Sonntag, 16. September
19:07 Uhr
Ich saß auf meiner Bank. In diesen Teil des Waldes kam nie jemand, also konnte ich heulen. Mein Fahrrad hatte ich achtlos auf den Boden geschmissen, weil die Tränen mir die Sicht nahmen. Ich hatte einfach weggemusst. Nichts mehr hören. Nichts mehr sehen.
Ich kam mit dieser Welt einfach nicht klar. Mama hatte einmal gesagt, dass man einfach nicht zuhören durfte. Aber auf einer Erde auf der man jede Sekunde von schrecklichen Nachrichten bombardiert wurde, konnte man sie einfach nicht ignorieren.
Tod. Sie waren Tod. Unschuldige kleine Kinder von ihrer eigenen Mutter getötet. Frauen und Männer, die einmal von ihren Mördern geliebt worden waren. Soldaten. Zivilisten. Von Bomben zerrissen. Menschen. Verhungert. An Krankheiten gestorben, die man eigentlich hätte heilen oder vermeiden können. Und ich hatte nichts dagegen unternommen. Wie immer fühlte ich mich schuldig. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Hier im Wald musste ich alles vergessen. Ich musste. Ich konnte nicht den ganzen Tag weinen.
Ich lauschte auf die Vogelstimmen und versuchte herauszufinden, wer da sang. Mein Vater konnte das. Mich hatte das nicht interessiert. Langsam konnte ich mich dazu bringen regelmäßig zu atmen. Ich kramte ein Taschentuch aus meiner Hosentasche und putzte mir die Nase. Nachdem ich meinen MP3- Player eingeschaltet hatte, versank ich langsam in einem Traum von einer Welt ohne Tränen.
„Hey, bist du nicht auf meiner Schule?“ Ich wusste nicht wie viel Zeit vergangen war. Vielleicht eine viertel Stunde, vielleicht aber auch eine Ganze. Verwirrt schlug ich die Augen auf. Sie klebten ein bisschen zusammen. Getrocknete Tränen.
„Du bist auf meiner Schule! In der 9d, oder? Lass mich nachdenken, du heißt…Leonie, oder?“
Ich nickte zögernd. Ich wusste genau wer er war.
„Was machst du hier?“ Er setzte sich zu mir.
„Nichts. Nichts Besonderes.“ Das war eine Lüge. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht saßen andere vierzehnjährige Mädchen auch auf Bänken im Wald und heulten sich die Augen aus. Man weiß ja nie.
„Ich wollte nur ein bisschen alleine sein.“ Das war wahr. Ich weinte nicht vor anderen Leuten. Noch nicht einmal vor meinen Eltern. Oder Pauline.
„Oh, dann lass dich nicht stören.“ Er machte Anstalten aufzustehen. „Man sieht sich.“
Natürlich hatte er nicht genau zugehört. Das machte nie jemand.
„Ich sagte, ich wollte alleine sein. Wenn du willst, kannst du natürlich hierbleiben. Nicht, dass du meine Erlaubnis dafür brauchen würdest.“ Tu nicht so, als ob du nicht willst, dass er hierbleibt, sagte ich zu mir selbst.
„Dann bleib ich hier“, sagte er grinsend. „Bis gerade eben wollte ich auch alleine sein. Jetzt hab‘ ich eher das Gefühl, dass ich mit jemandem reden müsste. Ich heiße übrigens Collin.“
„Ich weiß.“ Und wir schwiegen. Was sollte ich sagen? Ich ging noch einmal durch, was Collin gesagt hatte und räusperte mich. „Also, du wolltest reden?“ Manchmal fragte ich mich, warum ich mich immer aufregte, wenn Andere mir nicht zuhörten. Ich tat es ja selbst nicht. Collin seufzte. So hatte ich ihn noch nie gesehen. „Lieber doch nicht.“ Er zögerte. „Es wäre ziemlich schräg.“
„Wenn du nicht willst“, sagte ich leise. Mit gesenktem Kopf knibbelte ich an meinem Nagellack herum. Pauline hatte ihre neuste Farbe an mir ausprobieren wollen. Türkis. Konnte man sehen das ich geweint hatte? Der Wind pustete mir die Haare ins Gesicht und durch die Strähnen konnte ich sehen, dass Collin mich betrachtete. Ich strich mir eine hinters Ohr.
Er räusperte sich. „Darf ich wissen, warum du allein sein wolltest?“ Ich schüttelte den Kopf. Warum sollte ich ausgerechnet ihm etwas von meinen Gedanken erzählen?
