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Prolog

Und in dem Moment als die letzte Königin fiel, sprach sie die Prophezeiung, die besagte, dass in der Zeit wenn die Not ihren Höhepunkt erreicht und jeder denkt es sei das Ende, sie kommen werden. Sie sind zu dritt und erscheinen als Kinder, doch es liegt an ihnen über aller Schicksal zu bestimmen. Den ältesten werdet ihr erkennen an seinem Mut. Mit Tapferkeit und Selbstlosigkeit ist es an ihm euch zu leiten, in die Schlacht, mit der eine neue Zeit anbricht, sei es nun eine Zeit der vollkommenen Dunkelheit oder des Lichts. Es ist die Jüngste, die euch führen wird wenn wieder bessere Zeiten kommen. Ihre Barmherzigkeit und Weisheit wird zum Segen für eure bisherigen Qualen. Doch letztendlich ist es die Aufgabe der Mittleren zu bestimmen ob das Licht oder die Dunkelheit siegt, ob sie an der Seite des lichten oder des dunklen Prinzens auferstehen wird.

Die Königin tat ihren letzten Atemzug und es brachen dunkle Tage für ihr Volk an. 

1. Kapitel

Aus kleinem Anfang entspringen alle Dinge. – Marcus Tullius Cicero

 

Ich sass im Auto, der Regen lief die Scheiben hinunter und ich konnte nur unklar in die graue Welt hinaussehen. Man hörte den Wind über das Autodach ziehen und es war mir, als würde ich die Kälte spüren, die er mitbrachte. Das Auto bog von der Hauptstrasse ab, in einen holprigen Nebenweg.

Links und rechts vom Weg waren Wälder, mit hohen dunklen Bäumen und an seinem Ende konnte ich durch die Regentropfen ein Gebäude ausmachen. Es war ein grosses, einzelnes Gebäude, umgeben von noch mehr Wald, welcher sich anscheinend endlos in alle Himmelsrichtungen hin streckte. Als wir dem Gebäude näher kamen, konnte ich Einzelheiten erkennen, wie zum Beispiel dass es Verputzt war aber Wind und Wetter die Farbe bis zur Unkenntlichkeit abgerieben hatten. Oder dass man an vielen Stellen grauen Stein darunter ausmachen konnte, sowie dass auch die Natur dem Gebäude zu zusetzen schien, denn Efeu und Kletterrosen bahnten sich unaufhaltsam ihren Weg am Gebäude hoch. Das Haus an sich war sehr gross und an einer Ecke ragte ein kleiner Turm in die Höhe. An dessen Spitze eine verwitterte Fahne hing und jetzt, als der Wind und Regen sie hin und her schwingen liessen, machte sie ein ächzendes Geräusch bei jeder Bewegung. Als mein Blick über den Rest des Gebäudes huschte, vielen mir die Fenster auf. Es freute mich dass sie so zahlreich waren, ich mochte keine Fensterlosen Räume. Weiter glitt mein Blick auf die Eingangstür. Sie war riesig und glich schon eher einem Tor, im Allgemeinen konnte ich mir das ganze Haus irgendwie gut als Burg vorstellen, wie Ritter davor auf und ab ritten, wie Burgdamen an den Fenstern standen , ihnen dabei zu sahen und sich den neusten Tratsch erzählten. Mir war als könnte ich sie kichern hören.

Aber zurück zum hier und jetzt. Denn in diesem Augenblick klopfte es an mein Autofenster, ich erschrak, denn mir war gar nicht aufgefallen dass wir angehalten hatten. Draussen stand mein Bruder, seine etwas längeren, hellbraunen Haare klebten ihm, aufgrund des Regens, an der Stirn. Auch wenn er schon zwei Jahre älter war verstanden wir uns sehr gut, wie hätten wir auch nicht, er war ein herzensguter Mensch. 

Sein Name lautete Oliver und ich fand dass der Name sehr gut zu ihm passte, denn in einigen Sprachen bedeutete er so viel wie Verbreiter der Hoffnung. Ein Hoffnungsbringer war er allemal, nur dank ihm konnte ich die schwere Zeit durchstehen, die anbrach nachdem mein Vater starb. Das war jetzt schon drei Jahre her und meine Erinnerungen an ihn fingen schon an zu verblassen.

„Mo, kommst du?“, eine Stimme schreckte mich hoch. Oliver sah mich fragend an. Ich stieg aus, lächelnd dachte ich daran zurück wie mein Spitzname zustande gekommen war, mein voller Name war Monera, doch als meine kleine Schwester ins Sprechalter kam war das noch zu kompliziert für sie und sie hatte strahlend „Mo“, gerufen und seit dem war ich halt Mo.

Meine Schwester war jetzt sieben und ein sehr verträumtes kleines Mädchen. Sie liebte Geschichten oder Lieder über ferne Welten mit Drachen und Kobolden. Auch wenn sie nicht viel sprach,  hörte man sie doch ständig ein solches Liedchen summen. Ihr liebster Freund und ständiger Begleiter war unser Kater Achat. Mein Bruder hatte ihm den Namen gegeben, nachdem sie Steinkunde in der Schule hatten und ihm aufgefallen war dass die Augen des Katers sehr einem Moosachat glichen. An manchen Stellen fast milchig aber übersät mit dunkelgrünen Flecken. Ansonsten war Achat ein zotteliger, hochbeiniger, fast rostroter Kater, der seit der Geburt meiner Schwester nicht mehr von ihrer Seite wich. Da ich damals selber erst neun war, konnte ich mich nicht mehr allzu gut an diesen Tag erinnern, nur dass es stürmisch war und der Regen den ganzen Tag über nicht aufhören wollte. Sowie dass, als der erste Schrei des Babys erklang, ein wildfremder Kater ins Zimmer spazierte und sich neben der Wiege, der kleinen Alice postierte und seitdem nicht mehr von ihrer Seite wich.

Jetzt gerade, hielt sie den grossen Kater im Arm und betrachtete unser neues Haus. Auch ich liess meinen Blick ein weiteres Mal darüber gleiten und erst jetzt vielen mir die Leute auf die am Eingang standen. Zum einen war da eine kleine, etwas kräftigere Frau, die uns liebevoll anlächelte. Neben ihr stand ein hagerer, grauhaariger Mann und auch wenn er schon um die sechzig sein musste, hatte er etwas an sich, dass mir sagte, dass er früher sehr schön gewesen sein musste. Etwas hinter den beiden stand noch ein Junge, wobei Junge vielleicht nicht mehr die richtige Bezeichnung war, denn er schien schon etwas älter als ich zu sein. Aus neugierigen Augen schaute er zu uns rüber und unsere Blicke trafen sich für einen kurzen Augenblick. Mein ganzer Körper fing unter diesem Blick an zu prickeln und ich senkte meinen Blick schnell wieder. Alice trat neben mich, Achat fest an sich gedrückt und schaute mich aus ihren dunkeln Augen an.

„Und, wollen wir es wagen?“, fragte ich sie und streckte ihr meine Hand hin. Sie löste ihre eine Hand vom Kater und ergriff sie. Mit meinem Bruder und meiner Mutter traten wir auf das neue Haus zu. Immer näher dem nächsten und alles verändernden Abschnitt unseres Lebens.

 

2. Kapitel

 Mut ist nicht die Abwesenheit von Angst, sondern die Erkenntnis, dass etwas wichtiger ist als die Angst. – Ambrose Redmoon

 

Es stellte sich heraus dass die etwas kräftigere Frau unsere Köchin und Haushälterin war. Ihr Name war Rosa und sie war die Ehefrau des hageren, John, welcher ihr beim Haushalt helfen und auch andere anfällige Arbeiten im Haus erledigen würde. Beide schienen mir äusserst sympathische Zeitgenossen zu sein und ich freute mich darauf sie näher kennen zu lernen. Sie hatten uns gleich ins Haus geführt und uns Tee mit Kuchen gebracht. Der Junge der vorhin auch bei ihnen gestanden war, war noch bevor wir sie erreicht hatten, wieder verschwunden.

Rosa erklärte uns: „ Er ist etwas eigen, aber eigentlich ein ganz lieber Junge. Wir haben ihn bei uns aufgenommen nachdem John sich am Rücken verletzte und es sich herausstellte dass er sich nicht mehr um den Garten kümmern könnte. Ich weiss als sie das Haus geerbt hatten, hiess es, es gäbe nur zwei Angestellte aber ich hoffe er stört sie nicht. Sein Name ist Dean und er verlangt bestimmt nicht viel, bloss Essen und eine Unterkunft…“, meine Mutter unterbrach sie und sagte mit ihrer lieblichen Stimme, dass es überhaupt kein Problem wäre wenn er hier bliebe und er selbstverständlich den gleichen Lohn wie alle anderen bekäme.

