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Prolog
Der Brückenpfeiler lag in völliger Dunkelheit, als sich das Schlauchboot geräuschlos näherte. Zwei Männer in Tarnanzügen kletterten mit einer Sturmleiter auf den Sockel, Rucksäcke umgeschnallt. Der erste hatte sein Ziel, das knapp zwei Meter aus dem Wasser der Ostsee ragte, schon fast erreicht. Da schlug der zweite mit der Schulter heftig gegen den grauen Beton. „Verdammter Mist“, fluchte er leise. Das Boot unter ihm schwankte heftig, ebenso die Leiter. Der leicht übergewichtige Mann fing an zu schwitzen. Schließlich schaffte er es aber doch. Auf dem Podest oben ruhten sich die beiden Schwarzgekleideten einige Sekunden aus. Kaum ein Windhauch war hier zu spüren. Es roch nach Salz und Tang. Klack, Klack, Klack. Immer wenn ein Auto über ihnen die Brücke passierte, war dieses monotone Geräusch zu hören.
„Macht voran, wir haben keine Zeit“, tönte von unten im Befehlston die Stimme des Bootsführers. Mit einer schmalen, leicht gebogenen Nase, der hohen Stirn und den wachen, grauen Augen hatte sein Gesicht etwas Vogelartiges. Wie bei einem Geier.
„Immer mit der Ruhe.“
Schnell kletterten die beiden auf die Plattform zwischen den beiden Säulen der Brücke. Der Metallrost hier oben gab ihnen einen sicheren Stand. Sie konnten dadurch ihre Sprengladungen direkt an den beiden Lagern befestigen, die Pfeiler und Fahrbahn miteinander verbanden.
„Das ist genau der neuralgische Punkt“, sagte der eine. Er schaute hinab in das Schlauchboot. Vor einer halben Stunde waren sie damit zu fünft an einem kleinen Sandstrand in der Nähe von Altefähr auf der Insel Rügen gestartet. Zusammen mit 400 Kilogramm Sprengstoff. In kleinen Blöcken, gut verpackt in Ölpapier und olivgrünen Holzkisten.
Eine der beiden Frauen an Bord hatte inzwischen die Einstiegslucke des hohlen Brückenpfeilers geöffnet, die sich etwa einen Meter oberhalb des Wasserspiegels befand. Gelenkig wie eine Katze schlüpfte sie hinein. Die zierliche Blondine im Kampfdress nahm von ihrer größeren Kameradin die rechteckigen Sprengstoffblöcke entgegen, die mit Klebeband an der Innenwand befestigt wurden. Dann verband sie die Kabel für die Zündkapseln mit einem präparierten Mobiltelefon. Es würde bei einem Anruf aus sicherer Entfernung die Explosion auslösen.
„Seid ihr endlich soweit?“ Das Geiergesicht wurde zusehends ungeduldig. Hektisch blickte der drahtig gebaute Mann nach oben, wo die beiden schwarzgekleideten Männer ihre Ladungen ebenfalls verkabelten. „Alles klar!“ Die erste dunkle Gestalt machte sich bereits an den Abstieg, als ein lautes Geräusch das eintönige Klack, Klack, Klack der über die Brücke fahrenden Autos durchbrach.
Entwarnung. Es war nur eine heftige Welle, die das Boot zum Schaukeln gebracht hatte. Dadurch schrappte das Metall der Sturmleiter an dem Betonpfeiler entlang, verursachte den plötzlichen Lärm.
„Könnt ihr denn nicht einmal die Leiter festhalten“, protestierte der Mann, der beinah in die kalten Fluten gestürzt wäre. Mit einem kurzen Satz übersprang er die letzten Sprossen, landete sicher im Schlauchboot. Nachdem auch die Anderen wieder an Bord waren, startete der Bootsführer sofort den Motor. Sein nächstes Ziel war in Sichtweite: Die alte Eisenbahn- und Straßenbrücke über den Strelasund, die hier in etwa 60 Metern Abstand parallel zur neuen Rückenbrücke verlief.
In der Ferne sahen sie die hell erstrahlende Silhouette von Stralsund. Davor die neue Ziegelgrabenbrücke mit ihren Schrägseilen. Das Bauwerk überragte mit seinen knapp 130 Metern alle anderen Gebäude der Hansestadt – einschließlich der Türme der zahlreichen Kirchen. „Da oben stand vor zwei Jahren die Bundeskanzlerin, ließ sich hier in ihrem Wahlkreis als die große Bauherrin bejubeln“, flüsterte das Geiergesicht.
Zu gerne hätte er deshalb dieses weithin sichtbare Symbol, das sich wie ein Katzenbuckel über das Meer wölbte, in die Luft gejagt. Doch an ein unbemerktes Herankommen war nicht zu denken, überall Überwachungskameras. Deshalb hatten sie sich einen anderen der über 60 Pfeiler des vier Kilometer langen Bauwerkes für ihre Aktion ausgesucht. Mitten im Wasser, damit die Reparatur nicht so leicht sein würde. Die Schlagzeilen wären der Aktion Störtebeker so kurz vor der Bundestagswahl auch so sicher.
Das Anbringen der Sprengladungen an der alten Brücke ging ebenfalls sehr schnell. Trotzdem trieb der Anführer zur Eile. „Los, schlaft nicht ein.“ Er wollte schnell weg von hier. Zum letzten Mal fiel sein Blick auf das neue Wahrzeichen von Rügen mit seinen schräg gespannten Stahlseilen, die an ein Schiff erinnerten. „Wirklich ein architektonisches Meisterstück“, lachte er, „was für ein Pech, dass schon bald kein einziges Auto mehr darüber rollen wird.“
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Kurt Bratfisch wälzte sich unruhig im Bett. Ein Blick auf den Wecker zeigte ihm, dass es noch viel zu früh zum Aufstehen war. Außerdem brummte sein Schädel. Gestern Abend hatten sie im Kaufmannshof in der Bahnhofstrasse von Bergen gefeiert. Zu vorgerückter Stunde hatte er dann auch noch zusammen mit Katja, der jungen Politologin aus Berlin, mit heiserer Stimme die Internationale angestimmt: „Wir sind die stärkste der Parteien! Die Müßiggänger schiebt beiseite, diese Welt soll unser sein ...“ Was dann passiert war, wusste Bratfisch nicht mehr so genau. Irgendwie hatte er die knapp zwei Kilometer aus dem Biergarten zu seiner Drei-Raum-Wohnung im Parterre eines Plattenbaus in der Likedeelerstraße im Stadtteil Rotensee aber wohl doch noch geschafft.
