Cover

Fingerfood

„Ich habe eine Tischordnung“, sagte Alexandra zu mir.
Ich liebte es, wenn sie ihr bolivianisches Essen für Freunde kochte und hörte ihr kaum zu. Auf dem Tisch glänzten mir goldene Teller entgegen und ich stellte mir vor, wie sie gleich von fremdländischen Köstlichkeiten verdeckt sein würden. Mein Magen knurrte. Aber es war ein fröhliches Knurren.
„Jede Frau wird zwischen zwei Männern sitzen und umgekehrt“, fuhr Alexandra fort.
„Das ist ja toll“, sagte ich, „Woher weißt du, dass ich seit kurzem wieder Single bin?“
Alexandra lachte und führte mich zu meinem Stuhl. Gut gelaunt ließ ich mich darauf nieder und behielt meine heitere Stimmung auch bei, als es hieß, dass es mit dem Essen noch ein wenig dauern würde.
Dann kam Karl ins Zimmer.
Und als ich ihn sah, spürte ich, wie mir das Blut heiß in den Kopf schoss. Ein Stein rutschte mir in den Magen und vertrieb nicht nur das Knurren, sondern auch sämtliche fröhliche Gefühle, die nur noch Gedanken an diverse Delikatessen zugelassen hatten.
Bitte setz dich nicht neben mich, bitte setz dich nicht neben mich…
Langsam, fast bedrohlich näherte sich mir Karl. Ich bemühte mich, in eine andere Richtung zu schauen.
„Alexandra hat mir gesagt, dass ich neben dir sitze.“
Ich verspürte den starken Drang, ganz fest an dem Tischtuch zu ziehen.

So fest, dass kein einziger goldener Teller mehr unversehrt bleiben würde. Alles sollte kaputt sein. Vielleicht fiel es dann keinem mehr auf, dass ich nicht neben Karl sitzen wollte. Vielleicht setzte sich dann keiner mehr hin. Aber mein Sitznachbar ließ mir keine Zeit für unlogische Gedankenspielchen.
„Wie geht’s dir denn, Laura?“, fragte er mich, „Ich habe dich ja wirklich ewig nicht mehr gesehen.“
„Danke, gut. Und dir?“
Ich vermied es, seinen Namen auszusprechen. Karl. Karl. Dieser Name war so kurz, als fehlte ihm etwas. Er war so kurz wie…
Nein! Bloß nicht daran denken! Sonst bekommst du später keinen Bissen mehr hinunter!
„Möchtest du etwas Wasser?“, fragte Karl mich freundlich.
„Ja, gerne“, antwortete ich.
Weil ich nicht nachgedacht hatte. Und schon sprang sie mir entgegen. Die verstümmelte Hand. Karl fehlten zwei Finger, mir fehlte die Selbstbeherrschung.
„Danke“, ächzte ich.
Ich hatte doch seit damals nicht mehr mit ihm gesprochen…

Karl war sehr nett. Ich hasste seine Nettigkeit. Den ganzen Abend lang hasste ich seine Nettigkeit. Und kam mir vor wie ein Dieb. Ich wollte mich auf meinen anderen Sitznachbarn konzentrieren, aber das war leider nicht möglich. Er war nicht gekommen.
Zwischen mir und den anderen Leuten klaffte eine Lücke. Übrig blieb nur noch Karl. Jemand hatte die Tür zugeworfen und damit Karls Hand eingequetscht. Danach war dieser Jemand weggelaufen.

 


„Wie kann man so etwas nur tun?“, hatte ich in entsetztem Tonfall ausgerufen, als Alexandra mir die Geschichte erzählt hatte.
„Ja, stell dir mal vor“, hatte sie gesagt, „Und Karl ist auch noch Maurer. Das könnte tatsächlich Schwierigkeiten in seinem Beruf ergeben.“
Nun starrte ich seine Hand an, wie sie über die Tischdecke strich, wie sie eine Süßkartoffel in Karls Mund schob, wie sie zum Besteck griff, wie sie mir die ganze Zeit wie eine Wildkatze ins Auge sprang. Sie wollte meine Augen. Das musste es sein! Irgendetwas wollte sie mir herausreißen oder abreißen. Irgendetwas wollte sie mir stehlen. So wie ich Karls Finger gestohlen hatte.
„Was schaust du mich so an?“, fragte mich die Hand, „Findest du mich hässlich? Ob du es glaubst oder nicht, dein Herz ist nicht einmal halb so schön wie ich!“
„Was?“, krächzte ich.
„Was?“, sagte Karl verwirrt.
„Kannst du mir etwas von dem Fleisch geben?“, bat ich ihn schnell. Karl reichte mir die Platte und hatte vermutlich keine Ahnung, dass seine Hand es dabei auf mich abgesehen hatte. Ja, damals hatte Karl mich nicht gesehen. Aber diese drei Finger, sie wussten, wer ihre zwei Brüder gestohlen hatte. Wer sie ermordet hatte.
„Ich schneid es dir klein“, bot Karl mir freundlich an.
„Nein!“, schrie ich und legte abwehrend meine Hand über den Teller. Es war zu spät. Karls Hand hatte ihre Rache bekommen. Zwei meiner Finger schwammen in der Bratensoße.

 

Hochzeit aus Rache

Georg schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Es war eine Art Reflex, der ihm ein bisschen Schmerzen verursachte und Hannes unwillkürlich zusammenzucken ließ. Georgs blonder, langer Pferdeschwanz hatte sich zu einer Flut an Haaren aufgelöst und die klaren, blauen Augen blitzten in dem Gesicht, das aus irgendeinem Grund entweder unheimlich oder böse aussah.
Hannes war in allem weicher, er hatte das Erscheinungsbild eines dunkelhaarigen Jünglings, der keiner Fliege etwas zu Leide tun könnte. Während Georg unruhig durch das geschmückte und nahezu idyllische Gartenhäuschen marschierte, blieb Hannes an dem gedeckten Tisch sitzen und wagte es nicht, zu seinem Freund aufzusehen. Nach einer Weile riss Georg seufzend die Arme in die Höhe und knurrte: „Der Streit gehört dazu! Er gehört eben dazu! Zu jeder Beziehung!“
„Wir streiten jeden Tag“, warf Hannes resigniert ein, „Seit Jahren, seit wir befreundet sind, streiten wir jeden Tag. Das kommt mir nicht normal vor.“
„Mir kommt es nicht richtig vor, was sie  macht!“, entgegnete Georg gereizt. Das blonde Haar legte sich auf seine spitzen Schultern und verpasste ihm ein unbezähmbares, kriegerisches Aussehen.
„Ich werde Meli heiraten“, beharrte Hannes in ruhigem Tonfall, „Heute werde ich sie heiraten. Und du, als mein Trauzeuge, solltest alles daran setzen, mir Mut und Freude für die Zukunft zu machen. Aber im Gegenteil machst du Meli schlecht. Hältst du das für einen Freundschaftsdienst?“

„Du rennst mit offenen Armen in dein Unglück“, prophezeite Georg ihm, als ob er die letzten Sätze nicht gehört hätte. Doch auch Hannes schien seine Ohren für die Worte des Freundes zu verschließen. In sein rundliches Gesicht stahl sich ein seliges Lächeln, als eine junge Frau mit anmutig leichten Schritten den Pavillon betrat.
„Ich dachte, man darf die Braut nicht vor der Trauung sehen!“, bemerkte Hannes fröhlich und küsste in liebevollem Respekt ihre Hand.
„Ich weiß, aber ich kenn dich doch!“, erwiderte Melanie mit einem reizenden Lächeln, „Du verpasst doch alles, wenn ich dich nicht vorher warne, mein kleiner Wirrkopf.“
„Um nichts in der Welt hätte ich diesen Tag verpassen wollen“, widersprach Hannes ernsthaft.
Plötzlich wandte Melanie ihren Kopf und richtete die Augen auf Georg, als hätte sie ihn erst jetzt bemerkt. Das Lächeln war aus ihrem Gesicht nicht verschwunden, dennoch zitterten ihre Lippen nun kaum merklich. Georg setzte in diesem Augenblick seine Brille auf und musterte sie mit kaltem, abschätzendem Blick.
„Freust du dich nicht auch?“, kam es von der schönen, jungen Frau. Die Frage hing eine Weile wie ein Fluch in der Luft. Erst als Hannes geradezu mahnend mit seinem Schuh auf den steinernen Boden klopfte, antwortete Georg emotionslos: „Wie ein Schneekönig.“
Sobald sich Melanie wieder entfernt hatte, packte er Hannes am Arm und zwang ihn, ihm in die Augen zu schauen.
„Ich versichere es dir“, sprach er eindringlich, „Ich schwöre es dir! Sie macht das nur, um mir eins auszuwischen.