Ich sollte wahrscheinlich noch erklären dass meine Mutter das Haus von einem entfernten Verwandten geerbt hatte. Als sie von seinem Tod erfahren hatte, schien sie ziemlich traurig und auch wenn ich noch nie etwas von ihm gehört hatte, geschweige denn, ihn kennenlernen durfte, fühlte ich mit ihr. Sie schien ihn ziemlich gemocht zu haben und es machte mich traurig, sie betrübt zu sehen. Nachdem man ihr gesagt hatte, sie würde dieses Haus hier erben, hatte sie lange darüber nachgedacht ob sie ihr Erbe auch wirklich antreten sollte. Doch dann hatte sich ihr Gesundheitszustand so drastisch verschlechtert, dass sie nicht mehr in der Lage war den Haushalt alleine zu führen und weil sie nicht wollte dass sie Oliver oder mir zur Last fiele, beschloss sie dass wir in dieses Haus ziehen würden, wo es Bedienstete gab die sich um alles kümmerten.

Eine weitere positive Eigenschaft die der Umzug mit sich brachte war die Umgebung. Jetzt lebten wir fern ab allen Trubels der Stadt, weit entfernt von den nächsten Nachbarn, mitten in der Natur. Man konnte schon erkennen dass dieser Ort meiner Mutter gut tat, ihre Wangen waren nicht mehr ganz so blass und auch ihre Hände schienen etwas weniger zu zittern. Als ich sie jetzt auch freundlich mit Rosa und John plaudern sah, war ich erleichtert. Sie würde wieder gesund werden. Rosa wandte sich gerade an mich und meine Geschwister.

„Soll ich euch eure Zimmer zeigen?“, fragte sie und war schon aufgestanden. Begeistert folgten wir ihr eine lange Treppe hinauf.

„Das Haus hat drei Stockwerke und einen Keller“, erklärte sie gerade, „eure Zimmer, das Zimmer eurer Mutter und ein Badezimmer befinden sich hier oben. Ein Stock weiter oben sind die Zimmer von Dean, John und mir und ein weiteres etwas kleineres Bad. Im Erdgeschoss findet ihr die Küche, einen Salon und das Esszimmer. Im Keller sind eigentlich nur die Vorräte und einige verstaubte alte Möbel. Es gibt den Haupteingang, durch den ihr vorhin herein gekommen seid und einen weiteren in der Küche, dieser führt in einen kleinen Garten, von wo aus man auch zum Gartenschuppen kommt. So…“, wir waren unterdessen oben angekommen, „… hier sind eure Zimmer, ich war so frei und hab die Sachen, die heute Morgen ankamen, schon mal entsprechend verteilt. “ Bei diesen Worten zeigte sie auf drei nebeneinander liegende Türen und ging wieder die Treppe hinunter.

Die Türen waren allesamt aus Holz, ein etwas dunkleres als die Wand um sie herum. Sie hatten altmodische, eiserne Türgriffe und schienen sich nicht voneinander zu unterscheiden. Zu dritt traten wir auf die erste, uns am nächsten stehende Tür zu. Oliver öffnete die Tür und wir traten in einen hellen Raum. Uns gegenüber war eine grosse Balkontüre, neben ihr stand ein hölzerner Schrank mit wunderschönen Schnitzereien. An der rechten Wand befand sich ein Schreibtisch mit einem Stuhl und ein Bücherregal in welchem sich alle meine Bücher befanden. Dies war demnach mein Zimmer. An der linken Wand war ein weiteres Fenster, auf dessen Fensterbrett sich Kissen häuften. Direkt daneben stand ein, in ein eisernes Gestell gefasstes Bett. Von der Decke fiel ein leichter, weisser Seidenvorhang darüber. Alles in allem mochte ich mein Zimmer jetzt schon. Die beiden anderen Zimmer unterschieden sich nicht gross von meinem, bloss hatten sie abgesehen von dem Balkon kein weiteres Fenster und Olivers Bett besass auch keinen Vorhang.

3. Kapitel

 

Das durchschnittliche gibt der Welt ihren Bestand, das Aussergewöhnliche ihren Wert. – Oscar Wilde

 

Ich sass auf der Fensterbank. Es war inzwischen Abend geworden, der Regen hatte endlich aufgehört und man konnte die Sterne am Himmel erkennen. Das Abendessen war ruhig verlaufen, denn alle waren etwas erschöpft vom Umzug. Rosa hatte ein köstliches Essen gekocht und sich mit John zu uns gesetzt. Dean, sagte sie, hätte noch im Garten zu tun und würde sich später selber etwas Kleines machen. Als alle geendet hatten plauderte meine Mutter noch etwas mit John und ihr, doch meine Geschwister und ich zogen uns zurück. Vor den Zimmertüren wünschten wir uns eine gute Nacht.

In meinem Zimmer hatte ich mir eine Kerze angezündet. Diese tauchte das Zimmer in ein ganz anderes Licht und mir fielen Dinge auf die mir unter dem Licht der Deckenlampe nie aufgefallen wären. Zum Beispiel der unglaubliche Sternenhimmel. Wegen ihm sass ich jetzt schon fast eine Stunde in meinem Pyjama auf der gemütlichen Fensterbank und schaute in den Himmel. Das Fenster war einen Spalt weit geöffnet. Man konnte die Geräusche der Nacht hören, den Wind, wie er in den Bäumen raschelte,  in der Ferne eine rufende Eule, Grillen zirpend in der Wiese. Plötzlich hörte ich ein feines Klirren und gleich darauf ein weiteres. Erstaunt schaute ich nach unten, dort stand Dean und warf kleine Steinchen gegen mein Fenster. Schnell stand ich auf und öffnete es ganz.

„Komm schnell runter!“, rief er mit leiser Stimme rauf. Er hatte eine sehr angenehme Stimme, fiel mir nebenbei auf. Ich nickte ihm also zu, zog mir schnell eine dünne Jacke über und eilte die Treppe hinunter. Vor dem Abendessen hatte mir Rosa die Küche gezeigt und so ging ich jetzt auf diese zu. Von dort nahm ich die Tür die in den Garten führte, leise konnte ich noch die Küchenuhr elf Uhr schlagen hören. Zum Glück schien der Mond und ich konnte etwas erkennen. Beinahe hätte ich aufgeschrien als sich eine Hand auf meine Schulter legte. Rasch drehte ich mich um und konnte den lachenden Dean erkennen.

„Du hast mich beinahe zu Tode erschreckt und jetzt lachst du?“, zischte ich ihn an und versuchte meine Nerven zu beruhigen.

„Tut mir leid, aber du hättest dein Gesicht sehen sollen“, antwortete er immer noch lächelnd. Er hatte ein schönes Lächeln. Bei ihm liess ich mich immer ablenken, fiel mir auf, ich wusste schon nicht mehr was ich fragen wollte.

„Folge mir“, flüsterte er mir jetzt verschwörerisch zu. Ah ja, wieso er mich runter gerufen hatte. „Wohin gehen wir?“, flüsterte ich ihm zu, während ich ihm folgte. Als er darauf nichts antwortete, schaute ich mich um. Wir liefen gerade aus dem Gärtchen hinaus, etwas weiter vorne konnte ich den Geräteschuppen erkennen, doch es schien, dass wir daran vorbei liefen, direkt in Richtung Wald. Die grossen in Mondschein getauchten Bäume wirkten unheimlich und ich beeilte mich, nicht zurück zu fallen. Jetzt nahm ich mir auch die Zeit mir Dean genauer anzusehen. Von hinten konnte ich zwar nicht allzu viel erkennen aber mir fiel auf dass er gross war, er überragte mich mindestens um einen Kopf. Seine Haare waren gelockt und fielen ihm in den Nacken. Der Mond warf in die, ansonsten beinahe schwarzen Locken einige helle Flecken. Er trug eine dunkle Jacke und lockere Jeans.

Nachdem er seine Schritte verlangsamt hatte, drehte er sich zu mir um und fragte: „Kommst du?“ Ich schloss zu ihm auf und wir liefen nebeneinander. „Keine Angst, es ist nicht gefährlich“, sagte er beruhigend. Doch ich hatte sowieso keine Angst. Aus irgendeinem Grund schien ich ihm zu vertrauen und so liefen wir  weiter, näher und näher dem riesigen, dunklen Wald.

4. Kapitel

 

Die Sonne lehrt alle Lebewesen die Sehnsucht nach dem Licht. Doch es ist die Nacht, die uns alle zu den Sternen erhebt. – Khalil Gibran

 

Nachdem wir den Wald betreten hatten, liefen wir noch ein Stück,  dann sah ich es. Vor uns lag ein Teich, umgeben von roten Blüten und in ihnen und um sie herum schwirrten so viele Leuchtkäfer, dass man das Gefühl hatte, die Blumen würden von alleine Leuchten. Ich hielt den Atem an, so etwas Schönes hatte ich noch nie gesehen, dazu kam noch dass sich die rot leuchtenden Blumen und der Mond im Wasser des Teiches spiegelten, wodurch sich ihre Ausstrahlung noch steigerte.