Als der damalige Volkspolizist 1986 mit seiner Frau in den gerade errichteten Wohnblock einzog, hätte er nicht darauf gewettet, dass er nach über zwanzig Jahren immer noch hier in der Platte wohnen würde. Zu dieser Zeit war die Zuteilung einer Neubauwohnung in der DDR fast so etwas wie ein Lottogewinn, sie kam direkt nach dem ersten Trabi. Doch jetzt war Erika schon seit fünf Jahren tot. Ausziehen wollte er nun nicht mehr. An vielen Gebäuden in der Nachbarschaft hatte sich in den letzten Jahren optisch einiges getan: Bunte Farbe, neue Balkons, Glasaufzüge. Nur in dem Haus, in dem er wohnte, war alles beim Alten geblieben. Immer noch die gleiche gelbgraue Kiesel-Waschbeton-Verkleidung. Bratfisch störte das nicht weiter, er hatte sich im Laufe der Zeit an den Anblick gewöhnt.
Seit 1993 fuhr der 58jährige - etwas übergewichtig, aber immer noch leidlich fit - nun fast jeden Tag nach Stralsund zu seinem Arbeitsplatz in der Kriminalpolizeiinspektion. Als Erster Kriminalhauptkommissar war er dort für Fälle schwerer Kriminalität wie Organisiertes Verbrechen, Sexualdelikte oder Mord und Totschlag zuständig. Bis zu dem dreistöckigen Plattenbau in der Barther Strasse mit seinen seit DDR-Zeiten unverändertem Äußeren brauchte Kurt Bratfisch dank der neuen Rügenbrücke theoretisch nur noch eine dreiviertel Stunde. Früher hatte er vor dem alten Damm, dem Engpass zwischen Insel und Festland, oft sehr lange im Stau gestanden. Selbst zu den unmöglichsten Tages- und Nachtzeiten. Heute lag das Nadelöhr weiter im Inselinneren - auf der B96, deren Ausbau immer noch auf sich warten ließ.
Der Kommissar war gerade wieder eingenickt, da riss ihn der schrille Ton des Telefons aus seinem Halbschlaf. Die Stimme seiner Assistentin Mai Thi Pham, die von allen Mandy genannt wurde, ließ ihn sofort hellwach werden. Die junge Kollegin hatte heute Nacht Bereitschaftsdienst.
„Es gibt eine Leiche auf Rügen, am Südstrand von Göhren, sieht nach Mord aus. Kannst Du in einer halben Stunde dort sein, unsere Spurensicherung und ein Gerichtsmediziner aus Greifswald sind auch schon unterwegs.“
Mandy, deren Eltern als Vertragsarbeiter 1987 aus Vietnam in die DDR gekommen und nach der Wende in Deutschland geblieben waren, klang sehr aufgeregt. Es war ihr erster Toter, seit sie vor ein paar Wochen Bratfisch als Mitarbeiterin zugeteilt worden war.
„Ich muss nur noch Mike zu seiner Tagesmutter bringen, dann komme ich auch dorthin.“ Mike war ihr zweijähriger Sohn, den sie alleine aufzog. Der Vater war schon kurz nach der Geburt spurlos verschwunden. „Ich sau, dass ich snell komme.“ Mandy sprach perfekt deutsch, nur das „sch“ machte ihr zu schaffen. Es klang meist wie ein „s“ – was mitunter zu kuriosen Missverständnissen führte, etwa wenn sie „schau“ sagte.
„Verdammt, wenigstens für einen Kaffee und ein Aspirin muss noch Zeit sein“, schoss es dem Kommissar durch den schmerzenden Kopf, als er seine Brille aufsetzte. Jetzt um halb acht früh brauchte er mit dem Wagen bestimmt dreißig Minuten bis in den Badeort auf der Halbinsel Mönchgut. Wenn unterwegs der Rasende Roland, die berühmte Kleinspurbahn in Rügens Südosten, seinen Weg kreuzte, würde es noch länger dauern. „Also nichts mit Frühstück“, sagte er laut zu sich selbst. Was zu einem empörten Miau führte.
Klimaschewski, ein wahres Prachtexemplar von schwarzem Kater, hatte sein Nachtlager am Fuße des Bettes verlassen. Im Badezimmer strich das Tier um Bratfischs Beine: Ohne eine Morgenmahlzeit kann man mich doch hier nicht zurücklassen.
„Keine Angst, Dicker“, tröstete er den Vierbeiner, „ich mach Dir schon noch eine Dose auf.“
Der Kriminalbeamte hatte den Kater vor zwei Jahren in der Wohnung eines Ermordeten gefunden, abgemagert und fast am Verdursten. Deshalb nahm er ihn mit zu sich nach Hause, päppelte den Stubentiger in den Monaten danach wieder auf. Weil ihm nichts Besseres einfiel, nannte er ihn nach dem Mordopfer. Seitdem waren sie unzertrennlich und Klimaschewski kehrte jedes Mal brav von seinen ausgedehnten Streifzügen durch das Revier zwischen Störtebeker- und Likedeeler-Straße wieder in die Wohnung zurück. Manchmal kam er sogar mit einem kleinen Geschenk wie einer Maus oder einem Vogel über die kleine Treppe durch die Katzenklappe, die sein neuer Besitzer extra für ihn in die Balkontür gebaut hatte. Laut miauend erwartete er dann ein Lob für seinen Jagdeifer.
Während der Ermittler noch schnell seinen hellgrauen Vollbart etwas stutzte, sich mit dem Kamm durch das kurze, weiße Stoppelhaar fuhr und zu seinem Wagen in der Parkbucht vor dem Wohnblock hastete, dachte er an die letzten Leichen, mit denen er auf Rügen zu tun gehabt hatte. Mord kam auf Deutschland größter Insel eher selten vor. Die Stralsunder Kriminalpolizeiinspektion, die für die Aufklärung von Gewaltverbrechen auf den knapp tausend Quadratkilometern zwischen Altefähr und Kap Arkona zuständig war, hatte hier meist recht wenig zu tun. Im Suff schlugen sich zwar manchmal einige Einwohner die Köpfe ein oder griffen zum Messer. Aber in der Regel ging es um Suizid, wenn er zu einer Leiche gerufen wurde. Wie bei dem Skelett, das Spaziergänger im vergangenen Jahr in den Ruinen des ehemaligen Seebads der 20.000 aus der Nazizeit in Prora fanden. Der Mann aus Sachsen hatte sich mit einer manipulierten Schreckschusspistole das Leben genommen. Erstaunlich fand Bratfisch nur, dass die Leiche drei Jahre unentdeckt geblieben war.
