STRAND
In silbernen Stufen arbeitet sich das Sonnenlicht die Stockwerke des eigensinnigen Bürogebäudes hinauf, unterbrochen durch eigenartige Verstrebungen, einem Adler gleich, der seine Fänge weit ausgebreitet auf das Gebäude herabstürzen will. Silbern leuchtet jedes Fenster, gespiegelt und uneinsichtig für alle Ewigkeit. Was für ein gigantischer Sturm bricht los, wenn diese Eisenmauern in Bewegung geraten und all die verlogene Bürokratie ihres elenden Magens herausspeit.
Künstliche Hitze schlägt ihm beim Betreten entgegen. Eine künstlich gezwungene und erzwungene Luft – für dieses Haus gemacht, für diesen Giganten und wohl geleitet durch exzentrisch verschachtelte Klimaanlagen irgendwo, wer weiß wo, von Menschen missbraucht ins Freie geblasen. Und von irgendwoher wird neue Luft durch eingangsexzentrische Gänge für das Haus zu dieser seltsamen Luft verarbeitet.
Was beinhaltet sie?
Eine Droge um das Individuum im Haus zu behalten, ihm jeden Ansatz seines frechen Vorhabens eben dieses Haus zu verlassen gründlich zu versalzen? Die Rädchen werden geölt und geschmeidig gehalten. Wenn man einmal drinnen ist, gibt es keinen Willen mehr sich zu entfernen. Zumindest nicht aus eigenem Antrieb.
Dies alles bestätigt fühlend, entsteigt er einem Lift, eben jenem welcher Herz unbelastend die Differenz von 42 Stockwerken scheinbar mühelos überwindet. Dem Lift entschwebend, 2500 ‚Guten Morgens lallend, befindet er sich irgendwann in seiner eigenen Nische eines Raumgiganten, welcher auf zwei Ebenen verschachtelt Unzähligkeiten an Nischen seiner Art clusterartig zusammenhält. Vom Eingang des Giganten sehen wir ihn immer kleiner werden und schließlich in einer Biegung verschwinden.
Entsetzliche Luft und unglaubliches Getöse erfüllen den Raum. In den Abteilungen wird gegessen, getrunken, gequatscht, die ungeheure Lust an und mit sich selbst und anderen ausgelebt, beobachtet von einer Überordnung ohne Angst, nie wurde eine wie auch immer geartete Bedrohung beobachtet. Die Gerüche von Essen, Alkohol, Wasserpfeifen ergießen sich von einer Kabine in die nächste wo sie sich mit den Körpersäften und -gerüchen sich paarender Büroschweine vermischen.
In dieser Etage wird nichts abgesaugt, zirkuliert, verelendet, Gerüche bringen Menschen um. Sofort, als er seine Kabine betritt, bemerkt er die gekreuzten Kugelschreiber, ein Hinweis eines Mitarbeiters, dass er denunziert worden ist. Er kann sich nicht vorstellen, von wem.
Die graue Eminenz, welche alles unter sich hat, der nie Gesehene, der Unbekannte, wer sollte das schon sein? Langsam setzt er sich, beginnt nachzudenken. Es fällt im die Nutte ein, bei der er den gestrigen Abend verbracht hat. Sie hat heute keinen Namen und kein Gesicht mehr. An zwei ungleiche Busen und einen höllischen Gestank unter ihren Achselhöhlen kann er sich erinnern. Nicht wie er dort hin gekommen ist.
Nachdem er zu Mittag zu trinken begonnen hatte, war er dann in ein Zeitloch zwischen 16 und 23 Uhr gefallen. Ungefähr. Die Nutte hatte geredet und gerochen. Er hatte sie ekelhaft behandelt, hatte ihr die letzte Würde genommen, nichts bezahlt, war stattdessen gelaufen bis zur Bewusstlosigkeit, dem Geschrei der Zuhälter entkommend. Weiter getrunken und die Nacht zum Weckerläuten abgerundet.
Jetzt ist er hier. Kein besonderes Dasein. Seine Arbeit ist ihm bis heute unklar. Unklar, was er an seinem Platz zu tun hat. Wie es aussieht geht es darum, Karten, die aus einem Schlitz seines Automaten kommen umzudrehen und in den anderen Schlitz zu stecken. Dies geschieht mit rosa Karten, die gelben werden noch zusätzlich von ihm unterzeichnet.
Warum - ???
Auf den Karten befinden sich endlose Zahlencodes. Er hat keine Ahnung was sie bedeuten sollen. Die Mathematik, ein Gebiet, dem er immer versuchte zu entfliehen, Zeit seines Lebens hat er den Zahlenhass gepflegt, alles Logische verdammend, hatte er sich immer am Grat einer zahlenlosen und Mathematik-losen Welt bewegt, nicht einsehen wollend, dass sie ihn immer wieder einholen würde.