„Wunderschön, nicht?“,  flüsterte Dean neben mir. „Unbeschreiblich“, hauchte ich. Vorsichtig liess ich mich auf die Knie sinken, es war mir völlig egal ob meine Klamotten dreckig wurden, ich wollte einfach die Leuchtkäfer nicht aufschrecken.

„Wie hast du diesen Ort gefunden?“, fragte ich Dean leise. Er fing an zu erzählen: „Du musst wissen, ich bin hier in der Umgebung aufgewachsen und als meine Mutter vor fast sieben Jahren gestorben war ging es mir ziemlich mies. Ich bin mir sicher, du kannst dir einen aufgewühlten, traurigen elf Jährigen vorstellen“, er lächelte traurig als er das sagte, „ich wollte mitten in der Nacht von Zuhause abhauen und kam an diesem Teich vorbei. Anfangs hatte ich Angst vor den Leuchtkäfern doch, nachdem ich sie eine Zeit beobachtet hatte, traute ich mich näher. Hier konnte ich das erste Mal nach dem Tod meiner Mutter richtig weinen und mir war, als strahlte dieser Ort eine gewisse Geborgenheit aus. Seitdem komme ich so oft ich kann, hier her. Doch in letzter Zeit sind die Leuchtkäfer immer seltener hier. Heute ist das erste Mal seit fast drei Monaten, dass ich sie gesehen habe. Ich frage mich wieso sie genau jetzt wieder da sind.“ Bei diesen letzten Worten schaute er mich mit einem komischen, leicht abwesenden Blick an.

Ich wusste mir nichts auf diesen Blick einzubilden und schaute ihn einfach nur an. Sein Gesicht war von dem roten Licht der Blüten etwas erleuchtet und in seinen Augen spiegelte sich der Mond.

„Wieso hast du genau mir diesen Ort gezeigt?“, fragte ich ihn, denn schliesslich hatten wir uns erst seit kurzer Zeit.

„Als ich am Abend gesehen hatte dass die Leuchtkäfer wieder kamen, hatte ich mir sowieso vorgenommen hierhin zu kommen und als ich dich dann am Fenster sitzen sah, hatte ich irgendwie das Gefühl, dir diesen Ort zeigen zu müssen. Ich bin froh es getan zu haben.“ er lächelte mich an und ich wurde rot, verlegen schaute ich zur Seite. Ein kühler Wind kam auf und wehte mir ein paar Strähnen ins Gesicht. Schaudernd rieb ich mir die Arme.

„Du musst ja bestimmt frieren, komm nimm meine Jacke“, mit diesen Worten stand er auf, zog seine Jacke aus und setzte sich neben mich. Dankbar streifte ich sie mir über. Automatisch sog ich ihren Geruch ein, sie roch nach Wald, Frühling und etwas das mir unglaublich vertraut war, ich aber trotzdem nicht zuordnen konnte.

Ich spürte seinen Blick auf mir und sah ihn an. Sanft strich er mir eine Strähne hinters Ohr. Als seine Hand meine Haut berührte, fing sie an zu kribbeln, nicht unangenehm, eher erwartungsvoll. Meine Augen trafen die seinen und unsere Blicke wurden eins. Es war elektrisierend, als würde er in die tiefe meiner Seele blicken und in diesem Moment machte mir das und die Tatsache, dass wir uns nicht lange kannten überhaupt nichts aus, solange dieser Augenblick einfach nie enden würde. Langsam näherten sich unsere Gesichter, mein Blick immer noch tief in seinen Meerblauen Augen verankert, öffnete ich leicht den Mund…

Plötzlich knackte es laut im Gebüsch neben uns. Erschrocken drehte ich mich um und sah Achat auf uns zu kommen. Erleichtert atmete ich auf.

„Etwas schreckhaft, heute Abend?“, fragte Dean grinsend. „Stimmt gar nicht…“, antwortete ich und musste ebenfalls lachen. Wir blieben noch lange hier draussen und auch wenn wir uns nicht mehr so nahe kamen wie vorhin, war es ein wunderschöner Abend. Er erzählte mir viel von sich, aus seiner Jugend und seiner Arbeit und auch ich erzählte von meinen Geschwistern und meiner Kindheit. Seit langem hatte ich nicht mehr so viel und so herzlich gelacht wie hier und als dann auf einmal die Morgendämmerung anbrach, eilten wir lachend nach Hause.

 

5. Kapitel

 Ist Lieb ein zartes Ding? Sie ist zu rau, zu grob, zu ungestüm und sie sticht wie ein Dorn. – William Shakespeare

 

Die Sonne weckte mich am nächsten Morgen. Ihre warmen Strahlen kamen durchs Fenster und schienen mir ins Gesicht. Lächelnd dachte ich an gestern Abend zurück, auch wenn es lange über den Abend hinaus gegangen war. Als wir im Haus angekommen waren, stiegen wir gemeinsam, immer noch leise kichernd, die Treppen hoch. Er brachte mich bis vor meine Zimmertür und als ich so an die Tür gelehnt da stand, hatte ich keinen sehnlicheren Wunsch, als dass er mich küssen möge. Für einen kurzen Augenblick hatte ich das Gefühl dass auch er einen ähnlichen Wunsch hatte, doch dann verabschiedete er sich eilig und ging die Treppe hoch in sein Zimmer.

Ich war jedoch zu müde gewesen als dass diese Tatsache meine Glückseligkeit gestört hätte. Und so war ich darauf  trotzdem überglücklich und todmüde in mein Zimmer getorkelt, auf mein Bett gefallen und noch bevor mein Kopf das Kissen berührte, war ich eingeschlafen. Seufzend blickte ich auf meine, neben dem Bett liegende, Armbanduhr. Es war schon halb zwölf! Ein Wunder dass mich meine Mutter nicht geweckt hatte, sie mochte es nicht wenn meine Geschwister oder ich den halben Tag verschliefen. Aber wahrscheinlich hatte sie gedacht, ich wäre so erschöpft vom Umzug gewesen. Ich stand also auf und zog mir lockere Klamotten an. Heute würde ich sowieso nur meine Dinge fertig einräumen und das Haus und die Umgebung erkunden. Als ich die Tür öffnete musste ich lächeln, vor mir auf dem Boden lag eine einzelne rote Blume. Bei Tageslicht war sie längst nicht so schön, doch das machte mir nichts aus. Schnell lief ich ins Badezimmer um ein Glas zu holen. Nachdem ich es mit Wasser gefüllt, die Blume reingestellt und das Ganze auf meinem Schreibtisch platziert hatte, ging ich  immer noch lächelnd die Treppe hinunter. In der Küche traf ich auf Rosa. Leise summend räumte sie den Geschirrspüler aus und blickte auf als sie mich eintreten hörte.

„Guten Morgen, Liebes. Hast du gut geschlafen?“

„Ja, danke. Wo sind denn die anderen?“ fragte ich sie auf ihre Frage hin. „Deine Mutter musste nochmal in die Stadt, einige letzten Angelegenheiten klären. Sie wird etwa zum Abendessen zurück sein. Dein Bruder war vor etwa einer Stunde schon mal unten aber ich denke jetzt ist er wieder in seinem Zimmer und von deiner Schwester habe ich noch nichts gehört.“

‚Bestimmt war die Kleine noch am schlafen‘, dachte ich mir. „Ich hab dir ein Marmeladenbrot gemacht“, meinte Rosa und schob mir einen Teller hin, auf dem sich drei lecker aussehende Brote, bestrichen mit roter Marmelade häuften. „Mhh, vielen Dank!“, nuschelte ich kauend. Während ich so da sass fragte ich mich was wohl Dean gerade machte. Sollte ich Rosa fragen? Oder wäre das etwas offensichtlich. Egal, sie würde sicher nicht nachfragen.

„Du, Rosa?“

„Hmm?“, machte sie während sie irgendwas an der Herdplatte herum werkelte.

„Wo ist denn eigentlich Dean?“ Sie drehte sich um und schaute mich interessiert an.

„Ich glaube er ist im Wald und schaut ob in der Nacht irgendwelche wilden Tiere in der Nähe waren. Wieso fragst du?“

„Ach nur so, aber wie meinst du das mit den wilden Tieren?“, jetzt war ich wirklich gespannt und ignorierte ihr lächeln bei meinem ‚ach nur so‘.

