Cover

Briefe einer Dreiecksbeziehung

Wer mich gesehen hätte, wie ich in der Vorlesung saß und mit aufmerksamem Gesicht nach vorne blickte, der hätte nichts anderes gesehen, als einen blonden Jungen, der ein weißes, langweiliges Hemd trug und so wirkte, als wäre er soeben allein mit seinen Gedanken beschäftigt.
Jeder, der mich sah, sah die Wahrheit.
Aber wenn man einen Blick auf Albert warf, dann wusste man gar nichts. Er gehörte zu der Sorte Mensch, die von dunkler Hautfarbe waren und prinzipiell diese unnahbare Lässigkeit ausstrahlten, dieses „Ich steh über dem ganzen Mist, also sprich mich nicht darauf an“.
Albert war im Moment damit beschäftigt, etwas auf ein kleines Papier zu schreiben und dies war natürlich eine Handlung, die mein Herz heftiger zum Schlagen brachte, weil ich darauf wartete, wieder Teil eines geheimen Prozesses zu werden, von dem niemand außer mir Bescheid wusste. Briefschreiber standen in keinem guten Ruf. Sie waren furchtbar altmodisch und – was noch schlimmer war – hoffnungslos romantisch. Kein Mensch schrieb heutzutage noch Briefe, stattdessen schickte man seinen Freunden eine sms, dem Professor eine Email, oder man kommunizierte ohnehin oral. Und es war völlig eindeutig, dass niemand sich Albert ansehen würde und ihn verdächtigen würde, Briefe zu schreiben. So weit ich wusste, tat er das ja auch nicht. Nur bei mir, ich hatte etwas bewirkt, das in ihm diesen altmodischen und – wie ich hoffte – romantischen Drang ausgelöst hatte, ich hatte damit etwas bewirkt, das nicht einmal Vincent von sich behaupten konnte.

Obwohl diese Vorlesung die einzige war, die wir im Prinzip alle drei besuchten, war der feingliedrige Asiat heute nicht anwesend. Ich bedauerte dies selten, da seine Anwesenheit für gewöhnlich dafür sorgte, Albert keine Briefe schreiben zu lassen.
In diesem Augenblick schob mir jener den Zettel zu und zwar mit einem so gleichgültigen Gesichtsausdruck, dass niemand ihn für den Briefschreiber gehalten hätte, auch wenn man ihn bei der Tat selbst ertappt hätte.

Oh Mann, hast du ihm zugehört? Die Signifikanz der Seele kann damit mit einem Wisch davongetragen werden. Ich schätze, das kann niemand. Nur du hast meine Seele gefressen.


Ich war ein bisschen irritiert, dass es sich nur um zwei Zeilen handelte und dass er dem Anschein nach der Vorlesung tatsächlich aufmerksam gefolgt war, während ich nur so tat. Trotzdem war es immerhin etwas und ich schob den Zettel in meine Hosentasche, ohne ihn zu beantworten.
Albert arbeitete im PC-Raum und ließ sich freiwillig immer am frühen Morgen einteilen, was zur Folge hatte, dass er jeden Tag vor Vincent und mir auf den Beinen war und wir ihn stets frühestens mittags sahen.
Es hatte etwas Erhebendes an sich, im Bett zu liegen und darauf zu warten, wann endlich die Tür ins Schloss fallen würde, damit man aufstehen durfte und nach etwas Ausschau halten konnte, das jemand anderes nicht finden durfte.
Jeden Morgen lag ich unter meiner Decke und lauschte auf die zahlreichen Geräusche von Albert.