Aber der Koloss von Rügen, wie der ursprünglich einmal 4,5 Kilometer lange Gebäudekomplex mit seinen tausenden von Zimmern in den Reiseführern auch gerne genannt wurde, war ziemlich unübersichtlich und teilweise stark baufällig. Überall warnten Schilder vor dem Betreten.
Der Polizeihauptkommissar kannte das Gelände in Prora fast wie seine Westentasche. Schließlich hatte hier im Oktober 1966 seine große Liebe zu dieser Insel begonnen. Allzu erotisch war die allerdings zunächst nicht ausgefallen. Denn der gebürtige Thüringer betrat damals zum ersten Mal Rügens Boden als Freiwilliger bei den Fallschirmjägern der Nationalen Volksarmee der DDR. Vor ihm lagen drei Jahre härtester Drill, aber auch – wie er sich eingestehen musste – etliche schöne Tage. Vor allem an die Sprungübungen in Barth dachte er noch immer gerne zurück. 1968 hatte er zudem bei einem Tanzvergnügen in Binz seine spätere Frau kennen und lieben gelernt. Nach der Entlassung aus der Armee war er dann hier hängen geblieben. Zur Volkspolizei in Bergen gegangen, die damals gerade auf der Suche nach jungen Kadern war. Sein Name Bratfisch kam allerdings bei den Einheimischen nicht gerade gut an. Er musste sich noch viele dumme Sprüche gefallen lassen, bis sie ihn endlich akzeptierten. Der Spitzname Bratwurst, den er in Anspielung auf seine Thüringer Heimat verpasst bekommen hatte, hielt sich bei manchen Leuten bis heute. „Sture Fischköppe eben, hier oben im Norden“, dachte sich der Kommissar.
Rechts tauchte am Straßenrand ein riesiges Plakat auf: 2009 - 20 Jahre Mauerfall. Finanziert wurde diese Werbekampagne von der Bundesregierung. Die Sieger der Geschichte kosteten ihren Triumph voll aus. Auch Kurt Bratfisch wollte die Mauer nicht zurückhaben. Vor dem Mut der Bürgerbewegung, die damals die Wende erzwungen hatte, hatte er großen Respekt. Aber der weitere Verlauf mit dem Anschluss an den Westen und diese ganze Symbolik ärgerte ihn trotzdem. In der DDR war nun auch nicht alles schlecht gewesen.
Bratfisch hatte Sellin erreicht. Er fuhr jetzt auf der neu gebauten Pflasterstraße, nach dem Schild „Zur Rehaklinik“ bog er links in Richtung Südstrand ab. Hinter dem Museumsschiff Luise – einem 1906 erbauten Küstenfrachter, der hier seit 1982 aufgebockt war – sah er einen Streifenwagen stehen. Sein Auto parkte der Kommissar direkt dahinter.
Rasch ging er einen schmalen Pfad in Richtung Strand entlang. Direkt vor der Düne befand sich eine kleine Fischerhütte, in der eine alte Seilwinde vor sich hinrostete. Außerdem lag jede Menge Müll herum. Es roch nach Teer, Algen und Schlick. Das Gehen auf der holprigen Strecke fiel ihm schwer, denn seinen rechten Fuß zog der Kommissar leicht nach sich. Eine Erinnerung an das erste Jahr seiner Zeit bei der Armee, an das er mit Grausen zurückdachte.
Unten auf dem schmalen Sandstreifen war bereits alles mit rot-weißem Plastikband abgesperrt. Der Kommissar beobachtete, wie seine Kollegen eifrig ihre Arbeit taten. Ihm stach ein fürchterlicher Gestank in die Nase. Der kam von dem dunkelgrünen bis schwarzen Tang, der hier in rauen Mengen an den Strand gespült wurde und vor sich hin faulte. Einzig und allein die Möwen hatten daran ihre Freude, an Baden war an diesem Strand nicht zu denken. Vorbei an einer lila blühenden Pflanze kletterte der Kommissar den Abhang hinunter.
Von den widrigen Umständen einmal abgesehen, war es ein wunderschöner Morgen, der Tag versprach heiß zu werden. „Moin“, rief er zu Polizeimeister Klaus Krause an der Absperrung. Der tippte sich mit dem Zeigefinger an die Dienstmütze: „Moin, Bratwurst.“ Der Kommissar kannte den uniformierten Kollegen aus vielen gemeinsamen Dienststunden im Polizeirevier Bergen. In den Sommermonaten war der gebürtige Rostocker meist in der Polizeistation im benachbarten Baabe stationiert. Dort sollte er mit den zusätzlich eingesetzten Kollegen der Bäderpolizei des Landes für mehr Sicherheit an den Stränden, auf den Promenaden und den Campingplätzen sorgen.
Krause war als erster am Fundort der Leiche gewesen. Er zeigte ihm den Jogger, der den Toten entdeckt hatte. Der Mann saß etwas abseits auf einem umgekippten Fischerboot. Ein Stück weiter in Richtung Göhren sah der Mordermittler seine alte Freundin Paula Zeplien von der Kripo in Bergen. Eine Frau Ende fünfzig, an der alles sehr modisch wirkte: Das kurze dunkle Haar, die schwarze Bluse mit dem symmetrischen Schnitt und den beiden Ärmelaufschlägen. Sie trug goldene Ohrringe, breite Ringe an den Händen und hatte sich auffällig geschminkt. Ein kräftiges Rot auf den Lippen, ein Hauch Graublau auf den Augenlidern. Auffällig an ihr war auch ein breites Kinn, das weit hervorragte.
Paula Zeplien stammt vom Darß und hatte ihr Büro in der Polizeiwache von Sassnitz. Im Rahmen des Kriminaldauerdienstes war sie auch für Leichenfunde in den Badeorten im Südosten der Insel zuständig. Deshalb hatte Krause sie als Erste informiert. Aber im Falle von Mord – und der lag hier wohl eindeutig vor – übernahm sofort das Fachkommissariat 1 in Stralsund die weiteren Ermittlungen.
„Moin, Bratwurst“, flachste auch Paula, „ich hab hier nix zu tun und hau dann wieder ab, das ist eindeutig Euer Fall.“ „Ach, das Kinnchen ist auch schon auf“, gab der Kommissar schlagfertig zurück. Er benutzte den Spitznamen, den sie wegen ihres hervorstechenden Kinns schon vor Jahren bekommen hatte. „Bleib mal schön da, Du kannst uns gleich bei der Befragung der Nachbarn unterstützen.“
Unten am Wasser beugte sich Mandy, die mit ihren 1,62 gerade das Mindestmaß für die Zulassung in den Polizeidienst geschafft hatte, über den Leichnam eines älteren Mannes. Auch die beiden Mitarbeiter der Kriminaltechnik in ihren weißen Ganzkörperoveralls, die sogar die Schuhsohlen von unten bedeckten, waren bereits emsig zu Gange.
