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Das Mondkind

Einst war ein kleines Dörfchen neben einem tiefen Wald, dort trugen sich vielerlei Dinge zu. In diesem Dorf gab es ein Mädchen, das weder Vater noch Mutter hatte. Sie hatte ihr Leben lang bei ihren Großeltern gelebt, doch sie waren arm und hatten nur eine kleine Hütte, die dem Bürgermeister des Dorfes schon lang ein Dorn im Auge war, da sie auf dem zentralen Platz des Dorfes stand.. Doch die Großeltern waren schon sehr alt gewesen und schließlich wohnte das Mädchen ganz allein in der Hütte. Sie hatte nichts, außer das kleine Haus, einen Fellmantel und ihr hübsches Gesicht. Doch sie war von Herzen gut und teilte, was sie hatte, mit den Kindern, deren Freundin sie schnell geworden war. Oft saßen viele der Kinder bei ihr in der Hütte und lauschten den Geschichten, die sie erzählte. Und wie sie erzählte! Von sonderbaren Kreaturen, fernen Ländern und mutigen Abenteurern, von tanzenden Lichtern am Himmel und feuerspeienden Bergen. Ihre Fantasie kannte keine Grenzen. Die Kinder liebten sie, die Eltern jedoch mieden sie. Sie fürchteten, das Mädchen würde ihren Sprösslingen dumme Ideen in den Kopf pflanzen und so setzten sie alles daran, sie von dem Mädchen fern zu halten.

Im Sommer ging es dem Mädchen gut, sie lebte von Beeren im Wald oder von den Gaben, die ihr die Kinder mitbrachten, sofern sie ihren Eltern entwischen konnten. Doch als die Tage kürzer und die Nächte kälter wurden, fand sie keine Beeren mehr und war auf die Happen angewiesen, die sie von den Kindern bekam. Sie fand auch keine Arbeit, da keiner der Dorfbewohner sie beschäftigen wollte. So schleppte sie sich durch die kalten Tage, bis die Vorweihnachtszeit kam. Schon wurden die Laternen im Dorf mit Tannenzweigen und roten Schleifen und Glöckchen geschmückt, Kinder lernten Weihnachtslieder und nicht selten duftete es im ganzen Dorf nach Gebackenem. Doch fasste der Dorfälteste, der Bürgermeister, den Entschluss, auf dem großen Platz des Dorfes einen großen Tannenbaum aufzustellen, den die Kinder schmücken sollten.

Dem stand jedoch eins im Weg: Der Baum sollte genau dort stehen, wo die Hütte des Mädchens stand. Es wurde kurzerhand ein Plan geschmiedet. Eine Familie lud das Mädchen zum Essen ein, um sie vom Geschehen fern zu halten. Für das Mädchen war es ein ganz besonderes Ereignis, hatte sie doch seit langem nicht mehr im Warmen gesessen, geschweige denn etwas Warmes zu sich genommen. Sie war voller Freude und blieb bis zum späten Abend, die Eltern gaben sich ihr gegenüber nett und die ahnungslosen Kinder hingen an ihren Lippen. Doch als sie in der Nacht zurückkehrte zu ihrer Hütte, konnte sie sie nicht finden. An ihrer Stelle stand dort ein gigantischer Baum und ragte majestätisch in den Himmel, geschmückt mit Lichtern, Sternen aus Stroh und bunten Bändern. Doch für seine Schönheit hatte das Mädchen keinen Blick, die Welt um sie herum verschwamm in Tränen, als sie die Nettigkeit der Familie verstand und die List dahinter registrierte. In ihrer Trauer rollte sie sich unter dem Baum zusammen, in der Hoffnung, er würde sie vor der Kälte schützen. So fand man sie am nächsten Morgen.

Es war der 24. Tag des 12. Monats, Weihnachten, das Fest der Liebe und der Geburt Christi. Doch von alledem hatten die Dorfbewohner nichts an sich. Als man das Mädchen so unter dem Baum liegend fand, wurde sie unsanft geweckt und auf die Beine gerissen. Wie konnte sie es nur wagen, das Geschenk für das Christkind zu beschmutzen? Und das, nachdem man ihr solch einen wunderbaren Abend geschenkt hatte, man hätte etwas mehr Anstand von ihr erwartet. Sie wäre eine Schande für das Dorf. Jemand schupste sie, ein anderer rief, sie sei eine Hexe, hätte alle Kinder verzaubert und hätte sie sich Untertan machen wollen, um so die Zukunft des Dorfes in der Hand zu haben. Voller Angst vor den erhitzten Gemütern der Dorfbewohner stürzte das Mädchen davon, raus aus dem Dorf, in den Wald hinein. Sie rannte so lang und weit sie konnte, immer tiefer und tiefer in den Wald hinein. Es hatte längst zu schneien begonnen, als sie Halt machte und erschöpft zu Boden sank. Um sie herum herrschte nichts als Stille. Sie sah sich um und gewahrte, dass nicht weit von ihr entfernt ein Bach durch den Wald floss, er war zu schnell, um schon zugefroren zu sein. Schnee bedeckte als dicke Schicht den Boden, wie eine Membran zum Schutz, unberührt und geschlossen. Sie schaute sich um, hier war sie noch nie gewesen. Plötzlich stieg in ihr die Angst hoch, sie würde heute, in der Weihnachtsnacht, einsam hier erfrieren. Einsam, verjagt, als Hexe bezeichnet. Nein.

