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Memories of Roses

Durch das leicht geöffnete Fenster wehte der Wind in das Zimmer blies einige Blätter vom Tisch. Sie landeten auf der weißen Seite, so dass man die wunderschön detaillierten Zeichnungen sehen konnte. Sie zeigten teilweise Rosen, mit Aquarellfarben dargestellt. Manche stellten zwei Mädchen dar, die sich lachend an den Händen hielten oder einfach nur fröhlich nebeneinander herliefen.
Zoé beachtete die heruntergefallen Bilder nicht. Mit leicht gesenktem Kopf saß sie über ihrem Schreibpult und ließ flink und sachte den Bleistift über das Papier fliegen. Nach und nach nahmen die Striche die Konturen der weißen Rose an, die vor Zoé auf dem Tisch stand.

Es klopfte an ihre Zimmertür. Irene, Zoés Mutter, trat ein, ein Tablett mit dem Abendessen ihrer Tochter balancierend. Sie stellte es mit den Worten „Für dich mein Schatz.“ Auf den kleinen Beistelltisch neben Zoés Bett.  Dann kam sie an den Schreibtisch und sah über die Schulter des Mädchens, das keinerlei Reaktion zeigte. „Wie schön, eine Rose. Aber vielleicht möchtest du mal etwas anderen malen, als Rosen oder dich und deine Schwester.“ Sie wusste, dass sie keine Antwort bekommen würde.


Irene ging zur Tür zurück. Im Türrahmen drehte sie sich noch einmal traurig um  und sah zu Zoé. Bilder von zwei Mädchen blitzten in ihren Gedanken auf. „Hör zu, Zoé. Wir leiden alle unter Lucys Tod, du, Derek und ich.“ Bei diesem Satz zuckte das Mädchen leicht zusammen. „Aber du kannst doch nicht den ganzen Tag in deinem Zimmer hocken und Bilder malen. Du könntest ab und zu nach der Schule Freunde besuchen, oder shoppen gehen. Meinetwegen kannst du auch im Park spazieren gehen. Aber geh raus, mach irgendwas. Irgendwas!“ Den letzten Satz rief sie verzweifelt in den Raum. Als sie keine Antwort bekam, drehte sie sich um und schloss die Tür hinter sich.
Als sie wieder allein in ihrem Zimmer war, sah Zoé zu dem Tablett. Sie wollte nichts essen. Ihren Appettit hatte Lucy mit sich genommen. Schweigend betrachtete sie ihr Fenster. Überall waren Wörter, Sätze und einzelne Wortgruppen in verschiedenen Farben auf die Scheibe geschrieben. Unten, in der linken Seite prangte eine weitere Rose, mit schwarzem Edding so fein ausgearbeitet, wie es möglich war. Ihre Mutter hatte einen kleinen Anfall bekommen, als sie entdeckt hatte, dass Zoé ihre Fensterscheibe bemalte. Als wären die vielen Bilder, die in jeder Ecke des Zimmers hingen und lagen, noch nicht genug.


Doch Zoé hatte schon viele Anfälle ihrer Mutter miterlebt. Wie immer hatte sie nichts gesagt und Irene nur angesehen. Bei der nächsten Gelegenheit hatte sie die Rose auf die Scheibe gemalt. Ab da an hatte Irene nichts mehr zu ihren Fensterzeichnungen gesagt.
Seit dem Tod von Lucy hatte Zoé kaum noch gesprochen und sich in sich selbst wie in einem Schneckenhaus verkrochen. Nachts schlief sie schlecht und hatte immer wieder den selben schrecklichen Traum.
Das grelle Licht, das sich mit dem roten auf der anderen Straßenseite vermischte. Der Stoß in den Rücken, wegen dem sie nach vorn flog und hart auf dem Boden aufkam. Sie stemmte sich hoch und drehte sich um, um Lucy zu sagen, was sie von diesem rücksichtslosen Schubser hielt. Der restliche Traum war seltsam von Nebel umhüllt. Da war ein Auto. Und vor dem Auto, auf dem Boden, da war…
Lucy war schon immer die schwächere der beiden Zwillinge gewesen. Zoé hatte sich insgeheim geschworen, immer auf ihre Schwester aufzupassen, was auch geschehen sollte. Doch Lucys Körper hatte nicht genügend Kraft, sie nach dem Unfall am Leben zu halten. 


Bei der Beerdigung hatte Zoé sich auf den Sarg geschmissen und ihn mit ihren Tränen benetzt. Hände hatten sie sanft aber bestimmt weggezogen. Um sich geschlagen hatte sie, wollte doch bei ihrer Schwester sein, niemals allein. Man hatte sie letztendlich dort gelassen, doch Zoé wusste, dass Irene immer noch irgentwo da gestanden, auf sie aufgepasst hatte. Sie war eingeschlafen auf dem Friedhof, neben Lucy. Aber Lucy war nicht neben ihr aufgewacht, im Bett, zuhause. Da war sie allein gewesen.
In einigen seltenen Momenten beschimpfte sie Lucy. Wie hatte sie ihr das nur antun können! Dann versank sie in Selbstmittleid und zeichnete eine weitere Rose.
Und noch eine.
Und noch eine.
Wenn sie nicht zeichnete, dann saß sie am Fenster und sah nach draußen oder lag in ihrem Bett und starrte die Wand an. Oft ließ sie auf höchster Lautstärke melancholische Musik laufen, oder Lucys Lieblingslieder. Vielleicht, dachte sie, würde sie dann ja zurück kommen, um mit zu hören. Aber sie war noch nicht gekommen.
Irgentwann, nach Tagen, Wochen, Monaten, öffnete sich die Tür ihrer kleinen Zuflucht. Irene betrat das Zimmer. Ihr folgte ein Junge, der neugierig in den Raum lugte. Mit einem bekümmerten Ausdruck auf dem Gesicht rief Irene Zoé's Namen. Sie hob nicht einmal den Kopf.
Irene erzählte ihr von den neuen Nachbarn, die einige Tage zuvor hergezogen seien. Das Mädchen zeigte keine Reaktion. Die neuen Nachbarn hätten einen Sohn. Er hieße Kevin. Dabei deutete Irene auf den Jungen, der Zoé nachdenklich musterte und daraufhin ein scheues, freundliches Lächeln zeigte. "Er hat gehört, dass hier ein Mädchen in seinem Alter lebt und möchte dich gern kennen lernen." Irene seufzte resigniert, als keine Reaktion darauf kam, und murmelte Kevin etwas zu, bevor sie den Raum verließ.


