Wie jeden Tag um die gleiche Zeit waren Kevin Neundort, kurzes braunes Haar und grau-braun-grüne Augen, und Leon Weigert, war etwas größer als Kevin, hatte braunes kurzes Haar und braune Augen, hier. Und wie die letzten Tage auch, saßen sie wieder hier, in ihrem Geheimquartier im Kindergarten „Kleiner Vogel“. Die heutige Geheimmission bestand darin, sich so lange hier zu verstecken, bis die Tore geschlossen wurden. Ihr Plan war es, den gesamten Kindergarten für sich alleine zu haben und die ganze Nacht nach verborgenen Schätzen hier zu suchen.
Das Quartier hatten die beiden einige Wochen zuvor ausfindig machen können, als Frau Wohlert sie das erste Mal auf das neue Gelände vom Kindergarten gelassen hatte. Die beiden fünfjährigen haben sofort das Indianer Tipi für sich beansprucht und daraus ihr Geheimquartier gemacht. Eintritt nur für die beiden. Einmal wollte ein Mädchen aus ihrer Gruppe, Marie Seiffarth (blond, braunäugig und ein klein wenig größer als Kevin), zu ihnen und mit ihnen Indianer spielen. Aber Kevin hatte Marie rausgeschubst. Was die beiden noch weniger mochten, als Unbefugte, die ihr Geheimversteck entdeckten, waren Mädchen. Marie warf ihr blondes Haar nach hinten und stolzierte genervt von den beiden Jungs weg und spielte im Sandkasten mit ihren Freundinnen, Janine und Franziska. Die beiden würden sie niemals umherschubsen.
»Die beiden werden nie Freunde haben, wenn die so doof sind«, sagte Marie zu ihren Freundinnen. Innerlich war sie schwer getroffen. Sie wollte doch so gerne mit Kevin und Leon befreundet sein und im coolen Indianer Tipi mitspielen. Was die beiden dort wohl den ganzen Tag trieben?
»Ach, ärger dich nicht zu sehr. Jungs sind doch alle doof. Mit ihren doofen Geheim-verstecken«, tröstete Franziska sie. Marie seufzte und dann spielten die drei Freundinnen wieder mit Barbie und Ken Familie.
»Kevin, was meinst du? Ist es schon dunkel draußen?«, fragte Leon ungeduldig. Seine Jeans war voller Sand und Dreckspuren und sein T-Shirt war auch gezeichnet von den Spuren der Abenteuer heute (sie haben zwei Cheriffs aus dem Nachbardorf vor bösen Banditen gerettet).
»Warte ich gucke, ob die Luft draußen rein ist.« Langsam und in gebeugter Haltung schlich Kevin zum Eingang von dem riesigen Tipi und öffnete vorsichtig das Quartier, streckte den Kopf raus, schaute schnell in alle Richtungen und verschloss es sofort wie-der.
»Leider noch hell. Die Sonne brennt auf den Boden. Aber dafür sind keine bösen Cowboys in der Gegend.«
»Dann können wir ja ruhig auf die Nacht warten.« Leon grinste Kevin zu und beide johlten den Indianer-Stamm-Gruß. In dem Moment kam Kevins Mutter und riss die Pforten des Verstecks auf. Kevin und Leon waren sofort verärgert darüber. Kevin weiger-te sich vehement mit seiner Mutter nach Hause zu gehen. Aber der Wille der Mutter siegte. Mit dem Sohn an der Hand verließ sie das Gelände. Leon wirkte total niederge-schlagen und deprimiert, wie er sich danach ins Tipi zurückzog und auf dem ›Nachdenk-Stein‹ Platz nahm und schmollte. Warum waren Eltern immer so gemein? Immer wenn man gerade Spaß hat, muss man aufhören. Das ist echt fies. Kurze Zeit später kam Leons Vater. Leon mochte seinen Vater. Er war der beste Vater auf der Welt. Anders als seine Mutter, unterstützte ihn sein Vater immer, wenn er und Kevin neue Ideen für das India-ner Leben sammelten. Ein Mal hatte sein Vater sogar mitgeholfen im eigenen Garten einen Marterpfahl zu errichten. Dort haben die beiden besten Freunde ganz oft Leons kleine Schwester Lisa festgebunden. Die beiden fanden es lustig, denn für sie waren Mäd-chen nun mal Feinde. Lisa hingegen fand das ganze eher nicht so amüsant und beklagte sich bei ihrer Mutter darüber, dass ihr Vater einfach die Jungs ermutigte.
