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„Die Welt ist eine magische Welt“, dachte sich Jonas Klank und blickte auf seinen neuen Kindle. Solltest du nicht wissen was ein Kindle ist: das ist so ein neumodisches Lesebuch mit elektronischer Tinte, ein kleiner Lesecomputer mit A5 großem Display, wo man Bücher aus dem Internet draufladen kann. Aber das war nicht das einzige Hightech-Gerät, das Jonas´ Zimmer zu einem Computerschauraum aufwertete. Jonas hielt also seinen anthrazitfarbigen Lesecomputer in Händen und schaute neugierig auf das Display. Er hatte sich eben ein Buch aus dem Internet heruntergeladen und keine fünf Sekunden später erschien der Titel auch schon zuoberst auf dem Display. Mit einem schwarzen Strich unterlegt stand auf grauem Hintergrund: „Die Popcornschlange“, von Thorsten Peter. Er drückte mit seinem kleinen Finger die winzige quadratische Taste am unteren Rand des Kindle und lehnte sich mit zufriedenem Grunzen in den schweren Lederstuhl zurück. „Wow, sogar mit Bild“, freute er sich jetzt wie ein kleines Kind über eine Popcorntüte auf der eine lachende Schlange abgebildet war. Nachdem er zweimal die längliche Taste auf der rechten Seite gedrückt hatte, kam ... erneut das Bild der Popcornschlange. Komisch. Also, nochmals drücken: leeres Display. Nochmal: Impressum. Nochmal: Verlagsdaten.
„Was soll das, ich will endlich mein Buch lesen, verdammt.“ Ungeduldig drückte er die längliche Taste. Sein klobiger Daumen hinterließ dabei einen Abdruck am Display.
„Ah, jetzt geht´s lohos“, stimmte er schlagartig gutgelaunt einen Fußballsingsang an. Sein Zimmer aufräumen, so wie es sich Carina seine Mutter, gewünscht hatte, bevor sie einkaufen ging, das konnte warten. Hausaufgaben? Ja, die auch. „Lesen bildet“, nuschelte Jonas und strich über sein braunes, schulterlanges, fettiges Haar. Schon den ersten Satz, der unter der Kapitelüberschrift auf dem Display stand, fand er irgendwie inspirierend: ›Als Jana an diesem Sonntagmorgen aufwachte, wusste sie gar nicht, was für ein aufregender Tag auf sie wartete.‹ Jonas las den Satz noch einmal und ließ ihn einen Moment lang auf sich einwirken. Er starrte dabei auf die riesige FC-Bayern Fahne, die über seinem Bett hing. Dann schwenkte sein Blick langsam zu seinem Idol - Mario Gomez. Der klebte lebensgroß lächelnd auf der Zimmertüre. Das wäre doch mal was, dachte Jonas, einen ereignisreichen Tag erleben, nicht immer nur hier im Zimmer hocken und auf das Essen warten. Apropos Essen, wo blieb Carina eigentlich so lange, und was stand heute auf dem Menüplan? Kurz überlegte er in die Küche zu gehen und auf der weißen Magnettafel, die am Kühlschrank haftete nachzulesen. Seine 120 Kilo befahlen ihm: sitzen bleiben und abwarten. Jede unnötige Bewegung könnte den Tod bedeuten und wer stirbt schon gerne - mit 20 Jahren. Ok, dann eben nicht, sinnierte er und griff nach der Fernbedienung. Der Massagestuhl sollte ihm während des Lesens den Rücken knuddeln. Carina hatte ihm den Stuhl vor eineinhalb Jahren zu irgendeinem Anlass geschenkt. Welcher, war ihm längst entfallen. Carina dachte sich oft Anlässe aus, um ihren ›Spatz‹ zu beschenken, wenn er wieder einmal traurig war. Freunde wären im lieber gewesen. Na ja, wenn man sonst alles haben kann, dachte Jonas und streichelte über seinen XXX-L Bayern-Sweater, natürlich in rot/weiß.
„Ich habe ja dich, mein Zimmer, den FC-Bayern und den MARIO, wer hat das schon“, hatte er einmal lachend zu Carina gemeint, als sie am Herd stand und seine Lieblingsspeise, Wiener Schnitzel XXL mit Pommes zubereitete. Sie hatte ihn damals nur säuerlich angelächelt. In jenen traurigen Momenten fragte er sich, wer Vater wohl mehr vermisste: er oder Carina. Doch diese Gedanken waren nur von kurzer Dauer. Außerdem kannte er seinen Vater überhaupt nicht und Carina wollte nicht über ihn sprechen.
„Jana ...“, murmelte er nun und sah kurz auf das Display. Dann schweifte sein Blick nachdenklich über den rot/weißen Bayern Teppich, der seinem Zimmer Stadion Atmosphäre verleihen sollte, wenn er die Spiele der Bayern via Satellit im TV verfolgte. Die digitale Dolby-Surround Anlage trug das ihre dazu bei. In der Allianz Arena war er ja noch nie. Zu viele Leute, zu enge Sitze und von Bergheim, seinem Wohnort in der Steiermark nach München waren es über 300 Kilometer. Das war zu weit weg von seinem Zimmer.
„Shiatsu - Massage, hm“, schmunzelte Jonas und drückte erst die Starttaste, dann die für Liegeposition, die Auswahltaste für Shiatsu und mit geschlossenen Lidern, Jana zärtlich an die Brust gedrückt wartete er darauf, dass der Stuhl seine Arbeit aufnahm. Carina hatte ihm, als er den Stuhl zum ersten Mal in Betrieb nahm, gut gelaunt erklärt: „Weißt du, Spatz, im Inneren dieses Stuhls sitzen sechs kleine Koreaner, die haben Kugelhandschuhe an und knuddeln dir gleich ganz toll den Rücken.“
Die Mechanik hinter dem schwarzen Leder jaulte nun gequält auf, als sie versuchte, sich rollend vom Lendenwirbelbereich bis zum Nacken hochzuarbeiten. Jonas ignorierte die Geräusche und griff beherzt nach einer Packung Eistee mit Maracuja-Geschmack.
