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Nachtbesuch

 

 Michael kam an diesem Abend zu spät.
Wäre ich eine bessere Hausfrau gewesen und des Kochens mächtig, hätte ich mich wohl geärgert, dass nun das Essen für meinen Mann kalt geworden wäre. Aber da ich meine Pflichten, die Wohnung zu hüten und in einem annehmbaren Zustand zu halten, sträflich vernachlässigte und stattdessen den ganzen Tag wie immer vor dem Computer verbrachte, gab es keinen Grund, sich über Michaels Verspätung überhaupt zu wundern. Für gewöhnlich erschien er am frühen Abend und auch das fiel mir nur deshalb auf, weil ich meistens dabei war, mir einen Film im Fernseher anzusehen, wenn er kam.
Ich war Schriftstellerin. Eine von der Sorte, die wirklich viel schreibt und wenigstens pro Jahr ein Buch veröffentlichen kann. Das war finanziell gesehen eine Misere und im Großen und Ganzen lebten wir nur von Michaels Einkommen, das ein wenig beträchtlicher war. Er arbeitete auch mehr als ich.
Vormittags half er seinem Onkel in einem Computergeschäft. Nachmittags ging er einem Professor bei chemischen Forschungen zur Hand; es war natürlich die Arbeit, die ihm am wenigsten Geld einbrachte, die er aber logischerweise am meisten liebte. Abends kam er nach Hause und blieb, bis es Mitternacht wurde. Dann fuhr er zu einem städtischen Krankenhaus, wo er an der Eingangspforte saß. Für Michael blieb immer wenig Zeit zum Schlafen übrig, doch ihm genügten vier Stunden und mir ebenfalls.


Des Öfteren schätzten wir es, sie gemeinsam im selben Bett zu verbringen, ganz so wie ein normales Ehepaar.
Ich war mir sicher, dass er mich liebte, warum duldete er sonst diesen Zustand?
Ohne dass ich mich selbst rühmen wollte, so sollte man mir dennoch eine gewisse Schönheit zugestehen. Mein Haar war tiefschwarz, wobei ich mir eine weiße Strähne hatte färben lassen, die meinen Schopf in zwei dunkle Hälften spaltete. Die meiste Zeit trug ich eine dunkel umrandete Brille, doch der einzige Mensch, der sie sehen durfte, war Michael.
Ich war hoffnungslos eitel und konnte diese Eitelkeit nur ertragen, weil ich mich selten in Gesellschaft befand und beinahe alle meine Freunde nur die Helden irgendwelcher Serien waren.
Manchmal machte es mir großen Spaß, mich selbst zu inszenieren, dann schminkte ich mein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit und bewunderte mich selbst im Spiegel.
Doch das passierte nur alle paar Wochen, sonst klebte ich wie ein Drogenjunkie vor meinem Computer und hämmerte wie eine Verrückte in die Tasten. Trotz meiner eher düsteren Erscheinung schrieb ich ausschließlich lustige Geschichten.
Michael hatte eine Vorliebe für die Farbe Schwarz. Das hatten wohl die meisten Männer, doch bei ihm grenzte es fast an Zwangsneurose. Jedes einzelne Teil, das seinen Körper bedeckte, musste pechschwarz sein, bis hin zu dem Pflaster, wenn er sich bei einem Forschungsprojekt geschnitten hatte.
Es war der Beweis meiner Liebe, dass ich mich manchmal hinsetzte und ihm ein Pflaster mit schwarzer Ölfarbe bemalte.