Als Leon seinen Vater sah, vergas er ganz schnell, dass er gerade eben noch traurig war, sprang ihm in die Arme und beide liebkosten sich herzlich.
Es vergingen ein paar Jahre. Die Kindergartenzeit lag nun in der Vergangenheit und die Einschulung wurde zu einem riesigen Event in den Leben von Kevin und Leon. Beide freuten sich, als sie erfuhren, dass sie in eine Klasse kämen. Zusammen ließ sich die Grundschuldzeit einfach am besten ertragen. Und vor allem, wurden die Mädchen von Klassenstufe zu Klassenstufe netter.
Als beide die vierte Klasse geschafft hatten und auf das Gymnasium wechselten, merk-ten sie schnell, dass die Grundschule kalter Kaffee war, im Gegensatz zu dem, was auf dem Gymnasium von beiden ab verlangt wurde. Die neuen Lehrer bereiteten vor allem Kevin Probleme. Leon hingegen kam mit allen Lehrern wunderbar klar. Seine liebste Lehrerin war seine Englischlehrerin. Bei ihr schrieb er auch die besten Noten von allen aus der Klasse. Wenn Arbeiten anstanden, war er die erste Ansprechperson wenn es um nochmaliges Wiederholen ging oder um Abschreiben.
Weniger interessant empfand Leon da den Geschichtsunterricht. Am Anfang der fünf-ten Klasse hatte er sich auf dieses Fach am meisten gefreut. Vor allem freute er sich über all die ganzen Indianer Geschichten, der er nun mit Freude lernen hätte gedurft. Aber er wurde enttäuscht und statt Indianer lernte er haufenweise Dinge über die Urzeitmenschen und deren Leben in der Steinzeit. Er mochte die Steinzeit nie. Alle haben immer mit Dinosauriern gespielt, während er ein Indianer war. Ein Mal fragte er seinen Geschichts-lehrer, Herrn Walter:
»Herr Walter? Gab es eigentlich in der Steinzeit auch Indianer?«
Daraufhin hatte ihn die ganze Klasse, bis auf Kevin, ausgelacht. Er verstand nicht wa-rum alle lachten. Selbst Herr Walter konnte sich seine amüsierte Stimmung nicht mehr zurückhalten und stieg im Lachen der Klasse mit ein. Was war denn so falsch an der Frage? Es war doch nur eine Frage, die eine ganz normale Antwort erwartete. Oder etwa nicht? Als sich Herr Walter nach seinem fünfminütigen Lachen wieder beruhigt hatte, versuchte er seriös und allwissend darzustellen, dass es in der Steinzeit keine Indianer gab. Wo sie ursprünglich herkamen und warum sie erst viele Jahrtausende später in Erschei-nung traten. Christoph Kolumbus bereitete ihm auch in der siebten Klasse keine Freude. Zwar wurden hier endlich die Indianer erwähnt, aber seine Indianer-Phase hatte er im Sommer zuvor beendet. Damals entdeckte er den Fußball für sich. Er drängelte seinen Vater so lange, dass er ihn zu einem Probetraining des örtlichen Vereins brachte. Das bereitete Leon so viel Spaß, dass er auch versuchte, seinen Kumpel und besten Freund Kevin dazu zu bewegen dort mit zu machen. Und sofort war auch er Feuer und Flamme. Beide stellten sich als echte Chaoten heraus. Und nach einigen Wochen Training wurde auch klar, dass Kevins Position rechts im Sturm war und Leon links im Sturm. Die beiden waren ein super Team, selbst die beiden Trainer waren verzückt darüber. Sie hatten schon lange keine so talentierten und guten Teamplayer in der Mannschaft gehabt. Die ganze Freude und Teamgeist der beiden Freunde übertrug sich so schnell auf die anderen, dass aus dem chaotischem Haufen endlich eine richtige Mannschaft wurde, die nun auch endlich Chancen hatte, eventuell in einem Spiel sogar mal ein Tor zu schießen und viel-leicht sogar mal zu gewinnen. Auch in der Schule waren die beiden nun keine Außenseiter mehr. Die Kindergartentage waren gezählt, die Unterstufe neigte sich dem Ende entgegen und das neue Leben der beiden Freunde, war gerade erst am Anfang.