„Wenn du nicht willst“, meinte er. Mir traten gleichzeitig die Tränen in die Augen und ich musste lächeln.
„So siehst du doch schon gleich viel fröhlicher aus.“ Wer’s glaubt.
Auf einmal hörte ich ein Piepsen. „Ich muss nach Hause. Tut mir Leid, Leonie.“ Collin stand auf und drückte auf einen Knopf seiner Uhr. „Wir sehen uns, okay?“
„Ja…klar. Tschüss, Collin.“ Was sollte ich sonst sagen?
Als er schon ein paar Schritte gegangen war, drehte er sich noch einmal um und sagte: „Eine Frage hätte ich auch noch. Hast du eigentlich geschlafen, als ich gekommen bin?“ Er erinnerte mich schmerzlich an das Gefühl von Tränen auf der Haut.
„Nein, ich hab‘ nur nachgedacht.“ Er nickte und schon war Collin im Wald verschwunden.
Ich sollte mich auch auf den Weg machen. Es wurde langsam dunkel. Seufzend hob ich mein Fahrrad aus dem Laubhaufen und trat in die Pedale.
Montag, 17. September
08:24 Uhr
Am nächsten Morgen verpasste ich meinen Bus. Dieses Ar*** von Busfahrer hatte mich doch tatsächlich noch unverschämt angegrinst, als ich an die verschlossene Tür geklopft hatte, und war dann einfach weitergefahren. Nun schleppte ich mich in die Schule. Ich war schon eine halbe Stunde überfällig. Dummer Busfahrer. Ich hatte zu Fuß gehen müssen, weil an meiner Haltestelle nur dieser Schulbus hielt. Als ich in den Gang, der zu meinem Physikraum führte einbog, hämmerte mein Herz. Alle in der Klasse würden mich ansehen. Herr Dr. Freier würde mich mit hochgezogenen Augenbrauen ansehen und mir nicht glauben. Aber so wie ich mich kannte, würde ich sowieso keinen Ton herausbekommen können. Das ganze Szenario spielte sich in Sekundenschnelle vor meinem inneren Auge ab. In meinem Magen wuchs ein riesiger Knoten und ich bekam kaum Luft. Pauline hätte mich ausgelacht, wenn sie mich so gesehen hätte. Meine beste Freundin konnte jedem Menschen ungeniert ihre Meinung sagen und mit ihr wäre ich sofort durch diese Tür gegangen, aber ausgerechnet heute war sie krank. Kopfschmerzen. Mal wieder. Seit dem letzten Schuljahr litt sie unter Migräne. Jetzt lehnte ich mich mit geschlossenen Augen an die Wand des Flures. Ich hörte Schritte und öffnete sie wieder. Vor mir stand Collin.
„Geht’s dir nicht gut?“, fragte er. Ich starrte ihn an und versuchte den Knoten, der sich inzwischen bis zu meinem Hals ausgebreitet hatte zu lösen. Collin schaute mich besorgt an.
„Ist dir schlecht, oder so?“ Ich nickte. „Bist du krank?“ Ich schüttelte den Kopf. Er grinste mich an. Der Knoten verschwand. Erleichtert atmete ich aus.
„Danke“, sagte ich.
Er runzelte die Stirn. „Warum bedankst du dich?“
„Weil du mir geholfen hast.“
„Und wobei?“ Das konnte ich auch nicht so genau sagen. Also guckte ich ihn einfach nur an und sagte: „Ich geh‘ dann mal ihn die Klasse.“ Collin guckte zurück, streckte den Arm aus und umarmte mich kurz. Ich stand einfach nur da und bewegte mich nicht bis er mich wieder losließ. Dann grinste er sein typisches Collin-Grinsen, drehte sich um und ging den Gang zurück zum Schulhof. „Wir sehen uns.“
Ich starrte ihm hinterher. „Wir sehen uns, Collin.“
Dann trat ich zur Tür des Klassenraums, atmete tief durch und klopfte an. Ich durfte nur nicht nachdenken. Nur nicht nachdenken. Dann öffnete sich die Tür. Wie erwartet schaute mich Herr Dr. Freier mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Na, Leonie. Hast du auch noch vor uns zu beehren?“ Der Satz war falsch. Ich war doch schon da. Aber ich sagte nichts. Ich hätte sowieso kein Wort rausbekommen können. Der Knoten kam wieder.