„So, Jana, jetzt zu uns beiden, wie geht’s weiter.“
Eine Eilmeldung, die plötzlich via Newsticker über den riesigen Fernsehschirm an der Wand lief, ließ ihn Jana vergessen, ja sie wäre ihm beinahe aus der Hand gefallen. Ein auffälliges Merkmal an Jonas Klank waren seine froschgrünen Augen. So ein intensives Grün ist eine Seltenheit, hatte der entbindende Arzt vor zwanzig Jahren zu Carina Klank gemeint. Jetzt waren diese froschgrünen Augen auf maximale Lichtdurchlässigkeit geweitet und Jonas Mund stand so weit offen, man hätte ein Wienerschnitzel XXL quer hineinschieben können.
„Mario Gomez vom FC-Bayern rät Spielern die homosexuell sind sich zu outen.“
Nachdem die Gesichtsmuskeln Jonas Kinnlade wieder in eine halbwegs geschlossene Position gebracht hatten, vergaß er auf seine 120 Kilo und wuchtete sich aus dem Lederstuhl. Nicht das ihn Homosexualität erschrecken würde, er wusste das Mario schwul war. Aber das er sich outete, dass er sein Geheimnis verraten hatte und sich sowie Jonas dadurch in arge Bedrängnis bringen würde ... warum, Mario, warum nur. Er wankte zwei Schritte zu seinem Computertisch. Durch seine Fledermausohren donnerte das Blut wie Wasser, das über die Niagarafälle stürzt. Der Bürostuhl ächzte, als er sich auf ihn fallen ließ. Mit zittrigen Fingern tippte er sein Passwort in die Tastatur. Der Desktop erschien und zeigte..., einen charismatischen Mario Gomez in Jubelpose. Jonas schrie mit weinerlicher Stimme: „Nein ..., nicht Mario, das ist ..., nicht Mario, das gibt´s doch gar nicht, ich mach die fertig, wenn das eine Falschmeldung ist, die Schmierfinken mach ich platt ... verdammt!“
Zu seinem Entsetzten war auf allen Online-Sportportalen dieselbe Meldung zu lesen, Irrtum ausgeschlossen. Jonas schnappte nach Luft, doch seine Lunge verweigerte die Aufnahme. Verzweifelt versuchte er tief einzuatmen, doch es rasselte nur, wie bei einem Wagen der mit Schneeketten eine Asphaltstraße befährt. Seine fleischigen Finger tasteten zittrig über den Computertisch, wischten Tastatur und Maus zu Boden und krallten sich einen rot/weiß gefärbten Inhalator, der rechts vom Monitor stand. Gierig schob er das Mundstück zwischen seine wulstigen Lippen. Hektisch drückte er den Auslöser. Klack ..., klack ..., hust. Nichts. Klack, klack, klack ..., hust. Leer - froschgrünes Entsetzen.
„Carin ..., hust ..., Ca ..., hust ..., Ma ...“, ein letztes, rasselndes Geräusch, dann sackte der hünenhafte Jonas zu Boden. Er schlug nicht allzu hart auf, doch ohne sein Asthmaspray würde das nicht lange von Bedeutung sein. Kraftlos ruderte er mit den Armen, lag da wie ein gestrandeter Wal und schnappte lautlos nach Luft.
Plötzlich flog die Zimmertüre auf und Carina Klank schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
»Jonas ..., um Gottes Willen, was ..., wo...« Sagen wir Intuition, nennen wir es Routine, Carina sah den Inhalator neben Jonas Hand liegen und wusste: der ist leer. Zielsicher öffnete sie die Tür zum Kleiderschrank und griff genauso sicher nach einem neuen Inhalator. Dass auch der rot/weiß gefärbt war, Nebensache. Sie steckte ihrem Sohn das Mundstück zwischen die Lippen, betätigte den Auslöser und schickte den lebenspendenden Sprühnebel in Jonas Lunge. Nachdem dieser unter heftigen Hustenkrämpfen ein paar Mal tief Luft geholt hatte, zitterten seine leichenblassen Wangen von einem Weinkrampf geschüttelt. Seine Fingernägel krallten sich in das Bayern Emblem des Teppichs, sein verstörter Blick starrte auf den Newsticker, wo nach wie vor diese schreckliche Meldung über seinen Mario durchlief.
Morgen im Gymnasium werden sie wieder über mich herfallen, mich so behandeln, wie jeden Tag, mich Fettsack nennen, mich Wal nennen und mit ihren ausgestreckten Fingern auf mich zielen, als wären es ihre Pistolen. Nur mit dem Unterschied, dass sie morgen auch meinen FC-Bayern und Mario durch den Dreck ziehen werden, weil Marios Outing sicher nicht unbemerkt an ihnen vorbeigeschlüpft war. Verdammt ..., wäre Carina doch nur etwas später gekommen, dachte Jonas verzweifelt.
»Jonas, mein Spatz. Hab ich dich verletzt?«
Langsam drehte er seinen wuchtigen Kopf. Durch einen Tränenvorhang sah er seine Mutter an, hustete ein letztes Mal und wimmerte: „Nein Mama, du nicht. Du hast mich noch nie verletzt.“

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Texte: Stadlmann Alfred
Bildmaterialien: Stadlmann Alfred
Tag der Veröffentlichung: 07.02.2012

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