»Marie, ich hab dir doch gesagt, dass es okay ist, wenn du zum Volleyball-Training gehst.«
»Kevin! Verdammt, du machst schon wieder einen Aufstand um nichts.«
»Meine Güte, was hast du für ein Problem?«
»Ich? Ich hab ein Problem? Du laberst mich doch zu, von wegen du bräuchtest auch mal Zeit für deine Kumpels. Und das akzeptier ich doch auch. Aber warum verbietest du mir, dass ich zum Volleyball-Training gehe in der Zeit?«
»Ich verbiete dir gar nichts, Marie.«
»Pah! Willst du mich verarschen, Herr Neundort? Du bist vorhin total an die Decke gegangen, als ich meinte, Jim und ich gehen …«
»Jim, Jim, Jim! Ich kann’s nicht mehr hören. Heirate ihn doch, werde mit ihm glück-lich.«
Kevins Lautstärke wurde von Satz zu Satz lauter und erfüllte mittlerweile bereits den gesamten Schulflur. Marie Seiffarth, seine Freundin seit fünf Monaten, hielt ihre Bücher fest umklammert, einerseits um Kevin nicht sofort an die Gurgel zu springen und ihn zu erwürgen und andererseits um die Gewissheit zu haben, dass sie sich wehren könnte, wenn Kevin handgreiflich werden würde.
»Du hast doch voll den Schuss weg. Kevin, ich liebe dich, was will ich denn mit Jim? Wir sind doch nur Freunde! Wir sind Team-Kollegen! Ich will rein gar nichts von ihm, außer, dass wir in zwei Wochen bei der Meisterschaft mal gewinnen!«
»Pah!« Er haute seine rechte Faust mit voller Wucht in die Schließfachtür neben ihm. »Freunde! Wem willst du das erzählen? So viel Zeit wie ihr miteinander verbringt. Da läuft doch was!«
»Kevin! Zum letzten Mal: DA. LÄUFT. ABSOLUT. GAR. NICHTS! Punkt, aus.«
Kevin lies ein Zischen durch seine zusammengebissenen Zähne erklingen und haute noch mal gegen die Tür. Er wollte gerade wieder ansetzen, als er von hinten seinen Kum-pel Leon freudig auf ihn zukommen sah. Sofort verflog die Eifersucht, die er gerade noch auf Jim hegte und vergas, dass er gerade mit Marie diskutierte.
»Hey, Alter.«
»Hey!« Er reichte Leon seine Hand. Sie gaben sich ihren speziellen Handshake und umarmten sich kumpelhaft. »Leon, wie war dein Englisch?«
»Haha. Was glaubst du?« Leon schaute Kevin erwartungsvoll an und holte ein be-schriebenes Blatt Papier aus der Bauchtasche seines Sweatshirts. »Ich hab fünfzehn Punk-te!«
Leon wedelte mit dem Blatt so wild vor Kevins Nase rum, dass ihm im ersten Moment gar nicht aufgefallen war, dass Marie auch anwesend war. Als er sie sah, verschwand seine Freude schlagartig. Ihr Gesicht war so ernst, dass es fast schon Angst einflössend war. Kevin hingegen lies sich davon nicht ablenken. Marie sah nun von Kevin zu Leon und sah in die erschrockenen Augen. Ihre Augen schaute an ihm vorbei. Auch ihr Blick ver-änderte sich und wurde sanfter. Aber das lag nicht an Leons Anwesendheit, sondern daran, dass ihre beste Freundin Franziska Laubrig hinter Leon her kam. Sie entspannte die Umklammerung der Bücher und sogar ein kleines Lächeln zeichnete sich auf ihrem Ge-sicht. Bei Franziska war es wie mit Leon und Kevin. Sie achteten und liebten einander wie Geschwister. Wobei das zwischen Lisa und Leon definitiv nicht so war, obwohl sie richti-ge Geschwister waren. Auch obwohl beide mittlerweile älter waren, Leon in der zwölften Klasse der Oberstufe und Lisa in der neunten Klasse, zickten sich beide immer noch genauso an, wie zu Kindergartenzeiten. Lisa nahm es ihm immer noch übel, dass er sie wie einen bösen Feind an den Marterpfahl band.