„Weist du, Liebes, in letzter Zeit sind im Wald immer wieder riesige Kratzspuren an den Bäumen aufgetaucht und ein Bauer aus der Umgebung sagt drei seiner Schafe fehlten und so schaut Dean jetzt ob er wieder irgendwelche Spuren findet.“

Das klang für mich etwas beunruhigend und ich beschloss ihn später danach zu fragen. Zuerst wollte ich aber nach meinen Geschwistern schauen und fragen ob jemand Lust hätte mich auf einer Erkundungstour zu begleiten. Nach meinem Klopfen an der Zimmertür meines Bruders, hörte ich ihn „Herein!“ sagen und trat ein.  „Hey Schwesterchen“, sagte er doch ich war zu überrascht von seinem Durcheinander um gleich darauf zu antworten. Überall verstreut lagen halb ausgepackte Kiste, Kleiderhaufen und Bücher.

„Hey Oli. Ich wollte dich zwar fragen ob du mit mir die Umgebung erkunden willst aber wie es aussieht hast du hier noch eine Menge Arbeit vor dir.“

„Ja, ich würde wirklich gerne mitkommen aber ich glaube wenn ich nicht fertig damit werde bevor Mom nach Hause kommt, kriegt sie einen Herzanfall!“ Lachend verabschiedete ich mich und sagte dass ich mal schauen würde ob Alice schon wach war. Im Zimmer meiner Schwester waren noch die Vorhänge vor den Fenstern und ich konnte ihren regelmässigen Atem hören. Leise schlich ich mich hinein. Dort lag sie auf dem Bett, so zart und zerbrechlich als wäre sie eine Blume. Ein leises Miauen liess mich aufschauen. Draussen vor dem Fenster stand Achat und wollte hinein. Ich fragte mich gar nicht erst wie er denn Gestern Abend überhaupt hinaus gekommen war und liess ihn rein. Schnurrend strich er mir um die Beine, sprang dann aufs Bett und fing an sich zu putzen. ‚Dieser Kater war unverbesserlich‘, dachte ich nur und verliess das Zimmer wieder. Würde ich mich halt alleine auf Entdeckungsjagd machen.

6. Kapitel

 Nur wer Grenzen überschreitet wird neue Horizonte entdecken. – Unbekannt

 

Ich ging auf direktem Weg nach draussen um zuerst mal den Garten und die angrenzenden Waldstücke zu erkunden. Da es inzwischen wieder angefangen hatte zu regnen, schnappte ich mir noch meine Regenjacke vom Hacken und stapfte drauf los.

Als ich den Beeten entlang ging, fiel mir auf dass es darin vor allem Kräuter und Gemüse hatte. Einerseits fand ich das etwas Schade, denn ich hätte gerne Blumen um mich herum gehabt, aber andererseits, fand ich es auch super dass wir uns zum Teil mit unserem Gemüse selber versorgen könnten. Wenn ich so darüber nachdachte brauchte man sowieso keine Blumen in Beete zu züchten wenn es auf den umliegenden Wiesen und in den Wäldern schon genügend wunderschöne natürliche gab. Ich ging also weiter. Hinter dem Gärtchen und um den Geräteschuppen herum lag eine solche, riesige Wiese, die bis an den Waldrand reichte. Man konnte gemütlich einem Pfad folgen, welcher am Rand der Beete anfing, am Schuppen entlang bis tief in den Wald führte. Auf diesem waren Dean und ich auch am letzten Abend zum Teich gelangt. Jetzt wo es Tag war, kam mir der Wald viel friedlicher vor und ich fragte mich was ich in der Nacht so unheimliches an ihm gefunden hatte. Unschlüssig wohin ich weiter gehen sollte, entschloss ich mich, mir den Schuppen später anzuschauen und lief auf dem Pfad an ihm vorbei. Denn jetzt hatte ich dem Wald meine volle Aufmerksamkeit gewidmet. Die Bäume waren anfangs noch nicht so hoch doch ragten sie je weiter hinein man ging, immer höher in den Himmel hinauf. Es war ein Mischwald und auch wenn man meistens Nadelbäume wie Tannen und Fichten erblickte fand man doch einige Buchen, Eichen oder andere Laubbäume. Zusammen mit den vielen Büschen und dem kleinen Fluss der durch den Wald in den Teich floss war er ein riesiges Paradies für Tiere. Da es gerade regnete, konnte man zwar fast keine grösseren Tiere sehen aber ich wusste noch von gestern dass sie da waren. Mich überzog ein leichter Schauer als ich an Gestern dachte. Es war wirklich wunderschön gewesen, wie ich mich mit Dean unterhalten konnte und er mir ein Gefühl der Sicherheit vermittelte.

‚Wo er wohl gerade war? ‘, dachte ich und beschloss mich im Wald nach ihm umzusehen.

Ich schritt gerade an den ersten Bäumen vorbei, als ich ein lautes Knacken hörte. Erschrocken blickte ich mich um, nichts war zu sehen. Langsam lief ich weiter, immer einen Schritt nach dem anderen und dabei den Blick suchend auf die Bäume links und rechts von mir gerichtet. Da! Schon wieder dieses komische Knacken, nur diesmal von der anderen Seite. Mit weichen Knien, wagte ich einige Schritte vom Pfad weg, in den Wald hinein. Meine Schuhe sanken in dem nassen Boden ein und wegen des Regens, konnte man nicht weit sehen. So ging ich noch etwas weiter hinein, in den Wald. Und plötzlich, sprang direkt vor meinen Füssen ein riesiger braun-grüner Vogel auf, flatterte kurz mit den Flügeln und flog davon. Ich musste lachen, in meinen Gedanken war ein gefährlicher Mörder durch den Wald gegangen und in Wirklichkeit war es bloss ein Vogel gewesen. Doch um mich zu verteidigen, es war schon ein riesiges Tier gewesen, ein solches hatte ich noch nie zu Gesicht bekommen. Vielleicht gehörte es eine Untergruppe der Fasane an auch wenn diese keine leuchtend grüne Federn an den Spitzen der Flügel hatten.

‚Komisch‘, dachte ich bei mir und wollte wieder zurück zum Pfad gehen. Doch, oh nein, ich war anscheinend tiefer in den Wald gegangen als beabsichtigt und so musste ich mich mit leichter Panik fragen aus welcher Richtung ich den gekommen war. So angestrengt ich auch versuchte mich zu erinnern, ich wusste es nicht mehr und beschloss einfach mal auf gut Glück in die eine Richtung zu gehen.

Nachdem ich etwa dreissig Minuten lang umherirrte, es war wohl doch nicht die richtige Richtung gewesen, setzte ich mich auf einen flachen Stein. Wenigstens hatte der Regen in der Zwischenzeit aufgehört und die Sonne versuchte sich durch die Bäume hindurch zu schlängeln. In meinen Gedanken hatte ich schon zum wiederholten Mal meine Dummheit, den Pfad verlassen zu haben, verflucht und ich begriff das es nichts nützen würde einfach weiter zu irren, so versuchte ich mir was einfallen zu lassen. Als ich so meine Umgebung betrachtete, fiel mir auf, dass am Boden zu meinen Füssen Spuren waren. Der Regen hatte sie schon ziemlich verwischt und man konnte nur noch ungenaue Abdrücke erkennen. Von der Grösse her konnten es locker menschliche sein und ich war mir sicher, dass ich aus der anderen Richtung gekommen war. Ein Hoffnungsschimmer glomm in mir auf, vielleicht führte diese Spur ja zu anderen Leuten oder zum Weg. So beschloss ich den Abdrücken zu folgen. Es war schwer immer zu erkennen wo ich durch musste doch irgendwann kam ich zu einer kleinen Lichtung. Sonnenstrahlen beschienen eine Wiese an deren Ende ein grosser, alt wirkender Baum stand. Die Spur lief direkt auf diesen Baum zu und so folgte ich ihr. Vor dem Baum blieb ich stehen, ein Schrei entwich meinen Lippen. Quer über dem Stamm waren drei lange, tiefe Kratzspuren, die das Holz aufzureissen schienen. Diese und die Spuren waren auf keinen Fall menschlich!

7. Kapitel

 Für die Welt bist du irgendjemand, aber für irgendjemand bist du die Welt. – Erich Fried

 

Langsam bewegte ich mich rückwärts. Eigentlich wollte ich rennen, doch ich schaffte es nicht. Mein Blick war starr auf die Kratzspuren gerichtet. Es war als hätte mein Denken ausgesetzt, mein Körper arbeitete automatisch. Immer einen Schritt hinter den anderen versuchte ich mich von dem Baum wegzubewegen. In diesem Moment trat die Sonne hinter den Wolken hervor und beleuchtete die Lichtung mit ihren warmen Strahlen. ‚Wenn du so weiter machst wirst du noch verrückt‘, sagte ich mir, es sind bloss ein paar Kratzer die von einem grossen Tier stammen. Bestimmt war es ein Bär.‘ Auch wenn ich tief in meinem Innern eine Ahnung hatte, dass es keinen Bären auf dieser Welt gab der solche Spuren hinterlassen könnte, beruhigte mich die Vorstellung. Denn mit Sicherheit war dieser Bär schon lange wieder verschwunden. Gerade als ich mich wieder beruhigt hatte, hörte ich Schritte. Sie waren noch leise und etwas weiter entfernt, jedoch klar hörbar. Es war auch offensichtlich, dass solche nicht von einem Menschen stammen konnten, nein, es waren schwerere, tapsende Schritte. Als würde grosse Pfoten durchs Unterholz schleichen. Ich erstarrte. Anscheinend war das Tier welches die Kratzer verursacht hatte doch noch nicht verschwunden.