Kevin schloss die Tür hinter sich und trat ein paar Schritte in den Raum. Schweigen umhüllte beide. Der Junge setzte sich abermals in Bewegung, seine Schritte kaum zu hören, er bemühte sich, leise zu sein. Langsam durchquerte er den Raum und betrachtete all die Bilder, die die Wände und mittlerweile sogar die Zimmerdecke ziehrten. Plötzlich begann er zu reden.
"Die Bilder... sind sehr schön." begann er stockend und sah zu dem Mädchen herüber, das sich nur kurz umwandte, nicht einmal weit genug um ihn anzusehen und sich dann wieder ihrer Zeichnung widmete.
Er setzte sich auf das Bett und beschloss, das Thema zu wechseln. Er erzählte von der Fahrt in die Stadt und von dem Verpacken aller Habseligkeiten in Kisten, in denen sich beim Auspacken plötzlich andere Dinge befanden, als erwartet, da sein Vater sich mit der Beschriftung geirrt hatte. Lauter belanglose Sachen erzählte er, wie groß das neue Haus im Gegensatz zu der alten Wohnung war, dass das Wetter hier besser sei und wie cool er sein neues Zimmer fand. Als er gehen musste, hörte Zoé zum ersten Mal die Stille, die sich in ihrem Zimmer eingenistet hatte.


Von nun an kam Kevin öfter vorbei, um Zoé zu unterhalten. Meistens sah er dabei nur  ihren Rücken, doch immer öfter kam es vor, dass sie ihn direkt ansah und ihm zuhörte. Irgentwann fielen ihm die vertrockneten Blütenblätter auf, die sorgsam auf Zoé's Schreibtisch zusammen geschoben worden waren. Irene wollte ihr keine neue mehr kaufen. Es sollte Zoé nach draußen locken.
"Möchtest du keine neue Rose ins Wasser stellen?", fragte Kevin verwundert.
"Doch." Sie nickte. Mehr konnte er ihr noch nicht entlocken.
Also stand er auf. "Wir haben ein paar Rosen zuhause. Sie sind zwar nicht weiß, aber du kannst eine haben, wenn du magst.", bot er ihr lächelnd an.
Zoé's Blick klebte an den Blütenblättern, während sie nickte.
"Dann musst du mitkommen. Damit du dir eine aussuchen kannst.", erklärte er ihr.  Er brauchte all seine Überredungskunst, sie dazu zu bewegen, das Haus zu verlassen. Als das Mädchen den ersten Schritt vor die Haustür tat, schloss es kurz die Augen und atmete den Duft der frischen Luft, den es schon ganz vergessen hatte. Als sie sie wieder öfnete, suchte ihr Blick den Kevin's und sie zeigte ein scheues Lächeln, das er strahlend erwiederte, bevor er sie aufforderte, ihm zu folgen.

Nachwort

Die Anfänge dieser Kurzgeschichte entstanden kurz nach der Fertigstellung von "Weißer Tod" und "Windflug", also 2012. Leider war ich zu dem Zeitpunkt nicht motiviert genug, sie zum Ende zu bringen und legte sie zur Seite. Anfang des Jahres 2014 fiel sie mir wieder in die Hände. Mittlerweile hat der Inhalt dieser Geschichte einen größeren Sinn als vorher, es ist sehr viel passiert und meine Hintergedanken, mit denen ich sie beendete, waren nun andere. Anfangs sollte sie dazu dienen, meiner Reihe "Seelenkinder" ein Mitglied zu geben, in dem die Hauptperson nicht stirbt. Nun aber soll sie zeigen, dass es auch nach dem Tod eines geliebten Menschen weitergeht, dass man sich nicht hängen lassen darf. Keiner würde wollen, dass man an die Trauer um ihn sein Leben hängt.

 

Ich widme dieses kleine Buch meiner besten Freundin L. . Warte nicht darauf, dass andere dich wieder hinbiegen! Freunde und andere Familienmitglieder können dir helfen, wir tun es, wo wir nur können. Aber du darfst nicht verlernen, selbstständig zu sein. Den ersten Schritt nach vorn können wir nicht für dich machen: Den musst du selbst bewältigen. Wir können dich stützen, aber auf deinen Beinen musst du selbst stehen können.

 

Wir haben dich lieb :)

Impressum

Texte: (c) Leia Kath
Tag der Veröffentlichung: 01.02.2014

Alle Rechte vorbehalten

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