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Todesangst!


Ich hatte Angst. Nein, wenn ich ehrlich war, ich hatte eine Scheißangst, als er sich nun über mich beugte. Meine aufkeimende Panik schien ihn zu amüsieren. Er war groß und schwer. Seine schwarzen Haare klebten gut geölt an einem wuchtigen Schädel. Eine lange Narbe, die quer über seiner rechten Wange verlief, zeugte davon, dass es nicht die erste Auseinandersetzung seines Lebens war. Der spitze Gegenstand in seiner linken Hand wirkte bedrohlich und mir war sonnenklar, er hatte vor ihn zu verwenden. Das entschlossene Funkeln in seinen Augen ließ jedwede Hoffnung auf Rettung in mir schwinden. Es gab kein Entrinnen mehr. Dabei hatte mein Tag so wunderbar begonnen.

»Rrrrr ..., deine Miezekatze ist wach und sie will spielen.«
Sandra, meine Freundin, hatte ein Faible für körperliche Ertüchtigung am Morgen. Ich blinzelte unter meinem Polster hervor. Als ich mich bewegte, war es um mich geschehen. Sandra hechtete auf mich. Unser Ikea Bett Heimdal hielt dem hinterlistigen Angriff stand. Wir wählten es damals aus, weil es einen sehr stabilen Eindruck machte. Die Stahlstreben am Kopfende des Bettes waren auch für Fesselspielchen hervorragend geeignet. Sandra begrub mich unter sich. Ein schönes Gefühl. Sanft schnurrend knabberte sie an meinem Ohrläppchen.
»Mieze will spielen, rrrrr ...«
»Sandra, Schatz, ich bin müde, lass mich noch ein wenig schlafen.«
Ich wusste, es machte sie rasend, wenn ich mich ziere.
»Komm schon, mein Katerchen! Schlafen kannst du später auch noch, mich juckt mein Fell.«
Ich drehte mich auf den Rücken.
»Ach, was du nicht sagst, wo ist denn dein Fell? Ich sehe nur eine nackte Katze, aber die, sieht verdammt scharf aus.«
Außerdem sah ich zwei elendslange Beine, die mich gleich umschlingen und zwei Brüste, die mir die Luft zum Atmen nehmen würden. Aus zwei dunkelgrünen Augen schrie die Geilheit nach Freiheit.
»Na gut, jetzt erhoffe ich mir aber einiges, Fräulein Kleinert!«
Ich dürfte Sandra mit dieser Aufforderung erregt haben. Sie wechselte plötzlich die Tierart.
»Mach mir den Hengst, yihaa!«
Sie riss mir die Decke weg, und bevor ich „brrrr...“ sagen konnte, saß sie schon auf mir. Sollte ich es wirklich zulassen, von einer Frau dominiert zu werden, ihr die Rolle des Alphatieres zu überlassen? Nach dreißig Minuten wusste ich die Antwort: Ja ich soll! Erschöpft, mit einem breiten Grinsen stand ich unter der Dusche. Das warme Wasser berieselte meinen geschundenen Körper. Zwei schlanke Arme mit feingliedrigen Fingern legten sich um meine Taille. Sandra presste ihre großen weichen Brüste an mich. Mein Rücken sah aus, als hätte ich am Großmast eines Piratenschiffes gefesselt meine wohlverdiente Strafe erhalten.
»Sorry Schatz, ich hab wohl etwas die Beherrschung verloren.«
»Das kann man wohl sagen. Wäre ich Bademeister und müsste zur Arbeit, hätte ich vermutlich ein Problem. Wie sollte ich den Damen erklären, wer ihren Eincremer Nummer eins so zugerichtet hat? Und was wären wohl die Konsequenzen für diese Frau, die den Adonis des Freibads so zerschunden hat?«
»Adonis?«
»Ja, natürlich! Wie sonst könnte man einen Mann mit einem so begnadeten Körper bezeichnen?« Ich stellte mich in Position. Wie eine Statue von Michelangelo in Stein gemeißelt stand ich da, das Wasser lief über meinen durchtrainierten Körper. Spätestens in diesem Augenblick hätte jeder Bodybuilder weinend die Bühne verlassen. An Selbstvertrauen mangelte es mir nie und so erklärte ich Sandra prahlerisch meine anatomischen Vorzüge.
»181 cm geballte Energie, 72 kg reine Muskelmasse, kein Gramm Fett, ein straffer Arsch, mit dem ich Walnüsse knacken könnte, ein makelloses Gesicht, Augen so blau wie die Adria, Haare schwarz wie Ebenholz ...«
»Eine Nase wie das Matterhorn«, kicherte Sandra plötzlich hinter mir.
Ich drehte mich um und der warme Strahl der Brause traf sie mitten ins Gesicht. Sie lachte jetzt so heftig, dass kleine Wasserfontänen aus ihrem Mund auf meine Brust spritzten.
»Irgendeine Kleinigkeit hast du doch immer an mir auszusetzen«, sagte ich schmollend.
»Kleinigkeit? Ich sagte, Matterhorn!«
»Ja, ich hab dich schon gehört. Aber wie sagt ein wahres und aus dem Leben gegriffenes Sprichwort: Wie die Nase eines Mannes, so auch sein Johannes. Übrigens, du kannst ihn jetzt mal loslassen.«
Wer die Frauen kennt, der weiß, dass sie meist genau das Gegenteil von dem tun, was man(n) will. Man muss also nur die richtigen Ansagen machen. Eine Stunde später saßen wir gemütlich am Frühstückstisch. Im Radio lief When a man loves a woman. Ich blätterte in der Zeitung, als eine grauenhafte Schlagzeile meine ganze Aufmerksamkeit erregte.
»Hör dir das an! Sachen gibt es, das glaubst du nicht: Mumifizierte Leiche einer Pensionistin entdeckt ...«
»Das ist doch nicht Besonderes«, meinte Sandra wenig beeindruckt. »Heutzutage leben doch viele alte Menschen allein und oft bemerkt es niemand, wenn sie gestorben sind. Die Kinder sind anders geworden, es schert sie nicht mehr, was aus ihren Alten wird und wie es ihnen geht. Ab ins Heim damit und Türe zu. Aber im Heim findet man sie wenigstens, wenn sie sich aus ihrem tristen Dasein verabschiedet haben. Früher, in den Großfamilien, da hat noch einer auf den anderen geschaut, man hat sich Zeit füreinander genommen und sich regelmäßig besucht. Ja, die Kids von heute sind nicht mehr so. Ich möchte ihnen aber nicht die Alleinschuld dafür geben.«
Aufmerksam hatte ich dem Vortrag von Sandra gelauscht und freute mich nun, ihre These zu widerlegen. Zumindest in diesem Fall.
»Bei dieser Dame war das nicht so.«
Ich machte eine Pause um die Spannung zu steigern. Im nächsten Moment lief es mir eiskalt über den Rücken. Ich dachte an mein Treffen mit ihm. Sandra holte mich aus meiner Schockstarre.
»Was war nicht so? Jetzt komm schon Harald, lass dir nicht immer alles so aus der Nase ziehen.« Sie wurde plötzlich hibbelig.
»Also gut, hör zu. Hier steht: Die 82 jährige Pensionistin Anna S. wurde tot in ihrem Wohnhaus in Meltau, einem Dorf im Atyrau, aufgefunden. Sie lag auf dem Sofa in der Küche ihres alten Bauernhauses, gut abgedeckt mit mehreren Seiten einer Tageszeitung. Die Blätter klebten, aufgrund der schon eingetretenen Verwesung, wie eine zweite Haut am Körper der Toten. Fünfzehn bis zwanzig Hühner bevölkerten die Küche. Der Gestank war dementsprechend. Mit ein Grund für den Gestank war die Tatsache, dass Frau Anna S. laut Gerichtsmediziner schon seit drei Jahren tot war. Mit der Toten im gleichen Raum lebte Mathilde S., 55 Jahre, die Tochter der Toten. Ihre einzige Aussage zu dieser gruseligen Situation, die sie gebetsmühlenartig wiederholte, war: „Ich habe mich immer fürsorglich um meine Mutter gekümmert. Ich dachte sie schläft nur.“ Mathilde S. wurde in die Landesnervenheilanstalt Graz eingeliefert.
Die Pension der Verstorbenen wurde von Mathilde S. an jedem Ersten des Monats in Empfang genommen und über die Jahre hinweg fürsorglich verwaltet. Leider war von dem Geld nichts mehr sicherzustellen. Ein reiner Zufall führte zur Entdeckung der mumifizierten Leiche. Der Postbeamte Gerald K. hatte bei einer Briefzustellung einen eigenartigen Geruch im Hause S. wahrgenommen. Als er abends am Stammtisch darauf zu sprechen kam, wurde Polizeimeister Konrad P. stutzig. Er erinnerte sich plötzlich, wie so viele andere auch, Frau Anna S. schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen zu haben. Nachdem er tags darauf, im Zuge eines Höflichkeitsbesuches, das Ausmaß dieses Falles blitzschnell erfasste, rief er die Spezialeinheit des Landeskriminalamtes zu Hilfe. Bis auf Frau Anna S., die eines natürlichen Todes gestorben war, kam in diesem skurrilen Fall niemand zu schaden.«
Sandra hatte aufmerksam zugehört, und da ich beim Lesen eher langsam bin, war der Honig von ihrem Brot auf den Küchentisch getropft.
»Scheiße!«
»Ja genau, und gepatzt hast du auch.«
»Depp! Das muss man sich einmal vorstellen. Drei Jahre neben der Leiche der Mutter zu leben. Ist das nicht ein Wahnsinn. Was in dieser Frau wohl vorgegangen sein muss. Ganz dicht wird die bestimmt nicht gewesen sein. Aber das niemand etwas gemerkt hat? Ich dachte immer, am Land wären die zwischenmenschlichen Beziehungen noch vorhanden. Dass sich in den Städten einer nicht für den anderen interessiert, und faktisch in jeder Wohnung eine Mumie liegen könnte, das habe ich mir schon öfter gedacht, aber am Land? Sehr komisch.«
»Und du hast gesagt, die Kinder kümmern sich heutzutage nicht mehr um ihre Eltern.«
Sandra überhörte meinen Sarkasmus, sie war gerade dabei, den Tisch vom Honig zu säubern. Ich strich genüsslich Butter auf mein Brot und legte noch etwas nach.
»Hast du aufgepasst heute Morgen? Ich meine, nach diesem Bericht sollten wir uns das mit dem „Kinder-in-die-Welt-setzen“ nochmals gut überlegen.«
Sandra knallte mir das feuchte Geschirrtuch um die Ohren.
»Aua, was soll das?«
»Spar dir deine sarkastischen Bemerkungen! Über so ein ernstes Thema sollte man keine dummen Sprüche machen. Stell dir vor, ich würde sterben, und du, unselbständig wie du bist, neben mir so dahinvegetieren.«
„Ok, Plan B.“
»Aber Schatz, beruhige dich bitte. Ich bin 27 und du erst 25, ich bin schön, du noch schöner und unsere Kinder werden einmal superwunderschön. Bestimmt kümmern sie sich zuverlässig um uns, wenn wir einmal alt und grau sind.« Sandras Welt war wieder so, wie sie sein sollte. In Ordnung.
Der Kaffee schmeckte trotzdem schal, das weichgekochte Ei kam mir hart vor und der frisch gepresste Orangensaft hatte den Geschmack von Zitronenwasser. Es lag jedoch nicht an Sandras Kochkünsten, sondern an einem mulmigen Gefühl, das mich soeben befallen hatte. Ich blickte auf die Küchenuhr. Sie tickte unaufhörlich und die Zeit schien mir davonzulaufen. Kalter Schweiß trat vereinzelt aus meinen Poren unter dem Haaransatz.
»Fehlt dir was? Du siehst nicht gut aus?«
»Nein, es ist nichts. Vielleicht bin ich schon zu alt für morgendlichen Sex, zweimal hintereinander.«
Sandra zuckte die Achseln und vertiefte sich wieder im Prospekt eines ortsansässigen Lebensmittelgeschäfts.
»Ich habe bald eine wichtige Besprechung und würde mich gerne mental darauf vorbereiten, wenn du weißt, was ich meine.«
»Aber vergiss nicht, hinterher mit dem Duftspray für ein neutrales Raumklima zu sorgen. Und wenn das Klopapier alle ist, dann hänge gefälligst eine neue Rolle auf!«
Sandra konnte sehr bestimmend sein, was die Arbeiten des täglichen Lebens betraf. Sie wird sicher eine gute Mutter abgeben, irgendwann mal, dachte ich und verließ mit Zeitung und Lesebrille die Küche.
»Ist gut, mach ich. Tut mir leid Schatz, dass ich letztes Mal das Klopapier vergessen habe.«
»Ja, ja«, bemerkte sie beiläufig, ohne dabei von ihrem Prospekt hochzusehen.
Während ich raschen Schrittes dem WC entgegen strebte, musste ich an ein Gespräch mit meiner Mutter denken. Vielleicht ja deshalb, weil sie mich als Kind des Öfteren kleiner Scheißer nannte oder weil sie mich vor kurzem erst als Hosenscheißer bezeichnet hatte. Sie lachte auch noch herzhaft dabei. Ich nicht. Und das Ganze nur, weil ich mich auf einen Besuch bei ihm eingelassen hatte. Ich wusste schon lange, dass er ein böser Mensch ist. Von Mutter und Sandra, die ihn als harmlos betrachteten, ließ ich mich zu einem Besuch in seinem Haus überreden.
»Ich werde es euch zeigen, und auch ihm. Mein Mut und mein eiserner Wille sollen meine Verbündeten sein und gemeinsam, werden wir uns ihm entgegenstellen«, meinte ich noch heldenhaft in unserem Gespräch. Was für ein saublöder Spruch, aber so war ich eben, wenn mich jemand herausforderte. Hirn aus - Mund auf, fertig.

»Hast du vor, dich den ganzen Vormittag da drinnen einzuschließen?«
»Verdammt, das ist doch jedes Mal das Gleiche. Da kündige ich meine Sitzungen im Vorfeld an und dann musst garantiert du wieder auf den Thron. Es ist zum „Aus-der-Haut-fahren“. Wie wird das erst werden, wenn wir einmal Kinder haben? Ich werde ein Haus bauen, eines mit drei Scheißhäusern, damit ich bei meinen Sitzungen mehr Ruhe habe.«
»Warum so gereizt Harald? Du sitzt doch eh schon eine Viertelstunde. Wenn du noch länger brauchst, versäumst du deinen Termin.«
Jetzt war ich echt wütend. Ich wischte mir meinen Hintern aus, zog meine Hose hoch und drückte die Spülung. Das Sprayen vergaß ich, absichtlich! Sandra sollte ihre gerechte Strafe erhalten, dafür, dass sie mich an ihn erinnert hatte.
»Pfui deibl«, waren die letzten Worte, die ich von Sandra hörte, als ich zornig unsere Wohnung verließ. Meine Anspannung hatte mittlerweile einen Level erreicht, den ein geschulter Psychologe auf „Unzurechnungsfähig“ einstufen würde. Während ich den schwersten Gang meines Lebens, oder zumindest der letzten vier Jahre absolvierte, fand ich zum Glauben zurück. Gedanken an Gott und seinen eingeborenen Sohn Jesus erfüllten meine Brust, als ich an unserer Kirche vorbeischlenderte.
»Oh Herr, warum ich? Ich dachte immer du hast Jesus geschickt, um die Schmerzen und Ängste von uns Menschen zu übernehmen. Oder das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt. Ist es denn nicht eine Sünde, wenn Menschen absichtlich gequält werden? Und wenn du schon nicht ihn nehmen willst, diesen Menschenquäler, so nimm doch bitte die Angst von mir, die mich quält, oh Herr! Schicke an meiner statt deinen Sohn, Jesus. Bitte! Jetzt!«
Wurde ich langsam verrückt oder was? Angst kann ja vieles bewirken, das musste ich schon des Öfteren am eigenen Leib erfahren. Ich hätte mich von Sandra verabschieden sollen. Eine Träne benetzte mein Auge, und als sie so an meiner Wange hinunterlief und meine Lippen benetzte, oh Wunder, schmeckte sie salzig.
„Ist das ein Zeichen, oh Herr?“
„Nein“, hörte ich plötzlich eine Stimme, „das ist normal, du Trottel.“
„Alles klar, danke Herr.“

Ich war verloren. Würde ich mein scharfes Miezekätzchen je wiedersehen? Nicht einmal dieser Gedanke brachte mich auf andere Gedanken. Meine Schritte wurden schwerer, je näher ich seinem Haus kam. Ohne einen Abschiedsgruß hatte ich unsere Wohnung verlassen, ob Sandra das jemals verkraften würde? Und Mutter, auch von ihr trennte ich mich im Zorn. Na gut, sie hat mich ja ausgelacht. Das konnte ich so nicht hinnehmen.
Also ging ich und drückte die Haustüre etwas fester ins Schloss. Dass dabei eines ihrer Lieblingsbilder zu Bruch ging war doch nicht meine Schuld, oder?

Vor mir tauchte sein unseliges Haus auf. Wie oft hatte ich mir geschworen, nie mehr um diese Ecke zu gehen. In jungen Jahren war ich oft hier vorbeigegangen und hatte die wildesten Geschichten über ihn gehört. Er - soll ein sadistischer Peiniger sein, dem es Spaß macht, Menschen Schmerzen zu bereiten. Er - soll sowohl Kinder als auch Erwachsenen das Fürchten gelehrt und viele von ihnen zum Weinen gebracht haben. Er - soll das personifizierte Böse sein und, um das nicht auf den ersten Blick erkenntlich zu machen, umgibt er sich gerne mit liebreizenden Grazien in weißen Kitteln.

Doch mein Blick ist messerscharf, er kann mich nicht täuschen. Für mich galt schon immer: Ein Zahnarzt wird immer ein Zahnarzt bleiben!

Impressum

Texte: Alfred Stadlmann 2010
Tag der Veröffentlichung: 26.10.2010

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