Cover

Titel

 

 

 

 

 

 

 

ENIGMA

 

Die Schwarze Sonne

 

 

 

 

 

 

von

Oscar Diggs

 

 

 

 

 

 

Teil 1

 

 

 

 

 

 

 

opossum-verlag

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Band 1

opossum verlag München

copyright © 2017 by opossum verlag

Ralf During, Schweppermannstr. 4a

81671 München, Deutschland

Kontakt: mail@opossumverlag.de

Druck und Bindung: Breitschuh & Kock GmbH

 

 

ISBN 978 3 00 054288 6

 

 

 

 

Prolog




»Gnade uns Gott, wenn das bekannt wird«, flüsterte der kleine, kahlköpfige Mann und sah angstvoll in das steinalte Gesicht seines Gegenübers. »Seit wann wisst Ihr davon?«

Doch der im Sessel sitzende Greis antwortete nicht. Er sah nur in das unruhige Kaminfeuer und schien mit seinen Gedanken weit entfernt von den Sorgen dieser verzagten Gestalt vor ihm. Das flackernde Licht grub tiefe Gräben in sein verwittertes Gesicht und spiegelte sich in seinen weißen Pupillen.

»Auch ein Gott kann da nicht helfen«, brach er schließlich das Schweigen und seine Stimme erinnerte Leander an eine schwere, knarrende Eichentür. Eine wie die, hinter der er sich gerade versteckte, um die beiden Männer zu belauschen.

Er wusste nicht, wie er hierhergekommen war. Gerade noch hatte er in seinem Bett unterm Dach gelegen, als er sich plötzlich barfuß und nur mit seinem Schlafanzug bekleidet im Flur dieser fremden Hütte wiederfand. Es roch nach verbranntem Holz.

Spinnen huschten zwischen seinen Füßen über das Holz oder spannten ihre Netze zwischen den grob behauenen Deckenbalken, durch die der Wind pfiff. Leander fürchtete sich vor Spinnen, mehr noch aber vor dem alten Mann wenige Schritte von ihm entfernt. Er wusste nicht wieso, aber die Nähe dieses Greises ließ ihn frösteln.

Leider hatte Leander den Anfang des Gespräches verpasst und fragte sich gerade, wovor sich dieser merkwürdig kleine Mann nur so fürchtete, als sich der Alte abrupt zu ihm umdrehte und ihn mit seinen blinden Augen ansah.

Erschrocken wich Leander von der Tür zurück und spürte sein Herz bis hoch in die Schläfen pochen.

»Was war das?«, krächzte der Alte und der Glatzkopf folgte dem leeren Blick seines Gesprächspartners.

»Ich weiß nicht, was Ihr meint«, antwortete er und spielte nervös an seiner runden Nickelbrille. Dann machte er ein paar unsichere Schritte in Richtung Tür. Vor einem schmalen Buchregal blieb er stehen, zögerte und ging schließlich zurück an den Kamin.

»Da ist niemand«, erklärte er und legte Holzscheite nach. Es war trotz des Feuers kalt im Raum und auch Leander spürte, dass es nicht die Furcht des Entdecktwerdens allein war, die ihn zittern ließ. Sein Atem bildete weißen Nebel und seine nackten Füße fühlten sich wie Eisklumpen an.

Mürrisch drehte sich der Alte in seinem Sessel zurück.

»Das Siegel hielt die Reiche tausend Jahre lang getrennt. Nun, fürchte ich, müssen wir die Prophezeiung ernst nehmen.«

»Was sollen wir tun?«, fragte der Kahlköpfige aufgeregt und schielte misstrauisch zu der Eichentür, in deren Schatten Leander noch immer saß und das Geschehen beobachtete.

»Wir?«, knurrte der Alte mit versteinertem Gesicht. »Wir? Imperfekt, das ist allein Euer Problem oder Ihr wart die längste Zeit der Hirte aller Schatten.«

»Jawohl Herr«, kniete der Angesprochene nieder und griff nach der ausgestreckten Hand des Alten, die ein schwarzer Siegelring zierte. Doch gerade als er diesen küssen wollte, fuhr der Greis erneut herum und zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Tür.

»Vorher aber fangt diese Ratte da draußen und bringt sie mir!«



Teil 1


Das magische Buch



Kapitel 1




Leander fuhr erschrocken zurück und stieß sich den Kopf an der Dachschräge über seinem Bett. Staub wirbelte auf. Überrascht und erleichtert stellte er fest, wieder in seinem Zimmer zu sein. Hatte er geträumt? Noch sah er den skelettartigen Finger auf sich gerichtet, erinnerte sich an die geweiteten Augen des kahlköpfigen Mannes und spürte nur langsam die Angst weichen. Sein Schlafanzug war durchgeschwitzt.

Erschöpft schlug er die Decke zurück und quälte sich aus dem Bett. Obwohl Juni, war es kalt in der schmalen Kammer und das Licht schaffte es kaum durch die kleine Luke im Dach. Leander tastete sich durch das dämmrige Grau zur Tür und hörte Geschirr aus der Küche herauf klappern. Nur widerwillig stieg er die knarzenden Holzstufen hinab, Marvin, sein Schlafkissen, vor die Brust gepresst. Der Traum schien so real. Fast glaubte er, noch immer den Rauch aus dem Kamin zu riechen, als plötzlich sein Vater vor ihm stand.

»Spät dran, mein Sohn. Jetzt aber schnell, dein Frühstück wartet.«

Grußlos ging Leander an seinem Vater vorbei. Der schaute ihm amüsiert hinterher und griff gerade nach der Tür seines Arbeitszimmers, als sich Leander nochmals umdrehte und seinen Vater fragte, ob er Imperfekt persönlich kenne.

»Wen?«, fragte der überrascht.

»Ach, vergiss es«, bedauerte Leander, gefragt zu haben, und ging weiter in Richtung Küche.

