Und aus der Schwärze erhebt sich ein großer weißer Vogel, majestätisch schwingt er seine Flügel aus purem Licht und verjagt mit anmutig gebogenem Hals die Dunkelheit.
Und der weiße Vogel fliegt höher, Wind rauscht in seinem Gefieder, wie Sterne leuchten seine weisen Augen und weisen den Weg ins Licht.
Und es öffnet sich der weite Raum der Freiheit.
Das Ergebnis des Schwangerschaftstests war eindeutig. Blau, positiv. Oder eher negativ? Die Heimmutter würde nicht erfreut sein. Im Waisenhaus duldete man keine Schwangerschaft. Die Party vor vier Wochen – sie hatte sich gehen lassen. Ihre Erinnerungen verschwammen ab dem Punkt, als Tyren sie auf seinen Schoß gezogen hatte. Dabei hatte sie ihn nur einige Stunden zuvor kennen gelernt.
Sie sei ihm schon in der Schule aufgefallen. Verschlossen kam sie ihm vor, unnahbar. Genau das machte sie angeblich so anziehend. Während des Abends waren ihr die Lichter immer greller und verzerrter vorgekommen. Tyren war ihr plötzlich sehr nah gewesen. Sie hatte sich doch nur etwas ablenken wollen, mit seiner Hilfe. Es war nicht fair, ihm gegenüber. Seit dem Tod ihrer Eltern war es das erste Mal gewesen, dass sie sich ein wenig geöffnet hatte. Zu weit für das erste Mal nach so langer Zeit in Verschlossenheit.
Sie hätte wissen müssen, dass sie damit nicht klarkommen würde. Das Mädchen umfasste den Schwan um ihren Hals. Das Amulett war ein Geschenk ihrer Mutter, zu ihrem sechsten Geburtstag. ‚Damit du irgendwann deine Flügel ausbreiten und davonfliegen kannst.‘
Doch davon war sie jetzt weit entfernt. In ihrem Leib wuchs ein Kind, die Heimmutter mochte sie nicht. Und Tyren? Ja, Tyren wusste auch noch nicht, dass er so intensive Spuren hinterlassen hatte. Aber es würde ihn auch nicht interessieren. Sie hatte ihn in der Schule gesehen, mit Cornelia. Und dann mit Diana. Und mit Laurel. Ob sie wussten, dass er drei Freundinnen gleichzeitig hatte? Und sich auf Partys mit anderen vergnügte? Am liebsten würde sie ihn links liegen lasse. Aber allein konnte sie kein Kind aufziehen. Abtreibung? Das wäre eine Option, nur leider hatte sie Angst davor. Sie wusste nicht, warum, die Angst war einfach da.
An diesem Abend lag das Mädchen lange wach. Die Heimmutter war ihre Verschlossenheit gewöhnt und hatte keinen Verdacht geschöpft, das irgendetwas nicht stimmen könnte. Sie dachte an das Kind, das in ihr reifte. Sie hatte Angst vor Tyrens Reaktion, wenn sie sich traute, es ihm zu sagen. Und vor der der Heimmutter. Was hätte wohl ihre Mutter gesagt? Sicher hätte sie sie Verstanden. Das hatte sie immer. Sie hatte immer gesagt, ihr Sternzeichen wäre der Schwan. Diese majestätischen weißen Tiere hatten sie fasziniert. Und Schwäne sind stark in Geist und Seele. Dann bin ich ein sehr verschrumpelter, alter Schwan.
dachte sie traurig und schlief bebend, mit Tränen auf den Wangen ein. Erschüttert lief sie die Treppe zu ihrem Heimzimmer Nummer 35 hinauf, hinterließ schmelzende Spuren aus Schnee auf den Stufen. Über Nacht hatte es geschneit und die Stadt lag unter einer weißen Decke versteckt. Sie hatte Tyren heute gesagt, dass sie ein Kind von ihm erwartete. Es sei noch nicht weit fortgeschritten, aber es wuchs. Er hatte ihr nicht glauben wollen. Sie hatte gesehen, dass auch er bestürzt gewesen war, aber er hatte sich um ein vielfaches besser unter Kontrolle, als sie sich selbst. Er hatte alles abgestritten, dass er in jener Nacht mehr mit ihr getan hatte als flirten. Er hätte sehen wollen, wie sie auf so ein kleines bisschen reagierte, eine Wette mit seinem Kumpel war es gewesen. Wahrscheinlich weil Cornelia dabei gewesen war.