Die Schritte kamen näher, langsam bekam ich Panik. Wenn ich weiter hier mitten auf der Lichtung untätig rum stehen würde, wäre ich ein leichtes Ziel. Hektisch blickte ich mich um. Nirgends gab es etwas, dass sich als Versteck eignete. Pure Angst machte sich in mir breit, denn jetzt hörte ich bereits das laute Atmen des Geschöpfes. Bald würde es die Lichtung erreicht haben. Suchend schaute ich mich um, es musste doch irgendwo… Bäume! Die rettende Idee war gekommen und es war naheliegender als gedacht. Wieso war ich bloss nicht früher darauf gekommen. Hastig lief ich zu einem Baum am Rande der Lichtung und versuchte mich daran hoch zu hieven. Die Angst schien mir ungeahnte Kräfte zu geben, denn in kurzer Zeit war ich auf dem untersten Ast und kletterte höher. Als ich beschloss, hoch genug geklettert zu sein, kauerte ich mich schwer atmend über den Ast. Das Tier war inzwischen dicht vor der Lichtung und ich konnte bereits eine leuchtend rote Farbe durch die Bäume schimmern sehen. Da trat das Geschöpf auf die Wiese und ich vergass das Atmen. Dort unten stand ein riesiger Tiger, doch kein normaler, denn dieser besass Federn anstatt Fell. Sein ganzer Körper war voller leuchtend roten Federn. Und das war noch nicht das aussergewöhnlichste, denn links und rechts von seinen Schultern war je ein monströser Flügel, dessen wahre Grösse man nur erahnen konnte, da das Tier sie dicht am Körper gefaltet hielt. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen da es den Kopf dicht über dem Boden hielt, doch ich sah, dass sich am Schwanz des Geschöpfes kleinere Federn befanden die in einer buschigen Spitze endeten. Ich sah auch die scharfen, weiss glänzenden Krallen, in die die vier Pfoten endeten.

Ein leichtes Zittern breitete sich in meinem Körper aus. Was war das für ein Geschöpf? Ich war mir sicher noch nie von so etwas ähnlichen auch nur gehört zu haben. Währenddessen war das Tier meinem Baum näher gekommen und so konnte ich Einzelheiten erkennen. Zum Beispiel, dass die Federn unterschiedliche Rottöne hatten, am Ansatz der Flügel ein dunkles rostrot und zur Spitze hin immer hellere, bis sie fast orange waren. Auch auf dem Rücken hatte das Tier verschiedene Musterungen. Wären die Umstände anders gewesen hätte ich mir dieses Tier stundenlang ansehen können. Ob die Federn so weich waren wie sie aussahen?

‚Reiss dich zusammen Mo! Überleg dir lieber wie du hier wieder weg kommst‘, tadelte ich mich in Gedanken. Das Tier lief gerade gemächlich auf den alten Baum am Ende der Lichtung zu. Ich zitterte noch mehr, denn in wenigen Sekunden würde es an mir vorübergehen. Jetzt war es definitiv zu spät um noch abhauen zu können. So klammerte ich mich an den Ast und versuchte mich so klein wie nur möglich zu machen. Leider bemerkte ich nicht, dass der Ast unter meinen Bewegungen bedrohlich schwankte. Meine Gedanken waren voll und ganz auf das Geschöpf fokussiert. Dieses lief jetzt direkt unter mir hindurch und schien mich nicht zu bemerken. Erleichtert atmete ich auf. ‚Geschafft‘, dachte ich kurz bevor der Ast ein lautes Knacken von sich gab und mit einem Ruck auf den darunter liegenden  krachte. Ich versuchte mich voller Panik daran festzuhalten, was mir aber nicht gelang. Noch während meinem Fall blickte ich dem Tier, welches mich anstarrte, in die Augen und wusste nicht wovor ich mich mehr fürchtete. Vor dem Sturz oder dem merkwürdigen Geschöpf.

8. Kapitel

 Die Hoffnung auf Frieden hört niemals auf. – Dalai Lama

 

Schmerzen. Das war das erste woran ich dachte als ich wieder denken konnte. Ein stechender, penetranter Schmerz in meinem linken Arm, bestimmt war er gebrochen. Erst mit der Zeit viel mir wieder ein was geschehen war. Wahrscheinlich war ich direkt auf ihn gefallen. Wieso war ich noch mal runtergefallen? Meine Gedanken schienen weit weg zu sein. Voller Panik traf mich dann die Erkenntnis; das Tier. Wo war das Tier? Hektisch schlug ich die Augen auf und zuckte zurück. Ich starrte direkt in dunkle, mit roten Federn umrahmte, Augen. Innerlich schrie ich, doch kein Ton entwich meinen Lippen. ‚Gleich wird es mich fressen.‘ Auf dem Boden nach hinten rutschend versuchte ich weg zu kommen , doch das stand direkt über mir und als es meine Bewegung bemerkte, stellte es eine Pfote auf meine Schulter und hielt mich mit sanfter Gewalt an Ort und Stelle.

‚Sie an, was haben wir denn da?‘, sagte eine spöttische Stimme in meinem Kopf.

 ‚Jetzt bekam ich auch noch Halluzinationen, bestimmt hatte ich mir den Kopf härter gestossen als gedacht. Oder vielleicht ist das auch alles nur ein Traum und ich wache gleich wieder auf.‘

Ich fürchte dich enttäuschen zu müssen, es ist kein Traum‘ diesmal hörte ich zu diesen Worten auch noch ein leises Lachen in meinem Kopf und mir war als würde das Tier das Gesicht verziehen. ‚Sei fro, dass ich heute einen meiner  grosszügigen Tage habe, ansonsten würde ich dich jetzt sofort fressen.‘

Meine Angst wuchs zu einem unbekannten Ausmass und im Nachhinein wusste ich nicht mehr wie ich es geschafft hatte trotzdem etwas zu sagen. „Was willst du?“ fragte ich und hoffte dass ich entschlossen und gefährlich wirkte, auch wenn mir das aufgrund des unüberhörbaren zittern in meiner Stimme gänzlich misslang.

Was ich will?‘, diesmal lachte das Tier noch lauter und spöttischer. Ich konnte spüren wie sein Körper vibrierte, ‚Wie wäre es mit Spass, Unterhaltung ... oder … Dier?‘

Langsam wandelte sich meine Angst in Wut um, es war offensichtlich. Er, es war aufgrund des Verhaltens und der Stimme klar, dass dieses Tier männlich war, spielte mit mir. „Lass mich gehen!“

Wieso sollte ich? Der Spass hat doch erst Angefangen‘  trotzdem nahm er die Pfote von meiner Schulter und wich ein paar Schritte zurück, sodass ich mich aufsetzen konnte.

„Was bist du?“ – ‚Jetzt gerade? Mmh, also ich würde sagen ich bin amüsiert‘

Argh, dieses Ding fing an mich zu nerven. „Das meinte ich nicht! Sondern was für ein Geschöpf du bist“ das Zittern war jetzt aus meiner Stimme verschwunden und ich bemerkte selber dass ich genervt und wütend klang.

 ‚Oh verzeiht dass ich euch falsch verstanden habe‘ seiner Stimme war klar zu erkennen, dass er es nicht ernst meinte und meine Frage schon beim ersten Mal verstanden hatte ‚Nun, ich bin ein Pars‘

Ich wusste nicht was sagen, dabei schwirrten mir tausende Fragen durch den Kopf, doch ich bekam keine zu fassen. Was war genau ein Pars, Wieso hatte ich noch nie davon gehört, War er denn überhaupt von Hier?...

‚Sprachlos, wie? Hast du gar keine Fragen?‘ sein Lachen hallte wieder in meinen Kopf und ich kam zur Besinnung. „Von wo kommst du und was tust du hier?“ – ‚Ich komme vom selben Ort wie du‘  sagte er geheimnistuerisch, meine zweite Frage ignorierend. Man konnte ihm das Grinsen richtig der Stimme ablesen. Er machte sich schon wieder lustig über mich.

„Ich glaube dir nicht dass du von Hier bist. Über ein Tier wie dich hätte man gehört.“  Ich konnte gar nicht reagieren, so schnell hatte er sich auf mich gestürzt und mit seinen grossen Pfoten auf den Boden gedrückt. ‚Behaupte niemals wieder ich sei ein Tier!‘ ein tiefes Knurren füllte ihn aus und gelähmt  von der Angst getraute ich mich nicht mehr etwas zu sagen.