Ich war eine sehr schlanke Frau, während Michael vielmehr in die Breite ging. Wäre er nicht so ein hochintellektueller Mann gewesen, hätte ich ihn gerne mit einem Bären verglichen. Mit meinem Bären.
Aber das Geistige vertrug sich meiner Meinung nach selten mit dem Gemütlichen und Bodenständigen und Bären waren für mich ein Sinnbild des erdigen Wesens.
Erstaunlicherweise dachte ich eben an diesem Abend an Bären und ob ich einen in meine Geschichte einbauen sollte – denn diese fabelhaften Tiere waren derzeitig hoch angesagt – als es im Schlafzimmer an das Fenster klopfte.
Es regnet doch gar nicht.
Unbeirrt schrieb ich weiter an meiner Geschichte und blendete dieses Geräusch ziemlich schnell wieder aus, weil es in keiner Weise einen sinnvollen Zusammenhang mit meinen anderen Gedanken ergab.
Ich selbst befand mich nicht im Schlafzimmer, sondern im Arbeitsraum, der aber gleich nebenan war.
KlopfKlopf.
Das hört sich gar nicht wie Regen an und auch nicht wie Steine, die man gegen das Fenster wirft, wie seltsam… ein paar Bären sind vielleicht übertrieben, aber wie wäre es mit einem? ...Oh nein, wir haben keine Butter mehr im Haus, ich hätte es Michael sagen sollen! …Ein Bär, ein Braunbär, das wäre…
KlopfKlopf.
Schon wieder dieses Geräusch…! Der Bär könnte… war das jetzt schon dreimal? ...Der Bär könnte…
Als würde jemand mit der Hand… Eisbären zu gefährlich? …Braunbären sind auf jeden Fall vertrauter und außerdem sollte der Bär…
KlopfKlopfKlopf.
Ruckartig hob ich meinen Kopf und starrte die Türschwelle an, als hätte jemand unerlaubt meine Wohnung betreten.
Es war auffallend dunkel. Und ich hatte wie immer vergessen, das Licht einzuschalten. Mit gerunzelter Stirn erhob ich mich von meinem Stuhl und drückte auf den Schalter an der Wand. Gelbliches Licht durchflutete das Zimmer und gewährte mir einen Blick auf die Ikea-Uhr, welche neben dem Bücherregal hing. Schon nach elf Uhr?
Ich warf einen erstaunten Blick auf die Zeitangabe, welche mir der Computer lieferte und stellte fest, dass es tatsächlich schon so spät war. Michael?
KlopfKlopfKlopfKlopf.
„Was ist denn das…?“, murmelte ich und zwang mich zu einem langsamen Schritt aus dem Arbeitsraum. Nur zögerlich spähte ich ins Schlafzimmer und heftete meine Augen auf das Fenster. Augen starrten zurück.
Und ich stieß einen Schrei aus, der viel zu schrill und viel zu unkontrolliert war, als dass er mir gehören könnte.

 
Irgendwann wurde mir bewusst, dass ich mit klopfendem Herzen an der Wand lehnte, direkt neben der Tür zum Schlafzimmer.
Eine Kreatur! Irgendeine Kreatur hockte auf dem Fensterbrett und klopfte gegen die Scheibe!
Eine Kreatur…! War das ein Mensch?
Was sollte es sonst sein, es hatte zwei Arme gehabt und Schultern und einen Kopf… und in jedem Falle eine menschliche Gestalt.
Aber die Augen, sie waren rot gewesen! Rot leuchtend, wie zwei Lampen in einem finsteren Gesicht.

Lange Zeit wagte ich nicht, noch einen Blick auf dieses… Es zu werfen, ich wagte es nicht einmal, mich überhaupt nur einen Millimeter zu bewegen.
KLOPFKLOPFKLOPFKLOPFKLOPF.
War das mein Herz oder waren es die Finger von diesem…?
Patrizia.
Verdammt, wieso bildete ich mir ein, meinen Namen zu hören? Verzweifelt knetete ich meine Hände, die so eiskalt geworden waren, dass sie tot zu sein schienen. Michael, wo bist du?
Patrizia, mach mir auf.
Keuchend richtete ich mich auf und war im Begriff, wieder das Arbeitszimmer aufzusuchen, es würde doch in jedem Fall beruhigender sein, sich dort aufzuhalten, als im Flur neben dieser schrecklichen Tür…
Wo willst du hin?
„Ich bin verrückt geworden“, flüsterte ich.
„Irgendwie habe ich doch schon immer befürchtet, dass mir das eines Tages passiert.“
Aus irgendeinem Grund bewegten sich meine Füße nicht auf den Arbeitsraum zu, sondern auf das Schlafzimmer. Wie in Hypnose starrte ich auf das Fenster und auf das, was sich dahinter verbarg. Es war ein Mann. Ja, auf dem Fensterbrett hockte ein Mann, ganz in Schwarz gekleidet und einen lässigen Hut, den er sich tief in das Gesicht gezogen hatte.
„Michael…“, sagte ich mit gebrochener Stimme.
Keine Sorge, er wird nicht so bald kommen, antwortete mir die Stimme in meinem Kopf.
Der Mann da draußen war nicht Michael, er war um ein wesentliches schlanker. Ich betrachtete seinen Körper und bemerkte, dass er von einer gewissen Anmut war.

