LEBENSABEND
Die Brille!
In den letzten zwanzig Jahren war er daran gewöhnt sie um sich zu haben. Nach einer kurzen Unachtsamkeit - er war vor dem Fernseher eingeschlafen, war ihm die Brille entglitten. Vorsichtig tastet er sich den Teppichrand entlang. Hier muss sie irgendwo sein.
"Anna!"
Keine Antwort. Langsam versucht er sich von seinem Fauteuil zu erheben, ein weiteres Segment zu durchsuchen. Er kann seine Brille nicht finden.
"Anna!"
Rätselhaft ist es schon, dass sie keine Antwort gibt. Mittlerweile ist er aber daran gewöhnt. Anna, sein Alles, die Begleiterin seines Lebens, sie hört nicht mehr so gut.
Es ist nicht so wichtig. Wie viele Stunden hat er quasi blind vor dem Fernseher verbracht? In der Zwischenzeit hat er sich daran gewöhnt phosphoreszierende bewegte Farbflecke zu sehen. Der Text dazu ist meist langweilig. Selten wird ein Beitrag gebracht, wo er gerne das Bild zur Stimme sehen würde.
Anna meldet sich nicht. Es ist kurz vor Beginn des Hauptabendprogramms und normalerweise sitzt sie dann schon neben ihm auf dem alten Sofa. Heute ist offensichtlich ein Tag, wo sie wieder besseres zu tun hat.
Er hört rumoren, er weiß dass sie hier ist, er macht sich nie Sorgen um sie, denn er ist sich sicher, dass er es sofort spüren würde, wenn ihr irgendetwas passiert wäre. 42 Jahre leben sie nun zusammen. Es gibt keine Fragen mehr, alles ist gesagt, eine angenehme Vertrautheit. Mit Schauder denkt er an die Zeit zurück, als sie sich kennerlernten, als sie zaghafte Gespräche führten. Er hatte damals nicht gewusst was er erzählen sollte. In einem Anflug ihn übermannender Vertrautheit hatte er ihr von seinem Besuch bei einer Prostituierten erzählt und sie hatte ihn nur fassungslos angesehen. Damals war er fest davon überzeugt, dass er sich seine Zukunft durch seine idiotische Leutseligkeit verdorben hatte, nie mehr nachher ließ er in einem Gespräch einen Menschen so nah an sich herankommen. Die Distanz war sein Sicherheitspolster und die Garantie für sein weitgehend sorgenfreies Leben.
Anna kommt endlich, sie sieht abgekämpft aus. Immer noch hat sie diese Augen, das, was ihn am meisten faszinierte, waren diese lebendigen Augen, die Augen eines Menschen, der alle liebt, der das Leben liebt und den Menschen. Als sie sich kennerlernten war er ein Außenseiter. Mit niemand hatte er Freundschaft geschlossen. Sie hatten damals nach dem Krieg in derselben Fabrik gearbeitet, Herstellung von Unterbekleidung, sie waren sich nur langsam nähergekommen über einen langen Zeitraum, seine Schüchternheit, endlose Wochen und Monate bis er sich endlich entschlossen hatte sie nach einem Rendezvous zu fragen, noch einmal so lange bis sie sich duzten, dann endlich mit der Zeit einige Vertrautheit. Sie war, Gott lob, nicht mehr Jungfrau, sonst hätte Intimität nie eine Rolle in ihrer Beziehung gespielt.
Sie geht im Raum herum, erledigt hier etwas, da etwas. Ihr Gang hatte ihn immer zu Spekulationen genötigt. Wie ihn definieren. Er kam nie zu einer Lösung. Vielleicht lag es daran, dass ihr Gang einfach Gehen an sich war. Ohne Anmut aber ohne Schwerfälligkeit war ihr Gang stets Fortbewegung gewesen, nicht mehr und nicht weniger.
Sie lärmt in diversen Schubladen, flucht leise vor sich hin, schließlich hat sie gefunden wonach sie gesucht hat. Ihre Brille. Im Näherkommen beugt sie sich hinunter und reicht ihm seine Brille.
"Du hast den falschen Sender eingestellt."
"Kein Wunder ohne Brille. Ich bin nach dem Gehör gegangen und alle Sender klingen heute gleich!"