Seit Leon mit Franziska zusammen kam, Ende der zehnten Klasse auf einer Schulfete wo die Schülerband ›Romantic Lovers‹ gespielt hatte, wurde er spürbar besser in seiner Wahrnehmung und auch seine schulischen Leistungen wurden besser, was nicht zuletzt daran lag, das die beiden oft zusammen lernten und Hausaufgaben zusammen erledigten. Die beiden liebten einander und gaben sich trotzdem Freiheiten. Anders als bei Kevin und Marie, wo die Streits schon zum Alltag gehörten. Allerdings war der heutige Ge-fühlsausbruch von Kevin stärker als sonst. Leon meinte immer, dass er sich in Zaum halten solle und nicht immer eifersüchtig auf Hinz und Kunz sein. Doch bei dem Thema sprach selbst sein bester Freund gegen eine Wand aus einem Meter Beton. Meistens stritten sich Kevin und Marie über banale Dinge zum Beispiel das Wetter. Dann steigerten sich beide so sehr da hinein, dass ihre Freunde die beiden genervt zurückließen.
Franziska und Marie umarmten sich und gaben sich rechts und links Küsschen auf die Wange. Die gesamte Stimmung, die eben gerade noch am köcheln war, kühlte sich ab und schon vergaßen sie, worum überhaupt gestritten wurde.
»Süße, wie war der Sportunterricht?«, fragte Marie ihre Freundin.
»Na ja, es geht. Es gab ein paar bekloppte Typen – ich will ja niemanden beschuldigen, aber dieser Jonas, der hat so einen an der Waffel.« Während sich Marie und Franziska auf einander konzentrierten, bedeutete Kevin Leon, dass sie woanders hingehen sollten um die beiden Frauen alleine zu lassen. Leon nickte und gab zu verstehen, dass sie am besten den Schulflur verlassen sollten. Gemeinsam verließen beide den Gang, traten hinaus auf den Schulhof und begaben sich weit weg von allen in ihre Chill-Out Ecke. Die Holzbank sah bereits in die Jahre gekommen aus, aber das störte die Jungs am wenigsten. Ohne zu sprechen, nahmen beide Schwung und setzten sich auf die Rückenlehne und positionier-ten ihre Beine so, dass sie perfekt und gemütlich sitzen konnten. Und dann begannen sie zu sprechen, worüber sie in letzter Zeit oft sprachen: ihre Zukunftspläne.
Der Wind wehte still und sanft um die Köpfe der beiden Jungs herum. Der Frühling zeigte bereits jetzt schon seine tollen Seiten. Die Sonne schien den Freunden in den Rü-cken und die Buche links von ihnen spendete Schatten. Der frische Duft des Rasens breitete sich aus.
»Und, haste schon drüber nachgedacht, was de nach der Schule dann machst?«, fragte Kevin ruhig.
»Ich werd’ wohl wirklich studieren. Hab schon zwei Zusagen erhalten. Einmal die Uni in München und einmal die in Stuttgart.«
»Hey, das klingt ja super!« Leon gab ein sprachloses zustimmen von sich. »Was ist los, Leon? Du denkst doch wieder über irgendwas nach.«
»Ich denke an meinen Dad. Und wie schön es wäre, ihn um Hilfe zu bitten.«
»Ach Leon …« Leon musste wieder daran denken, als vor fünf Jahren sein Vater bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, als ein rasender Motorradfahrer sich auf der A2 Hannover-Berlin in unmöglichen Manöver durch die Sicherheitsabstände schlängelte und als Herr Weigert gerade einen anderen überholte, erschrak er sich so sehr über den Raser, dass er vor Schreck das Lenkrad verzog und mit einer Geschwindigkeit von einhunder-tundsechzig in die Leitplanken zog. Später im Krankenhaus verstarb er an zu starken inneren Blutungen. Seit dem hatte Leon angefangen, das Leben anders zu sehen. Er wurde ruhiger und beim Fußball ist er auch aus der Mannschaft ausgestiegen für einige wenige Wochen. Aber er hatte Kevin, der für ihn da war und ihn immer wieder ablenkte. Dafür war Leon ihm dankbar, auch wenn Kevin seine Einstellung nach wie vor nicht ändern wollte.
