Cover

1. Das Tal der Sonne


Ich stellte mich auf einen großen Felsen, um das Tal in seiner ganzen Pracht betrachten zu können. An meine Geburt vor drei Jahren konnte ich mich kaum erinnern. Mein Vater, der König der Löwen, hatte mir erzählt, dass meine Geburt ein großes Ereignis war: Die Zebras haben sich vor mir verneigt, die Fische sind aus dem Wasser gesprungen, haben ein Salto geschlagen und sind wieder ins Wasser getaucht, die Giraffen haben den Kopf gereckt und mit den Hufen gescharrt, die Affen haben mit den Füßen auf Baumstämme getrommelt und alle Löwen haben laut gebrüllt; das alles hat mir mein Vater erzählt. Er herrschte über ein großes Tal, das eines Tages mir gehören würde. Wir Löwen nannten es >Das Tal der Sonne<, andere Tiere, z. B. Giraffen und Zebras, sagten >Das fruchtbarkeits-Tal< und ich kannte sogar einen Papagei der das Tal >Immer-Sommer-Tal< nannte. „Warum nennst du das Tal so?“, hatte ich ihn einmal gefragt und er antwortete: „Ich nenne es so, weil hier immer Sommer ist und nie Winter.“ Und da kam mein Vater Sandro und er wusste es besser. „Das stimmt nicht“, hatte er gesagt, „auch hier in diesem sonnigen Tal ist Winter, aber es ist so warm, dass kein Schnee liegt.“ Ich wusste nicht, was Schnee war. Ich wurde in diesem Tal geboren und hatte noch nie Schnee gesehen. Mein Vater sagte, dass Schnee aus gefrorenem Wasser bestand und weiß war. Jetzt rannte ich zu einem Fluss, der in der Morgensonne glitzerte. Ich pustete gegen das Wasser. Plötzlich tauchte meine Mutter Ashley hinter mir auf. „Was machst du denn da, Lilli?“, fragte sie. Ich hörte auf zu pusten und antwortete: „Ich will das Wasser kalt machen, damit es sich in Schnee verwandelt.“ Mutter schüttelte lächelnd den Kopf und brachte mich nach Hause. „Komm her, Lilli!“, rief mein Vater. Er stand an einem kleinen Bach, der an unserm Schlafplatz vorbeiführte. Ich rannte zu ihm und Vater deutete mit seiner großen, weichen Tatze auf einen Schwarm von Fischen. „Willst du einen fangen? Das wird unser Frühstück“, sagte er und reckte seinen Kopf in die Höhe. Ich streckte meine Vorderbeine durch und neigte meinen Kopf zu Boden. Ich zählte in meinen Gedanken bis drei und packte dann mit meiner Pfote ins Wasser. Der Fisch schlängelte sich durch meine Krallen und entkam. Ich verlor das Gleichgewicht und viel ins Wasser. Mein Vater holte mich mit seinem Maul aus dem Bach hinaus, setzte mich auf dem Boden ab und fing mit seiner eigenen Pfote drei große Fische auf einmal. Wieder reckte er seinen Kopf in die Höhe und seine königliche Mähne flatterte im Wind. Ich wollte später auch mal so eine Mähne haben, aber das ging leider nicht, weil ich ein Löwenweibchen war und weibliche Löwen bekamen niemals Mähnen. Ich half meinem Vater, die Fische zu unserm Schlafplatz zu tragen und aßen sie. Mama und Papa schliefen auf einem großen, runden, flachen Stein, der mit Moos und Gras bedeckt war. Ich schlief auf einem mit Federn, Gräsern und Weidenkätzchen gepolsterten Nest.
Satt und zufrieden verließ ich den Schlafplatz und tollte durch das Tal. Ich stoppte vor einem Hügel in einer großen Grasfläche, die Grashalme waren so hoch, dass sie mich ganz verdeckten. Auf dem Hügel saßen fünf weiße Vögel und pickten nach Insekten. Ich nahm mir fest vor, einen dieser Vögel zu fangen. Ich trat einen Schritt vor. Es knirschte unter meiner Pfote. Ich war auf ein Stück Baumrinde getreten. Die Vögel erschraken und flogen davon. „Wartet!“, rief ich und rannte ihnen hinterher. Meine Füße trugen mich immer schneller über den sandigen Boden und der Wind peitschte mir so ins Gesicht, dass ich die Augen zu engen Schlitzen zusammen kneifen musste und die Vögel kaum noch sah. Ich stolperte und kullerte einen Berg hinunter bis ich gegen einen anderen Löwen meines Alters knallte. „Hey, was soll das?“, fragte der Löwe und knurrte. „Entschuldigung. Ich bin Lilli und du?“, sagte ich. „Ich bin Kim“, erwiderte der Löwenjunge mit einem eitlen Glitzern in den Augen. „Ich bin eine königliche Hoheit… so nennen mich zumindest ein paar Löwenfreunde von meinem Papa… Sind hier zufällig ein paar weiße Vögel vorbei geflogen?“, erzählte ich. „Wohl eher königliche Naivität…“, nuschelte Kim. „Und jetzt geh weg. Das ist mein Gebiet!“ Ich wurde wütend und geigte diesem Kim ordentlich die Meinung: „Das ist nicht dein Gebiet. Mein Vater ist der König und ihm gehört alles. Er ist ein ausgezeichneter Jäger…“ Kim unterbrach mich. „Und bist du auch ein guter Jäger?“ Ich nickte unsicher. „Dann fang den da.“ Kim deutete auf einen Vogel auf einem Felsen. Ich näherte mich dem Vogel, sprang auf ihn zu und griff nach ihm. Er flog davon und alles, was von ihm übrig blieb, waren ein paar Federn in meiner Pfote. Ich machte meinen Mund auf, um gefährlich zu brüllen, doch alles was heraus kam war ein Miau, dass sich anhörte wie ein stickiges Husten. Kim lachte los und ich rannte davon zu dem Bach an unserem Schlafplatz. Wütend peitschte ich meine Pfote ins Wasser. Als ich sie wieder heraus zog, zappelte ein großer Fisch in ihr. Übermütig sprang ich in die Luft und jauchzte vor Glück.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 30.12.2012

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /