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Auch wenn jemand für immer geht, so hinterlässt er Spuren. Ich saß in der Kirche inmitten betender Menschen, und blickte zum Sarg meiner Tante. Ich war traurig und doch wusste ich, dass sie erlöst worden war. Erlöst von diesen quälenden Schmerzen, die sie lange Zeit heimgesucht hatten. Warum ein so guter Mensch solche Qualen erleiden musste, konnte und wollte ich einfach nicht verstehen. Vielleicht ist das bei Menschen so zu denen man aufblickt. Jesus Christus hatte ja auch die Schmerzen aller Menschen auf sich genommen. Vielleicht war es für sie eine letzte Prüfung, um als Engel in die Heerscharen des Himmels aufgenommen zu werden.

Als von einer kleinen Gruppe der örtlichen Blasmusik vor der Kirche ein Abschiedslied gespielt wurde, blickte ich in die Berge. Sie liebte die Natur und die Berge und verbrachte viel Zeit mit ihrer Familie auf einer Almhütte, die sie liebevoll renoviert hatten. Ihr herzliches Lachen, als ich in jungen Jahren auf der Alm zu Besuch war und vor der Hütte über den Hang kollerte. Ihr gütiger Blick, wenn ich etwas ausgefressen hatte und mich dafür entschuldigen kam, ihre aufmunternden Worte wenn mir etwas nicht gelang und ich den Tränen nahe war. Dieses Bild von ihr will ich mir bewahren.

Nun gab ich ihr, im Beisein vieler, das letzte Geleit. Die Sonne strahlte an diesem letzten Augusttag vom Himmel. Welche Ironie des Schicksals. Hunderte Menschen waren gekommen um ihren Mann, ihren Sohn, dessen Frau und ihren Enkeln zu kondolieren. Ich kämpfte mit den Tränen, schämte mich aber nicht dafür. Ich versuchte mich an etwas schönes, an ein Erlebnis das ich mit ihr hatte zu erinnern, um den Schmerz zu verdrängen. Da fiel mir folgende Geschichte ein die sich in jungen Jahren auf der Alm zugetragen hatte.


Es war ein wunderschöner Frühlingstag. Der Schnee lag noch über zwei Meter hoch. Ich beobachtet die Erwachsenen, wie sie am vermeintlichen Dach der Hütte standen und mit einer Schaufel zu graben begannen. Mein Vater sah meinem Onkel dabei interessiert zu. Ob er wohl den Eingang finden würde? Wo im Sommer, eine wunderschöne Almhütte mit ihren Nebengebäuden auf einer saftigen Wiese steht, war jetzt nur endloses weiß zu sehen, mit leichten Wölbungen im Schnee, die die Konturen der Hütten darstellten. Mir wurde kalt beim zusehen, obwohl die Sonne vom Himmel strahlte. Meine Tante ermunterte mich die Felle von meinen Skiern abzuziehen und mir eine Piste zu treten. Es gab keinen Lift. Ich hielt es aber trotzdem für eine gute Idee. Ich war damals erst zwölf und leicht zu begeistern. Als ich den steilen Hang neben der Hütte hochstieg, hörte ich das Lachen von Onkel Hans. Er hatte den Kamin gefunden und wusste nun genau wie er graben musste. Er ist zwar klein von Wuchs, jedoch drahtig und bärenstark. Ich bewunderte seine eiserne Kondition und oft klebten im Sommer meine Augen an seinen Unterschenkeln, wenn wir zur Hütte aufstiegen. Es ging dann irgendwie leichter.

Während Tante Linde in ihrem Rucksack kramte, stieg ich immer höher den Hang hinauf. Speed-Ski hatte ich irgendwo schon einmal gesehen und so wollte ich eine Abfahrtsspur ziehen, die neben der Hütte vorbeiführen sollte. Der kleine Kessel in dem die Alm stand, war ideal und so suchte ich nach einer Strecke mit möglichst wenigen Unebenheiten, auf meinem Weg hinunter. Ich stellte mich also in den tiefen Schnee und fuhr einfach talwärts. Tante Linde beobachtete mich dabei. Anfangs sehr zäh, wurde die Spur je öfter ich zu Tal glitt, immer schneller und es ging immer weiter. „Vorsicht Fredi, nicht zu schnell“, waren die mahnenden Worte meiner Tante. Onkel Hans war nun schon nicht mehr zu sehen. Nur ab und zu flog ein Schneehaufen aus einem Loch in dem er den Eingang zur Hütte wähnte. Mein Vater half mit der zweiten Schaufel, die Schneemassen die herausflogen, zu beseitigen.

Tante Linde hatte schon ein frisches Hemd für ihren Mann bereitgelegt. Ihre Erfahrung sagte ihr, der Eingang würde demnächst frei sein. Vater befreite schon den Kamin vom Schnee und bald würden die ersten Rauchschwaden in den Himmel ziehen.