Laurenz Noel schüttelte verwundert den Kopf. Nachdenklich verharrte er noch eine Weile vor der Tür, dann betrat er sein Zimmer. Natürlich kannte er Imperfekt, das mächtige Oberhaupt der Schwarze Sonne, wie die Staatspartei Penumbras hieß. Er selbst nannte sich Den Hirten. Jeder in Penumbra kannte ihn, doch begegnet war er ihm nie. Auch hatte er noch nie ein Bild von ihm gesehen, wohl weil Fotos allgemein verboten waren. Nur wieso wollte sein Sohn das plötzlich wissen?

Leander hatte mittlerweile die Küche erreicht und legte Marvin auf die kleine Eckbank neben dem Herd. Dann zog er sich einen Stuhl heran.

»Morgen, der Herr«, begrüßte ihn Flora, die Haushälterin. Sie stand gerade am Fenster und versuchte ein blind gewordenes Glas zu polieren. »Bereit für ein wenig Haferflocken mit Honig?«

Leander nickte müde und starrte auf die schartige Tonschale vor sich. Es war ein Tag wie jeder andere und dennoch der beste im ganzen Jahr. Der Tag vor den großen Ferien.

Flora hielt ihrerseits das Glas nochmals prüfend gegen das Licht. Dann schüttelte sie unzufrieden den Kopf. Dem Glasbrand war nicht beizukommen. Resigniert stellte sie das trübe Glas zurück in den Hängeschrank und hob den Deckel von einem großen Topf mit Hafergrütze. Gerade als sie Leander eine Kelle davon in die Schale klatschen wollte, öffnete sich abermals die Tür und Sally kam herein. Sie trug bereits ihre schwarze Schuluniform und einen Tornister auf dem Rücken.

Sally war Floras Enkelin und wohnte zusammen mit ihren Großeltern in einem Nebentrakt des Hauses. Leanders Vater hatte nach dem Tod seiner Frau Hilfe im Haushalt gesucht und die Eheleute Flora und Florin Wood eingestellt. Diese brachten Sally mit, selbst Waise und gerade acht Wochen alt, die von da an mit dem gleichaltrigen Leander aufwuchs. Vierzehn Jahre später gingen beide in die achte Klasse der Schule von Halphas und waren unzertrennlich.

»Hey Penner«, begrüßte sie ihn lachend und drückte ihrer Großmutter einen Kuss auf die Wange. Mit ihrer eigenen Schüssel Haferschleim setzte sie sich schließlich zu Leander. »Gehst du heute im Schlafanzug?«

Missmutig sah Leander an sich herab, dann zur Wanduhr und nochmals auf seine Pyjamahose. Sie hatte Recht. In zehn Minuten mussten sie los und er war noch nicht einmal im Bad gewesen. Verärgert schob er seine Frühstücksschale weg und erhob sich.

»Hi Sal, pass mal auf Marvin auf. Ich mach mich fertig.«

Sally fuhr sanft über das Kissen und sah Leander belustigt nach, wie er zurück auf sein Zimmer ging. Sie hatte sich an die Marotte ihres Freundes gewöhnt, mit seinem Kissen zu sprechen und es überall mithinzunehmen. Es war ein Geschenk seiner Mutter. Das Einzige vor ihrem Tod, als er noch ganz klein war.


Für die meisten Bewohner Halphas, einer Industriestadt im Westen Penumbras, hatte der Tag schon vor Sonnenaufgang begonnen. Die Werksirenen riefen ab fünf Uhr morgens ihre Arbeiter an die Förderbänder, wo sich die Nachtschicht anschickte, ihr Tagwerk zu beenden. Umgeben war Halphas von einer übermannshohen Mauer, deren Wachtürme das Bild der Stadt prägten. Solche Wehrmauern umgaben auch die anderen Städte Penumbras und dienten nach Aussage der Partei dem Schutz der Einwohner, oder, wie sie sich selbst nannten, der Schatten. Die meisten von ihnen nahmen die Mauer gar nicht mehr wahr. Die zu Halphas nächstgelegene Stadt war Skylla, die Hauptstadt des Landes, und damit das politische Zentrum Penumbras. Hier residierten Partei und Geheimdienst, wohingegen Imperfekt, der Führer aller Schatten, weit entfernt in seinem Kristallpalast am Fuße des Mount Imperial, dem höchsten Berg des Unbesteigbaren Gebirges, thronte. Auf dem Weg dorthin durchquerte man dunkle Wälder, tiefe Schluchten und allerlei andere, wenig einladende Gegenden. Vorbei an den Städten Dusk und Dawn erreichte ein Reisender die Erzminen der Grums unterhalb der großen Steinwüste, wo die Ausläufer des Unbesteigbaren Gebirges begannen, das Penumbra nach Osten hin abgrenzte.


Leanders Schule lag unweit der Altstadt, die von großen Häusersiedlungen umgeben war. Dort hatte der Staat hunderte Wohnungen für die Arbeiter der Stadt errichten lassen. Leanders Vater aber konnte sich ein Haus in einer Vorortsiedlung leisten, was für die Kinder eine halbe Stunde Fußmarsch bis zu ihrer Schule bedeutete. Heute waren sie spät dran.

»Ich hatte einen echt schrägen Traum«, flüsterte Leander, als sie wenig später auf den Weg einbogen, der sie zur Schule führte. Vereinzelt sahen sie Nachbarn aus den Türen treten, andere überholten sie auf dem Weg in die Arbeit. Die fahle Junisonne mühte sich durch den grauen Morgendunst, der oft tagelang zwischen den knorrigen Ästen kranker und von Parasiten befallener Bäume hing.

»Wasn fürn Traum?«, fragte Sally leise. »Und wieso flüstern wir?«

»Keine Ahnung, soll halt keiner von denen mitkriegen.«

Mit denen war die Schwarze Liga gemeint, der Geheimdienst Penumbras, vor dem man sich besser in Acht nahm. Auch Sallys Großmutter senkte stets die Stimme, wenn sie von den Schwarzen sprach.

»Seit wann interessieren die sich für deine Träume?«, fragte Sally verwundert und blickte besorgt in den sich verfinsternden Himmel. Es roch nach Regen. Die grauen Wolken färbten sich schwarz und erste Tropfen fielen. Leander folgte ihrem Blick und zog die Jacke enger um seinen schmächtigen Körper. Dann erzählte er ihr von der Begegnung mit dem alten Mann und dem Glatzkopf.