Sie rappelte sich auf. Wo ein Fluss war, gab es oft eine Mühle. Mit steifen Schritten und ihren Fellmantel enger um sich ziehend, folgte sie dem strömenden Wasser. Schritt um Schritt fiel es ihr schwerer, sich zu bewegen, sie spürte nun die Kälte, die in ihre Glieder, unter ihre Haut kroch. Sie hatten längst ihr Zeitgefühl verloren, da sank sie im Schnee in sich zusammen. Reif zog sich über ihre Wangen, sie spürte ihre eigenen Finger kaum noch, mit denen sie vorsichtig ihr Gesicht abtastete.

Sie spürte auch die Kälte des Schnees in ihren Haaren nur, weil es eine nasse Kälte war. Die Flocken, die auf ihrer Hand landeten, schmolzen nicht einmal. Sie zog das Fell enger um ihren Körper, auch wenn es ihr schon keine Wärme mehr spendete. Ihr Blick fiel auf den Himmel, das Firmament, an dem die Sterne um die Wette funkelten, wo sie aus den Winterwolken hervor lugten.

„Sie haben es gut.“

Sie dachte es mehr, als dass sie den Satz aussprach, ihre Lippen waren beinahe bewegungslos geworden.

„Sie sind so viele und jeder einzelne von ihnen ist so wunderschön. Keiner von ihnen muss die Einsamkeit fürchten… Wenn ich doch nur auch – “ sie stockte, in diesem Moment riss die Wolkendecke gänzlich auf.

Hinter ihr kam der Mond zum Vorschein, der runde Spiegel der Natur. Bewundert betrachtete sie seine Oberfläche. Es war, als würden tausend Gesichter zu ihr herunter schauen, als hätte sie die Aufmerksamkeit so vieler Persönlichkeiten. Staunend konnte sie ihren Blick nicht vom Himmel abwenden. Und tatsächlich schien es, als würden die Sterne näher zusammenrücken. Das Mondlicht leuchtete auf sie herab, umgarnte ihre Schultern, liebkoste das zarte, kalte Gesicht, tanzte in den goldenen Haaren, wurde glitzernd reflektiert vom Schnee, der sich in ihnen nieder gelassen hatte. Da fiel etwas vom Himmel, wie ein Regen von Gold, legte sich um ihren Körper, hüllte sie für einen Moment ganz ein – und verschwand. Mit einem mal fühlte sich das Mädchen geborgen, zuhause, endlich angekommen.

Ich habe den Menschen im Dorf alles gegeben. Habe den Kindern meine Fantasie geschenkt, meine Hütte für ihren Baum gegeben. Sie brauchen mich nun nicht mehr. Sie stellte sich vor, wie sie nun ihren eigenen Platz zwischen den Sternen einnehmen würde, ein sanftes Lächeln breitete sich auf dem hübschen Gesicht aus und die Augen schlossen sich flatternd. Der Schnee unter ihr wurde zu Wolken, die Sterne hießen sie schon willkommen – war das ein heller Glockenklang, der da die Stille durchdrang? Verwirrt öffnete das Mädchen die Augen einen Spalt breit, mehr gaben ihre Kräfte nicht her. War da etwas Rotes hinter den Bäumen? Näherte es sich? Wie von weiter Ferne hörte sie ein Rufen. „Gro… utter.... hier… über…!“ Kurz darauf wurde sie im Licht des Mondes von starken Armen aus dem Schnee gehoben, dann verlor sie das Bewusstsein.

Sie erwachte in einem von goldenem Feuerschein erhellten Raum. Es duftete nach Tannengrün, Wärme, Gebäck, nach gebratener Gans. War sie jetzt bei den Sternen? Zögernd öffnete sie die Augen, und musste sie gleich wieder schließen, als etwas feuchtes, weiches sich quer über ihr Gesicht zog. „Wolf!“ hörte sie eine empörte Stimme und öffnete nun doch die Augen. „Entschuldigung, er ist manchmal etwas übermütig, aber du brauchst keine Angst vor ihm haben.“

Sie fand sich im Kreise von drei Personen und einem großen Hund wieder. Sie sah eine junge Frau, die einen roten Mantel trug, eine alte Greisin und einen Mann in den mittleren Jahren. Sie alle schauten sie mit einem Ausdruck an, der dem Mädchen schon lange nicht mehr vertraut war. Sie fühlte sich auf Anhieb wohl in der Mitte dieser Menschen. „Du bist doch Lucia, oder nicht? Die junge Frau aus dem Dorf, die immer Geschichten erzählt!“ Sie nickte nur stumm, verblüfft und gerührt. Ja tatsächlich, die kannte sie. Das Mädchen mit dem roten Mantel, das immer nur selten im Dorf war und mit ihrer Großmutter und ihrem Onkel, dem Jäger, im Wald wohnte, Johanna.

„Du machst vielleicht Sachen! Wir wollten gerade essen, da wurde es plötzlich ganz hell draußen. Wir sind vor die Tür gestürmt um nachzuschauen, da hat es nur noch zwischen den Bäumen ein bisschen geleuchtet. Wir sind dem Licht gefolgt und siehe da – da lagst du! Warum auch immer.“ Theatralisch warf Johanna die Arme in die Luft.

Da beugte sich die Alte etwas nach vorn. „Was auch immer du dort draußen gesucht hast, mein Kind: Der Mond hat dich gerettet.“ Damit reichte sie ihr eine Schüssel mit warmer, duftender Suppe.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 10.01.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme diese Kleine Märcheninterpretation meiner wundervollen Mutter.

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