„Habt ihr schon etwas gefunden“, fragte der bärtige Ermittler die junge Polizeikommissarin, die direkt nach dem Abschluss an der Fachhochschule in Güstrow zu ihnen nach Stralsund versetzt worden war.
„Selbstmord war es nicht.“
„Sondern?“
„Ein Stich mit einem zweischneidigen Messer oder etwas Ähnlichem von hinten ins Herz“, mischte sich der Gerichtsmediziner Dr. Groschupf ein, der heute ebenfalls Bereitschaftsdienst hatte. Weil er in einem kleinen Dorf zwischen Stralsund und Greifswald wohnte, schaffte er es ziemlich schnell an den Tatort. Der kleine drahtige Mann, dessen rechtes Augenlid immer leicht zuckte, trug einen blauen Cordanzug und wuselte aufgeregt hin und her: „Sieht nach einem Profi aus, der Stich saß sehr genau und war sofort tödlich. Präzisionsarbeit.“
Mit seinen buschigen Brauen, unter denen listige blaue Augen über die merkwürdige Szenerie am Strand schweiften, dem graumelierten Schnauzbart und einem spärlichen Haarkranz, erinnerte der Rechtsmediziner an einen zerstreuten Professor. Dabei war er höchstens Vierzig. Bratfisch konnte den Westimport, der erst vor wenigen Jahren in den Nordosten der Republik übergesiedelt war, wegen dessen konservativen Ansichten nicht ausstehen. Missmutig raunzte er ihn an: „Und der Todeszeitpunkt?“
„Nach der Obduktion wissen wir mehr, aber länger als acht Stunden hat die Leiche nicht im Wasser gelegen. Um eine genaue Aussage treffen zu können, brauche ich auch noch den Wetterbericht von heute Nacht. Morgen kann ich ebenfalls etwas zur Tatwaffe sagen.“
„Natürlich, Du Klugscheißer“, dachte sich Bratfisch, der mit dem Mediziner schon wiederholt wegen ausländerfeindlicher Sprüche aneinandergeraten war. Fragend schaute er zu Mandy: „Weißt Du schon, wer der Tote ist?“ Sie schüttelte ihren Kopf. Die halblangen schwarzen Haare bewegten sich im Wind, der vom Meer her blies. „Keine Geldbörse, kein Ausweis, keine Schlüssel, nichts.“ In der eng sitzenden Jeans und dem weißen T-Shirt, die ihre durchtrainierte Figur betonten, sah die junge Frau mit den Mandelaugen sehr anziehend aus. Der Ermittler verscheuchte diesen Gedanken sehr schnell wieder: Der Altersunterschied zwischen ihnen betrug fast 40 Jahre. Eine Beziehung zu einer Kollegin, mit der er jeden Tag so eng zusammenarbeiten musste, kam sowieso nicht in Frage. Einfach undenkbar.
Bratfisch überlegt. Ihm war aufgefallen, dass an den mit seiner eigenen Hose zusammengeschnürten Füßen des Opfers mehrere kindskopfgroße Steine befestigt waren, wie sie hier überall an diesem Strandabschnitt herumlagen. Das sprach für eine spontane Tat. Der oder die Mörder suchten auf die Schnelle etwas zum Beschweren der Leiche, damit die nicht auf dem Wasser trieb. Denn dann würde sie rasch entdeckt werden.
Der kräftige Mann, Alter vermutlich so um die 60, war mit einem rotkarierten Hemd bekleidet. Ansonsten trug er nur eine Unterhose. Außer dieser Merkwürdigkeit konnte der Ermittler auf den ersten Blick nichts Auffälliges an der Leiche erkennen. Die grauen Haare waren militärisch kurz geschnitten. Lediglich das Gesicht des Toten sah merkwürdig aufgedunsen aus. Wenn die Leiche wirklich nur so kurz im Salzwasser gelegen hatte, konnte das nicht von dessen Auswirkungen kommen. Eher von zu hohem Alkoholkonsum.
„Hast Du schon mit dem Jogger gesprochen?“ Mandy verneinte abermals. Sie duftete dezent nach Veilchen. Was sie wohl für ein Parfüm benutzte?
„Na, dann werde ich das mal tun, der Arme wartet schließlich schon ziemlich lange.“
Er ging zu dem Enddreißiger mit Igel-Frisur, glatt rasiertem Kinn und Sonnenbrille, der auf dem umgekippten Boot am Strand saß. Interessiert betrachtete er das ganze Tohuwabohu. Wann ist man schon mal mitten in einem leibhaftigen Krimi? Der Mann in einem braunen Trainingsanzug reichte ihm die Hand, die sich feucht anfühlte. Er stellte sich mit schneidigem Tonfall vor: „Gestatten, Schulze. Ich bin zu Gast im Haus am Südstrand.“
Bratfisch kannte die ehemalige NVA-Ferieneinrichtung am Ortsausgang des Seebades, das jetzt vom Sozialwerk der Bundeswehr betrieben wurde. „Wie jeden Morgen bin ich meine Runde am Strand gelaufen, bis ich hier etwas Auffälliges im Flachwasser gesehen habe. Also bin ich näher herangegangen. Da erkannte ich, dass es sich um einen Mensch handelt, mausetot, nichts mehr zu machen.“ Der redselige Schulze erzählte noch, dass er als Unteroffizier im Kosovo und in Afghanistan schon viele Tote gesehen habe. Deshalb kenne er sich mit so etwas aus. Nach dem Anruf der 110 mit seinem Handy wäre schon 20 Minuten später ein Polizist hier aufgetaucht. Der Rest sei ja wohl bekannt.
„Könnte es möglich sein, dass der Tote schon gestern hier gelegen hat?“ Bratfisch warf einen Blick auf die heranrollenden Schaumkronen der Ostsee.
„Nein, das glaube ich nicht, ich laufe jeden Morgen die gleiche Strecke. Das hätte ich bestimmt bemerkt. Außerdem bin ich gestern Abend gegen sechs Uhr hier vorbeigekommen, da war die Gegend völlig menschenleer.“ Bratfisch wusste, dass der weitgehend naturbelassene Südstrand selbst mitten im Hochsommer kaum frequentiert war. Die Urlauber knubbelten sich lieber am Nordstrand auf der anderen Seite – hinter der Spitze der Halbinsel, die Nordperd hieß. Dieser Strandabschnitt hier war eher etwas für Wanderer und Liebespaare, die ihre Ruhe haben wollten. Oder für Leute, die warum auch immer, in der Abgeschiedenheit etwas ohne Augen- und Ohrenzeugen zu besprechen hatten. Allerdings konnte man an manchen Tagen den Gestank der faulenden Algen kaum aushalten.
„Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?“
„Nein, wir haben gestern Abend im Ferienheim das Bergfest unseres Durchgangs gefeiert“, begann Schulze wieder loszuschwadronieren, „da ging es ziemlich laut zu, wir sind erst weit nach Mitternacht auf unsere Zimmer gegangen.“
„Na gut, noch mal herzlichen Dank für ihre Unterstützung. Halten Sie sich bitte die nächsten Tage zu unserer Verfügung, falls weitere Fragen auftauchen. Sie müssen auch noch bei Gelegenheit ein Protokoll unterschreiben.“
Kurt Bratfisch sah, wie die Spurensicherer auf dem nassen Sandboden allerlei Gegenstände im Umkreis des Toten einsammelten – Zigarettenkippen, gebrauchte Taschentücher, Steine, ein Fetzen Papier. Ob etwas Brauchbares dabei war, würde erst die Untersuchung im Labor des Landeskriminalamtes in Schwerin-Rampe zeigen. Einer der weißgekleideten Männer winkte ihn zu sich. „Da oben am Weg, neben der Fischerhütte, wo der Boden noch nicht so sandig ist, habe ich einen relativ frischen Abdruck eines Motorradreifens entdeckt. Soll ich davon einen Abdruck machen?“
„Ja, unbedingt. Ich weiß zwar nicht, ob er etwas mit dem Fall zu tun, aber sicher ist sicher. Apropos Abdruck, nehmt ihr von dem Toten auch gleich die Fingerabdrücke und schickt sie sofort zum LKA. Vielleicht haben die ihn ja in ihrem Computer.“
Bratfisch sah, wie Mandy aufgeregt winkte. Er ging rasch zu ihr an den Strand. Sie hielt eine kleine Plastiktüte in der Hand, in der sich ein kleiner gelber Holzstift befand. Das eine Ende angespitzt, das andere um eine kleine runde Plattform verbreitert.
„Was soll das sein?“, fragte er seine Assistentin. Bevor die etwas sagen kannte, mischte sich Dr. Groschupf, dessen rechtes Augenlid wieder aufgeregt zuckte, ungefragt ein: „Das ist ein Tee, das sieht doch jeder. Es wird am Abschlag auf dem Golfplatz benutzt, um den Ball in die richtige Position zu bringen.“
„Natürlich wieder dieser Besserwisser“, ärgerte sich der Kommissar in Gedanken, „der spielt bestimmt mit seinen Parteifreunden auch Golf, kennt sich mit so etwas aus.“ Laut sagte er dagegen: „Das hat dann hier am Strand aber nichts verloren. Vielleicht ist es ja Zufall, aber eventuell auch eine erste Spur. Ab damit in die Kriminaltechnik.“
Mehr gab es hier eigentlich nicht mehr für ihn zu tun. Nur im Haus am Südstrand wollte er noch einmal vorbeischauen, bevor er in die Kriminalpolizeiinspektion nach Stralsund fuhr. Die Uhr zeigte jetzt schon bald zehn Uhr, sein Magen knurrte. Vielleicht gab es dort ein Frühstück. Womöglich war aber auch einem der Bewohner etwas Ungewöhnliches aufgefallen.
Der Hauptkommissar beriet sich kurz mit seiner Assistentin: „Hörst Du Dich zusammen mit Frau Zeplien schon einmal in der Nachbarschaft um. Hier in der Nähe gibt es ein paar Ferienhäuser, außerdem die Fischer und das Museum. Eventuell hat jemand etwas gesehen oder gehört.“ Dann solle sie nach Stralsund zurückfahren, den Dienststellenleiter informieren. Um den Abgleich der Fingerabdrücke könne sie sich ebenfalls kümmern. Außerdem müsse ein Kurier die Fundgegenstände nach Rampe bringen. „Dr. Groschupf kann das Opfer dann in die Gerichtsmedizin transportieren lassen.“
Als er seinen Wagen startete, dachte Bratfisch daran, dass es hier in Sellin, Baabe und Göhren zu DDR-Zeiten etliche Ferienheime der Armee, der Staatssicherheit und vieler anderer offizieller Institutionen gegeben hatte. Das bekannteste war wohl das Gästehaus des Zentralkomitees der SED-Parteiführung an der Steilküste zwischen Sellin und Baabe gewesen, das heute als Cliff-Hotel seinen exklusiven Gästen in etwas angestaubtem DDR-Ambiente 5-Sterne-Komfort bot. Von 1978 bis 1989 empfing die SED-Spitze in dem noblen Sandstein-Gebäude im Bauhaus-Stil Urlauber aus den Führungsetagen der Bruderparteien. Erich Honecker zog es allerdings vor, auf der kleinen Insel Vilm vor Rügen seinen Sommerurlaub zu verbringen. Im Gästehaus war er so gut wie nie anzutreffen. Aber die andere Politbüro-Prominenz verlebte hier gerne ihre Ferien direkt am Strand.
Wenn es dann unter den zahlreichen Sicherheitsleuten, Personenschützern und Militärangehörigen in den Badeorten zum Streit kam und der in Prügeleien ausartete, was gar nicht so selten vorkam, riefen besorgte Bürger auch schon mal die örtliche Volkspolizei zu Hilfe. Der Kommissar selbst hatte damals allerdings des Öfteren erlebt, dass sie in solch einem Fall meist machtlos waren. Sobald die Streithähne ihre NVA- oder Stasi-Ausweise zückten, konnte die uniformierte Polizei gleich einpacken. In der Regel wurden die Ermittlungen dann von oben sehr schnell beendet.
Heute war es zwar anders, aber nicht unbedingt besser. Das hatte schon 1991 angefangen, als nach der Wende die Polizei in Mecklenburg-Vorpommern neu organisiert wurde. Die Chefs kamen nun fast alle aus dem Westen, während sich die DDR-Bürger sich neu um die wenigen Stellen bewerben mussten. Wer über 50 war, wurde schon aus Prinzip nicht genommen. Eine fatale Fehlentscheidung, denn viele erfahrene Kriminalisten standen dadurch plötzlich für die tägliche Arbeit nicht mehr zur Verfügung. Alle Bewerber mussten außerdem eine obligatorische Gauck-Überprüfung über sich ergehen zu lassen – entschieden wurde dabei rein nach Aktenlage, von einer Einzelfallprüfung konnte keine Rede sein. Da gerade in Rügen als früherem Grenzbezirk die Kontakte zwischen Volkspolizei und Staatssicherheit sehr eng gewesen waren, scheiterten viele seiner Kollegen an dieser Hürde. Bratfisch wunderte sich noch heute, dass sie ihn so einfach übernommen hatten.