Aber das Mädchen glaubte ihm nicht. Er wusste sehr gut, was sie getan hatten. Aber er wollte die Verantwortung nicht tragen. Schluchzend sah sie auf das Bild auf ihrem Tisch herunter. Sie, inmitten ihrer Eltern im Schnee. Alle lachten, alle waren glücklich. Warum seid ihr von mir gegangen? Wie konntet ihr so etwas nur tun?
Ihre Tränen trockneten, ließen das Gefühl gespannter Haut und schmerzende Augen zurück. ‚Flieg, mein kleiner Schwan! Flieg hinaus und finde dein Glück‘
Die Augen des Mädchens weiteten sich. ‚Mutter‘- ‚Flieg!‘ ‚Aber wie?‘- ‚Breite deine Flügel aus und flieg!‘
Natürlich. Ihr Körper war nichts als eine nutzlose, leere Hülle. Sie musste fliegen, mit ihrer ganzen kleinen Seele. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, das Land von oben zu sehen.
Sie schwebte direkt unter den Wolken dahin. Schneeflocken verschleierten ihre Sicht ein wenig. Die Straßen zogen sich als fette, schwarze Striemen durch das Weiß, entstellten das Antlitz des Winters auf unschöne Weise. Sie verspürte eine wunderbare Art von Freiheit, ungebunden an irgendeine Oberfläche, ohne Maske oder Behang. Hier oben war sie einfach nur sie selbst und musste sich nicht verstecken. Aber es war noch nicht vollkommen, etwas fehlte. Jäh fiel ein Schatten auf sie. Sie sah zur Seite und gewahrte, dass sie inmitten von Schwänen flog. Mit einem Mal wurden Flügel aus ihren Armen und Federn sprossen aus ihrer Haut. Ihr Rumpf streckte sich, während der Rest ihres Körpers zusammenschrumpfte und zwischen den weißen Tieren verwandelte sie sich selbst in ein solches anmutiges Wesen. Als sie endgültig das auf und ab ihrer Flügel beherrschte, drehte die Schar ab und tauchte, samt dem Schwanenmädchen, in die Wolken ein. Ein angenehmes Gefühl von kaltem Wasser auf warmer Haut breitete sich in ihr aus und Glück durchströmte ihren Körper. Als sie über den Wolken auftauchten, fühlte sie sich wie nach einem Tauchgang bis zum Grund des Wasser. Endlich konnte sie frei atmen, reckte sich dem Mond entgegen, welcher voll über ihnen prangte. Sie breitete ihre Flügel aus, glitt auf dem Wind dahin und ließ ihn durch ihr neu errungenes Gefieder wehen. Viel zu früh verschwanden die anderen Schwäne wieder in den Wolken, und sie folgte ihnen.
Das Mädchen öffnete die Augen und sah die kahle, graubraune Zimmerwand vor sich. Sie wollte zurück, wollte fliegen und schloss die Augen erneut. Doch das Bild der kahlen Wand schien sich in ihre Netzhaut eingebrannt zu haben und versperrte ihr die Sicht. Je intensiver sie versuchte, sie wegzuschieben oder dahinter zu sehen, drängte die Mauer sie mehr und mehr zurück. Bekümmert und unglücklich sah sie aus dem Fenster. Ein grauer Schleier lag über der Stadt und verhüllte die Gedanken und Träume der Menschen.
Auf einmal erinnerte sie sich. Außerhalb der Stadt lag ein kleiner Berg, von dessen Spitze man eine Sicht über den gesamten Landstrich hatte. Dahin wollte sie gehen und über die Welt sehen. Sie zog sich ihre Stiefel und die Winterjacke über und schlich sich leise aus dem Haus. Die Heimmutter hielt wahrscheinlich gerade ihren berühmten Nachmittagsschlaf, bei dem man sie nicht stören durfte. Ihr Weg war also frei und sie hatte Zeit.