„Eine Erklärung, junge Dame? Wo ist Pauline?“
„Krank“, krächzte ich.
„Und warum kommst du zu spät?“ Die ganze Klasse starrte mich an. Manche tuschelten. Niklas rief unverhohlen: „Komm schon, Leonie. Du kannst das!“
Das half mir natürlich sehr weiter. Nicht nachdenken. Du redest mit Pauline.
„Ich kam zu spät zur Bushaltestelle.“ Der erste Satz war schon unglaublich schwierig. „Und der Busfahrer hat mich nicht mehr reingelassen.“ Geschafft.
„Und junge Dame war das jetzt so schwer?“ Ein Klotz ist schwer; zu reden ist schwierig, pflegte ein anderer Lehrer aus der Schule immer zu sagen. Ich sagte es jetzt natürlich nicht, sondern nickte nur. Die ganze Klasse brach in Gelächter aus. Ich spürte wie mein Kopf von den Ohrläppchen an langsam rot wurde.
Herr Dr. Freier grinste mich unverhohlen an. „Kann ich mich setzen?“, piepste ich.
„Natürlich.“
Ich setzte mich auf meinen Platz in die letzte Reihe. Die Stunde verbrachte ich schweigend. Ich mochte Physik nicht. Es war doch vollkommen logisch, dass eine Feder länger wurde, wenn man ein Gewicht dranhängte, oder? Das musste ich nicht lernen. So etwas langweilte mich unglaublich. Also kritzelte ich auf meinen Heftrand. Auf dem Tisch hatte jemand die Frage gestellt, wer alles „Collin Trapp aus der 8a total liebt und verehrt?!?<3“ würde. Ich änderte die 8 in eine 9 und zählte die Striche die gemacht wurden. 87. So toll war er nun auch wieder nicht. Wenn all diese Mädchen über Collin mal richtig nachdachten, würden sie auch merken, dass er nicht der perfekte Mensch war wie er immer vorgab. Die siebte Klasse hatte er wiederholen müssen und er war nicht reich, wie viele dachten. Die ganzen Markenklamotten waren gefälscht. Ich dachte an gestern Abend. Dann merkte ich, was ich tat. Ich versuchte an etwas anderes zu denken und kritzelte einen kleinen Kiwi neben die 87 Striche. Der Kiwi war das Nationaltier von Neuseeland. Ich werde nach der Schule das ganze Land bereisen. Dafür plante ich jetzt schon. Am liebsten würde ich jetzt schon losfliegen.
Es klingelte. Ich packte meine Sachen zusammen und sah jetzt erst, dass die ganze Tafel vollgeschrieben war. In letzter Zeit bekam ich im Unterricht öfters nichts mehr mit. Schnell überflog ich den Text. Erleichtert bemerkte ich, dass wir dasselbe Thema schon letzte Stunde besprochen hatten. Ich verließ den Raum und stapfte die Stufen zu meinem Religionsraum hoch. Kleine Fünft- und Sechstklässler drängten sich an mir vorbei. Meine Mitschüler regten sich lautstark über „die kleinen Bastarde“ auf. Vor drei Jahren hatten die damaligen Neuntklässler genau das gleiche gesagt. Und in drei Jahren würden die jetzigen Sechstklässler die ganze Sache wiederholen. Und immer so weiter. So war das eben.
„Können Sie nicht mal eine Ausnahme machen?“ Das war Collins Stimme. Warum traf ich ihn jetzt so oft?
„Nein, ich werde keine Ausnahme machen. Für dich nicht und für niemand anderes!“ Das klang ganz nach meiner Deutschlehrerin.
„Aber, Frau Hausmann, nur noch zwei Tage und ich kann die Arbeit abgeben!“ Collin war ganz eindeutig verzweifelt. Die 9a sollte also auch diese Langzeitarbeit schreiben. Typisch, dass Collin nicht rechtzeitig fertig geworden war. Ich war jetzt (endlich) im höchsten Stockwerk angelangt und sah wie er auf Frau Hausmann hinabblickte. Sie war sehr klein, sogar Pauline überragte sie, auch wenn Frau Hausmann immer High-Heels trug. Mit ihren platinblonden Haaren und den perfekt gezupften Augenbrauen machte sie sowieso keinen sehr einschüchternden Eindruck, aber das pinke Kostüm heute musste doch wirklich nicht sein. Aber durchsetzen konnte sie sich. Collin könnte sie den ganzen Tag nerven, aber ihm zwei Tage mehr geben würde sie nicht.