Als der Kommissar das schmucke Ferienheim am Ortsrand von Sellin mit seinen in der Sonne glitzernden blaugrauen Dachziegeln betrat, kam er nicht umhin, den Architekten Respekt zu zollen. Sie hatten aus dem ehemals typischen DDR-Plattenbau ein wirklich attraktives Objekt gemacht, in dem Bundeswehr-Angehörige und Militärs aus anderen NATO-Staaten für ein paar Euro die Nacht selbst jetzt in der Hochsaison günstig Urlaub machen konnten.
Am Eingang hing ein großes Schild mit Werbung für „Störtebeker – Das Bier der Gerechten“, darunter stand allerdings deutlich kleiner „Keine öffentliche Gaststätte.“ Die Hoffnung des Kommissars auf ein üppiges Frühstück schwand. Damit die blaue Doppeltür des Ferienheims sich öffnete, benötigte man eine dieser modernen Chipkarten. Da Bratfisch die nicht besaß, drückte er verzweifelt auf den Klingelknopf am Eingang.
Es dauerte eine ganze Weile, bis eine junge Frau erschien. Er zeigte seinen Dienstausweis und bat darum, mit dem Leiter der Einrichtung sprechen zu können. Auf dem Weg ins Foyer sah Kurt Bratfisch, dass auch die Inneneinrichtung vom Feinsten war. Ganz im Unterschied zu ihrer Dienststelle in Stralsund: An dem Flachbau, in dem früher die DDR-Transportpolizei residierte, hatte sich seit der Wende äußerlich kaum etwas verändert. Die kahlen Flure im Inneren sahen ebenfalls noch wie vor 25 Jahren aus. Lediglich die Büros waren heute etwas gemütlicher und es gab Computer. Aber selbst für eine Mitarbeiterkantine reichten die Mittel nicht.
Da hatte die Bundeswehr es deutlich besser. „Kann ich Sie kurz sprechen“, fragte Bratfisch den telefonisch herbeigerufenen Chef des Ferienheims. Ruhig erklärte er den Grund seines Besuchs. Bevor der Kommissar seine erste Frage stellte konnte, machte ihm der mit leicht sächsischem Akzent sprechende Schnurbartträger allerdings ein verlockendes Angebot: „Haben Sie Hunger oder Durst, unser Frühstücks-Buffet ist noch offen, im Bistro sind wir ungestört.“
„Kann dieser Mann Gedanken lesen“, dachte sich der Kommissar. Mit der Offerte war er sofort einverstanden. Beim Betrachten der Wurst- und Käseplatten, Obstschalen und gefüllten Brötchenkörbe lief ihm bereits das Wasser im Mund zusammen. Bratfisch belud sich einen großen Teller. Mit einem Glas Orangensaft spülte er erst einmal zwei Tabletten herunter. Wenn er die nicht jeden Morgen einnahm, stiegen Blutdruck und Zucker schnell auf gefährliche Werte. Eigentlich müsste er mehr Sport treiben und sich gesünder ernähren, um das Übergewicht zu reduzieren. Aber das war leichter gesagt, als getan. Besonders im Angesicht eines solchen Büffets.
Nachdem ihm der Leiter des Ferienheims noch einen Pott Kaffee eingeschenkt hatte, kam der Ermittler während des nachgeholten Frühstücks schnell auf den Punkt. Als er dem Heimleiter die ersten Fragen stellte, bemerkte Bratfisch, dass an den Nachbartischen einige Gäste die Köpfe zusammensteckten, miteinander tuschelten und immer wieder zu ihm schauten. Offensichtlich hatte Herr Schulze bereits von seinen morgendlichen Erlebnissen am Strand berichtet.
„Wir vermuten, dass der bisher unbekannte Mann gestern am späten Abend ermordet wurde. Ist Ihnen da irgendetwas aufgefallen oder vermissen Sie gar einen Ihrer Gäste?“ Der Heimleiter schüttelte den Kopf. „Nein, aber wir hatten gestern Bergfest, da war die Gaststätte bis gegen ein Uhr früh geöffnet. Es ging hier ziemlich laut zu, es wurde getanzt und gesungen.“
„Außerdem ziemlich viel getrunken“, ergänzte Bratfisch im Stillen. Ihm fiel am Nachbartisch eine Frau mit langen schwarzen Haaren auf. Sie war vielleicht Anfang 40, trug eine Lederjacke. Angestrengt versuchte sie, etwas von ihrem Gespräch aufzuschnappen.
Bratfisch blickte kurz in ihre Richtung. Dann fragte er leise seinen Gegenüber: „Sie haben aber sehr attraktive Soldatinnen.“ Der lachte kurz: „Das ist keine Bundeswehrangehörige, sie kommt aus dem Westen, hat bei uns drei Übernachtungen gebucht.“ Der Heimleiter erzählte dem Kommissar, dass die Ferieneinrichtung manchmal vorkommende Zimmer-Leerstände dem Fremdenverkehrsverein in Göhren meldete. Von dort würden dann kurzfristig Gäste vermittelt. Der Kriminalist wandte den Blick von der schwarzhaarigen Schönheit, die gerade ihre Kaffeetasse anhob. Er konzentrierte sich wieder auf seinen Gesprächspartner: „Vielleicht befragen wir auch ihre Mitarbeiter, die gestern Abend Dienst hatten?“
Der Sachse, der in der NVA Oberst gewesen war und vor der Wende ein Offiziers-Erholungsheim in Prora geleitet hatte, rief eine ältere Frau an den Tisch. Kurz entschlossen übernahm er auch gleich selbst das Verhör: „Frau Engel, wann sind sie gestern nach Hause gefahren?“
„Sie wohnt nämlich mitten in Sellin und benutzt das Fahrrad, um zur Arbeit zu kommen“, erklärte er dem verdutzt dreinblickenden Kriminalhauptkommissar.
