TITANIC
Traumverloren stand er im bereits mehrere Tage anhaltenden Regen und starrte ins Nichts. Dampfende Schemen von Gebäuden wahrnehmend. Nichts hört man als den Regen, die Stadt droht unterzugehen im Wasser, die Menschen sind und bleiben zu Hause. Alles trieft, versinkt in verwaschenem Grau der Vorstadt. Menschen, Heime, alles Leben ist hier grau. Beziehungen Liebe, Hass, alles grau.
Die Regenflucht aller hat ihn auf die Straße getrieben. Im Freien zu sein ohne die Gesellschaft und das Sein anderer in Kauf nehmen zu müssen ist großartig. Er steht auf einer Anhöhe, einen groß angelegten Plattenbau betrachtend. Man hat hier nicht an Wohnungen gespart. Verzweifelt reiht sich hier Schicksal an Schicksal, Vergangenheit an Vergangenheit. Unzählige Leben komprimiert auf wenige Kubikmeter. Es ist besser sich vorzustellen, was hinter den Fassaden geschieht als es zu wissen. Lichter gehen ein und aus. Schemen von Menschen erscheinen kurz im Fenster. Manche sehen ein bisschen dem Regen zu um dann resigniert wieder in der Tiefe ihrer Plattenbauzuordnung zu verschwinden.
Alles geschieht an den selben Orten, stockwerkversetzt, einer kocht über dem anderen, einer schläft über dem anderen, einer scheißt auf und über dem anderen. Für individuelle Gestaltung war kein Hirn, kein Platz und kein Geld zur Verfügung. Funktionalität statt Kreativität. Tod dem Humanismus!!, schreit es hier übrall…
Was tun die vielen?
Leben, verzweifeln, oder sie merken es gar nicht. Es ist vollkommen egal ob sie oder eine andere Plattenfamilie hier wohnt. Alles ist egal was über die Grenzen der Wohnung hinausgeht. Vergewaltigung, Tod, Betrug. Der Päderast ist ein angesehenes Mitglied unserer Gesellschaft. Ein gesitteter seriöser Herr von Nummer sowieso, untadelig...
Er bricht die Gedanken ab. Stechender Schmerz durchfährt sein Gehirn. Langsam beginnt er zu erblinden und nimmt alles nur noch schemenhaft wahr.
Das Bild des Plattenbaus wird immer abstrakter, vom Regen unterstützt wird dieses Leben einfach weggeschwemmt und er hat Angst, auch der alles fressenden Flut zum Opfer zu fallen. Knöcheltief steht er stellenweise schon im Wasser. Zu einem Einheitsbrei ist die Häuserfront zusammengeronnen. Die Geräusche immer noch gleich aus jeder Wohnung, jedes Schicksal gleich, alle Menschen gleich, Klone, die Natur hat sich nicht einmal die Mühe gemacht sie unterscheidbar zu machen, die Kunst hat sich nicht die Mühe gemacht ihnen genug Verständnis für Individualität zu vermitteln, alles kräht gleichaussehend die gleichen Dummheiten, wie aus einem Halse.
Es gibt keine Liebe, kein Mitgefühl, keine Sensibilität, alles ist gestorben, die Latrinen gehen über vor Fäkalien, der ganze Mist rinnt, regenbeschleunigt die Fassaden hinunter und taucht alles in einen riesigen Haufen Scheiße aus dem sich hin und wieder Gesichter strecken und nach Hilfe schreien um ihr jämmerliches Nichts, bevor wieder ein Schwall Scheiße ihnen das Maul stopft.
Händeringend stehen die Menschen an den Fenstern. Alles schreit vor Entsetzen, einige stürzen sich in die Tiefe, Körper schlagen auf, Arme, Beine, Knochen brechen, Blut überall, vom Regen sofort in die Unterwelt getragen. Alles verfinstert sich, die Menschen fluchen, sie wissen dass sie sterben. Ein Mann trinkt eine halbe Flasche Wodka auf einmal, ein anderer vergewaltigt eine Frau, Kinder schreien und sterben wie alles, das sich im Plattenbau befindet.
Der seriöse Herr stirbt, sein Glied abgetrennt, einen großen roten Fleck in der Hose vor sich hertragend, dahinter eine Mutter mit einem Messer auf ihn einstechend. Alles lebt, lebt zum ersten Mal im Angesicht des Todes.
Langsam setzt sich das Riesending in Bewegung Richtung abwärts, unaufhaltbar. Der Regen wird sintflutartig, der Boden lockert sich mehr und mehr, Schreie, nicht mehr menschlich, Entsetzen, Gejammer, eine unheimliche Anziehung über das endgefährdete Ich aus, da es nicht zu halten ist. Ungeheure Mengen Scheiße sprudeln aus den Fenstern, Menschen mit sich reißend, die Fassade löst sich auf. Das Bild verändert sich und langsam beginnt sich das Gebäude zu bewegen, tiefer und tiefer reißt es das Unter- bis Mittelständische in die Tiefe. Alles verschwindet, langsam mit Getöse, die Schreie enden langsam verhallend. Schon sind die letzten Stockwerke in der Tiefe verschwunden, einige Köpfe, die aus den Fenstern gesehen haben, liegen abgetrennt, das Entsetzen noch im Gesicht, herum.
Schließlich ist es ruhig. Die Erde schließt sich, es bleiben ein paar Körper von Tieren, Kindern, Köpfe und viel Regen. Ungerührt steht er da wie einer, der eigentlich nichts anderes erwartet hat.
Hundertschaften starben und hinterließen, alle zusammen, nicht das kleinste Loch…
Nichts, aber auch nicht das Geringste änderte sich.
Ein wenig riecht alles nur nach Fäkalien...
Texte: Andreas Wenhardt
Tag der Veröffentlichung: 17.01.2013
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