Nach einer halben Stunde Fußmarsch hatte sie endlich die letzten großen Hochkasten hinter sich gelassen. Der Boden stieg bereits leicht an und der Lärm der Straßen blieb hinter ihr zurück. Das Mädchen blickte auf und sah den Weg hinauf, der sich elegant nach oben schlängelte. Ich werde fliegen. Schließlich setzte sie sich wieder in Bewegung. Noch war der Aufstieg leicht, sie lief einfach vorwärts. Der Anblick der Bergspitze war alles an was sie denken konnte. Sie bemerkte nicht die dunklen Wolken, die sich am Himmel auftürmten. Bald rieselten die ersten Schneeflocken aus ihnen hervor. Doch vor den Augen des Mädchens verwandelten sie sich in weiße Federn, die sanft auf sie hinunter schwebten und ihren leisen Reigen tanzten.
Beglückt lief sie weiter, der Spitze des Hügels entgegen. Binnen kurzer Zeit tanzten die Flocken so dicht herab, dass sie kaum noch etwas sehen konnte. Sie spürte weder die Kälte des Schnees, noch das Zittern, das von ihrem Körper Besitz ergriffen hatte. Als sie stehen blieb, um mit der Hand eine Feder zu fangen, glitt sie in den Schnee. Plötzlich war ihr Geist klar. Die Federn waren keine Federn mehr, nur kalte Flocken, die auf ihrer tauben Haut kein Gefühl hinterließen. Dies ist mein Tod.
Der Gedanke war so seltsam und absurd, dass sie zu lachen begann. Doch nur ein kratziger, leiser Laut entsprang ihrer kalten Kehle. Mitten im Schnee faltete das Mädchen seine Hände unter dem Kopf, immer noch entsprangen glucksende Töne ihrem Mund, die nun jedoch verklangen. Sie legte sich in die weiße Decke, die sie weich umfing. Dies ist mein Tod, ab jetzt bin ich frei. Vereint mit Mama, vereint mit Papa. Nichts kann mir jetzt noch etwas anhaben.
Sie sah in den Himmel, weiße Flocken schwebten auf sie hinab. Die Wolken verdeckten den Himmel, wärend die Bäume um sie herum unter der Last des gefallenen Schnees ächzten und sich bogen. Der Schnee füllte langsam ihre Spuren und ließ sie verschwinden. Das Mädchen wurde von einer sonderbaren Ruhe erfüllt. Es war so etwas wie Freude machte sich in ihr breit. Hier lege ich meine Hülle und meinen Namen ab und werde eins mit Schnee und Wind. Das Leiden hat endlich ein Ende.
Bedeckt von einer weißen Hülle, schloss sie langsam ihre Augen und sank in ein Netz, das sie sanft auffing. Der Wind sang sein einsames Schlaflied und wisperte sie in die Tiefen ihres ewigen Schlafes.
Und über ihr erhob sich der Körper eines wunderschönen Schwans mit reinem weißem Gefieder und lautlosen Schwingen, schraubte sich höher und höher, durchbrach die Wolkenwand und verschwand. Und durch das Wolkenloch, das er hinterließ, schien die Sonne warm auf den leeren Körper eines jungen Mädchens, das sich in seinen letzten Minuten zu einer Kugel zusammengerollt hatte.
Texte: © Leia
Bildmaterialien: Schwan: - http://alaskastock.deviantart.com/gallery/31769375?offset=72#/d4aubbs - Hintergrund: - http://alzirrswanheartstock.deviantart.com/gallery/3984832?offset=24#/d1uhbxu -
Tag der Veröffentlichung: 24.07.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Meinen Dank an AlskaStock und AlzirrSwanheartStock, die mir freundlicher Weise ihre Bilder zur Verfügung stellten und auch die Teilnahme an Wettbewerben erlaubten.