Rechnungen ignorierend, Zahlen hassend, Nummern verleugnend bewegt er sich durch die Welt, nimmt einen Job an in dem es seine Aufgabe ist, Zahlen weiterzuleiten, nie ihren geheimnisvollen Zusammenhang erratend, aber auch gedankenlos weg schiebend.
Mit fortschreitender Dauer wird er unruhig, unmöglich die elende Parzelle zu verlassen. Vor ihm eine Pinnwand, elendige Verpflichtungen in sein getrübtes Gedächtnis rufend, das Leben noch unerträglicher machend. Einmal hatte er ein ganzes Wochenende mit einer Nutte verbracht. Ein unglaubliches Gefühl, nicht in den Alltag zurückkehren zu müssen, vorläufig nicht. Stattdessen hatte er sich baden lassen wie ein Kleinkind und die Nutte hatte darauf bestanden, dass er überdimensionale Windelhosen anziehe, damit sie ihn umwickeln könne. Er hatte sich auf das Spiel eingelassen um zu sehen welch verschlungenem Pfad der Verblödung er Folge leisten würde, wie lange es dauern würde, bis er stehen bleibt.
Er war nicht zurückgeblieben, das ganze verhurte und verfickte Wochenende lang und wäre die Hure nicht mit einem Mal und seinem Geld verschwunden, würde er heute noch ihre Blödheiten mitmachen.
Das Problem ist sein Sein.
Das Sein an sich.
In seinem Leben gibt es nichts als die Leere. Er hätte damals alle Perversionen mitgemacht, und zwar nur weil er schlicht nichts Besseres vorgehabt hatte. Und so war es immer, so ist es auch heute noch. Der ganze Lebensmist dauert länger oder kürzer, er lässt sich auf alles ein, weil ihm permanent das Zeitproblem abhanden kommt.
Er muss nie irgendwo sein, hat keine Termine einzuhalten. Die Arbeit ja, aber scheinbar ohne Konsequenzen. Von anderen hatte er gehört, dass sie Tage- ja Wochenlang der Arbeit, ihrer Zelle, fernblieben, ohne Konsequenzen, wie versichert wurde. Etwas, das er selbst sich freilich noch bis dato nicht getraut hatte.
Als er seine mit Schweinereien bekritzelte Unterlage wegschiebt erkennt er endlich das Kuvert, es muss im Zuge der ihm unbekannten Putzarbeiten darunter gerutscht sein. Noch nie hatte es in seinem Abteil ein Kuvert gegeben, noch nie war etwas dergleichen herausgerutscht aus den beiden Schlitzen (es wäre ja nur aus dem ersten möglich gewesen). Ein Kuvert. Er beginnt zu zittern, hält es gleichzeitig für eine Briefbombe, einen Lottogewinn, eine Beförderung und einen Liebesbrief. Seine Mimik spottet jeder Virtuosität. Schweiß, Adrenalin, Endorphine, Nasen(Blut)en und Tränen. Nachdem ihm der Umschlag mehrere Male entglitten ist, gelingt es ihm denselben mit einem von seinem Ohrenschmalz verunreinigten Streichholz zu öffnen. Darin befindet sich ein Brief, welchen er nach längerer Zeit und – um abzukürzen – jetzt geöffnet vor sich hält. Da er sich keine Brille aufsetzen muss, liest er gleich:
‚Unmöglich, danke, einvernehmlich!’
Sollte man jetzt eine Reaktion erwartet haben, hätte man sich gewundert wie sorgfältig er seinen Arbeitsplatz von persönlichen Dingen befreit, denselben verlassen und ihn in Richtung Ausgang, ein unglaubliches Labyrinth durchschreitend, hinter sich gelassen hat.
Leeren Gesichtsausdrucks grüßt er niemand, betritt den Aufzug und fährt, als einziger um diese Zeit, hinunter. Als er das Gebäude verlässt, dieses Monstrum zeitgenössischer Architektur, einer Architektur gegen den Menschen, dreht er sich um. Die Sonne ist bis an die Spitze des Gebäudes gewandert und darüber hinaus.
Noch nie hat er gesehen, dass die Adlerschwingen bis hinauf ins letzte Stockwerk geblendet waren und selber blendeten, alle Gebäude und Straßen in der Umgebung, die Reflexionen des Sonnenlichts verursachen permanent Unfälle, Menschen schreien, Rettungswagen fahren, Ambulanzen der Gegend sind überfüllt, sie alle sind Opfer der Konzerns, der architektonischen Konstruktion zu Ehren seiner selbst, gegen den Menschen entworfen und um ihn zu beeindrucken, anzulocken, auszufragen, auszunehmen. Die wenigsten können der Seduktion widerstehen.