»Leon! Man, ich denke dein Vater wäre stolz auf dich. Hey schau, was du aus dir ge-macht hast. Du bist aus deinem Tief gekommen und unser Team ist dank dir Landesmeis-ter!«
»Manchmal denke ich so darüber nach, wenn dir auf einmal dein Leben genommen wird. Und du dich mit jemanden nie ausgesöhnt hast. Oder, was machen deine Freunde, deine Verwandten? Würdest du wollen, dass sie dir ein Leben lang nach weinen?«
»Hm, wohl eher nicht. Aber so sehr hab ich mich jetzt nicht mit dem Thema beschäf-tigt. Carpe Diem.«
Tonlos und leise sagte Leon: »Lebe den Tag…«
»Genau. Man weiß doch nie, was der nächste Tag bringt, oder? Also warum soll ich mich denn dann quälen?«
»Aber vielleicht«, sagte Leon und er schaute zu Kevin hoch, »solltest du dir mal Ge-danken darüber machen? Ich meine du lebst für den Tag, aber wenn du noch was klären solltest – du müsstest doch erst Recht nach dem Prinzip leben, oder nicht?«
Leon seufzte. Kevin überlegte angestrengt, wie er Leon auf andere Gedanken bringen könne, als Leon von sich aus sprach.
»Ich weiß nicht, ich würde zum Beispiel auch wollen, dass du dein Leben weiter lebst.«
Wie Kevin dieses Thema hasste. Doch seit dem Tod von Leons Vater, verfiel sein Freund immer häufiger in diese nachdenklichen Situationen.
»Hm. Wollen wir nach der Schule zu Roob’s?«
»Gegen eine kleines Bierchen am Nachmittag sagt kein Mann nein, außer er trinkt heimlich und gemütlich abends gerne Wein.« Leon war sichtlich froh, über die Ablenkung. Und auch Kevin darüber, dass er Leon wieder zum Lachen bringen konnte. Die beiden Freunde saßen noch eine Zeit lang schweigend nebeneinander auf der Bank.
Die Schulglocke klingelte. Die beiden jungen Männer erschraken und sprangen sofort von der Bank. Sie tauschten verwunderte Blicke aus und gingen dann zurück in ihre Kurse (Leon zu Musik und Kevin zu Sozialkunde).
Nach vier weiteren, endlos scheinenden Stunden in der Schule traten Kevin und Leon entnervt aus dem Schulgebäude. Etwas entfernt vom Eingang zum Gebäude warteten sie auf ihre Freundinnen, die zusammen in der letzten Stunde Kunsterziehung hatten. Sie mussten Marie und Franziska noch schonend beibringen, dass die beiden gleich zu Roob’s gehen. Normalerweise stellte das kein Problem da, aber die Tatsache, dass das Roob’s bekannt war für seine über vierzig Biersorten aus aller Welt und den meisten Alkis der ganzen Stadt, würden die beiden jungen Frauen wohl eher grimmig stimmen. Marie und Franziska fanden jeglichen Konsum von Drogen und Genussmitteln so abstoßend und versuchten ihre beiden Freunde immer wieder zu überzeugen, statt Bier mal Wasser zu trinken. Das führte nur dazu, dass die Pärchen regelmäßige Erörterungen darüber führten und die Pros und Cons auflisteten.
Doch auf so eine Diskussion hatten die beiden Jungs keine Lust. Sie wollten einfach nur ihr junges Leben genießen. Erwachsen werden könnten sie auch später noch.
Und da kamen auch schon Marie und Franziska aus dem Eingang, auf ihren Gesich-tern tanzten die Lachfalten und schlugen Wellen. Sie lachten wild und kamen rasant auf die Jungs zu. Marie und Kevin küssten sich. Franziska zog Leon an sich und küsste ihn wild. Als die beiden Jungs losgelassen wurden, schauten sie sich verwirrt an. Als Marie kurz zu ihrer Freundin schaut und ihr zu zwinkerte.
»Leute, heute werden Franzi und ich wohl nicht mit euch nach Hause kommen. Wir haben vorhin eine Einladung bekommen…«
»… heute zu Herr Julius zu gehen. Ihr wisst schon. HERR. JULIUS.« Und schon be-gannen die beiden Mädchen wieder zu schwärmen. Leon schaute die beiden verblüfft an und Kevin rollte mit den Augen.
Herr Julius war kein Lehrer. Es war eine stadtbekannte Band, die aus fünf jungen Männern bestand, auf die fast alle Mädchen der Stadt abfuhren. Fast alle, weil Janine Henning beispielsweise die Band zu poppig findet. Sie war sowieso immer anders. Mit ihren, wie Marie immer sagte, ober-gruftigen-gothic Klamotten zog sie jede Stimmung noch unter den tiefsten Tiefpunkt und ihre Musik war so düster und Suizid fördernd, dass kaum jemand mit ihr was zu tun haben wollte. Aus den früheren Freundinnen sind verbit-terte Feindinnen geworden. Janine wäre nicht gesellschaftsfähig. Außerdem war ihr Auf-treten und ihr Aussehen mehr als nur eine Schande.