Ich war mittlerweile schon mindestens fünfzehn Mal den Hang hochgestiegen und hatte bereits eine einwandfrei Spur die an der Hütte vorbei, schon in Richtung Gegenhang führte. Das war auch mein Ziel. Ich wollte die Talsenke überwinden und den Gegenhang als Auslauf benützen. Ein Lob meines Vaters bestärkte mich noch darin. Er wollte etwas später mit mir meine Strecke noch befahren. Ich freute mich schon darauf, ihn im Wettkampf zu schlagen. Der Eingang war freigeschaufelt und so sah auch Onkel Hans mir bei meinen Bemühungen zu. Meine Skier waren im Gegensatz zu denen meines Vaters von normaler Länge und so erhoffte ich mir beim Rennen einen gewissen Vorteil. Natürlich lachten Hans und Vater und wiesen mich daraufhin, nicht den Faktor Gewicht zu unterschätzen.

Ein traumhafter Tag ging langsam in ein Zwielicht über. Dunklen Schatten, die sich den Hang entlang langsam talwärts bewegten, überzogen den weiß glänzenden Schnee mit einem samtschwarzen Kleid. Der würzige Rauch aus dem Kamin machte die aufziehende Kälte scheinbar erträglicher. An klaren Wintertagen hatte der Rauch eine andere Duftnote.

Mein Vater war die Strecke abgefahren und weit, bis an den Gegenhang gekommen. Und das mit seinen Kurzskiern. Ich blieb bei meinem Versuch mit den normal langen Latten dahinter zurück. Onkel Hans, der sich nun in der Hütte aufhielt, hatte Recht gehabt und Vater das nötige Gewicht. Tante Linde hatte die Rucksäcke verstaut und der Ofen war gut mit Holz gefüllt. Sie nutzte deshalb die Zeit, um sich einen Überblick über das Renngeschehen zu machen. In der Zwischenzeit hatte ich mit Vater die Skier gewechselt und war der Meinung in so bezwingen zu können. Das anpassen der Bindungseinstellung war damals noch ein Sache von Minuten. Tante Linde wedelte mit den Armen als Vater an ihr vorbeischoss und dabei lachte. Mir kam es aber vor, als hätte sich ihr Gesichtsausdruck dabei verändert. Jedoch auf diese Entfernung konnte ich es nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich war noch ein wenig höher gegangen und hörte nur leise Rufe meiner Tante aus der Senke. Und da war auch wieder dieses begeisternde Wedeln mit den Armen, das ich für mein Startsignal hielt. Also Los. Stockeinsatz und ab ging die Post. Die Kurzski in die Spur gepresst, ging ich in die Hocke um dem hereinbrechenden Abend möglichst wenig Luftwiderstand zu bieten. Ich beugte mich noch weiter nach vor. Tante Linde kam rasend schnell auf mich zu. Nein, ich kam auf sie zu. Dunkelheit!

In weiter Ferne hörte ich leise Geräusche. Nebel zog an mir vorbei. Was war hier los? Es war kalt und ich war allein. Schemenhaft beugte sich eine Gestalt über mich. Ein Engel? Es konnte nur ein Engel sein. Ich musste gestürzt sein und mir das Genick gebrochen haben. Ich konnte mich nicht bewegen, ich konnte nichts spüren. Nur dieses feenhafte, verschwommene Gesicht das über mir schwebte und seine Lippen bewegte, nahm ich war. Wenn auch nur undeutlich. Ich versuchte meine Augen auf maximale Schärfe zu fokussieren. „Wo bin ich? Bist du ein Engel?“ Der Engel hatte mich mittlerweile in den Arm genommen und es ging eine heilende Wärme von ihm aus. Wärme die ich so noch nie verspürt hatte. Es fühlte sich an, als ob der Kälte der Nacht die über mich hereingebrochen war, Einhalt geboten wurde. „Bist du ein Engel? Nimmst du mich mit?“ Plötzlich sah ich in die Augen meiner Tante, die trotz meiner Überschläge die ich in den Schnee gezaubert hatte, ruhig und mild zu mir herabsah. Es war ein Blick den ich niemals vergessen werde. Es lag soviel Freude und Erleichterung in ihm als sie wahrnahm, dass ich sie erkannte und ihr nun erklären konnte, dass mir nichts fehlen würden. Ein mildes Lächeln legte sich dabei auf ihre Lippen, wohl als Dank an den Herrn, das dieses Abenteuer so glimpflich ausgegangen war. Immerhin befanden wir vier uns auf einer einsam gelegenen Alm in 1590 Meter Seehöhe und Mobiltelefone gab es zu dieser Zeit noch nicht. Fünf Einschläge im Schnee zeugten noch am nächsten Tag von meinem grandiosen Sturz. Am Abend in der wohlig warmen Hütte, wurde noch ein oder zweimal herzhaft darüber gelacht, als ich im Stile eines Sportreporters diesen kapitalen Sturz Revue passieren ließ. Den Schmerz in meinen Gliedern versuchte ich unter dem Motto: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“, nicht zu zeigen. Mein Engel sah ihn trotzdem.


An diesem 31. August 2009 muss ich Abschied nehmen. Ich schreibe daher diese Geschichte, zum Gedenken an meinen Engel von damals, der nach langem, schwerem Leiden zu jenem Engel geworden ist, der sie immer schon war. Möge Gott, Dir liebe Tante Linde, die Flügel geben, die Du verdient hast.


Impressum

Texte: Alfred Stadlmann
Bildmaterialien: Alfred Stadlmann
Tag der Veröffentlichung: 01.09.2009

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