Ich konnte hören, wie er ins Badezimmer lief und die Klospülung betätigte, wie er anschließend wieder in die Küche lief, um etwas zu suchen, das sich im Schrank bei den Töpfen befand. Natürlich wusste ich nicht, ob er etwas suchte, aber man verfiel leicht auf den Gedanken, bei diesem andauernden scheppernden Geräuschpegel. Albert war in dieser Hinsicht nicht im Mindesten rücksichtsvoll. Obwohl ihm durchaus bewusst sein musste, dass Vincent und ich noch schliefen, war er so laut, dass ich zu meiner Freude immer aufwachte, bevor er ging. Wenn es mich nicht gefreut hätte, da ich ja vor Vincent aufstehen musste, hätte ich mich natürlich bei Albert beschwert.
Aber wie gesagt, sobald die Tür ins Schloss fiel, stieg ich erwartungsvoll aus meinem Bett und suchte in der dämmernden Küche nach einem Stück Papier, das mich selig in den Tag schicken würde.
Manchmal hatte ich Glück und er hatte mir folgende Nachricht hinterlassen.

Guten Morgen, mein hübscher Engel. Ich habe gerade noch geträumt, dass ich in einem Wald spaziert bin, der zwar aus Bäumen bestand, aber sonst nicht allzu viel mit einem Wald, wie wir ihn verstehen, zu tun hatte. Er ist geschwommen in einem Meer aus Sonnenlicht, flüssiges Gold und fließendes Rot haben sich auf ihn gelegt, wie eine bezaubernde Schleimspur. Natürlich war ich allein dort, so wie ich immer allein in meinen Träumen bin, und deshalb entsprechen diese ganzen Träume vielmehr Alpträumen, denn es kann kein Traum von mir sein, in dem du nicht vorkommst. Ich hoffe, wir sehen uns später im Uni-Cafe, und egal ob du kommst oder nicht. Ich werde auf jeden Fall auf dich warten. Ich küsse dich. Du weißt schon wo.

Dieser Albert war ein ganz anderer Albert, als den, welchen alle kannten. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass er das geschrieben hätte…
Oft verhielt es sich so, dass ich nach einer solchen Nachricht extrem romantisch gestimmt war. Ich blieb fast immer so lange in der Küche sitzen, bis Vincent müde und angeödet hereinschlurfte, um nach dem ersten Kaffeebecher Ausschau zu halten, der noch nicht zu oft benutzt worden war. In solchen Momenten schien meistens bereits die Sonne und hüllte den mädchenhaften Asiaten in weiches Licht ein, das seine Sanftheit besser zur Geltung brachte. Ich begann in Alberts Worten zu schweben, Vincent wurde für mich der hübsche Engel, die Küche wurde für mich zum Wald, das Verlangen ihn zu sehen, war vor allem das Verlangen, ihn nackt zu sehen und ihn zu küssen. Und zwar überall, nicht nur auf einer Stelle.
Für gewöhnlich trat ich dann hinter Vincent, während er immer noch erfolglos nach einer sauberen Tasse suchte, und presste meine Lippen auf dessen Nacken. Es war sein Lieblingsspiel, zuerst so zu tun, als würde er das überhaupt nicht bemerken, um sich schließlich umzudrehen und meinen Kopf mit seinen Händen heftig zu sich zu ziehen, um mich leidenschaftlich auf den Mund zu küssen. Wir standen eng umschlungen in der Küche und gaben uns ganz und gar diesem Liebesspiel hin, noch bevor wir gefrühstückt hatten und noch bevor wir wirklich wach waren. Ich fand es ungeheuer herrlich, mich mit Vincent auf dem Küchenboden herumzuwälzen. Manchmal legte er sich auch auf den Tisch, mit diesem erwartungsvollen Blick, dem ich immer nur zu gerne folgte.
Aber es konnte auch passieren, dass Albert mir nur so eine Nachricht hinterlassen hatte.

Kannst du mir vielleicht sagen, wo mein Autoschlüssel ist? Scheiße Mann, jetzt muss ich die Bahn nehmen!

In diesem Fall ließ ich mich enttäuscht auf den Stuhl sinken, horchte eine Weile, ob Vincent schon wach wäre und holte mir schließlich ein Blatt Papier, um Albert zu antworten.