 Im nächsten Moment war er wieder von mir verschwunden, sass zwei Schritte neben mir und leckte sich die Pfoten. ‚Also, wo waren wir stehen geblieben… Ah, ja. Ich habe nie behauptet von hier zu stammen‘ das sagte er in einem beinahe gelangweilten Tonfall. Jetzt war ich vollständig überfordert. Entweder hatte dieser Pars extreme Stimmungsschwankungen oder er war einfach verrückt. Mich wieder an das Gesagte erinnernd, wurde ich noch verwirrter. Zuerst behauptete er vom gleichen Ort zu kommen wie ich und dann doch wieder nicht. Er schien ziemlich belustigt über meine Verwirrtheit zu sein und machte keine Anstalten sich zu erklären.

Gerade als ich genauer nachfragen wollte flog ein heller Gegenstand an mir vorbei und landete dicht neben dem Pars im Gras. Dieser war kurz aufgeflattert wie ein Vogel, trotzdem schien er sich nicht gross beängstigt davon zu fühlen. Im Gegensatz zu mir. Ich war es, denn das Ding welches neben ihm lag war ein langer aus Holz geschnitzter Pfeil, mit einer extrem scharf aussehenden, eisernen Spitze. ‚Ich fürchte das war ein Zeichen dafür, dass ich aufbrechen sollte‘ sagte der Pars und er klang beinahe bedauernd. ‚Doch keine Angst! Ich bin mir sicher wir werden unsere nette Unterhaltung fortführen können. Etwas sagt mir das war nicht unsere einzige Begegnung‘ mit diesen Worten drehte er sich um, trabte ans Ende der Lichtung und um den alten Baum herum. Unerwarteter Weise kam er nicht auf der anderen Seite wieder hervor, sondern blieb mitsamt seinen Geheimnissen verschwunden.

„Mo geht es dir gut?“, verwirrt drehte ich mich nach der Stimme um welche meinen Namen gerufen hatte. Dort stand er. Dean. Mit einem besorgten Gesichtsausdruck und einem langen Bogen in der Hand.

9. Kapitel

Freundlichkeit in Worten schafft Vertrauen. Freundlichkeit im Denken schafft Tiefe. Freundlichkeit im Geben schafft Liebe. – Laotse

 

Ich wusste nicht was ich denken sollte. Wohin war der Pars verschwunden? Was machte Dean hier? Wieso hatte er einen Bogen dabei?

„Mo geht es dir gut?“, mir viel erst jetzt auf, dass Dean die Frage nun zum zweiten Mal stellte. „Ja, ja“ antwortete ich  in Gedanken versunken. Er musste wohl bemerkt haben, dass ich nicht ganz bei ihm war, denn er ging vor mir in die Knie und schaute mir ins Gesicht. „Was ist hier vorhin passiert?“, seine Stimme klang besorgt, aber sie hatte auch einen Unterton den ich nicht deuten konnte. Ja, was war hier passiert? Ich wusste es selbst nicht recht. Man konnte schliesslich schlecht einfach sagen; ein Pars hat mal kurz vorbeigeschaut und ist dann jedoch gegangen als du mit einem Pfeil auf ihn geschossen hast.

„Was hat er dir erzählt?“, langsam schien Dean ungeduldig zu werden, doch das täuschte wohl, schliesslich wusste ich, dass Dean sehr geduldig und verständnisvoll war. Ich kannte den netten, abenteuerlichen Typ, der mit einem mitten in der Nacht einen Ausflug in den Wald machte.  Doch war das auch alles das man über ihn wissen sollte?  Er war inzwischen wieder aufgestanden und streckte mir die Hand hin, um mich auf die Füsse zu ziehen. Es wurde immer komischer, er nahm es viel zu gelassen, dass erst vor kurzem noch ein unbekanntes, beinahe übernatürliches Wesen  hier gesessen  hatte. Irgendetwas schien er vor mir zu verheimlichen. Misstrauisch nahm ich seine Hand und stand auf.

 „Weist du, was für ein Tier das war?“, meine Frage war zögerlich gekommen und in mir flammte die Hoffnung auf, dass er eine einfache, plausible Antwort geben würde, die am besten auch noch gleich den Pars erklären würde. Dean seufzte. „Vielleicht wäre es besser wenn wir das Zuhause klären.“ Jetzt war es offensichtlich. Er verheimlichte mir definitiv etwas. „Was weisst du?“, meine Stimme klang ruhig, beinahe zu ruhig. Sie gab nichts preis von dem Chaos welches in mir herrschte.

„Wirklich Mo, wir sollten nach Hause gehen, es wird gleich dunkel.“  Mir wurde erst jetzt bewusst, dass es schon so spät geworden war, doch ich konnte nicht einfach nach Hause. Nicht mit so vielen Fragen die nach Antworten schreiten. „Beantworte zuerst meine Frage“ ich war instinktiv ein paar Schritte zurückgewichen.

Er seufzte wieder, „Ok… Also es gibt nicht nur eine Welt.“ An seinem Zögern war zu erkennen dass er meine Reaktion abwartete. Doch ich wusste nicht wie ich reagieren sollte, so sagte ich schlicht „Weiter?“ – „Es gibt Durchgänge die von der einen in die andere Welt führen. Dieses Tier, der Pars, kommt von einer dieser Welten. Von derselben wie ich.“ Ich schluckte. Dean kam nicht von dieser Welt. Auch wenn ich tief in meinem Innern gewusst hatte, dass er nicht hierher gehörte, war es doch etwas anderes, wenn er es laut aussprach.

 „Woher genau?“ – „In eurer Sprache nennt man unsere Welt Nairos. Auch wenn gewisse Dinge in ihr, eurer Welt stark ähneln, ist sie dennoch anders. Dort gibt es Kreaturen die du dir in deinen schlimmsten Träumen nicht vorstellen könntest“, ein bitteres Lachen seinerseits erklang, bevor er fortfuhr, „Es gibt nur vereinzelte Durchgänge zwischen den Welten, man muss wissen wo sie sind um sie zu finden. Normalerweise bleiben sie auch unentdeckt, doch in letzter Zeit beginnen die Wesen beider Welten dazwischen hin und her zu wechseln. Der Pars zum Beispiel. Er hatte hier nichts verloren und trotzdem…“, er schien wieder für kurze Zeit in Gedanken versunken zu sein, blickte dann jedoch wieder auf und sagte in einem nichtssagenden  Tonfall: „Jetzt weisst du alles, lass uns nach Hause gehen.“  Da ich nichts anderes wusste, willigte ich ein.

Erstaunlicherweise war es nur eine kurze Strecke bis zum Pfad, der durch den Wald und Richtung Zuhause führte. Nachdem wir diesem ein gutes Stück gefolgt waren, mussten wir kurz durch ein Gebüsch klettern und standen mitten auf der Wiese vor unserem Haus. Gedanklich schlug ich mir gegen den Kopf. Hätte ich gewusst, dass ich so Nahe war, wäre ich längst nach Hause gekommen. Eine plötzliche Erschöpfung übermannte mich. Ich bemerkte, wie sich die Strapazen des Tages langsam zeigten und ich wollte nur noch in mein Bett fallen und schlafen. Auch wenn mir aufgefallen war, dass Dean noch mit mir über das Geschehene sprechen wollte, liess ich ihn einfach stehen und ging in mein Zimmer. Kaum war mein Kopf auf mein Kissen gefallen, so war ich auch schon eingeschlafen.  

 

 

10. Kapitel

Trauriger wäre das Leben und trister, ohne die Liebe und Treue der Geschwister. - Unbekannt

 

Als ich aufwachte spürte ich eine tiefe Unruhe. Was hatte mich geweckt? Draussen war es noch dunkel, nur der Mond warf seinen Lichtschein in mein Zimmer. Ich stand auf und folgte seinem Strahl zu meinem Fenster. Kühle Nachtluft schwappte mir entgegen als ich es öffnete. Gierig sog ich sie tief in mich hinein. Sie hatte etwas an sich, dass mich beruhigte und klar denken liess. Ein weiterer tiefer Atemzug. Ich schloss die Augen. Gerüche der Nacht sickerten durch mein Bewusstsein. Die Wiese unter dem Haus, der Wald mit seinen Bäumen. Mir war als würde ich den Teich riechen, mit seinen wunderschönen, roten Blumen. Auch die Tiere des Waldes, wie das Fasanähnliche Geschöpf.