»Und was war da jetzt schräg dran?«, wunderte sich Sally.

»Ja, kapierst du nicht? Der Alte hat den Glatzkopf Imperfekt genannt.«

»Wie den Hirten?«

»Genau«, nickte Leander vielsagend, doch Sally schien wenig beeindruckt.

»Naja, ein Traum halt«, schmunzelte sie. »Verrat nur keinem, dass unser großer Vorsitzender ein Zwerg mit Glatze ist.«

»Das war zu real, ich schwöre, das war kein Traum.«

»Sondern?«, fragte Sally amüsiert, als ihr das Lächeln gefror und sie Leander am Ärmel zog. »Los, verschwinden wir! Die Zwillinge kommen.«

Leander drehte sich erschrocken um und sah Wayne, der zusammen mit seinem Bruder keine halbe Meile hinter ihnen lief. Der grinste nur, stieß seinem Bruder in die Seite und zeigte auf Leander und Sally.

Wayne und Terry Tauss, Mitschüler der beiden und die größten Raufbolde der Mittelstufe. Sie waren mit ihren fünfzehn Jahren die ältesten und stärksten der Klasse, breitschultrig mit kurz geschorenen, schwarzen Haaren. Im Gegensatz zu Leander, der für sein Alter zu klein war. Außerdem hatte er als Einziger der Schule blonde Haare. Ein weiteres Erbe seiner Mutter, das ihm den Spottnamen Schimmelpilz und die oft schmerzhafte Aufmerksamkeit der Zwillinge eingebracht hatte.

Sally und Leander hasteten den vom Regen aufgeweichten Weg entlang. Vorbei an halb zerfallenen Holzhäusern, verwilderten Vorgärten und einigen wenigen Schatten, die erst jetzt unterwegs in die Fabrikanlagen oder das Kohlebergwerk waren. Die aber nahmen weder die dahineilenden Freunde noch die ihnen nachsetzenden Brüder wahr. Die Regenkapuzen tief ins Gesicht gezogen, schleppten sie sich gebeugt den Weg hinaus zum Tagebau, wo der Schichtwechsel bevorstand und sich die Kollegen anschickten, Pickel, Schaufeln und Schlagbohrer wegzulegen. Glücklich, endlich aus der Hölle aus Dreck, Staub und schmieriger Kohle heimkehren zu können.

»Bleib stehen, du Gnom!«, schrie Wayne Leander hinterher, der sich hilfesuchend nach einem Fluchtweg umsah. Zu ihrem Unglück aber verlief die Straße schnurgerade bis hinab zur Stadt, ohne einen Weg, der sie kreuzte. Zur Schule würden sie es kaum schaffen. Er hörte Sally neben sich keuchen und spürte selbst, wie ihm die Luft knapp wurde. Die Angst trieb ihn an, doch seine Füße rutschten mehr über den lehmigen Boden, als sie ihn trugen. Und noch während er überlegte, wo sie sich verstecken könnten, glitt er aus und fiel der Länge nach in den Dreck. Sally wollte ihm gerade aufhelfen, als ihre Verfolger sie einholten und sich schwer atmend über Leander beugten.

»Na, wen haben wir denn da?«, presste Terry, um Luft ringend, hervor und trat Leander mit seinem Fuß in die Seite. »Die kleine Schlampe und ihren Loserfreund.«

Wayne lachte, als er Sally grob am Arm emporzerrte.

»Ja, ein tolles Liebespaar. Na kleine Lady, ein Kuss gefällig?«

Dabei zog er das Mädchen an sich, um es ins Gesicht zu küssen. Sally aber wand sich unter seinem Griff und versuchte, ihren Kopf wegzudrehen. Dabei drohte sie Wayne, sie nicht anzufassen. Der lachte nur und die Brüder begannen Sally einander zuzuschubsen. Plötzlich riss deren schwarze Bluse und ließ ihr Unterhemd hervorschauen.

»Hey, die kleine Schlampe zieht sich aus«, rief Terry begeistert. »Ja, mach dich nackig für uns und nicht nur für dieses Opfer hier.«

Sprach’s und zeigte auf die Stelle, wo Leander bis eben noch gelegen hatte. Dann stutzte er und rief nach seinem Bruder, der gerade wieder versuchte, Sally zu küssen. Doch dazu kam er nicht mehr.

Leanders Rucksack traf ihn mit voller Wucht. Der blonde Junge hatte alle Kraft, die er aufbringen konnte, in diesen einen Schlag gelegt. Schlammverschmiert, mit geprellter Rippe, aber einer Wut, die stärker war als die Angst vor diesen zwei Raufbolden. Wayne schrie auf und riss die Hände schützend vor den Kopf. Als Leander seinen Rucksack für einen weiteren Schlag hob, fiel ihm Terry in den Arm und entriss ihm die Tasche. Leander wehrte sich und griff nach dem Tragegurt des Rucksacks. Da traf ihn Terrys Faust mitten ins Gesicht. Leander kippte wie vom Blitz getroffen um, fiel ein weiteres Mal der Länge nach in den Schlamm und rührte sich nicht mehr.

»Du Idiot hast ihn umgebracht!«, schrie Wayne seinen Bruder hysterisch an, der langsam seine Faust sinken ließ und erschrocken auf den am Boden liegenden Leander glotzte.

»Du hast ihn umgebracht«, wiederholte Wayne fast weinerlich und schüttelte seinen Bruder. Der schob Wayne von sich und rieb sich die schmerzende Faust. Schließlich ging er ohne ein weiteres Wort zu sagen in Richtung Schule davon. Wayne folgte ihm, während Sally neben Leander auf die Knie sank und ihn besorgt ansah. Er rührte sich nicht. Von den Passanten hatte sich keiner um die raufenden Kinder gekümmert und auch jetzt nahm niemand Notiz von dem Häufchen Elend, das über Leander gebeugt zu schluchzen begann.



Kapitel 2




Doch Leander war nicht tot. Stattdessen trieb er federleicht durch rosa Wolken einen lichtblauen Himmel entlang. Sah unter sich saftig grüne Wiesen, einen See und fröhliche Menschen, die ihm winkten. Ohne jede Anstrengung glitt er durch die Luft, schwebte wie ein Ballon auf und ab und steuerte mit den Armen in jede Richtung, in die er fliegen wollte.