Er versteht die Philosophie der Zerstörung zugunsten des Werdens, die Kollateralschäden, alles was diese Welt in Kauf nimmt, den Wohlstand, der auf Leichen gebaut ist, der Sinn der Darstellung, der ewigen Verdrängung und die ewige Fälschung. Das Kasperleprogramm für die Idioten die hinter und vor der Theke sind. Verkäufer und Käufer, das gigantische Theater das wir spielen, verblendet durch lächerliche Bedarfserweckung und neue Dimensionierung unseres Lebens, die weitere Herabsetzung der Gamma-Menschen, das Ausnutzen unserer jahrelang gehegten und gepflegten Verblödung, das Hoffieren der Absolventen des Reifeprozesses und der wortlosen Eingliederung in das Unabdingbare. Niemand versteht niemand. Es ist egal was das Individuum tut. Erwerben und Erwerb, gewinnen und Gewinn, Ausnehmen und sei es bis zum Existenzminimum. Der Magnat muss leben, gedeihen, das Individuum, das kleine, fortgespült von seiner Lächerlichkeit endet in einem Gully der Selbstverstümmelung, verelendet, verendet, ausgesaugt. Das alles sieht er und leitet seine Flucht in die Wege, sich ein nonchalantes Aussehen gebend, sich seinem gehobenen Mittelklassewagens nähernd, mit pochendem Herzen. Er kommt sich beobachtet vor. Vielleicht wird man nur beobachtet. Niemand hat jemals wieder die gesehen, die weg gegangen sind. Er geht weiter, der Wagen steht weit, es kommt ihm vor, als ob alle sein Tun mitverfolgen, alle beobachten ihn. Langsam sieht er seinen Wagen schrittbedingt näher kommen. Unscheinbar steht das Gefährt zwischen seinen Nachbarn. Cabriolet. Immerhin. Mit immer noch gehöriger Nonchalance bewältigt er die letzten Meter, wirft seine Tasche, die noch nie etwas beinhaltet hat, auf den Rücksitz, startet, wendet und fährt hinaus aus der Stadt der Überwachung und der Übervorteilung.
Die elenden Gesichter werden weniger, die aus Stein gemeißelten Visagen und die mit dem Lineal gezogenen Scheitel weichen dem willkürlichen Haarwurf der arbeitenden ländlichen Bevölkerung, aufgebaut auf dem Fundament rotbäckiger Zufriedenheitsgesichter, genährt aus den Produkten aus eigenem nie versiegenden Anbaus, ein Extra versprechend, aber das Versprechen , bei ihrer Ehr’, nie halten könnend.
Durch diese feiste Zufriedenheitslandschaft schleppt sich seine Spießerkiste alles verleugnend, die Zeit wird endlos, die geringe Monatsrate und der niedrigste Versicherungssatz machen sich bemerkbar. Diesel kriecht schneckenhaft über die Landstraße, nichts durcheinander wirbelnd, alles an seinem Platz lassend. Nicht ein Blatt bewegt sich beim Passieren der Urzeit - Galeere. Schließlich zeigt sich, was er angestrebt hat, schließlich zeigt sich das unendliche Wasser, einem mathematischen Strahl gleichend, an einer bestimmten Stelle beginnend und sich im Unendlichen verlierend.
Er verlässt den Wagen nicht ohne Erleichterung und zu seinen Füßen liegen die Dünen, jene Vegetationslandschaft, die er immer geliebt hat. Sie haben immer eine gigantische Ruhe ausgestrahlt, gleichzeitig ein nie lösbares Geheimnis offenbarend. Langsam bewegt er sich auf sie zu, verläuft sich in ihnen. Er wird ganz verrückt als er sich endlich am Strand befindet. Die Sonne hat sich hinter dem Hügel entfernt, hat seltsamen windgebrachten Wolken Platz gemacht. Der ganze Strand gleicht einem taubengrauen Spielplatz, welcher extra für ihn, in seltsames Licht getaucht, aus dem Boden geschaffen wurde. Leichte Morgen- oder Vormittagsnebel steigen vom Meer auf, sich nach und nach von der Sonne vertreiben lassend, das Licht auf Felsen, die aus dem Meer ragen, freigebend.
Kein Mensch ist zu sehen, es ist Vormittag, alles arbeitet, dient, hat Wege, etwas zu erledigen, kann nicht hier sein, er schon. Und mit einem Male weiß er genau das zu schätzen – nämlich hier sein zu können. Mit einem Griff hat er sich aus der Welt herausgenommen, welche für die er nicht einmal annähernd definiert war, von einer Sekunde auf die andere hat er seine Leben vertauscht.
Jetzt ist er hier, hinter ihm das ewige Rätsel der Dünen, vor ihm die Unendlichkeit, strahlenförmig liegt sie vor ihm, der seine Kleider von sich reißt, immer weiter läuft, im Sand versinkt, im feuchten Sand versinkt, im nassen Sand immer tiefer versinkt.
Fasziniert von dieser Unendlichkeit läuft er immer schneller und schneller auf sie zu und hat in all diesen Sekunden sicher alles verleugnet, das jemals in seinem Leben eine Rolle gespielt hat.
Texte: Andreas Wenhardt
Tag der Veröffentlichung: 16.12.2012
Alle Rechte vorbehalten