Bilder der vergangenen Tage spielten sich in meinem Kopf ab. Unsere Ankunft, die Nacht am Teich, meine Begegnung mit dem Pars, das Gespräch mit Dean. Ich fing an zu verstehen was für ein Ausmass diese Geschichte annahm. Ein leises, bitteres Lachen entschlüpfte meiner Kehle. Es war keine Geschichte, es war mein Leben und auch wenn momentan alles drunter und drüber zu gehen schien musste ich versuchen den Überblick zu behalten. Auch wenn es so viele Fragen gab auf die ich keine Antwort wusste, geschweige denn eine Antwort überhaupt wissen wollte, so musste ich mich auf die Tatsachen konzentrieren.  Ein ungewöhnliches Geschöpf ist aufgetaucht und auf wundersame Weise hinter einem Baum wieder verschwunden, man erzählt mir von einer anderen Welt, du kannst Dean nicht mehr vertrauen. Diese Gedanken machte ich mir, während mein Gehirn verzweifelt versuchte zu verdrängen was der Pars gesagt hatte. ‚Ich komme vom selben Ort wie du‘, tief in meinem Gedächtnis hallten seine Worte jedoch wieder und bereiteten mir eine tiefe Unruhe, die einen in langen Nächten aufweckt und wach hält.

Ich atmete tief ein, wurde mir des Moments bewusst. Ich spürte meinen Körper, den verletzten Arm den ich mir glücklicherweise nur verstaucht hatte, meine Beine die ich mir bei dem Sturz aufgeschürft hatte, alles. Auch wenn es noch nicht einmal vier Uhr sein konnte war ich nicht müde. Die Anspannung hielt mich wach. Nach einem weiteren Atemzug öffnete ich die Augen und blickte in klare Nacht hinaus, an den scheinbar endlosen Himmel mit seinem hellen Zentrum, dem Mond. In diesem Moment war der Beschluss getroffen. Ich würde mich auf machen diese andere Welt zu finden.

Mit diesem Entschluss zog ich mich um und packte einen kleinen Rucksack. Ich stopfte wahllos Dinge hinein von denen ich glaubte sie könnten vielleicht nützlich sein. Unter anderem kamen eine Taschenlampe, Stift und Papier, eine Schnur, eine Packung Taschentücher, ein Sackmesser sowie eine alte Packung Cracker die ich noch in einer Tasche gefunden hatte zusammen. Mit wenigen Schritten ging ich zum Fenster und schloss es, meinen Blick über das Zimmer schweifend schwang ich mir den Rucksack über die Schultern und schlüpfte in meine Schuhe. Ich hatte keine Ahnung auf was ich mich hier einliess und mich durchzuckte ein Moment des Zweifels. Tat ich hier wirklich das Richtige? Schnell verwarf ich den Gedanken wieder, was konnte schon gross passieren. 

Wenn ich mich da mal nicht täuschen würde, denn mein Entschluss würde Folgen ungeahnten Ausmasses haben. Doch um das machte ich mir zu diesem Zeitpunkt keine Gedanken mehr, denn ich lief mit festen Schritten auf die Zimmertür zu.

Leise schlich ich mich in den Gang hinaus, Richtung Treppe. Von Dachfenstern schien der Mond hinein und leuchtete mir genug Licht, dass ich den Weg erkennen konnte und in nichts hineinlief, solange ich bloss niemanden weck… „Wohin gehst du?“, ich zuckte zusammen und hätte beinahe einen Schrei ausgestossen. Im ersten Augenblick dachte ich es wäre Dean der mich aufhalten wollte. Wenn ich daran zurück denke, dann macht es keinen Sinn, denn die liebliche, feine Stimme konnte nur einer Person gehören. „Alice, du hast mich erschreckt!“ Meine Schwester trat ganz aus dem Schatten ihres Zimmers, sie musste die Tür lautlos geöffnet haben, auch wenn sie jetzt beinahe schuldbewusst aussah konnte ich ihr die Neugier von der Nasenspitze ablesen. „Ich konnte nicht schlafen“, erklärte sie sich, “und dann hörte ich eine Tür aufgehen und Schritte im Gang und ich wollte sehen wer es ist“ Eine Pause entstand in der sie mich musterte. Sie kam mir viel älter vor als sie mich so ansah und feststellte: „Du gehst weg.“ 

Eine weitere Tür öffnete sich und Panik stieg in mir hoch. Alice und ich huschten schnell zurück in ihr Zimmer. Ich wagte es kaum zu atmen als ich so da stand, sie fest an mich gedrückt. Mein Herz pochte wie wild als sich Schritte näherten. Mir war, als würde die Zeit still stehen als die Schritte direkt vor dem Zimmer hielten. Im Bruchteil einer Sekunde kamen mir hunderte Fluchtpläne in den Sinn. "Plant ihr hier irgendwelche geheimen Verschwörungen?“, ertönte Olivers belustigte Stimme.

„Mein Gott Oliver musst du uns so erschrecken? Zuerst Alice und jetzt du, habt ihr das abgemacht? Von wegen, ich schmiede Geheimpläne…“, sagte ich immer noch mit dem Schreck in den Gliedern. Zweimal in einer Nacht von Geschwistern erschreckt  zu werden war einfach zu viel. „Na klar, siehst du Ali, die mühevolle Planung hat sich gelohnt“, sagte er schmunzelnd, worauf meine Schwester ein kurzes, niedliches Kichern ausstiess. „Jetzt aber ernsthaft, wohin gehst du?“ fragte mich nun auch Oliver. „Es ist kompliziert…“, sagte ich ausweichend, „ ich muss etwas tun und ich werde eine Weile weg sein.“ – „Machst du etwa ein Abenteuer?“, fragte Alice jetzt voller Elan. „Nein, nicht so recht…“ – „Wir kommen natürlich mit, nicht wahr Oliver? Komm wir müssen uns schnell anziehen!“ – „Aber natürlich“, sagte mein Bruder grinsend, „es kann ja nicht sein, dass Mo den ganzen Spass alleine hat.“

Ich seufzte, meine Meinung war anscheinend nicht mehr gefragt, denn sie waren ohne eine Antwort abzuwarten in ihre Zimmer gegangen um ihr Zeug zusammen zu suchen. Auch wenn ich mich natürlich über Gesellschaft freute, so wäre es mir doch lieber gewesen, wenn ich die beiden Daheim gewusst hätte. Ich hatte das ungute Gefühl es würde ein gefährliches Abenteuer werden.

 

11. Kapitel

Nicht, was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser Schicksal aus.- Marie von Ebner-Eschenbach

 

 

Zu dritt schlichen wir uns aus dem Haus. Es hatte keine weiteren Zwischenfälle gegeben und ich atmete erleichtert auf, als wir die Wiese hinter dem Haus erreicht hatten. Auf dem Weg, den ich mir glücklicherweise gemerkt hatte, erzählte ich den beiden was heute geschehen war. Auch wenn ich einige Dinge weg liess waren sie überwältigt von dem was sie hörten. Ich war froh, dass sie mir zu glauben schienen und nicht anfingen meinen Geisteszustand zu bezweifeln, das hatte ich in der letzten Zeit schon genug oft selber getan. Zuerst war es für mich  eine Erleichterung als Alice mir erzählte, dass auch sie komische Dinge im Wald gesehen hatte, jedoch im nächsten Moment lief mir ein Schauer über den Rücken.

 „Gestern Nachmittag ging ich in den Wald“, erzählte sie uns, „und während ich dem Lauf eines kleinen Baches gefolgt bin, fiel mir auf einmal ein riesiger Schmetterling auf. Er war so anders als jeder Schmetterling den ich je gesehen hatte. Seine blauen Flügel schimmerten in der Sonne wie viele kleine Spiegel und die Farbe erinnerte mich an das grosse, weite Meer“, während ihrer Erzählung lächelte sie gedankenverloren, „Ich bin ihm gefolgt und lief dabei immer tiefer in den Wald hinein. Es war als wollte der Schmetterling mich irgendwo hinführen, denn er flog nie aus meiner Reichweite. Als ich schon ein gutes Stück gegangen war, kam auf einmal Achat angerannt. Er knurrte den Schmetterling laut an und umkreiste ihn. Nach kurzer Zeit flog dieser dann davon. Irgendwie fand ich das Schade, ich hätte so gerne gewusst wohin er gegangen wäre, aber so folgte ich Achat zurück zu unserem Haus, zum Glück zeigte er mir den Rückweg, ansonsten hätte ich wohl ewig suchen müssen.“ Sie sagte das so sorglos und mit einem breiten Lächeln, dass ich nur zurück Lachen konnte und ihr mit der Hand über den Kopf strich. Es schien ihr nicht aufzufallen wie sehr diese Hand zitterte, auch Olivers besorgten Blicke blieben ihren Augen verborgen. Jetzt war ich fast wieder froh sie mitgenommen zu haben, keine Ahnung was passieren konnte wenn sie noch länger hier blieb.