Noch nie hatte er sich so frei gefühlt, so glücklich und leicht. Vom Boden her hörte er Stimmen. Die Menschen warfen Blumen in die Luft und riefen seinen Namen. Leander winkte lachend zurück. Da plötzlich verdunkelten sich die Wolken und Regentropfen fielen. Die Rufe wurden lauter, Blitze zuckten und er spürte, wie ihn die Erde anzog.

Verzweifelt ruderte er mit den Armen in der Luft, die ihn nicht mehr zu halten schien. Wie ein Stein raste er nun auf die ehemals üppigen Wiesen zu. Die hatten sich in karge, braune Äcker verwandelt, auf denen verhärmte Bauern Holzpflüge hinter abgemagerten Ochsen durch die Erde trieben. Leander aber hatte kein Auge für die sich verändernde Landschaft. Er fiel ungebremst der Erde entgegen und die Farben der rasch näherkommenden Felder vermengten sich zu einer matschig grauen Masse. Längst nahm diese sein gesamtes Sichtfeld ein und er fühlte sein Ende nahen, als er aus seiner Ohnmacht emporschreckte und in Sallys verweintes Gesicht sah.

Mühsam richtete er sich auf. Noch vom Schlag benommen griff er nach Sallys helfender Hand und erhob sich stöhnend. Er sah jämmerlich aus. Seine schwarze Schuluniform war schlammverschmiert und das aus dem Rucksack gefallene Schulzeug weichte im stärker werdenden Regen auf. Vorsichtig tastete er nach seinem Kinn, fühlte die geschwollene Lippe und schmeckte Blut. Die Stelle, wo ihn Terry getreten hatte, brannte. Noch mehr allerdings schmerzte ihn Sallys Gesichtsausdruck. Sie musste ihn für einen Versager halten. Doch Sally ließ ihm keine Zeit, sich selbst zu bemitleiden. Die Schule fing jeden Augenblick an und sie hatten noch ein gutes Stück Weg vor sich.

»Wisch dir das Blut aus dem Gesicht und komm«, forderte sie ihn auf, froh, dass ihm nichts Schlimmeres passiert war. Und auch ein bisschen stolz, weil er sich für sie geprügelt hatte. Leander raffte seine Schulsachen zusammen und stopfte sie in den Rucksack zurück. Dann rannten die beiden Freunde ihrer Schule entgegen, deren Läuten in der Ferne zu hören war.


Die Schule selbst war ein schmuckloser Flachbau, an dessen Frontseite ein überdimensionales Banner der Jugendorganisation Dreistrahl angebracht war, auf dem deren Wahlspruch prangte:


Wir siegen und sterben für Penumbra.



Direkt davor war eine überdachte Rednertribüne aufgebaut, um die sich die einzelnen Jahrgangsstufen zum Appell aufgestellt hatten.

Senegal Knock, der Direktor, wartete bereits am Rednerpult, während die Lehrer einzelne Nachzügler zu ihren Klassen scheuchten. Er war ein hochgewachsener, asketisch wirkender Mann, der im letzten Jahr seinen 50. Geburtstag gefeiert hatte. Seine strengen Gesichtszüge standen im Einklang mit seinem Credo, dass Disziplinlosigkeit Vaterlandsverrat war.

Gerade als er an das Mikrofon treten und die Schüler begrüßen wollte, kamen Leander und Sally durch das schmiedeeiserne Tor auf den Appellplatz gelaufen. Zahlreiche Augenpaare folgten ihnen und vereinzelte Lacher waren zu hören.

Während sich Sally zu ihren im Regen stehenden Klassenkameraden gesellte, wurde Leander von seiner Klassenlehrerin Felia Barcuda am Ohr beiseite gezogen.

»Noel, du bist zu spät! Und wie siehst du eigentlich aus?«, zischte sie ihn an. »Es ist eine Schande. Melde dich nach dem Appell beim Direktor.«

Leander nickte und versuchte sein verdrecktes Hemd mit dem Rucksack zu verdecken. Ms. Barcuda aber schob ihn unwirsch zu den übrigen Schülern und winkte dem Direktor, dass alle bereit wären. Terry stieß währenddessen Wayne in die Seite und zeigte zu dem am Rand stehenden Leander.

»Von wegen umgebracht. Da steht der Versager.«

Der Direktor ließ nochmals stolz seinen Blick über die Schüler in ihren schwarzen Schuluniformen mit dem roten Emblem des Dreistrahls an der Brust schweifen. Dann begann er seine Ansprache. Er blickte auf das vergangene Schuljahr zurück und richtete eine Grußbotschaft Imperfekts, des Hirten, an die Klassen. Auch dankte er den Lehrern, die die Kinder Penumbras im Sinne der Schwarzen Sonne erzogen. Er erwähnte den erfolgreichen Ernteeinsatz im letzten Herbst und die Mitarbeit der Oberstufe in den Produktionsstätten der Stadt. Gern erinnerte er an die Rede von Melek Tauss auf dem Wintersonnenfest, dem Höhepunkt des letzten Jahres, wie er es nannte.

Melek Tauss war nicht nur Geheimdienstleiter der Schwarzen Liga, sondern auch der Vater von Wayne und Terry, die sich selbstgefällig grinsend von einigen Mitschülern auf die Schultern klopfen ließen. Sally verzog angewidert das Gesicht. Leander indes konnte sich ein leises Lachen nicht verkneifen, wofür er sich einen bösen Blick seiner Klassenlehrerin einfing.

Der Direktor war mittlerweile bei der Nennung der Jahrgangsbesten angekommen und ging zur Verlesung der Namen über, die das Klassenziel nicht erreicht hatten und das Schuljahr wiederholen mussten. Schließlich forderte er die männlichen Schüler auf, sich – soweit noch nicht geschehen – für das Sommerferiencamp anzumelden und an der dort angebotenen Sportausbildung teilzunehmen.