Die Gliedmaßen eines Tänzers.
Allmählich legte das Wesen seine flache Hand auf die Scheibe und ich ging auf das Fenster zu und öffnete es, denn das war es doch, was diese Kreatur wollte, nicht wahr?
Oh mein Gott, hast du etwa deine Brille auf, während da ein Mann vor dir sitzt…? Nein, gut, sie war nicht da, ich trug sogar an diesem Tag ein wunderschönes, rotes Kleid, welches ich zufällig im Schrank gefunden hatte. Als hätte ich auf die Ankunft von ihm gewartet…
Elegant rutschte er in die Wohnung und stand nun direkt vor mir.
„Ich weiß, es ist lange her, dass wir uns gesehen haben“, sagte er zu mir. Es war die Stimme eines jungen Mannes, doch die Stimme von Michael klang noch jünger und der war doch immerhin schon über dreißig.
Ich erwachte wie aus einer Trance.
Und erkannte, dass ich dieser unheimlichen Gestalt soeben das Fenster geöffnet hatte.
„Wer sind sie?“, japste ich. Stolz floss durch mein Bewusstsein, dass ich noch fähig war, zu sprechen, obwohl mir die Lunge doch zugeschnürt war und alles in mir bebte vor Angst.
Wie kannst du in einem solchen Moment noch stolz sein?
Der Fluch der Eitelkeit.
„Du weißt, wer ich bin“, sagte er schlicht, „Anil.“
Anil. Anil?
War das sein Name?
Bruchstücke, Gedankenfetzen wirbelten in meinem Kopf durcheinander. Anil, der düstere Liebhaber…


Umschlang sie mit seinen Armen, als wolle er sie der Welt nie wieder zurückgeben. Dabei war er es doch, der sie verstoßen hatte. Wie ein Hund wäre sie ihm überall hingefolgt, doch er hatte sie zurückgelassen. Und er wird es wieder tun…
Was waren das für Sätze in meinem Kopf? Waren sie einem schlechten Liebesroman entsprungen? Wieso konnte ich so was auswendig?
Ich war so verwirrt, so unfähig, noch einen klaren Gedanken zustande zu bringen.
…Anil flog davon und während seine Gestalt immer kleiner wurde, wuchs ihre Sehnsucht von Sekunde an. Ich hasse dich…
In diesem Moment erkannte ich, dass ich wirklich und wahrhaftig den Verstand verloren hatte. Ich wusste nicht nur nicht, wer dieser fremde Mann war, noch wer ich selbst war. Anil näherte sich mir und strich mir behutsam eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich versuchte, einen Blick unter den Hut zu werfen und erblickte einen schönen Mund, aus welchem zwei kleine, spitze Zähne lugten. Dämonisch, vampirisch.
Irgendwas in mir drängte sich zu ihm hin, unbegreiflich, aber wahr.
Unsere Körper waren sich schließlich so nahe, dass ich beinahe auf seinen Füßen stand. Ich konnte ihm ins Gesicht sehen und nahm auf Anhieb nur zwei Dinge wahr. Augen, die so tief lagen, dass man sie kaum sehen konnte, sie hätten genauso gut nur leere Höhlen sein können.
Ein Lächeln, das voller Liebe und voller Spott war. Und irgendwie böse.
Anil, ich habe dich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen.

„Wann hast du zum letzten Mal aus dem Fenster geschaut, Patrizia?“, fragte mich der Fremde.
„Aus dem Fenster?“
„Wann hast du zum letzten Mal den Mond angeschaut?“
„Den Mond?“
Aus irgendeinem Grund konnte ich hören, wie jemand die Stufen im Treppenhaus nach oben stieg.
Anil stieß ein knurrendes Geräusch aus und beugte sich zu mir hinab. Ich dachte an Tod und Ende und Hilflosigkeit im Angesicht der verlorenen Zeit, doch seine Lippen legten sich auf meine und hauchten mir etwas ein, das mich vielmehr an Leben erinnerte. Möge ein Moment für immer verharren, weil er so unnachahmlich schön war…
Ich öffnete meinen Mund und verspürte eine immense unbefriedigende Gier in mir, doch Anil ließ von mir ab, schritt gewandt zum Fenster und hob die Hand zum Gruße, bevor er hinaus sprang. Mit einem entsetzten Geräusch lief ich ihm nach und starrte hinaus und alles, was ich sehen konnte, war ein schwarzer Schatten, der sich über den Dächern fortbewegte.
„Du glaubst nicht, wie vielen dummen Menschen ich heute begegnet bin“, sagte Michael hinter mir.
Er klang erschöpft und gereizt und doch wie immer höchst respektvoll, weil ich es war, an die er seine Worte richtete.
„Wieso kommst du erst jetzt?“, fragte ich, ohne mich zu ihm umzudrehen.
„Es tut mir so leid, dass ich nicht angerufen habe“, sagte er, ohne zu registrieren, dass dies keine Antwort auf meine Frage war, „Du hast mir heute Morgen gesagt, dass du in einer so guten Schreiblaune bist und ich wollte dein Genie nicht unterbrechen.“