»Wo ist das Konzert von Herr Julius?«, fragte Kevin.
»Heute Abend um zwanzig Uhr in der Stadthalle«, sagte Franziska.
»Ihr habt doch nichts dagegen oder?«
Leon und Kevin sahen sich vielsagend an.
»Äh, nein. Schatz, das heißt ihr geht da jetzt schon hin, oder?« Kevin versuchte neutral zu klingen. Er wollte sich keineswegs anmerken lassen, dass er sich innerlich grad so sehr freut, wie schon lange nicht mehr.
»Woher habt ihr die Karten bekommt? Ich dachte, dass das schon seit Monaten aus-verkauft wäre?« In Leons Innern überschlug sich die Skepsis über den plötzlichen Glücks-fall. Die beiden Freundinnen schauten sich wieder Freude strahlend an.
»Aus unserm Kunstkurs sind zwei abgesprungen, weil ihre Eltern mit ihnen heute kurzfristig wegfahren und dann haben sie uns die Tickets gegeben.« Franziska holte voller Beglückung die Eintrittskarten aus der hinteren Hosentasche. Die beiden Mädchen dreh-ten sich zueinander und sprangen vor Freude auf und ab und schrien irgendwelche Zeilen aus den Songs von Herr Julius.
»Okay, also … eh, Kev’ und ich werden dann jetzt noch ein bisschen Chillen gehen«, sagte Leon vorsichtig, aber die Freundinnen ließen sich nicht von ihrem Freudentanz abbringen und sagte nur, dass es okay wäre. Leon ging auf Franziska zu, umarmte sie und nach dem Kuss sagte er: »Denke immer daran, wie sehr ich dich liebe. Okay?« Franziska küsste ihn ebenfalls und sagte: »Bis in die Unendlichkeit und weiter.«
Die Kumpels grinsten ihre Freundinnen an und verließen schnellen Schrittes den Schulhof, aus Angst die Freundinnen würden ihre Meinung ändern, gingen sie noch schneller.
Von der Straße her erklangen die Geräusche und der Autosmog durchsetzte die Luft, die Kevin und Leon gerade einatmeten während sie auf das grüne Licht von der Ampel warteten. Die Körper wippten nervös vor und zurück.
»Das war doch echt Glück, dass die die Karten bekommen haben, was?«, fragte Kevin an Leon gewandt.
»Ja, schon. Merkwürdig ist es trotzdem.« Leon schaut geradeaus, sein Blick führte ins Nichts.
»Ach, komm. Sehe es nicht so pessimistisch«, konterte Kevin mit einem sanften Schul-terschubser.
»Tu ich nicht. Ich sehe es nur realistisch. Ich würde den beiden eher zutrauen, dass sie die Karten von den Mitschülerinnen geklaut haben. Ich meine, wie groß ist die Wahr-scheinlichkeit, dass die Eltern auf einmal weg wollen?« Leon schloss die Augen und atme-te tief ein.
»Leon, meinst du echt jetzt?« Kevin dachte kurz darüber nach, wandte den Blick von Leon ab und schaute gebannt auf das rote Ampelmännchen.
»Hm. Eigentlich schon, so wie die beiden vorhin gelacht haben. Aber na ja. Ist ihre Sa-che.«
»Stimmt.«
Ein Surren durchfuhr die Luft, Kevin und Leon traten auf die Straße. Kevin war be-reits auf der anderen Straßenseite, als er einen dumpfen Schlag hörte. Die quietschenden Reifen schliefen noch einige Meter über die Fahrbahn, eher das Auto zum Stehen kam. Der Autofahrer hatte Leon zu spät erkannt und die Bremse zu spät durchgedrückt. Leon wurde mit voller Wucht von dem Auto erwischt. Er flog über die Motorhaube gegen die Frontscheibe. Die Scheibe bekam einige Risse. Das Auto kam zum Stehen. Der Körper fiel leblos vom Auto auf die Straße. Kevin kam alles wie in Zeitlupe vor. Er konnte gar nicht fassen, was gerade geschehen war. Halb in Trance eilte er zu dem regungslosen Körper von Leon. Er kniete sich zu ihm herunter und versuchte den Körper um zudre-hen als der Fahrer des Unfallautos mit Handy am Ohr zu ihm eilte. Er sprach vermutlich mit der Polizei. Kevin konnte nichts mehr so wirklich wahrnehmen. Seine Wahrnehmung beschränke sich auf die Verarbeitung, wie es zu dem Unfall gerade kommen konnte. All das: die Geräusche, die Gerüche. Und dann schaute er wieder runter in Leons Gesicht. Es war blutüberströmt. Er lag in einer einzigen Blutlache. Sein Sweatshirt war voller Blut, und total mitgenommen. Seine Jeans an vielen Stellen aufgerissen.