Leander verdrehte die Augen. Von wegen Sportausbildung, dachte er bitter. Nur zu gut konnte er sich noch an die Erzählungen im letzten Jahr erinnern, als ein Betreuer das Camp verlassen musste, weil er wiederholt Kinder geschlagen und schikaniert hatte. Zu seinem Pech war eines der Opfer der Sohn eines hochrangigen Parteimitglieds gewesen, weshalb die Schule den Betreuer in aller Stille ausgetauscht hatte. Passiert war dem angeblich nichts. Er arbeitete weiter als Sportlehrer und quälte nun all die, die wie Leander beim Grenzball als Letzte in die jeweilige Mannschaft gewählt wurden.

Nur war das nicht alles. Leander hatte gehört, dass sogar mal ein Schüler im Camp gestorben sei. Damit das aber niemand erfahren konnte, hieß es, habe man die Eltern des toten Jungen eingesperrt. Ein Gerücht, doch Leander glaubte fest daran und war froh, dass es seinem Vater egal war, ob er in das Camp wollte oder nicht.

Zum Abschluss stimmte der Direktor die Hymne Dreistrahls an, da auf das von einer Klasse einstudierte Kulturprogramm angesichts des Regens verzichtet wurde. Damit endete der Appell so früh, dass die Schüler nicht in die erste Pause, sondern zurück in ihre Klassenräume mussten. Nur Leander fand sich unvermittelt an der Seite von Ms. Barcuda, die ihn an höhnisch grinsenden Mitschülern vorbei zum Direktort schleifte. Dort warteten sie, bis Senegal Knock eintraf und Leander aufforderte, sein Büro zu betreten.

Das Büro war ein schlichter, weiß getünchter Raum, an dessen Wänden Stundenpläne, zwei Buchregale und die Staatsflagge mit dem Logo der Schwarzen Sonne aufgehängt waren.

Unweit des überquellenden Schreibtischs fand sich eine kleine Sitzecke mit zwei Sesseln. Der Direktor aber nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und bedeutete Leander, davor stehen zu bleiben.

»Noel. Du schon wieder. Es vergeht offensichtlich kein Tag, an dem mir keine Klagen über dich zu Ohren kommen.«

Leander sah betreten auf seine vor Schlamm starrenden Schuhspitzen und dachte an seinen letzten Besuch hier vor wenigen Tagen. Man hatte ihn dabei erwischt, wie er die Feuerleiter der Schulturnhalle hinabgeklettert war. In Unterhosen. Natürlich nicht freiwillig. Wayne, Terry und ein paar andere Jungs aus der Klasse hatten ihm beim Duschen die Klamotten geklaut und ihn in der Umkleidekammer eingeschlossen. Heute hingegen war er nur ein paar Minuten zu spät zum Appell gekommen.

Der Direktor sah von Leander weg aus dem Fenster, in dessen staubige Oberfläche der Regen Linien gemalt hatte. Schließlich räusperte er sich und zog eine Namensliste aus einem der zahllosen Papierstapel auf seinem Tisch.

»Abgesehen von der Respektlosigkeit, dass du heute nicht nur zu spät, sondern auch noch in diesem Aufzug zum Schulappell gekommen bist, habe ich von Ms. Barcuda erfahren, dass du dich noch nicht für das Sommercamp eingeschrieben hast.« Leander zuckte zusammen. Das Sommercamp. Natürlich hatte er sich nicht dafür eingeschrieben. Keiner mit einem Funken Verstand tat das, außer man wollte zwei weitere Wochen von Typen wie den Tauss Zwillingen drangsaliert werden.

»Nein, hab ich nicht«, antwortete er leise und vermied, den Direktor dabei anzusehen.

»Und weshalb nicht?«, bohrte dieser nach und ließ Leander nicht aus den Augen.

Fieberhaft suchte der nach einer glaubhaften Ausrede, doch außer, dass er wenigstens in den Ferien seine Ruhe haben wollte, fiel ihm nichts Brauchbares ein.

»Ich wusste nicht, dass es Pflicht ist«, stammelte er schließlich und wünschte sofort, er hätte das nie gesagt.

»Nein, ist es auch nicht«, antwortete Direktor Knock mit einem Lächeln, das Leanders schlimmste Ahnung zu bestätigen schien. »Aber Dreistrahl zählt auf Jungen wie dich oder hast du etwas gegen unsere Jugendorganisation?«

Natürlich hatte er etwas dagegen. Nur gab es eine Wahl? Automatisch wurde jeder Schüler Mitglied, ob er es wollte oder nicht. Doch das zuzugeben, wäre Vaterlandsverrat und würde zum Schulverweis führen, wenn nicht Schlimmeres. Also schwieg Leander und schüttelte nur langsam den Kopf.

»Na bestens«, lehnte sich Direktor Knock zufrieden zurück, legte die Fingerspitzen aneinander und wippte mit seinem Stuhl leicht auf und ab.

»Dann setze ich dich noch auf diese Liste und belasse es für dein heutiges Zuspätkommen bei einer Strafarbeit. Melde dich nach dem Unterricht in der Schulbibliothek bei Mr. Zinnober. Der benötigt Hilfe.«

Damit war das Gespräch beendet und Leander entlassen.



Kapitel 3




»Bei Zinnober?«

Sally sah Leander verwundert an, als er ihr in der ersten Pause von seiner Strafarbeit erzählte. »Was braucht der Hilfe bei den paar Büchern, die wir da unten haben?«

Leander wusste es nicht, denn in der Tat spielten Bücher im Unterricht kaum eine Rolle. Das einzige Buch, aus dem sie regelmäßig lasen, handelte von den Heldentaten der großen Parteivorsitzenden der Schwarzen Sonne und den Errungenschaften Penumbras, die diesen Vorsitzenden zu verdanken waren. Am häufigsten wurde es in Parteikunde verwendet. Ebenso in Geschichte und auch im Literaturunterricht kam es zum Einsatz. Selbst in Kunst arbeiteten die Lehrer gern mit dem Buch, wenn es darum ging, Bilder aus dem Leben der großen Führer zu malen. Das war ein ähnlich beliebtes Zeichenmotiv wie der Dreistrahl, das Emblem von Partei und Jugendorganisation, das den rostfarbenen Buchumschlag zierte.