Sie glaubt, wenn sie meinen besten Freund heiratet, kann sie mich richtig ärgern.“
„Dann scheint ihr Plan ja aufzugehen“, meinte Hannes kühl, „Hör mal, Georg. Es ist Jahre her, als ihr zusammen wart. Melanie hat mir gesagt, sie empfindet gar nichts mehr für dich. Und wenn es dir genauso geht, halt jetzt den Mund.“
Nach der Trauungszeremonie begaben sich sämtliche Gäste in den paradiesähnlichen Garten.
Um den Pavillon herum hatte man längliche Tische und Bänke aufgestellt, die eine ganze Weile unbesetzt blieben, weil sich die Gäste noch nicht entschieden hatten, welchen Appetithappen sie sich vom Büffet holen sollten. Während des Mahls wurden von vereinzelten Leuten Reden gehalten, von welchen Hannes kaum etwas  mitbekam, weil er so von der Schönheit neben sich eingenommen war, die er nun seine Frau nennen durfte. Er lachte zwar, wenn alle lachten, aber die Witze entgingen ihm der Reihe nach. Erst als sein Schwiegervater seine Ode auf das junge Brautpaar mit dem Satz „Ich übergebe nun das Wort dem Trauzeugen Georg“ beendete, tauchte er für einen Augenblick wieder in die Realität ein und ergriff unwillkürlich Melanies Hand, die sie ihm zärtlich drückte.
„Tja...ich, äh...“, begann Georg und nestelte an seiner Brille herum, „Ich fasse mich kurz, damit die Leute endlich auf die Tanzfläche können. Melanie, du hast dir einen wunderbaren Mann ausgesucht. Enttäusch ihn nicht!“
Obwohl viele empört darüber tuschelten, dass der Freund des Bräutigams nur zwei Sätze losgelassen hatte, erhielt auch Georg den üblichen Beifall und manche waren auch erleichtert, dass es nun endlich keine Lobeshymnen mehr anzuhören gab. Hannes und Melanie eröffneten den Tanz und lachten geradezu kindlich darüber, dass sie nun verheiratet waren. Es verging eine Weile, bis Hannes bemerkte, dass er Georg seit seiner winzigen Rede nicht mehr gesehen hatte. Suchend schlenderte er durch den Garten und streifte dabei gedankenverloren mit seiner linken Hand die Himbeersträucher.
Hannes war stolz auf diesen Ort. Er war auch stolz darauf, inzwischen ein verheirateter Mann zu sein. Im Prinzip war er auf alles stolz, nur nicht auf seinen besten Freund, den er nun neben der Terrasse des leeren Restaurants entdeckte. Dort lagen mehrere große Felsen auf dem Boden und auf einem hatte sich Georg niedergelassen, mit einem Gesichtsausdruck, als wäre er ein herrschender Dämon.
„Komm, sitz hier nicht so alleine rum!“, rief Hannes ihm bereits von weitem zu.
„Ich sitze nicht alleine“, widersprach der Freund herablassend, „Ich befinde mich in

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 25.05.2014
ISBN: 978-3-7368-1460-8

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meinen Zwillingsbruder.

Nächste Seite
Seite 1 /