Ich wünsche dir auch einen schönen Morgen! Weißt du eigentlich, wie blöd ich das von dir finde, mir immer für alles die Schuld zu geben! Weder ich, noch Vincent können dir sagen, wo dein  Autoschlüssel ist, weil du ihn uns ja nie gibst! Schon vergessen?
Wie auch immer, ich fahr jetzt dann selber in die Uni, aber nicht mit deinem Auto, falls du das glaubst, sondern mit der U-Bahn. Und übrigens: Ich komm heute Abend später heim, ich geh nämlich noch weg. Gruß, Max

Meistens endete der Tag damit, dass ich spät abends nach Hause schlurfte und einen resignierten Blick in Alberts Zimmer warf, der natürlich nicht alleine in seinem Bett lag, sondern mit Vincent, und es war immer einer dieser Augenblicke, in denen man sich nicht gerade sehr beliebt fühlt. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich lebte nur noch dafür, um auf Alberts Briefe zu warten. In einer gewissen Hinsicht waren sie das einzig Zauberhafte in meinem Leben, sie hatten eine solche Macht auf meine Laune und oft ertappte ich mich dabei, dass ich minutenlang an nichts anderes dachte.

Hat er mir geschrieben, wird er mir schreiben, was hat er geschrieben…?
Im Großen und Ganzen waren es nicht einmal Briefe, sondern vielmehr hunderte von kleinen Zetteln, die ich alle ordentlich und mit liebevoller Sorgsamkeit in ein Buch klebte. Sogar diejenigen, die mir nicht gefielen. Das Buch war ein klobiges, dunkelgrünes Ding, nur seine Bedeutung ließ es in Schönheit erstrahlen, denn für alle anderen musste es etwas sein, das man nicht unbedingt in die Hand nehmen wollte. Trotzdem versteckte ich es vorsichtshalber noch unter meinem Kopfkissen. Man konnte ja nie wissen, wer einen plötzlich besuchen würde und kein hohes Maß an höflicher Zurückhaltung an den Tag legte. Natürlich wusste jeder, dass ich schwul war, aber niemand wusste, dass ich besessen von Alberts Zetteln war und es war allgemein von niemandem ein hohes Anliegen, jemandem seine größte Schwäche zu offenbaren.
Es geschah an einem sonnigen Nachmittag, der mir in keiner Weise auf irgendeine Art angedeutet hätte, dass sich nun plötzlich etwas ändern würde. Ich schob mit meiner Schulter die Haustür auf, während ich in der anderen Hand einen Brief von Albert hielt, den ich aufmerksam las.

Weißt du was, mein Schöner? Du musst mal darüber nachdenken, wie blendend es uns geht. Ich weiß, das hört man nicht oft von mir, aber ich konnte letzte Nacht lange nicht einschlafen und ihr wart beide nicht da – nebenbei gemerkt: ist dir schon einmal aufgefallen, dass ihr erstaunlich oft nicht da seid? Aber egal, Mann, darum geht’s ja jetzt nicht. Was ich sagen wollte, mir war sterbenslangweilig.

Und dann lag ich so im Bett und dachte mir, hey, was soll das? Wir leben jetzt schon seit fast zwei Jahren zusammen und hatten noch nie ernsthafte Probleme und so was kommt echt nicht oft vor, nicht wahr?

Schau dir mal die ganzen kranken, kaputten Familien an und dann schau uns an. Sind wir krank? Okay, vielleicht ein bisschen. Aber es geht uns gut dabei, nicht wahr? Also falls wir uns heute nicht mehr sehen, hab ich dir das geschrieben, du weißt ja, so ein Moment verfliegt. Spätestens, wenn ich erfahre, dass niemand eingekauft hat. Kuss.

Ich schlenderte mit Gewissensbissen in die Küche, um zu überprüfen, ob tatsächlich niemand eingekauft hatte, wobei ich  genau wusste, dass ich mit diesem niemand gemeint war. Da ich gerade allein zu Hause war, fühlte ich mich recht friedlich gestimmt. Alles, was momentan nicht stimmte – zum Beispiel ein leerer Kühlschrank – konnte unbemerkt von mir ausgebessert werden.
Doch sobald ich die Küche betreten hatte, fiel mein Blick auf ein kleines, beschriebenes Blatt Papier, welches nahezu unschuldig auf dem Tisch lag. Erstaunt näherte ich mich diesem mit einer ungeheuren Langsamkeit, als könnte es gefährlich sein, denn ich erkannte sofort, dass es nicht Alberts Schrift war.