Leanders Exemplar war alt und abgegriffen, besaß aber noch alle Seiten. Das lag weniger an der Sorgfalt, mit der er Bücher normalerweise behandelte, als vielmehr daran, dass er es kaum benutzte. Zuhause dagegen las er gern. Seine Mutter hatte ihm einige Bücher aus ihrer Jugend hinterlassen und auch Flora hütete manchen Schatz in ihrer Bücherkiste.

Oft saßen er und Sally zusammen in ihrem Baumhaus und lasen einander aus Floras Abenteuerromanen vor, reisten durch die Zeit oder lernten unbekannte Welten kennen. Selbst sein Vater hatte im Arbeitszimmer eine kleine Bibliothek, die überwiegend aus Lexika und Fachbüchern bestand, deren Titel Leander langweilten. Das traf allerdings auch auf ein anderes Buch zu, das Leander zu seinem Leidwesen fast täglich aufschlagen musste, sein Mathematikbuch. Weit schlimmer als Mathe war nur die Aussicht, einen Teil seiner Ferien in dem verhassten Schülercamp verbringen zu müssen. Doch davon erzählte er Sally noch nichts.

»Ich wette, du darfst dir eine Stunde lang die wirren Geschichten des alten Zausels anhören«, lachte Sally, ohne auf das Schweigen ihres Freundes zu achten. »Dem Codi aus der Neunten hat er mal erzählt, dass seine Vorfahren aus Illumina stammen. Zum Schießen.«

Leander horchte auf. Illumina oder auch die Lichtwelt war das große unbekannte Land jenseits des Unbesteigbaren Gebirges. Ein Land, in dem angeblich den ganzen Tag die Sonne schien, die Natur üppig, das Gras leuchtend grün und die Menschen fröhlich waren. Ein Land, das es offiziell nicht gab und deren Bewohner geächtete Feinde Penumbras, dem Land der Schatten, waren. So zumindest wurde es in der Schule gelehrt. Manche Eltern aber erzählten ihren Kindern, wenn sie abends hungrig oder krank im Bett lagen, dass sie in ihren Träumen nach Illumina reisen könnten, um glücklich zu sein. Laut würde das jedoch niemand aussprechen, ohne in den Kerkern der Schwarzen Liga zu landen.

Auch Leander sprach nie über Illumina, selbst wenn er seinen Vater manchmal im engsten Kreis von diesem magischen Land reden hörte.

»Das hat er nicht gesagt«, schüttelte er ungläubig den Kopf. »Das wäre Hochverrat.«

»Quatsch, das ist Zinnober«, lachte Sally und zwinkerte ihrem Freund zu. »Kennst den ja. Der ist so verwirrt, der würde behaupten, fliegen zu können, nur weil er zu alt zum Laufen ist. Der ist harmlos.«

Da war sich Leander nicht so sicher. Viel Zeit, darüber nachzudenken, blieb ihnen aber nicht. Die Schulglocke schrillte zur zweiten Stunde und die Schüler tobten in ihre Klassenzimmer zurück.

Erst in der sechsten Stunde, als die Zeugnisse verteilt wurden, dachte Leander wieder an Zinnober und seine Strafarbeit. Er würde zu spät zum Essen kommen und bat Sally, die hinter ihm saß, ihrer Großmutter Bescheid zu sagen.

»Hey Schimmelpilz«, tönte es da von der Seite. »Schau nach vorn, sonst wird mir schlecht.«

Das kam von Terry und einzelne lachten. Einzig Ms. Barcuda, die die Zeugnisse verteilte, tat, als ob sie nichts gehört hätte. Leander verbiss sich eine Antwort, drehte sich auf seinen Platz zurück und schwor, sich irgendwann an diesem Kotzbrocken und seinem Bruder zu rächen.

Doch zuvor musste er hinab in den Schulkeller, an dessen staubigem Ende ein kleiner Verschlag den überschaubaren Fundus an Büchern beherbergte, der hochtrabend Bibliothek genannt wurde. Hier wartete Zinnober auf ihn.

Zinnober war ein alter, mürrischer Greis, der so gebeugt durch die düsteren Kellerflure schlurfte, dass sein langer, grauer Bart den Boden entlang wischte. Hierdurch aufgeschrecktes Ungeziefer verfing sich in dem zerzausten Haargeflecht, was Zinnober nicht zu stören schien. Manche behaupteten sogar, er würde mit diesen Tierchen sprechen. Aber so richtig wunderte auch das niemand.


Es war Leanders erster Besuch in der Bibliothek und so musste er sich in dem Labyrinth aus düsteren Fluren, staubigen Kammern und Heizungsräumen voller Spinnweben erst einmal zurechtfinden. Vorbei an Kohlebrikettbergen, ramponierten Holzbänken und Stühlen aus den Klassenzimmern, zerschlissenen Karten des Erdkundeunterrichts und einer Armada ausgestopfter Tiere, die im Biologiekabinett keinen Platz mehr hatten und nun aus toten Augen finster auf Leander herabsahen. Soweit man in dem flackernden Licht der vereinzelt von der Decke baumelnden Glühbirnen erkennen konnte, blühte an den feuchten Wänden Schimmel und Salpeter. Es roch modrig und nach Mäusen, die man zu Dutzenden in den finsteren Ecken des Kellers fiepen hörte. Andere lagen bereits tot und verwest herum.

Leander wusste nicht, ob es ihn eher grausen oder ekeln sollte, weshalb er froh war, als er endlich eine offene Tür am Ende eines engen Gangs sah, aus der heraus schwaches Licht drang. Das musste Zinnobers Reich sein oder eher dessen Rumpelkammer, wenn es dort nur annähernd wie im restlichen Keller aussah.

