zu und hüllte sich in Schwei­gen.

Christoph wandte sich an Ruth und fragte sie über ihr bisheriges Leben aus. Sie antwortete ausweichend und zurückhaltend, doch der junge Tiroler war hartnäckig und gab nicht auf, bis Ruth lachend abwehrte:

"Sie sind unmöglich Christoph. Sie wollen wohl meinen ganzen Lebenslauf wissen“? Und als dieser ernsthaft nickte, seufzte sie ergeben.

"Also gut, Sie geben ja sonst doch keine Ruhe. Ich bin seit drei Jahren verwitwet, habe eine erwachsene Tochter, die Sandra heißt, in München arbeitet und auch dort wohnt. Meine Arbeit macht mir viel Spaß und das ist seit drei Jahren der erste Urlaub den ich mache. Sind Sie nun zufrieden“?

Stefan sah sie nachdenklich an:

"Warum haben Sie so lange keinen Urlaub gemacht“?

"Weil es Menschen gibt, die sich in der Arbeit vergraben und darüber das Leben vergessen“, erwiderte sie ernst. Günther, ein junger Tiroler rief über den Tisch:

"Jetzt erzählt doch mal was lustiges. Ihr seid ja heute lauter Trauerweiden. Jeder soll eine Geschichte zum Besten geben. Komm Stefan du Einsiedler, fang an“!

Ruth erwartete, dass er ablehnen würde, doch da täuschte sie sich. Stefan erzählte eine Begebenheit von einer Touristin, die sich unbedingt einen Bergführer angeln wollte, damit sie zu Hause prahlen konnte. Sie bot dem jungen Mann viel Geld, dass er zu ihr in die Großstadt kommen sollte. Bei einer Partie wollte sie ihn ihren Freunden vorführen. Der Tiroler schickte eine lebensgroße Puppe, angezogen mit seiner Bergsteigertracht und hängte dem Ersatz ein großes Schild um den Hals, auf dem stand:

In Lebensgröße steh` ich hier,
 ich hoffe du verzeihst es mir,
will nicht als Puppe rumgereicht,
 bin für die Großstadt nicht geeicht.
Jeden Morgen, ich weiß aufs neu`,
ich bleibe meinen Bergen treu.
Drum möcht ich dir die Puppe schenken,
dann kannst du immer an mich denken.

 

   Die Tischrunde lachte herzhaft über die Geschichte und jedem fiel eine lustige Episode ein. Über manche Erzählungen konnte Ruth so lachen, dass ihr Tränen in den Augen standen. Stefan beobachtete sie und fand sie eigentlich gar nicht so unsympathisch. Ihre Augen sprühten vor Lebensfreude und ihre Wangen waren vom Lachen und Reden leicht gerötet.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Lissa Seebauer
Tag der Veröffentlichung: 15.08.2012
ISBN: 978-3-7309-5628-1

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