Jeder in seinen Gedanken versunken pirschten wir durchs Unterholz. Nach kurzer Zeit stiessen wir auf die Lichtung. Der Mond beschien sie hell und man hörte einen leichten Wind durch die Blätter der Bäume rauschen. Suchend blickte ich mich um und sah den alten Baum auf Anhieb. Doch der Baum war nicht das einzige was ich sah. Mitten auf der Wiese lag eine einzelne, wunderschöne Feder. Erfreut lief ich zu ihr hin, sie war ein weiterer Beweis dafür, dass ich mir nicht alles eingebildet hatte. Vorsichtig hob ich sie hoch, sie war stabiler als ich gedacht hatte. Ihr helles, gegen Ende hin dunkleres Rot wurde immer wieder von feinen braunen Sprenkeln unterbrochen und sie war weicher als ich es mir je hätte vorstellen können. Wenn sich schon diese einzelne so anfühlte, wie müsste es dann erst sein mit der Hand über der Pars zu streichen? Er hatte gesagt, wir würden uns wieder sehen, ob es wohl stimmte? Ich würde es einfach auf mich zukommen lassen und mich jetzt darauf konzentrieren in seine Welt zu gelangen.

 Meine Geschwister waren inzwischen schon auf den Baum zu gelaufen, blieben jedoch einige Meter davor stehen. Sie starrten die grossen Kratzspuren an und wussten nicht was sie tun sollten. Mit sicheren Schritten umrundete ich den Baum und erwartete vor einer Tür oder so zu stehen. Doch, da war nichts, sosehr ich auch versuchte etwas zu erkennen, es nützte nichts. Enttäuscht drehte ich mich um und wollte wieder zurückgehen, als ich auf einmal etwas aus dem Augenwinkel sah. Langsam drehte ich mich wieder um, und da war sie. Eine hauchdünne, von feinen Linien unterbrochene Tür, die schwach im Mondlicht schimmerte. Ihr Material glich Glas, doch musste es viel dünner sein, so etwas Ähnliches hatte ich noch nie gesehen. Auf der anderen Seite konnte man verzerrt den Wald erkennen und an ihren Rändern wurde sie von dem alten Baum und Ästen abgetrennt, welche an gewissen Stellen bis zum Boden reichten.  Sobald ich einen Schritt zur Seite machte war überhaupt nichts mehr von ihr zu erkennen, kein Wunder, dass ich sie im ersten Moment nicht gesehen hatte.

„Oliver, Alice“, rief ich die beiden leise zu mir, „ich habe das Tor gefunden.“ – „ Wow, es ist unglaublich“, flüsterte mein Bruder. Langsam trat er davor, streckte die Hand aus und berührte die Tür. Zuerst streifte er sie nur flüchtig, danach stiess er langsam mit einem Finger hindurch und er verschwand, sein Finger schien sich einfach in Luft aufzulösen. Als er ihn wieder zurück zog schloss sich die Tür wieder, wie eine Flüssigkeit.

Stumm sahen wir uns an. Sollten wir es wirklich wagen? Schliesslich hatten wir keine Ahnung was uns auf der anderen Seite erwarten würde. Doch wenn wir hier blieben, fänden wir es nie heraus. „Seit ihr bereit?“, fragte ich die anderen. Als diese nickten, traten wir gemeinsam durch die Tür und mitten ins Herz von Nairos.

  

12. Kapitel

 

The problem is, you  think you have time. - Buddha

 

Hätte man nur einen kurzen Blick auf das Bild geworfen, das sich uns bot, käme kaum jemandem der Gedanke, es könnte nicht aus unserer Welt stammen. Wir waren mitten in einem Wald gelandet und rings um uns herum standen Bäume. Fichten, Tannen, Buchen und was weiss ich noch für welche. Auch hier war es Nacht und am Himmel erstreckte sich ein Meer aus Sternen, bloss unterbrochen von der schmalen Sichel des Mondes. Alles hätte sich auch in unserer Welt abspielen können… Hätte, denn der auffälligste Unterschied waren die Geräusche. Wo man bei uns vielleicht eine Eule oder Zikaden  hören würde,  zwitscherte dort ein fremder Vogel eine unbekannte traurige Melodie und in der Ferne heulte ein Tier, in dessen Nähe man sich lieber nicht befinden möchte. Jetzt wo man sich auf die Details fixierte fielen auch weitere Unterschiede auf. Den einen oder anderen eigenartigen Baum oder die komischen Pflanzen die sich an ihnen hoch rankten. Die vielen blühenden Blumen, welche sich nicht daran zu stören schienen, dass es mitten in der Nacht war und es definitiv in unserer Welt nicht gab. Die vielen kleinen Augen die jeden unserer Schritte aus den Büschen aus verfolgten.

Alice war es, die uns aus der Starre riss. „Was für ein unglaublicher Ort“, murmelte sie und machte langsam einige Schritte vor. Ich konnte ihr nur zustimmen, es war kaum zu glauben, dass ein Ort wie dieser wirklich existieren konnte. „Und wohin nun?“, mit dieser Frage sprach mein Bruder mir aus der Seele. Um ehrlich zu sein, ich hatte keinen Plan. Das einzige worüber ich mir Gedanken gemacht hatte war, dass ich unbedingt hierhin kommen wollte und jetzt wo ich hier war wusste ich nicht mehr weiter.  Doch eigentlich gab es nur zwei Möglichkeiten. Zurück oder weiter. Und da Aufgeben nach so kurzer Zeit nicht in Frage kam, also nach vorne. „Okay, lasst uns versuchen einen Pfad zu finden, dann schauen wir weiter“, mit diesen Worten schritt ich vor und hoffte, dass sie meine Unsicherheit nicht gemerkt hatten.

Zuerst merkte ich die Veränderung nicht. Und auf den ersten Blick tat sich auch nichts. Klar, die Umgebung änderte sich ein bisschen. Manchmal mussten wir uns durch Gebüsch zwängen, dann kamen wir wieder über Lichtungen, manchmal standen die Bäume so dicht, dass ich Angst hatte ob Oliver auch durchkommt und später liefen wir einen Umweg, da ein riesiger Stein uns den Weg versperrte. Nach einigen Stunden laufen, fiel mir auf, dass die Geräusche sich wandelten. Zu den Waldgeräuschen, an welche ich mich schon langsam gewöhnt hatte, kam jetzt ein stetes langsam lauter werdendes Rauschen. Als wir weitergingen hörten es auch meine Geschwister. So verging keine halbe Stunde bis sich die Bäume etwas lichteten und wir vor einem Fluss standen. Er war etwa 50 Meter breit und schien sich äusserlich nicht von einem Fluss aus unserer Welt zu unterscheiden. Langsam begann ich die Strapazen des langen Laufens zu spüren und sehnte mich danach eine Pause zu machen. Meinen Geschwistern schien es ähnlich zu gehen, Olivers Haar fiel ihm strähnig in die Augen und er machte sich nicht einmal die Mühe mehr es weg zu streichen. Alice gähnte seit einer Stunde, auch wenn sie versuchte es zu verstecken merkte man, dass sie ziemlich müde war. „Lasst uns eine Pause machen“, sprach ich also.

 Wir setzten uns ein gutes Stück vom Ufer weg auf den Boden. Es war eigentlich ein schönes Plätzchen, der Boden war mit silber- grünem Moos bedeckt und an einem etwas grösseren Stein, konnte ich mich anlehnen. Mein Blick wanderte an den Himmel. Ein Teil der Sterne war jetzt von Wolken bedeckt und da auch die Mondsichel teilweise verdeckt wurde, war es schwer die Umgebung genau zu erkennen. Noch kein blauer Schimmer,  kein heller Strahl der den Morgen ankündigen könnte und doch schienen es nur noch wenige Stunden bis zum Anbruch des nächsten Tages zu sein. Mein Körper sehnte sich nach Schlaf, meine Beine waren so schwer ich konnte sie keinen Zentimeter bewegen und meine Handflächen waren aufgeschürft, da ich mich nachdem ich über eine Wurzel gestolpert war, an einem Baum festhielt. Zwar war ich nicht hingefallen, dafür brannten meine Hände jetzt. Im Allgemeinen machte sich der Stress dieser langen Nacht bemerkbar und meine Augenlider wurden schwer. Ich warf einen Blick zu meinen Geschwistern. Alice lag wenige Schritte neben mir am Boden und schlief schon seit zehn Minuten. Auch Oliver hatte Mühe wach zu bleiben und legte sich ebenfalls auf das weiche Moos. ‚Okay, ich schliesse nur kurz die Augen‘, dachte ich mir und war kurz darauf tief und fest eingeschlafen. So fing ich an zu träumen und bemerkte nichts von dem Unheil das immer näher kam.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.08.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für dich, dass du die Freude an Büchern nicht verlierst und nie vergisst etwas gegen das Leid anderer zu tun, wenn sie zu schwach sind um sich selbst zu wehren.

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