Hallo Max, ich wollte nur sagen, dass es heute nicht mehr klappt mit dem Filmabend. Aber wir holen das auf jeden Fall nach! Mein Handy ist vorhin kaputt gegangen, deshalb fahr ich jetzt zu Thomas, der kann mir eins leihen. Ja, ich weiß, ich sollte jetzt eigentlich die Vorlesung bei unserem Lieblingsfreund besuchen.

Aber ich komm da eh nicht mehr mit. Übrigens hab ich schon Klopapier gekauft, aber ich glaub, mit dem Essen bist du dran?

Und vergiss nicht: Ich liebe dich.  Kuss, Vincent

Mit laut klopfendem Herzen ließ ich mich auf einen Stuhl sinken. Dunkelheit überschwemmte mich, denn die Augen waren mir einfach zugefallen, es war unmöglich, unbegreiflich und unglaublich anstrengend, was für Gedanken auf mich einstürmten. Etwas war zerbrochen worden. Man konnte sich das am besten so vorstellen, wie ein gläsernes, kunstfertiges Gefäß, welches bis dahin eine glatte Einheit gewesen war, zu Boden geworfen wurde und in drei Teile zerbrach. Albert und ich hatten diesem Gefäß entsprochen, es hatte uns nichts trennen können.
Doch nun war die Kette gerissen. Vincent hatte sich dazu gesellt.
Und wer konnte mir schon mit Sicherheit sagen, dass er nicht bereits Albert einen Brief geschrieben hatte? Viel zu lange saß ich an dem Tisch und dachte angestrengt nach, ohne auch nur im Ansatz auf eine Lösung zu kommen, die alles Unausweichliche verhindern könnte.
Da ich zu keiner kam, griff ich mit einem schweren Seufzer, der nicht einmal im Ansatz meinen Schmerz ausdrücken konnte, zu einem Stift und schrieb:

Hallo, mein süßer Vincent. Du bist wirklich nicht gerade oft zu Hause – wie mir letzte Nacht aufgefallen ist – und du gehst nicht einmal in die Vorlesungen. Aber gut, ich will ja jetzt nicht wie eine beleidigte Mutter klingen.

Ich geh jetzt dann Essen kaufen und ich hoffe, dass es bald mit dem Filmabend klappt. Ich hab mich nämlich schon ziemlich lange darauf gefreut. Ich liebe dich auch. Maximilian

Ich wartete eine Weile unschlüssig, doch letztendlich klebte ich auch Vincents Zettel in das Buch. Darüber markierte ich die Wandlung mit einem fetten, roten Strich. Es sah so aus, als wäre ein Fehler passiert und ich registrierte dies mit einem zufriedenen Nicken.
Am selben Abend kochten Albert und ich uns ein chinesisches Gericht mit viel Reis und viel Fleisch. Wir liebten es beide, wussten allerdings auch, dass Vincent uns für unsere „falschen“ Zubereitungen verachten würde und machten uns dieses Essen deshalb nur in seiner Abwesenheit. Während ich am Tisch saß und das Gemüse klein schnitt und teilweise regelrecht zerhackte, lief Albert vor dem Herd auf und ab. Er hatte etwas an sich, das ich nicht leiden konnte, und es war exakt diese nervöse Art, die er an den Tag legte, wenn es sich um irgendetwas handelte, was ihn betraf. Sobald man ihm jedoch von einem eigenen Problem erzählte, reagierte er geradezu herablassend gelangweilt, als wäre man neurotisch. Manchmal war ich mir fast sicher, dass ich ihn nicht ertragen könnte, wenn er mir nicht immer diese wahnsinnig herrlichen Sätze schreiben würde. Und doch war es mir durchaus bewusst, dass Vincent das nun ebenfalls getan hatte und damit Albert im Prinzip keine Sonderstellung mehr innehatte.
„Wir haben die Nachspeise vergessen!“, schrie Albert und schlug sich an die Stirn.
„Ach lass!“, warf ich ein, „Wer soll denn das alles essen?“