»Junge, komm mal etwas weg von ihm. Polizei und Krankenwagen sind bereits unter-wegs. Ist das ein Freund von dir?«
Der Autofahrer beugte sich zu Kevin herunter und versuchte ihn vorsichtig von Leon weg zu bringen. Kevin ließ es mit sich machen. Gerade wusste er sowieso nicht, was er zuerst fühlen sollte. Sein Leben hatte gerade einen massiven Bruch erlitten. Warum lag er jetzt nicht dort? Hatte er es nicht viel mehr verdient dort unten zu liegen? Im Sterben? Leon … er würde sterben.
Der ältere Mann stütze Kevin beim Gehen. Er setzte ihn auf die Bank von der Bushal-testelle, die wenige Meter von der Ampel entfernt war. Der glasige, leere Blick von Kevin bereitete dem Mann Unbehagen.
»Leon … er stirbt … ich … warum er?«
»Junge, was redest du da? Leon, ist das der Name von deinem Freund?« Kevin reagier-te nicht. Für ihn war die Welt gerade wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Sein bester Freund würde sterben, und er konnte nichts dagegen tun. Nichts …
»Ich muss ihm helfen!« Kevin sprang auf und wollte gerade auf die Unfallstelle zu ge-hen, als der feste Griff des Mannes ihn zurückhielt. Weiter entfernt konnte man bereits Sirenen hören.
»Du geht’s da nicht hin. Du stehst scheinbar unter Schock. Dir wird gleich geholfen werden, Krankenwagen und Polizei sind unterwegs. Deinem Freund wird es schon wieder gut gehen.«
Kevins Widerstand brach ab. Er blieb einige Sekunden stehen. Dann drehte er sich um und sah dem Mann ins Gesicht. Sein Gesicht wurde fest.
»SIE! Warum, er? Warum haben Sie ihn angefahren! Warum!« Mit schwerer Wut im Bauch sammelte Kevin alle Kraft, die er gerade aufbringen konnte und schlug dem Mann mit voller Wucht die Faust gegen sämtliche Stellen des Oberkörpers. Der Mann ließ es zu, er konnte verstehen, dass der Junge wütend und traurig war.
Polizei und Krankenwagen waren nun eingetroffen. Der Mann wurde direkt angespro-chen von einer Polizistin. Er schilderte ihr das Geschehene. Er erwähnte auch direkt, dass Kevin unter einem Schockzustand litt. Daraufhin wurde einer der Notärzte herangerufen, während die anderen Ärzte und Sanitäter Leon in den Wagen hoben und bereits die ersten Versorgungen vornahmen.
Der Notarzt machte einen schnellen Check und holte aus seinem Wagen eine Spritze. Er spritzte Kevin ein beruhigungsmittel und nahm ihn sicherheitshalber mit ins Kranken-haus, zusammen mit seinem besten Freund, der vermutlich gerade seine letzten Sekunden auf Erden hatte.
Im Endeffekt war es egal, was Kevin dachte. Er wollte einfach nur noch bei Leon sein. Die piepsenden Geräusche waren ihm egal. Sein bester Freund lag nun schon seit drei Tagen im Koma. Zu seinem Zustand konnte kein Arzt Auskunft geben. So lange wie er durfte, verbrachte Kevin seine Zeit an der Seite des leblosen Körpers in der Hoffnung, dass die Seele seines Freundes ihn wieder mit Leben erfüllen würde.
