Die Wellen umspielten neckisch Alex‘ nackte Füße, die bei jedem Schritt ein kleines Stück im Sand versanken. Wenn man genau hinhörte, konnte man unter dem Rauschen der Wellen ein dumpfes Tosen wahrnehmen, die Stimme des Meeres. Hin und wieder schnitten die Kanten kleiner Muscheln in seine Fußsohlen, aber das ignorierte er.
Alex kam oft an den Strand herunter, meist abends, wenn er für kurze Zeit den Stress des Alltags ablegen konnte, als wäre es nur ein dicker Wintermantel. Allerdings der dickste Wintermantel, von dem er je gehört hatte, und im Sommer hatte er noch nie einen Menschen mit solch einer dicken Kleidung gesehen.
Warum konnten all die Probleme nicht wie Fußspuren im Sand sein und hinter ihm in den Ausläufern der Wellen verwischen?
Das Leben hatte es noch nie gut mit Alex gemeint. Er hatte Pech mit allem, was er tat. Seine Freundin ging mittlerweile wahrscheinlich schon wieder fremd, die gesamte Familie saß Haschisch rauchend vor dem Fernseher und seine Hausaufgaben vergammelten auf seinem Schreibtisch, ganz zu schweigen von seinen Vorbereitungen auf die Prüfungen.
Und sein Chef bei PizzaOne entschied mit Sicherheit gerade seine Entlassung.
Alex seufzte. Kühler Wind zupfte an seinen Haaren. Plötzlich herrschte totale Windstille. Alex blieb stehen und sah sich um. Mit einem Mal hob der Wind mit dreifacher Macht an, wehte ihm ins Gesicht, bespritzte ihn mit Gischt und klang genauso schnell wieder ab, wie er gekommen war. „Alex!“, wisperte eine Stimme.
Erschrocken sah er sich um. Der Strand war verlassen. „Wer ist da?“ Er bemerkte, dass er bereits an den Klippen der Steilküste stand, ab hier ging es nicht weiter. „Alex!“, flüsterte die Stimme wieder. „Hab keine Angst. Du kannst mich zwar hören und fühlen, aber nicht sehen.“
Wieder dreht er sich, wandte sich dem Meer zu. „Wer bist du?“, murmelte er. Zu seinem Erstaunen antwortete die Stimme ohne Sprecher. „Kennst du mich nicht mehr?“ Traurigkeit schwang in der Luft. „Mein Name ist Angin, Viento, Vítr, Gaoth, Tuuli, Avel, Vindur - Wind.“
Ein kleines Lächeln breitete sich auf Alex‘ Gesicht aus. „Der Wind also.“ Ein zustimmender Luftstrom wehte in sein Haar.
„Nun Angin, und woher kennst du meinen Namen?“
„Ich kenne dich schon lange. Jeden Abend kamst du früher hierher. Du hast mit den Wellen gespielt und Türme aus Muscheln und Steinen gebaut. Gelacht hast du, oh ja. Es war so schön, dir zuzusehen. Auch mit mir hast du gespielt.
Doch deine Besuche hier unten wurden weniger, dein Lachen verschwand. Inzwischen bist du still, wenn du dich hier sehen lässt. Du hast uns vergessen, Alex!“
Er konnte eine leichte Anklage, sowie Sehnsucht aus der Stimme heraushören. Automatisch machte sich ein schlechtes Gewissen in ihm breit und er kramte in seinem Gedächtnis. Doch da war nichts. Oder doch? Er wusste, dass es eine Zeit gab, in der er die Probleme in seiner Familie nicht verstanden und für selbstverständlich gehalten hatte.
„Ich… d-das tut mir leid“, stammelte er. Ein leises Kichern war in der Luft zu hören, doch der Wind in den Wellen schien traurig.