„Guten Morgen.“ Ich quetschte mich an ihnen vorbei. Frau Hausmann strahlte mich an. „Guten Morgen, Leonie!“ Ich wollte gerade weiter gehen, als Collin mir zuzwinkerte. Warum? Ich runzelte nur die Stirn und ging in den Religionsraum.
14:10 Uhr
Meine Mitschüler stürmten aus der Klasse, obwohl niemand sich die Hausaufgaben aufgeschrieben hatte. Typisch. Endlich war die Mathestunde vorbei. Ich wäre fast eingeschlafen und mit dem Kopf auf die Tischplatte geknallt. Seufzend packte ich meine Sachen zusammen und stand auf. Als ich schon fast an der Tür war, hielt mich meine Mathelehrerin am Arm fest. „Leonie, kannst du bitte noch einen Moment hierbleiben!“ In ihrem Tonfall war das keine Frage, sondern ein Befehl. Ich drehte mich um und nickte. Ich hatte sowieso noch eine halbe Stunde Zeit bis mein Bus kam. Frau Drecke setzte sich auf das Pult und schaute mich an. Ungeduldig lehnte ich mich von einem Bein aufs andere.
„In diesem Schuljahr sind deine Mathenoten wie immer hervorragend.“ War das alles, was sie mir zu sagen hatte? Das wusste ich schon, seit ich das „Sehr gut“ unter meiner Klausur gelesen hatte.
„Und wie immer, sind deine mündlichen Leistungen auf dem Nullpunkt.“ Sie seufzte. „So kann das nicht weitergehen. Ist dir klar, dass in du in der Oberstufe mehr tun musst?“
Ich nickte. Was hätte ich sonst tun sollen?
„Also?“ Wie also? Ich schaute sie verwirrt an. „Was willst du dagegen unternehmen?“
„Ich werde mich mehr anstrengen.“ Ich schaute auf den Boden. Sah sie wie wenig mich das interessierte?
„Das hoffe ich für dich.“
„Wieso?“, piepste ich. „Dieses Schuljahr kann ich das doch bestimmt noch ausgleichen.“
Die linke Augenbraue meiner Lehrerin schoss in die Höhe. „Das schon. Aber wenn das so weitergeht, sehe ich mich gezwungen, deine Eltern zu benachrichtigen.“ Mein Herz stockte. Solange ich gute Noten nach Hause brachte, interessierten sich meine Eltern nicht wirklich für die Schule. Aber nachdem ich meine erste Vier geschrieben hatte , war mein Vater in Panik ausgebrochen und hatte davon geredet, dass ich mein Abi nicht schaffe. Wie würde es erst sein, wenn Frau Drecke bei uns anrufen würde? Ich schluckte.
„Hast du das verstanden?“ Hastig nickte ich. „Dann darfst du jetzt gehen.“ Aus irgendeinem Grund hatte ich den Drang mich ehrfürchtig zu verbeugen, tat es aber nicht, sondern nickte nur wieder und verließ erleichtert den Raum. Als ich die Tür schwungvoll öffnete, spürte ich einen Widerstand und hörte einen Fluch.
„Oh nein! Tut mir Leid!“, rief ich und eilte dem Verletzten zu Hilfe. Mir stand Collin gegenüber. Überrascht starrten wir uns an. Nach gefühlten drei Minuten (vielleicht waren es auch nur dreißig Sekunden) fing Collin an zu grinsen. „Du schon wieder!“
Ich grinste verlegen zurück. „Hey!“ Wie peinlich.
Er rieb sich mit schmerzverzerrten Gesicht die Stirn.
„Tut mir echt Leid! Tut’s sehr weh?“
„Nein, nein, geht schon.“ Collin schüttelte den Kopf.
„Sicher?“ Es wuchs schon eine Beule auf seiner Stirn. „Willst du das nicht lieber kühlen?“
Er grinste kläglich. „Dann müsste ich zum Sekretariat gehen und diese Leute sind irgendwie sehr unfreundlich.“
Skeptisch schaute ich ihn an.
„Also, dann können wir ja gehen, oder?“, fragte er mich.
„Wenn’s dir soweit gut geht, natürlich.“
„Okay.“ Aber keiner von uns bewegte sich, bis Frau Drecke aus dem Klassenraum trat. Collin schaute mich kurz an und dann flohen wir beide vor der Mathelehrerin. Ich glaube, sie schaute uns lange hinterher.
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Tag der Veröffentlichung: 01.06.2012
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