„Na wir“, entgegnete er spöttisch, „Ist die Dame etwa schon wieder auf Diät?“
„Will der Herr vielleicht noch fetter werden?“, gab ich kühl zurück.
Albert schlug sich mit einem Lachen auf seinen straffen Bauch und holte Bananen und Honig, damit wir uns passend zu unserem chinesischen Hauptgericht eine japanische Nachspeise zubereiten würden. Vincent hätte uns dafür umgebracht.
Als Albert und ich später faul und gesättigt auf dem Sofa lagen und uns etwas voll und ganz Sinnfreies im Fernseher ansahen, überkam mich wieder einmal die Laune, ihm mein Buch zu zeigen. Ich wusste, dass ich es wie immer nicht tun würde, da er mich sonst für besessen halten könnte und das wollte ich nicht. Ich selbst durfte wissen, wie sehr ich besessen von diesen Briefchen war, aber Albert würde sich vermutlich furchtbar lustig darüber machen. Ich hatte mir schon des Öfteren überlegt, dass es ihm vielleicht gar nicht solche Freude bereitete, wie mir, ein paar Zeilen zu lesen. Vielleicht war es für ihn einfach nur zum Zweck und hatte nichts mit Romantik zu tun. Genauso wie es sich wahrscheinlich bei Vincent verhielt.
Dieser hatte mir dem Anschein nach ohnehin nur deshalb geschrieben, weil sein Handy kaputt gegangen war. Aber derlei Gedanken ließ ich immer nur für wenige Minuten zu, dann schwelgte ich ganz in dem Wissen, dass man niemandem solche Dinge schreiben konnte, wenn man einem nichts bedeutete.
Im Gegensatz zu Vincent lagen Albert und ich niemals wie ein Paar aneinander gekuschelt auf dem Sofa, sondern fläzten uns mehr wie Freunde an jeweils eine Ecke. Wenn ich mit meinem Fuß zu fest an seinen Körper stieß, rutschte er manchmal hinüber und schob seine Hand grinsend in meine Hose.
Aber es konnte auch durchaus passieren, dass er mir einen bösen Blick zuwarf und irgendetwas in sich hineingrummelte, das wie ein „Trampel“ klang.
Bei Albert konnte man nie wissen.
Und ich selbst wusste nicht so recht, ob ich Vincents Zärtlichkeit als anziehender empfand oder Alberts Unberechenbarkeit.
Am darauf folgenden Morgen stellte ich überrascht fest, dass mich sowohl auf dem Küchentisch, als auch in meinem Zimmer auf dem Boden ein Zettel erwartete. Letzteren las ich natürlich zuerst.

Guten Morgen, Max!
Ich bin grad nach Hause gekommen und da ihr nicht abgespült habt, hab ich schon gecheckt, was ihr gekocht habt! Oh Mann, ihr seid echt so was von geschmacklos! Aber wenn du morgen Abend zu Hause bist, dann koch ich was Richtiges für uns. Hoffentlich träum ich heute Nacht von dir. Du schläfst ja leider schon…
Kuss von deinem Vincent.

Gerührt wischte ich mir mit dem Handrücken über die Augen und versuchte mir damit, die Müdigkeit zu vertreiben. In diesem Moment erschien es mir fast lächerlich, so früh aufzustehen, nur damit Vincent Alberts Brief nicht sehen würde. Wieso machte ich überhaupt noch ein Geheimnis daraus, wenn dieser ohnehin schon Mitglied dieses Geheimnisses zu werden schien?