„So gegen eins.“
Jetzt stellte Bratfisch, nachdem er sich kurz vorgestellt hatte, die nächste Frage: „Und ist Ihnen dabei etwas aufgefallen?“
„Ja“, überlegte die mollige Frau in dem grauen Kittel, „da war etwas Ungewöhnliches. Ein Motorradfahrer raste ohne Licht mit einem Wahnsinnstempo aus Richtung Südstrand in die Ortsmitte. Er hat mich fast über den Haufen gefahren, als ich mein Rad den Berg hinaufschob.“
„Haben Sie etwas erkannt? Die Gestalt des Fahrers, die Marke des Motorrads oder gar ein Nummernschild?“
Die Frau zuckte mit der Schulter. „Nein, das ging alles viel zu schnell, außerdem war es zu dunkel. Ich dachte, das ist wieder einer dieser betrunkenen Jugendlichen, die sich hier ständig auf den Straßen die Köpfe einrennen.“
„Sonst noch etwas?“
„Ja, als ich im Ort angekommen war, kam mir kurz vor dem Rookhus - an dieser engen Stelle - ein Auto entgegen, so ein eckiger Kastenwagen.“ Darin hätten vier jüngere Männer gesessen, alle ohne Haare auf dem Kopf. Das wäre ihr merkwürdig vorgekommen. Um diese Zeit sei ja auch sonst kaum noch jemand in Göhren auf der Straße unterwegs.
An weitere Einzelheiten konnte Frau Engel sich nicht erinnern. Nur dunkel sei die Farbe des Fahrzeugs gewesen, vielleicht grün. Viel mehr war aus dieser Zeugin wohl auch nicht mehr herauszubekommen. Aber sie hatten nun immerhin den Hinweis, dass der Motorradreifenabdruck oben am Strand vielleicht doch etwas mit ihrem Fall zu tun haben könnte. Die Beobachtung des Wagens mit den vier Glatzköpfen würde eventuell auch hilfreich für die weiteren Ermittlungen sein.
„Ich brauche eine Liste aller Gäste und Mitarbeiter“, verlangte Bratfisch von dem Sachsen, „faxen Sie mir die ins Büro. Wenn noch jemanden etwas auffällt, bitte sofort bei uns melden.“ Dann bedankte der Kommissar sich bei den beiden Mitarbeitern des Bundeswehr-Sozialwerks – sowohl für das Frühstück, wie für die sachdienlichen Hinweise. Gestärkt machte er sich auf den Weg in seine Dienststelle auf dem Festland. Auch die schwarzhaarige Frau hatte inzwischen ihren Platz verlassen. Bratfisch konnte sie nirgendwo mehr sehen.
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Jetzt gehörte auch er zu den Auserwählten. In den nächsten Wochen würde er hier im Ausbildungslager den Umgang mit Waffen aller Art erlernen, sich planmäßig auf den großen Tag vorbereiten. Er musste sich allerdings erst an die fremde Umgebung gewöhnen, dazu kam die enorme körperliche Belastung. Der Drill ging bis an seine physischen Grenzen. Doch seine Motivation war hoch, deshalb ertrug er ihn. Denn auch den Einsatzbefehl später galt es mit aller Konsequenz zu erfüllen. Ohne Rücksicht auf sich selbst, ohne Mitleid mit dem Feind.
Er stellte sich das genau vor. Der bewaffnete Kampf gegen einen übermächtig erscheinenden Gegner. Doch am Ende würden sie siegen. Denn sie hatten einen geschichtlichen Auftrag zu erfüllen, befanden sich auf der richtigen Seite der Barrikade. Aber es würde eine harte und lange Auseinandersetzung werden, mit vielen Opfern. Da war er sich sicher.
Heute stand aber erst einmal eine recht blutige Angelegenheit auf dem Stundenplan: Nahkampfausbildung mit Messer, Schlagring und einer Würgeschlinge aus Draht. „Bevor wir zum praktischen Einsatz dieser Dinge kommen, erst einmal etwas Theorie“, tönte der durchtrainierte Ausbilder. „Entscheidend ist das Überraschungsmoment, es kommt darauf an, sich lautlos an den Gegner anzunähern, dann ohne Lärmentwicklung zuzuschlagen.“
Ihm war bei dieser Vorstellung etwas mulmig. Einfach einen Menschen abstechen oder erwürgen?
Als hätte der Ausbilder seine Gedanken erahnt, sagte er: „Wir sind keine Killer. Ein Menschenleben opfern wir nur, wenn es nicht anders geht. Wenn es für das eigene Überleben unbedingt notwendig ist. Macht euch aber keine Illusionen, der Gegner hat keine solchen Skrupel. Im konkreten Fall heißt die Frage für Euch immer: Er oder ich?“
Derart vorbereitet und nach einer detaillierten Vorstellung der vor ihnen liegenden Mordgeräte ging es nun an die praktischen Übungen. Vor dem Schulungsraum waren dazu mehrere menschengroße Puppen auf Pfählen fest installiert, die Oberkörper originalgetreu mit Hemd und Jacke bekleidet. Entschlossen stellte sich der Trainer vor einen solchen Dummy, in der linken Hand das Messer, stieß einen kurzen Kampfschrei aus, griff mit seiner Rechten an den Hals der Stechpuppe, zog sie nach vorne, rammte ihr gleichzeitig den Dolch mit voller Wucht zwischen die Rippen. In solchen Momenten schien der Ausbilder nicht mehr aus Knochen und Fleisch zu bestehen. Wie eine aufgezogene Feder schnellte er nach vorne, ließ sich fallen, sprang wieder auf, ging unmittelbar zum Angriff über.
So gelenkig und konzentriert wollte er auch werden. Das Weiße im Auge des Feindes sehen, bevor er ihm den Gnadenstoß gab. Doch bis dahin war es noch ein weiter Weg. Muskelkater, ausgekugelte Schultern und gezerrte Sehnen die Begleiter. Er biss die Zähne fest zusammen. Nur keinen Schmerz zeigen, durchhalten, eine neue Stufe des Bewusstseins erreichen. Sie übten die Angriffstechnik mehr als tausendmal. Der Trainer korrigierte dabei immer wieder, wenn sie nicht gleich die richtige Stelle beim Gegner trafen. „Nicht so zaghaft. Ihr musst im Moment des Angriffs regelrecht explodieren.“
Ähnlich ging es dann in den nächsten Tagen weiter. Der Ausbilder zeigte ihnen noch diverse andere Möglichkeiten, wie man einen Messerstich so platziert, dass er für das Opfer sofort tödlich endet – auch von der Seite und von hinten. Mit einer Mischung aus Intelligenz, Entschlossenheit und Skrupellosigkeit übten sie im Laufe ihres Lehrgangs immer wieder, wie sich ein potenzieller Feind lautlos ausschalten lässt. Außer dem Messer – so der Instrukteur – könne dieses Ziel auch mit der Faust erreicht werden. Durch einen Schlagring werde sie zur tödlichen Waffe. Allerdings sei hier noch mehr Training als mit der Stichwaffe nötig. Denn der erste Schlag müsse gleich richtig sitzen. Das Opfer so verletzen, dass keine Gegenwehr mehr stattfinde. Noch nicht einmal ein Schrei zu hören sei.