Tatsächlich aber war die Kammer bis unter die Decke mit Büchern vollgestopft. Weit mehr, als er erwartet hatte. Überall ragten Buchrücken aus übermannshohen Regalen, stapelten sich Folianten in schmalen Gängen oder quollen aus herumstehenden Kisten. Ein Geruch von altem Leder und Staub trug durch den Raum und erinnerte Leander an den Dachboden im Haus seines Vaters. Noch nie aber hatte er eine solche Menge Bücher gesehen, schon gar nicht auf einem Haufen. Es waren so viele, dass man, um die Titel der unteren Regalreihen lesen zu können, auf allen Vieren kriechen oder sich einer wackeligen Holzleiter bedienen musste, um in der Höhe nach Büchern zu suchen.

Leander beabsichtigte keines von beidem zu tun und fragte sich gerade, wo Zinnober blieb, als dieser auf einen Stock gestützt hinter einem der Regale hervortrat. Die meisten Schüler fürchteten sich ein wenig vor diesem knorrigen Zwerg, von dem man die merkwürdigsten Geschichten vernahm. Leander gehörte nicht dazu. Selbst Außenseiter hegte er Sympathien für jeden, der anders schien, und war auf sein erstes persönliches Treffen mit dem Bibliothekar gespannt.

»Wird ja langsam Zeit«, brummte dieser statt einer Begrüßung und wies mit seinem Stock auf ein Regal hinter Leander.

Die Bücher dort müssen sortiert werden, alphabetisch. Du kennst doch das Alphabet?«

Leander musste lachen.

»Natürlich, Sir. Kenn ich.«

»Lass mich mit deinem Sir in Frieden, du halbe Portion, und mach dich an die Arbeit«, erwiderte Zinnober unwirsch und schlurfte, ohne sich zu verabschieden, in den hinteren Teil der Bibliothek zurück. Leander wollte ihm erst nachlaufen und fragen, ob er danach gehen könne. Dann aber drehte er sich um und stöhnte auf.

Das Regal hinter ihm reichte über die ganze Wand und war mit dicken, ledergebundenen Folianten vollgestopft, von denen jeder mindestens zwei Kilo wog. Es würde Stunden dauern, bis er diese verstaubten Monster sortiert und umgestellt hatte. Eine Weile überlegte Leander noch, ob er unten oder oben beginnen sollte, dann entschied er sich für die Regalreihe in Augenhöhe. Nur mit Mühe zog er den ersten Lederband hervor. Der Gürtel des Orion prangte in dicken Lettern auf dem Einband.

Na toll, dachte Leander entnervt, kommt das jetzt unter D, G oder O? Achselzuckend legte er das Buch zur Seite und griff nach dem nächsten. Die Magie des Daidolus. Das war auch nicht besser. Selbst der dritte Band brachte keine Klarheit. Leander überlegte, Zinnober um Rat zu fragen, als ihm ein schmales Büchlein auffiel, das so gar nicht zu den ledrigen Riesenbänden zu passen schien. Es stand direkt neben der Magie des Daidolus und ähnelte einem Notizbuch. Dennoch wirkte es ebenso alt und verschlissen wie die übrigen Bücher. Leander nahm es aus dem Regal und war erstaunt, wie weich sich dessen dunkelbrauner Ledereinband anfühlte und wie schwer es trotz seiner geringen Größe in der Hand wog.


ENIGMA


war in goldenen Lettern auf der Vorderseite eingeprägt. Die Innenseiten hingegen waren leer.

Also doch nur ein Notizbuch, dachte Leander enttäuscht und wollte es gerade unter E ablegen, als ein Brief aus einer der hinteren Seiten zu Boden fiel. Leander bückte sich danach und erstarrte. Der Brief war an ihn adressiert. Das aber war es nicht, was sein Blut gefrieren ließ. Es war der Absender. Der Brief kam von seiner Mutter.


Leanders Mutter war, wie ihm sein Vater erzählt hatte, kurz nach seiner Geburt verstorben. Er hatte sie nie kennengelernt, träumte allerdings oft von einer Frau, die seine Mutter hätte sein können. Eine hochgewachsene, blonde Frau mit weicher Stimme, die ihm Trost zusprach, wenn er ihr von seinen Schwierigkeiten in der Schule, den ständigen Hänseleien der Tauss Zwillinge oder der oft kühlen Art seines Vaters erzählte. Leander hatte manchmal das Gefühl, sein Vater gab ihm die Schuld am Tod seiner Mutter, doch die Frau in seinen Träumen versicherte ihm, dass dem nicht so wäre. Am Schönsten war es, wenn sie ihn nochmals in den Arm nahm, bevor er aufwachte und merkte, dass das Einzige, was er im Arm hielt, Marvin war. Das Kissen seiner Mutter und sein bester Freund.


Zögernd entfaltete Leander den Brief und las die drei Worte, die sein Leben unwiderruflich verändern sollten.



Folge dem Buch



stand in geschwungener Handschrift in der Mitte des Blattes. Das war alles? Kein persönliches Wort? Keine Erklärung, kein Gruß, nichts? Egal, wie oft Leander das Blatt drehte und wendete, es blieben drei Worte und mehr Fragen, als sie beantworteten. Galt das ihm? Wohin sollte er dem Buch folgen und wieso überhaupt? Er hatte nicht vor zu verreisen und woher kam der Brief? Wer wusste, dass er hier dieses Buch finden würde? Irritiert steckte er den Brief zurück zwischen die Seiten. Jemand musste sich mit ihm einen schlechten Spaß erlaubt haben, denn seine Mutter war tot und würde ihm keine Briefe mehr schreiben. Zumindest keine mit: Folge dem Buch.

Hatte er wirklich geglaubt, seine Mutter würde noch leben und mit ihm Kontakt aufnehmen? Überrascht stellte Leander fest, wie glücklich ihn diese Vorstellung machte und wie sehr ihn nun die Erkenntnis schmerzte, dass alles nur ein geschmackloser Scherz war.

Wütend wollte er das Buch zurückstellen. Dann aber überlegte er es sich anders und steckte Buch und Brief in seinen Rucksack. Immerhin war der Brief an ihn adressiert und ein Buch mehr oder weniger würde unter den Hunderten hier kaum auffallen.

Die nächste halbe Stunde verteilte Leander die schweren Folianten am Boden der Bibliothek und war schier am Verzweifeln, als plötzlich Zinnober neben ihm stand und ihn mit einem zur Seite geneigten Kopf schmunzelnd ansah.