Die letzten fünf Monate waren sehr hart. Nicht nur für Leons Mutter und Schwester. Sie waren so oft sie konnten im Krankenhaus um an der Seite ihres Sohnes und Bruders zu sein. Die Ärzte mussten ihn nach dem Unfall ins künstliche Koma legen, da seine Verletzungen zu schwerwiegend waren und er es sonst nicht überlebt hätte. Kevin be-suchte seinen Freund jeden Tag. Irgendwann nur noch jeden zweiten Tag, jeden dritten, ein Mal im Monat …
Als alle Freunde und Verwandten Leon bereits aufgaben, erleuchtete das Licht in sei-nen Augen wieder. Keiner hatte mehr damit gerechnet. Kein Arzt, nicht mal seine sonst so optimistische Mutter. Umso mehr waren alle Beteiligten erleichtert und erfreut über diesen Glücksfall. Leon hatte verdammtes Glück, wie der Arzt immer gesagt hatte, bis er entlassen wurde. Das einzige womit er zu kämpfen hatte, war die kurzzeitige Amnesie. Nach den mehrstündigen Therapiestunden jedoch, gelang es ihm nicht nur seinen Körper, sondern auch seinen Geist wieder in Griff zu bekommen.
Er wollte keine Zeit mehr verschwenden und machte seiner Freundin einen Heiratsan-trag, den sie ohne zu überlegen annahm. Kevin freute sich mindestens genauso.
Franziska war bereits im fünften Monat schwanger, als die Hochzeit endlich stattfand. Kevin und Leon waren exzellente Wedding-Planer, während Franziska die Zeit der Schwangerschaft genoss. An dem Hochzeitswochenende kam auch Marie vorbei, denn wie oft heiratet schon die beste Freundin? Kevin und Marie kamen sich auch wieder näher, aber es blieb bei ihrer Freundschaft. Eine Beziehung konnten sich beide vorläufig nicht mehr vorstellen, zumindest keine gemeinsame.
Der Polterabend war eine grandiose Veranstaltung. Und als der Tag der Tage anbrach, waren alle aufgeregt. Franziska wollte überall mithelfen, aber sie wurde immer zur Ruhe aufgefordert, schließlich würde sie heute noch genügend Stress haben.
Die letzte Stunde verbrachten Marie und Franziska zusammen mit den Müttern. Leon und Kevin genossen die letzte Stunde gemeinsam. Sie wanderten in dem Garten vor dem Schloss, was sie eigens gemietet hatten. Die akkurat und perfekt geschnittenen Hecken wandten sich um die Wege des Gartens. Das frisch gemähte Gras erfüllte die Luft und die Farben tanzten unter der Sonne. Links von ihnen war ein Wasserspiel, an das die beiden Männer vorbeigingen.
»Kevin …«
»Ist schon okay. Eigentlich hab ich dir zu danken. Dafür, dass du immer für mich da bist und auch die Zeit vor einem Jahr, mit dem Unfall. Die Zeit mit meinem Vater. Und auch jetzt.« Sie blieben stehen und schauten sich an. Leon sah so glücklich aus, wie schon lange nicht mehr.
»Du hast mit Franzi aber auch einen Glücksfang gemacht. Sie ist echt eine Traumfrau.«
»Ja, das ist sie. Ich freu mich schon auf die Ewigkeit mit ihr.«
Kevin schlug Leon kumpelhaft auf die Schulter. Leon entging die Anspielung nicht und er fügte hinzu: »Natürlich wirst du auch auf Ewig einen Platz in der Familie haben. Ich hoffe, dass du auch Patenonkel unseres kleines Sprösslings werden möchtest, das würde mich sehr glücklich machen.«
Kevin erschrak. Diese liebevolle Geste konnte er nicht fassen. Er versuchte die richti-gen Worte zu finden: »Es wäre mir eine Ehre. Aber ich werde ihm oder ihr gewiss als erstes ein Indianer Tipi zum Geburtstag schenken.«
Beide mussten anfangen zu lachen, da sich vor ihren Augen wieder die Bilder von frü-her aufzeichneten. Als die Welt friedlich, grenzenlos und bunt war. Bunter, als es je ein Erwachsener wieder sehen konnte. Grenzenloser, als je ein Erwachsener wieder denken konnte. Friedlicher und ruhiger, als es die Gesellschaft je wieder zu lassen würde.
Die beiden gingen zurück zur Hochzeitsgesellschaft. Auf der Terrasse blieben beide noch ein Mal stehen.
»Na dann, auf in dein neues Leben.«
»Auf geht’s in die Ewigkeit meines neuen wunderbaren Lebens.«
Und sie betraten den Hauptsaal. Kevin grinste Marie zu, die erwartungsvoll neben Franziska wartete. Leon sah die Frau an, die er nun auf Ewig halten und lieben durfte, und das Kind, dass er mit bestem Willen erziehen würde.
Texte: Heffa Fuzzel
Bildmaterialien: Heffa Fuzzel
Tag der Veröffentlichung: 19.12.2012
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