Die quälende Frage war im Moment natürlich nur, ob die beiden lediglich mir schrieben oder auch sich. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Antwort darauf wissen wollte.
Der andere Brief hatte folgenden Inhalt:

Hey, wir haben vergessen abzuspülen! Aber, kein Wunder, wenn du mich immer so geil machen musst, Max…
Willst du mal wissen, wie groß ich jetzt Lust hab, in die Bibliothek zu fahren? Wenn ich schon so frag, muss ich dir wohl nicht darauf antworten, schätze ich. Aber vergiss nicht, du musst mir heute unbedingt die Mappe vorbeibringen, bevor mein Theo-Seminar anfängt. Oder sags dem Vincent, mit dem hab ich eh noch was zu bereden. Und was du auch nicht vergessen darfst: Du bist mein Engel. Und mein Teufel! Wahrscheinlich wäre ich ohne dich ganz neutral, aber so ist man von Lust und Liebe hin und her gerissen! Mann, ich bin noch am Pennen, also lach lieber nicht..!

Statt zu lachen, spazierte ich unruhig durch die ganze Wohnung, ohne auf die Lösung zu kommen, wie ich mich in dieser Angelegenheit verhalten sollte. Theoretisch sollte ich nun beiden antworten, das erschien mir fair und durchaus auch angemessen. Aber ich war mir auch sicher, dass ich damit eine Kette mit Vincent ins Rollen bringen würde, die ihn mit Albert auf eine Stufe stellen könnte. Es war doch eigentlich nie eine gute Idee, etwas mit einem Menschen zu machen, was man bisher nur mit einem anderen Menschen getan hatte. Man würde anfangen zu vergleichen und plötzlich konnte nur noch einer gewinnen, während sich vorher nie die Frage danach gestellt hatte.


Bisher waren wir drei Exoten gewesen, drei Individuen, die nichts gemeinsam hatten – außer natürlich solche Äußerlichkeiten, wie dieselbe Universität und dieselbe sexuelle Neigung…
Und doch hatten sich ein Blondchen, ein Schwarzer und ein Schlitzauge gefunden, die sich aneinander klammerten, ohne den einen mit dem anderen vergleichen zu können, weil es nichts zu vergleichen gab. Verzweifelt griff ich nach einem Stift und schrieb auf zwei verschiedene Zettel, welche ich in jeweils zwei verschiedene Zimmer unter den Türspalt schob.

Wann stehst du endlich auf, Vincent? Ich kann doch nicht alleine mit dem Frühstück anfangen…

Wenn ich dein Engel und dein Teufel für dich bin, dann frage ich mich, was du für mich bist. Meine Hölle und mein Himmel. Das ist es. Genau das.

Danach flüchtete ich ins Wohnzimmer und vergrub mich unter der Decke, die wir immer neben dem Sofa liegen hatten, falls ein Gast beschließen würde, heute bei uns zu übernachten. Zuerst war sie unangenehm kalt, dann wurde sie erstickend heiß. Und trotzdem blieb ich unter ihr, mit flackernden Augen.
Wenn etwas schön ist, wieso muss es sich dann ändern?
Meine Gedanken jagten wie wilde Feuerstürme durch meinen Kopf. Ich konnte die Möglichkeit nicht in Betracht ziehen, dass etwas noch schöner werden konnte, wenn es mir als das einzige vollkommene erschien.

Jeder Mensch hatte so vieles in seinem Leben, mit dem er unzufrieden war, von dem er dachte, dass man es korrigieren könnte, wenn man nur die Lust oder die Macht dazu hatte. Aber irgendwie war auch die Idee, dass immer das Glück, niemals allerdings das Unglück vergänglich war, nichts Neues.
Am selben Tag saß ich mit Vincent in einer Vorlesung und wir schrieben uns so lange Briefe, bis ich mir völlig sicher war, dass die Verzweiflung ganz und gar Besitz von mir ergriffen hatte.

Verstehst du irgendwas von dem, was

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 25.05.2014
ISBN: 978-3-7368-1461-5

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Menschen, die nicht dazugehören.

Nächste Seite
Seite 1 /