„Es liegt nicht an dir. Diese Welt ist kalt und hart. Millionen Jahre lang schon wendet sich die Welt mal hier hin, mal da hin. Es scheint, als würde sie nun müde sein und sterben. Die Menschen hören uns nicht mehr, nehmen nur noch unsere Form war. Eure Geräte können uns nur als solches erfassen, an etwas anderes glauben sie schon lange nicht mehr.“
Alex nickte. „Mit uns geht es ziemlich bergab.“ „Alex. Was bedrückt dich?“ Er seufzte. „Alles. Ich kann nicht mehr. Meine Familie ist Drogenverseucht, sie verstehen mich nicht. Ich stehe mit den Prüfungen allein da und komme nicht weiter. Meinen Teilzeitjob hätte ich gar nicht erst annehmen sollen. Und ich schaffe es einfach nicht mich von Lara zu trennen.“
„Lara?“ Er lächelte grimmig. „Ja. Sie ist ein Flitchen erster Klasse.“ Sanft streichelte Angin über sein Gesicht. Er schloss die Augen. „Vergiss sie. Ignorier sie. Dann wird sie von allein gehen. Sie ist nicht wichtig.“ Angin hob seine Arme und umschmeichelte seine Füße. Alex lächelte leise. „Du bist der Wind, Angin.“
„Du bist ein Mensch.“
„Ja. Das ist nicht vorgesehen.“
„Es gibt immer ein erstes Mal, Alex. Seit Millionen von Jahren wendet sich die Welt mal hier hin, mal dort hin. Man kann nie wissen, wo man landet.“ Sie zupfte an seinem Arm und entfernte sich dann plötzlich, als würde sie sich klar, was sie gesagt und getan hatte. „Geh, Alex! Aber komm morgen wieder.“
„Morgen. Genau hier?“, fragte er. „Ich werde da sein. Morgen und jeden Tag“, wisperten der Wind, das Meer, die Wellen.
Die nächsten Wochen erlebte Alex wie in Trance. Die Prüfungen, seine Familie, sein Job – er lebte nur noch den Abend, wenn er die Wellen rauschen hörte, und Angin in seinem Haar spielte, in sein Gesicht wehte, ihn spielerisch herum schubste.
Bald schon fühlte er sich stark zu ihr hingezogen, saß auf den Klippen und sah mit ihr aufs Meer hinaus. Die Wochenenden verbrachte er mit einem Zelt am Strand und auf den Klippen. Keiner störte ihn hier. Er war ganz allein mit sich selbst und Angin, dem Meer, dem Sand und den Wellen.
Eines Abends stand er wieder auf einer Klippe. Angin wirbelte leise und sacht um ihn herum.
„Alex.“
„Mh.“
„Willst du nicht für immer hier bleiben? Bei mir?“
„Wie das?“
„Flieg mit mir, Alex!“ Sie spielte mit seinem Gesicht. Er hob die Hände und ließ Angin durch seine Finger streichen.
„Liebend gern“, hauchte er. „Nur wie?“
„Spring.“
Er riss die Augen auf. „Von der Klippe? Ich würde sterben!“
„Ich werde dich halten. Außerdem kannst du nicht sterben. Ich bin der Wind und du in meinen Erinnerungen.“
„Ich vergaß dich auch.“, gab er ihr zu bedenken. „Du warst ein Kind. Ich kann mich an jeden Moment erinnern, den ich auf der Erde verbracht habe.“
Zögernd sah er über den Rand der Felswand. Wellen tosten unter ihm. Er würde auf jeden Fall sterben. „Was hast du schon zu verlieren?“, wisperte Angin in sein Ohr. „Nichts“, erwiderte er mit rauer Stimme. „Nichts außer dich.“
„Ich bin da, Alex. Du wirst mich nicht verlieren.“
Er zögerte noch immer. Dann tat er einen Schritt nach vorn. „Ich liebe dich, du wirst mich halten.“ Er schloss die Augen und sprang.
Und fiel.
Und fiel.
Und fiel.
Die Wellen verschlangen seinen Körper, begruben ihn mit Wasser, lachten und spielten mit ihm, Erinnerten sich an früher.
Und der Wind sang. „Erhebe dich, Brizo, Meltem, Sjöbris, Embat, Merituuli, Sea breeze – Nordwind!“
Das Meer kreischte, ein Teil der Klippe bröckelte, stürzte unter einem gewaltigen Windzug ins Meer. Die Wellen peitschten höher und begrüßten Brizo mit tosenden Stimmen. Und zwei wispernde, tuschelnde Stimmen waren zu hören, lachten und weinten vor Freude in der Sprache des Windes.
Später würden die Menschen den Körper eines für vermisst aufgegebenen Jungen, gerade 16 Jahre alt, finden. Im Fernsehen würden die Eltern mit leeren Augen einen Bericht über diesen Fund sehen. Er sei beim Zelten mit den Klippen abgestürtzt.
Und auf dem Meer spielen die Winde mit den Möwen.
Texte: © Leia Kath
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Tag der Veröffentlichung: 21.07.2012
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