Erstmalig wandte ich dem Fenster meinen Rücken zu und schenkte meine ganze Aufmerksamkeit meinem Mann. Ich war immer noch so erregt von dieser Begegnung mit Anil, aber Michaels Augen ruhten auf mir und sein Blick war wie schwarzer Zucker. Ich wollte meine Arme um seinen Hals schlingen, doch das hätte ihn nur erstaunt.
„Einer der Pförtner wurde ermordet, deshalb musste ich für ihn einspringen“, erzählte Michael schließlich und schritt gemächlich durch unseren Flur. Ich hörte nur seine beruhigende Stimme.
„Das Gute ist, dass ich jetzt für den Rest der Nacht zu Hause bin! Wir haben also Zeit bis zehn Uhr morgen.“
„Ich liebe dich, Michael“, flüsterte ich. Mein Stolz hätte es mir verboten, diese Worte laut vor ihm zu äußern. Niemals hatte ich dergleichen laut zu ihm gesagt. Und er mir auch nicht. Aber diese Worte existierten irgendwo.
Anil… kenne ich ihn? Kenne ich dich? Ja, nein. Woher?

 
„Schatz, du kannst nicht leugnen, dass es biologisch und physikalisch gesehen nicht logisch ist“.
Michael saß mir am Frühstückstisch gegenüber. Er hielt es für absurd, die Meinung zu vertreten, dass solche Wesen wie Vampire in unserer Welt existieren könnten.
„Aber du könntest doch immerhin die Möglichkeit einräumen, dass es sie vielleicht gibt und dass sich auch Wissenschaftler vielleicht täuschen könnten.“
„Wenn Vampire existieren“, sagte Michael ruhig, „Dann stammen sie nicht aus unserer Welt. Was tot ist, ist tot und nicht lebendig. Das wäre ein Widerspruch in sich. Andere Dimensionen kann es geben.“



Zögernd setzte ich meine Teetasse an die Lippen und registrierte erst nach mehreren ergebnislosen Versuchen, dass sie bereits leer war.
„Wenn ich dir also nun erzählen würde, dass gestern Nacht so was Ähnliches wie ein Vampir in unserem Schlafzimmer gewesen ist, dann würdest du mich für verrückt erklären?“, fragte ich und trommelte dabei nervös mit meinen Fingern auf dem Tisch.
„Ist das eine Idee für eine neue Geschichte?“
Michael betrachtete mich mit höflicher Aufmerksamkeit. Ich starrte zurück und erst nach einer Weile fiel es mir auf. Auf seiner Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet, er schwitzte sogar ein wenig. Glaubte er wirklich, dass seine Frau dabei war, den Verstand zu verlieren? Und wollte es nur nicht wahrhaben?
Wie sehr wollte ich nur selbst daran glauben, dass bei mir alles in Ordnung war…
„Bitte beantworte mir einfach meine Frage“, drängte ich ihn.
Er kratzte sich am Hals, stand auf und wandte mir den Rücken zu. Sein Kopf drehte sich nach links, als werfe er einen Blick auf unsere Küchenuhr. Es war auch bereits Zeit zum Gehen für ihn.
„In einer Welt, wie diese es ist“, sagte er, „kann es keine Vampire geben. Folglich wird nie einer in unserem Schlafzimmer sein. Und ehrlich gesagt, das ist für mich kein Grund zur Trauer.“

 
Was auch

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 25.05.2014
ISBN: 978-3-7368-1458-5

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Menschen, die verrückt nach etwas sind...

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