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Gefangen

Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken und meine Nackenhaare sträubten sich. Jede Faser meines Körpers war bis zum Anschlag gespannt, wie bei einer Feder die man überdehnt hatte und die kurz davor war, zu zerbrechen. Meine Hände waren eiskalt, als hätte jemand den wärmenden Strom meines Blutes, der normalerweise durch meine Gliedmaßen floss, durch Eiswasser ersetzt. Nur meine Fingerspitzen brannten als würden sie in die Glut des Höllenfeuers ragen. Sie schmerzten zunehmend. Meine Fingerkuppen tasteten kaltschweißig und nervös über den Stein und versuchten herauszufinden wo sie halt finden würden. Der Schweiß tropfte mir in die Augen und sie brannten furchtbar, doch ich wagte nicht meine Lider zu schließen. Die Muskeln an den Beinen waren hart wie Beton und krampfhaft verharrten sie, in der von mir vorgegebenen Position. Sollte es hier enden? Es war ein Tag der zum Sterben zu schön war; aber war das nicht jeder Tag?


Der Sommerwind der sanft meine Haut umspielte, konnte den kalten Schweiß der mir in Strömen über den Rücken floss, nicht wärmen. Mein bis dahin kurzes Leben wurde mir in Sequenzen nochmals vor Augen geführt. Ich vermisste die starken Arme meines Vaters der mich immer begleitet hatte. Der mich immer beschützte vor Gefahren, die es auf mich abgesehen hatten. Die mich immer umsorgende Wärme und Güte meiner Mutter. Ich sah das milde Lächeln, dass sie meist auf den Lippen hatte, wenn ich meine Beichten bei ihr ablegte. Die herzhaften, lustigen manchmal auch harten Streitereien mit meiner Schwester, die wir geführt hatten und bei denen es großteils um Nichtigkeiten gegangen war. Sogar das Geplapper meines kleineren Bruders fehlte mir in diesem Moment. Würde er mich je wieder lächelnd anhimmeln und mir dabei mein T-Shirt vollsabbern.

Ein Augenblick der Unachtsamkeit und ich war in eine ausweglose Situation geraten. Mein Körper presste sich mit aller Macht an den Stein, der sich trotz der Hitze, eiskalt und abstoßend anfühlte. Ich war bei Gott kein tiefgläubiger Mensch und doch: War nun die Zeit für ein Gebet gekommen? Die Kraft, die aufgrund meiner Jugend noch nicht vollständig aufgebaut war, begann langsam aber sicher meinen Körper zu verlassen. Ich hätte nicht so blauäugig auf meine Schulkameraden hören sollen: "Komm, geh mit uns, wir zeigen dir etwas ganz Tolles!"
Meine Neugierde und die grenzenlose Überschätzung meiner Fähigkeiten hatten mich in diese missliche Lage gebracht. Eine ausweglose Lage, die ich vermutlich mit dem Leben bezahlen würde, war nun eingetreten. Es gab kein Vor und kein Zurück mehr. Ich hing wie ein welkes Blatt an diesem Felsen und der nächste Windhauch würde mich vermutlich in die Tiefe blasen. Ich schrie aus Leibeskräften und meine vom Schweiß brennenden Augen, füllten sich zusätzlich noch mit meinen Tränen. Ich hatte mich mit dem Ende abgefunden und weinte, obwohl ich wusste: Jungs heulen nicht.

Fünfzig Meter unter mir war der Wald, der sich sanft an den Felsen zu schmiegen schien, so als wolle er ihn streicheln und zuflüstern: "Sei nicht zu hart zu dem Jungen, gib ihm noch eine Chance. Er hat doch noch sein ganzes Leben vor sich." Ich blickte mich nach beiden Seiten um, sah aber keinen Griff den ich erreichen könnte, um mich aus meiner misslichen Lage zu befreien. Der Krampf der meine Fingerkuppen befiel, wurde immer heftiger. Sie schmerzten und ich würde mich sicher nicht mehr lange halten können. So schrie ich nochmals mit allerletzter Kraft - die Tücken der Natur verfluchend - meinen ganzen Frust in die Landschaft hinaus.

Plötzlich spürte ich eine Hand an meinem rechten Bein. Zuerst erschrak ich fürchterlich danach blickte ich doch vorsichtig nach unten. Mein Schulkamerad, Gerhard, war etwas unter mir in der Wand und lächelte mir zu. Er war ein geübter Kletterer und sprach nun beruhigend auf mich ein.

"Ganz ruhig, ich werde dich aus dieser Lage befreien. Tu genau das, was ich dir sage, und dir wird nichts geschehen. Vertraue mir und im Handumdrehen wirst du wieder frei sein. Keine Sorge, ich bin bei dir."

Hoffnung durchströmte mich und meinen Körper. Meine letzten Depots mit Adrenalin wurden von meinem Bewusstsein geöffnet. Er gab mir Anweisungen wohin ich steigen sollte und da ich nichts sehen konnte, musste ich ihm blind vertrauen. Aber was für eine andere Möglichkeit hatte ich, außer ihm zu vertrauen. Meine Kraft neigte sich dem Ende zu und einen fünfzig Meter Sturz, der in den Ästen der Bäume enden würde bevor ich am Fuße des Felsens aufschlug, würde ich vermutlich nicht überleben. So wählte ich die Option des Vertrauens und Gerhard führte mich sicher von einem Tritt zum nächsten. Sie waren immer da gewesen. Stein verändert nämlich seine Form erst über Jahrzehnte und auch wenn es mir so lange vorgekommen war, ich hatte sie nicht gesehen. Die Angst war ein starker Verbündeter des Todes. Sie lähmte meine Glieder, trübte meine Augen und verschleierte meine Fähigkeit der Wahrnehmung. Nach kurzer Zeit hatte ich festen Boden unter den Füßen und war heilfroh, lebend aus dieser Felswand entkommen zu sein. Viele Eindrücke von diesem Abenteuer blieben in mir: Angst, Sehnsucht, Hoffnung, Vertrauen, Freundschaft - aber vor allem Höhenangst.

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Tag der Veröffentlichung: 04.08.2009

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