Ein zufriedenes Lachen, von einem Menschen, der es gewohnt ist eine bestimmte Art von Humor damit zu bedenken, war die Folge. Als er seine Brille wieder auf hat, sieht er wie gewohnt auf das Fernsehbild und sofort wieder weg. Er verliert sich in Gedanken, schweift mit seinem Blick durch das Zimmer und kann oft am Ende des Films kaum sagen wer - wer ist. Er blickt auf die alten Tapeten. Sie sind nicht etwa vergilbt, wie das bei Rauchern der Fall ist. Vor langen Jahren hatten sie gemeinsam die Raucherei aufgegeben. Die Tapete ist von einem Grau überzogen, das alle Farben in nichtssagende Andeutungen verwandelt. Alte Landschaftsdrucke, Erbstücke, sowie einige Familienbilder, hängen da und dort darüber. All die Menschen sind mittlerweile in Vergessenheit geraten, obwohl er sie immer gegenüber sehen kann.
Wie immer ist Anna vom Fernsehprogramm angetan, kann eigentlich jeder Sendung etwas abgewinnen, und ist daher mit dem Gerät besser bedient als so mancher Intellektuelle, der an jeder Sendung etwas auszusetzen hat. Manchmal lacht sie mit. Er ist immer noch ganz verzaubert von ihrer leichten Fröhlichkeit, die sie verbreitet. Er liebt und bewundert sie dafür, dass sie sich ein glückliches Leben gestalten kann, ohne viel Aufwand, sie braucht nicht viel.
Wieder lacht sie leise auf, ihre Brillengläser blitzen erhellt von der alten Stehlampe. In diesem Licht sieht er sie Abend für Abend seine Anna, sein Alles.
"Was sehen wir für Unsinn?"
"Eine Sendung über Menschen, mit außergewöhnlichen Begabungen!"
Zahlengenies, Auswendiglerner, Simultanübersetzer, Menschen, die einen Satz mit den Buchstaben rückwärts sprechen können. Langsam wird er ihrer überdrüssig. Er beginnt herumzuschalten, was ihren Unmut weckt. Sie hasst es von einem Sender zum anderen zu springen, manchmal verweilt er bei einem Programm um es dann wieder zu verlassen. Oft nimmt sie ihm dann die Fernbedienung weg um diesen Prozess zu unterbrechen. Sport. Wenn man Sport-interessiert ist, hat man immer etwas im Fernsehen.
Ist er aber nicht. War er nie!
Oft stellte er sich diese Menschen vor, wie sie überanstrengt in kleinen Kammern dieselbe Übung immer und immer wieder ausüben. Radfahren ohne die Landschaft zu sehen, stumpfsinnig Liegestütze machend, den Boden immer näherkommen und entfernen sehend. Ohne Phantasie, ohne viel Innenleben. Daher der Sport. Leistung ja, Kreativität nein. Unmusisch.
"Diese Turnerin sieht aus wie Stefanie!"
In der Tat, sie hat gewisse Ähnlichkeit mit Stefanie, wenngleich auch nur im Gesicht. Stefanie, ihre Tochter. Sie ist nie ein Kind gewesen, auf das man stolz sein konnte. Es gab nichts Herausragendes an ihr, man konnte nicht angeben. Oft sprach er mit Nachbarn, die ihm dann "gar wundersame Geschichten" von oder über ihre Kinder erzählten. Daneben stand oft Stefanie - ein Kapitel für sich - die Antworten auf alle Fragen gebend.
Irgendwie hat sie später doch jemanden kennengelernt, damals Biologiestudent und hochmotiviert. In kürzester Zeit hatten sie, nicht verheiratet, ein Kind, eigentlich Zwillinge.
Oft waren diese Kinder zu Besuch gewesen und schon ganz klein hatten auch sie diese leeren Augen, mit denen sie ihre Eltern anstarrten. Auch wenn der Großvater mit ihnen sprach, herumtollen wollte, sahen sie ihn immer nur verständnislos an. Leere Augen, nur etwas mehr als schwarze Löcher, nicht böse, nicht gut, weit entfernt von Fröhlichkeit, einer kindlichen Unbeschwertheit. Nichts das die Seele erwärmt. Die ganze Familie sah er am liebsten, sich verabschiedend, hinter der sich schließenden Tür verschwindend. Erleichtert stand er oft hinter der Türe, wenn sich ihre Schritte im Stiegenhaus verloren. Der ausgeträumte Enkeltraum.
Anna hatte auch hier die positive Seite entdeckt, die Kinder auf Händen getragen, mehr, weil sich das so gehört als aus innigem Herzenswunsch, wie er vermutete.
Die Stefanie - Imitation war vom Fernsehschirm verschwunden, hatte aber ein mütterliches Lächeln auf Annas Gesicht hinterlassen.