Eine Würgeschlinge aus scharfem Draht eigne sich deshalb sehr viel besser für die lautlose Attacke. Der Ausbilder demonstrierte an einer der Puppen, wie diese Art von tödlichem Angriff funktioniert: Sich von hinten an das Opfer anschleichen, ihm schlagartig die Schlinge über den Kopf um den Hals legen. Dann mit aller Kraft zuziehen, in dem man sich im Rücken des Gegners mit einer Hand abstützt. Der scharfe Draht würde dem Feind nicht nur auf der Stelle die Luft abdrehen, sondern auch noch gleich die Halsschlagader durchtrennen. Bei dem Gedanken an das Blut, das aus einer solchen Wunde herausschießt, wurde ihm übel. Ob er diese grausame Waffe in Zukunft einmal einsetzen würde?
3
Auf der Fahrt nach Stralsund gingen Kurt Bratfisch wieder diese dunklen Gedanken durch den Kopf. Warum tat er sich das eigentlich alles an? Sich mit verwesenden Leichen beschäftigen, im Leben anderer Leute wühlen, sich mit der Bürokratie in der Behörde herumschlagen? Das hier war nicht sein Staat. Als 1990 die DDR von der Bildfläche abtrat, brach auch für ihn persönlich eine Welt zusammen. Vieles an das er geglaubt hatte, verschwand wie auf einen Schlag. Die neuen Herren aus dem Westen führten sich wie die Besatzer auf. An der Vergangenheit ließen sie kein gutes Haar, viele Leute hatten ihnen zunächst geglaubt. Doch die Versprechungen von den blühenden Landschaften waren nicht in Erfüllung gegangen. Stattdessen kamen Raubritter aus dem Westen, stopften sich die Taschen voll.
Kurt Bratfisch hatte einige Jahre im Bereich Wirtschaftskriminalität gearbeitet. Damals machte es ihm richtig Spaß, wenn sie ab und zu auch Herrschaften aus den besseren Kreisen der Gesellschaft Straftaten nachweisen und sie deshalb vor Gericht bringen konnten. Und heute? Da machte er Jagd auf irgendwelche arme Gestalten. Rauschgiftsüchtige, betrogene Ehefrauen, die im Affekt ihren Mann umgebracht hatten, oder irregeleitete Jugendliche.
Irgendwie bereitete ihm das alles keine richtige Freude mehr, er verbitterte zusehends. Erika, seine verstorbene Ehefrau, hatte ihn immer davor gewarnt, an die schönen Seiten des Lebens erinnert. Aber seit sie tot war, fehlte ihm dieses Gegengewicht.
Bratfisch betrat missmutig das Dienstgebäude in der Barther Straße durch die in die Jahre gekommene Schleuse am Eingang. Als er seinen Schreibtisch im zweiten Stock ansteuerte, lief ihm auf der Treppe sein Chef über den Weg. Er kannte Kriminaloberrat Heino Lübers seit Jahren und sie redeten sich schon lange mit Vornamen an. Obwohl er ein Wessi war, der aus Hamburg stammte, verstanden sie sich gut. „Kurt, es gibt Neuigkeiten. Wir kennen inzwischen die Identität des Ermordeten.“ Außerdem habe er eine Mordkommission eingerichtet, die Bratfisch leiten würde. „Bringst Du Dein Wissen auf den aktuellen Stand und kommst zusammen mit den Kollegen um ein Uhr in mein Büro zur Lagebesprechung.“ Der zuständige Staatsanwalt werde auch da sein.
Das war ja eine überraschende Wendung. Schnell ging Kurt Bratfisch über den Gang zu Mai Thi Pham, um Details zu erfahren. „Wer ist denn nun unsere Wasserleiche“, fragte er seine Assistentin neugierig. Die las von einem Zettel: „Helmut Melz, geboren am 12.3.1945 in Frankfurt an der Oder. Bis 1990 in Prora auf Rügen an der Offiziershochschule der Nationalen Volksarmee, Dienstgrad Oberstleutnant. Danach ein paar Jahre bei einem Wachdienst, bis 2001.“ Was danach gewesen sei, wisse sie noch nicht. Wohnort sei jedenfalls Binz-Prora, Südstraße 22.
„Woher weißt Du das alles?“
Mandy berichtete, dass das LKA die Fingerabdrücke des Ermordeten in seinem Computer gespeichert hatte. 2001 habe Melz einen Mann krankenhausreif geschlagen, ihn mit einer Pistole bedroht. Es war der Ehegatte seiner damaligen Geliebten, der sich das nicht mehr länger bieten lassen wollte. Da dieser in körperlich angegriffen hatte, konnte Melz seine Attacke vor Gericht in Richtung Notwehr drehen. Einen Waffenschein hatte er wegen seiner Tätigkeit bei der Sicherheitsfirma auch. „Er kam dadurch mit einem blauen Auge davon, aber die Stelle war er danach los.“ Mandy räusperte sich.
„Gut, wer ist außer uns beiden noch in der Sonderkommission?“ Sie zählte die Namen der Kollegen auf. Darunter auch Paula Zeplien von der Insel. „Ein gutes Team“, dachte sich Bratfisch. Doch das Engagement der Kollegen würde die Mängel an ihrer Ausstattung nur zum Teil kompensieren können. Da gab es zum Beispiel mittlerweile modernste Technik, um Fingerabdrücke am Tatort zu sichern. Sie waren dagegen immer noch mit Ruß und Pinsel unterwegs – wie vor 50 Jahren. Manchmal hielt er es kaum aus, wenn ihn ein mit Hightech ausgestatteter Krimineller mitleidig anschaute, sich über ihre Gerätschaften aus dem Kriminalmuseum lustig machte. Manche Kollegen hatten deshalb schon lange resigniert, machten nur noch Dienst nach Vorschrift. Wenn sich unser Dienstherr nicht um uns kümmert und die geringste Fürsorge vermissen lässt, so ihre Einstellung, kann er auch kein besonderes Engagement von uns erwarten.
Aber als Kriminalist mit Leib und Seele war Bratfisch es sich und den Opfern von Gewalttaten schuldig, dass die Täter ermittelt wurden. Trotz ermüdender 12-Stunden-Schichten, chronischem Personalmangel und fehlender moderner Technik. Auch darum engagierte er sich in der Linken. Denn Veränderungen waren nur auf politischem Weg zu erreichen.
Tag der Veröffentlichung: 21.04.2009
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