Nachdem die Spätnachrichten beendet sind, beginnt er fallweise schon zu warten, dass sie zu Bett geht. Anna hat es sich so angewöhnt nach den Spätnachrichten zu Bett zu gehen, er bleibt immer noch gerne auf. In früherer Zeit hat er dann seinen Cognac getrunken, seine Zigarren geraucht. Oft hat er sich nach Ende der Arbeitswoche schon auf den Zeitpunkt gefreut, wenn Anna zu Bett geht und er quasi Zeit für sich selbst hatte, die er, besonders als Stefanie noch im Haus war, brauchte.
Diese Lust auf seine Soloabende hat er sich auch bis in die Gegenwart bewahrt, und manchmal sehnt er den Zeitpunkt schon herbei, wo Anna endlich das Bett aufsucht. Von Zeit zu Zeit wirft er einen Blick zu ihr hinüber, ihre Augen verraten nie ihre Müdigkeit, so auch heute. Oft hat ihn diese Eigenschaft an ihr in leichtes Ärgernis versetzt, da er befürchtete aufgrund ihrer Wachheit, seinen Soloabend noch lange nicht beginnen zu können. Oft bleibt sie auch länger um sich noch etwas anzusehen oder, was er nicht weiß, um einfach in seiner Nähe zu sein.
Er wird leicht nervös, denn er will noch ein paar Minuten mit sich selbst verbringen und die heraufziehende eigene Müdigkeit versetzt ihn in Panik. Wie lange wird er selbst noch durchhalten können?
"Ich gehe jetzt, glaube ich, zu Bett." vorankündigt Anna ihren Aufbruch und leise Hoffnung steigt in ihm auf. Manchmal hat er ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber, weil sie nicht ahnt, wie gerne er sie in diesen Augenblicken loshaben würde. Sie sitzt da und fühlt sich offensichtlich in seiner Gegenwart wohl. Genießt sein Dasein, seine sarkastischen Reden, die er schon wie von selbst aus dem Ärmel schüttelt.
Als weiteren Schritt wird er dann wortkarg, spricht wesentlich weniger und zum Schluss kündigt er schon sein eigenes Zubettgehen an, was oft ihren endgültigen Aufbruch zur Folge hat.
So auch heute. Er besinnt sich scheinbar noch und sagt: "Ich glaube ich sehe mir das noch zu Ende an, und komme gleich."
Zu seiner Schande fühlt er sich befreit. Sie wendet ihm eines ihrer leichten Lächeln zu und küsst ihn, wie jeden Abend, auf die Stirne. Ihre warmen Hände streichen seine Wangen entlang, was er aber längst nicht mehr mit Wohlgefallen quittiert, sondern es ist nur ein weiterer Schritt zu seinem Einsamkeitswillen. Kurz bleibt sie noch stehen, sich auf seine Schulter stützend, noch einen Blick auf den Fernseher werfend. Er bebt, kann es nicht mehr erwarten. Endlose Sekunden steht sie da, lächelt ihn voll Liebe an, wie es nur besondere Menschen tun, schließt dann die Türe. Das Licht im Vorraum brennt noch kurze Zeit, im Bad rinnt Wasser in das Becken. Schließlich verlischt das Licht und ein leichter Schimmer bleibt übrig, das Licht des Bades, das sie immer anlässt, damit er in der Nacht, was sie annimmt, was er nicht weiß, im Zustand leichter Betrunkenheit, nicht stolpert.
Er geht zur Bar, öffnete sie. Anna hat neben die fast leere Cognacflasche, eine neue gestellt. Der gute Cognac. Er ist ihr noch genau so teuer, wie zu der Zeit als sie frisch verheiratet waren. Sie würde nie mindere Qualität für ihn kaufen. Mit einem leisen Anflug von Gerührtheit denkt er an sie. Er liebt sie, auch heute noch. Langsam schenkt er den Cognac ein. Ölig rinnt die braune Flüssigkeit am Rand des riesenhaften Cognacschwenkers herunter. Es ist ruhig im Haus. Leichter Wind bewegt unerheblich die Vorhänge der Balkontüre. Er verliert sich in Gedanken - kurvt herum in seiner Phantasie, fliegt auf und ab, schleicht durch depressive Vorstellungen von Endzeitvisionen seines Lebens bis zu absolut lebensbejahenden Situationen, guten Geschichten, wo er Nutznießer, Sieger, Profitierender ist. Als er das zweite Glas trinkt, ist seine Stimmung auf dem Höhepunkt. Scheinbar mühelos wechselt er von gut zu böse. Was könnte Anna jetzt für ihn tun? Gar nichts. Das ist seine Welt, seine Art immer gewesen, auszubrechen, die lange Nase zu zeigen, den Mund aufzumachen. Er selbst sein im Keller der selbst erschaffenen Wohnlichkeit. Mittelständisch scheinbar über sich hinauswachsend. Er macht sich etwas vor. Breite Löcher treten in das ölige Etwas, das die Schwenkerwand herunterrinnt. Alles spielt sich innerhalb seiner Schädeldecke ab.
Ohne Musik.
Er hat Musik immer gehasst, ohne Bilder, ohne Assoziationen der Kunst. Sie war seinem Leben immer das Verhassteste, nie hat er sich ihr nähern können, wollen, nie sich auch nur zu einem Aspekt der Kunst hingezogen gefühlt. Er hat alles gehasst, was mit Kunst zu tun hatte und am meisten hasste er die Künstler selbst, nicht weil sie anders lebten als er, alle herkömmlichen Vorwände gegen Künstler hat er nie gehabt, ihr Aussehen, ihr Leben. Aber sie waren diejenigen, denen Inhalte nicht verschlossen geblieben, die er gerne ausgekostet hätte. Wie Kafkas "Mann vor dem Gesetz" hatte er Eintritt verlangt und war nicht vorgelassen worden bei einem Tor, das nur er hätte durchschreiten können. Nie hatte er den Schlüssel gefunden. Nie etwas verstanden. Primitive Phantasien waren der Beitrag seines Gehirns zu seiner persönlichen Freiheit. Sie hat er sich bis in die Gegenwart bewahrt.
In den seltensten Fällen fühlt er sich in seinen Phantasien körperlich so wohl, dass er darüber einschläft. Heute ist es ihm passiert. Er wacht am nächsten Morgen mit einem leichten Unwohlsein und einem schlechten Gewissen auf, Anna gegenüber, zurückgesunken auf dem Sofa sitzend, der Fernseher zeigt Börsenkurse. Der Riesenschwenker hat sich geneigt und den letzten kleinen Rest in die Decke des Sofas rinnen lassen. Schuldbewusst wischt er alles sauber.
Anna schläft noch. Eine glückliche Fügung! Sie hat gestern nichts von seinem Drängen mitbekommen. Oft war sie, von seiner Schroffheit begleitet, schlafen gegangen. Nichts hatte sie am nächsten Morgen gesagt. Sie ist ein Mensch, den man schwer beleidigen kann. Der beste Begleiter für einen schwierigen Charakter wie ihn. Was wird er tun, wenn sie, Gott behüte, früher stirbt als er, so denkt er auf der einen Seite und auf der anderen: "Was wird sie alleine tun auf der Welt, wenn ich nicht mehr bin?"
Leicht fröstelt ihn, die Türe zum Balkon ist immer noch offen. Es hat zu regnen begonnen und der Wind ist stärker geworden. Leicht heben sich die Vorhänge von der Balkontüre ab.
Er steht auf und schließt die Tür.
Obwohl der Tag nicht so gut begonnen hat, beschließt er heute mit Anna etwas zu unternehmen. Sie werden essen gehen, wie sie es früher so oft getan haben, er wird sie einladen und ihr eine rote Rose schenken. Der Gedanke beschwingt ihn und, bevor er sie weckt, beschließt er, Kaffee zu machen. Anna liebt es, wenn sie aufsteht und fertigen Kaffee am Frühstückstisch vorfindet.
Er liebt den Gang von der Küche ins Schlafzimmer, er liebt es sie aufzuwecken und damit zu überraschen, dass er alles notwendige für einen wunderbaren Tagesbeginn schon in die Wege geleitet hat.
Noch leicht betrunken, verursacht durch einen Rest Alkohol in seinem Blut, nähert er sich dem Schlafzimmer. Anna liegt auf der Seite. Keine einzige Nacht lag sie je anders. Er rüttelt sie, bekommt keine Antwort. Nach mehreren Versuchen geht er um sie herum und versucht es auf der anderen Seite des Bettes. Als er ihr endlich in die Augen blickt, sieht er ihr Lächeln, ihr endgültiges Lächeln, mit dem sie alle Menschen dieser Welt definitiv zum letzten Mal umarmt.
Texte: Andreas Wenhardt
Tag der Veröffentlichung: 15.01.2013
Alle Rechte vorbehalten