»Na, doch nicht so einfach?«

Leander schüttelte missmutig den Kopf.

»Naja, Hauptsache, du erzählst dem da oben nichts.« Leander schaut überrascht auf.

»Wem?«

»Na diesen steifen Lulatsch mit seinem Sonnenanstecker.«

Damit konnte nur Direktor Knock gemeint sein. Keiner sonst in der Schule trug den Calis-Orden der Schwarzen Sonne in Silber. Melek Tauss persönlich hatte ihn Knock anlässlich des Wintersonnenfestes für seine Verdienste für Partei und Vaterland verliehen. Leander erinnerte sich noch gut, wie Knock bei seiner Dankesrede etwas von der Liebe zu seinen Schülern gefaselt hatte, die ihn für all die täglichen Mühen entschädigen würde. Er fürchtete damals, sich übergeben zu müssen. Was aber sollte der Direktor nicht erfahren?

Zinnober zeigte nur auf Leanders Rucksack, dem das Herz beim Gedanken an das dort versteckte Buch in die Hose rutschte. Dann räusperte er sich und knarrte:

»Genug gearbeitet. Nimm dein Zeug und schau, dass du raus kommst. Sonst sind die Ferien zu Ende, bis du hier fertig bist.«

Leander konnte sein Glück kaum fassen. Er wollte unbedingt Sally von diesem merkwürdigen Brief erzählen, doch noch lagen dutzende Bücher am Boden.

»Soll ich die noch wegräumen?«, fragte er schließlich.

»Das mach ich schon, raus jetzt«, brummte der Greis gutmütig und bückte sich nach einem der Bücher.

Leander zögerte, nahm dann aber seinen Rucksack und verließ die Bibliothek, bevor es sich der komische Kauz noch anders überlegte. Zinnober dagegen lächelte zufrieden und ließ mit einer einzigen Handbewegung sämtliche Bücher am Boden verschwinden.



Kapitel 4




Seramis rannte so schnell ihn seine alten, müden Beine trugen durch die eisigen Hallen des Kristallpalastes. Sein Atem zeichnete sich weiß gegen das Blau der Wände ab, die in unzähligen Schattierungen erstrahlten. Dort aber, wo sich das von außen einfallende Licht brach, wirkte das Eis wie flüssiges Glas, das zu Boden rann. Der Raureif um ihn herum glitzerte, als ob er im Inneren eines Diamanten stünde.

Doch Seramis hatte keinen Blick übrig für die vergängliche Schönheit des Augenblicks. Er hastete durch die verwinkelten Flure, Schweiß troff ihm von der Stirn. Der Hall seiner Schritte wurde von dem harten, kalten Boden zurückgeworfen und mischte sich mit dem Keuchen seiner schmerzenden Lungen. Ihn trieb die nackte Angst durch die sich windenden Gänge, immer höher dem Thronsaal entgegen, die Augen der wenigen Diener im Rücken. Seit der blaue Kristall zu leuchten begonnen hatte, lief ihnen die Zeit davon und merkwürdige Dinge gingen vor. Erst der Einbruch letzte Woche und nun... Er wagte kaum daran zu denken.

»Platz da, macht Platz!«, rief er mit hoher, nasaler Stimme den Entgegenkommenden zu.

Verwundert sahen die ihm hinterher. Es gehörte sich nicht, im Palast unangemessen schnell zu laufen. Seramis aber kümmerte sich nicht um Etikette, nicht heute.

Endlich stand er atemlos vor dem letzten und größten Raum der Festung. Die davor postierten Wachen blickten finster durch ihn hindurch. Er stellte keine Gefahr dar. Das aber war der Grund, wieso Seramis den Hirten sprechen musste. Gefahr nahte und erste Vorboten hatten Penumbra erreicht.

»Bringt mich zu IHM!«, forderte er mit letzter Kraft die Wachen auf. Sie gehorchten und wenige Augenblicke später kniete Seramis vor einem leeren Thron aus blankem Eis und neigte den Kopf.

»Erhebe und erkläre dich!«, donnerte eine tiefe Stimme über seinen Kopf hinweg und Seramis blickte scheu nach oben, wo über dem Thron eine rotglühende Kugel schwebte, die Schwarze Sonne. Ansonsten war der große Saal leer. Einzelne, blank geputzte Flächen wirkten wie Spiegel, die das matte Tageslicht verstärkten und den Raum erstrahlen ließen.

»Imperfekt, mein Hirte, ich fürchte ich habe schlechte Neuigkeiten«, flüsterte Seramis und suchte in der Hoffnung, dem großen Vorsitzenden endlich einmal persönlich zu begegnen, den Raum mit den Augen ab. Vergebens. Einzig dessen dunkler Bass trug schwer durch den Saal und hieß ihn fortzufahren.

»Der blaue Kristall hat zu leuchten begonnen und den alten Büchern zu Folge bedeutet das...«

»Ich weiß, was das bedeutet«, unterbrach ihn die Stimme barsch. »Hat man das Siegel Äons wiedergefunden?«

Seramis schüttelte unmerklich den Kopf. Dieses Siegel war ein Artefakt der alten Zeit. Eine kleine, tausend Jahre alte Pyramide, die einst Äon, dem Gründer der Welt, gehörte. Es hieß, sie habe magische Kräfte. In den letzten 30 Jahren, in denen Seramis dem Hirten diente, lag das Siegel allerdings hinter dicken Mauern aus Eis, zusammen mit dem Blauen Kristall, den es angeblich bewachte.

Leider hatte niemand das Siegel bewacht. Seit einer Woche war es verschwunden und der Dieb noch nicht gefasst. Seramis konnte sich das nicht erklären. Es war unmöglich, unbemerkt in den Kristallpalast zu gelangen, geschweige denn in die geheime Kammer der Zeit, wo Siegel und Kristall verwahrt wurden. Er und Melek Tauss, der Geheimdienstchef, hatten sich anlässlich einer kleinen Feier im Palast höchstpersönlich davon überzeugt, dass der wertvollste Schatz des Reiches in Sicherheit lag. Kurz darauf war das Siegel verschwunden und der blaue Kristall hatte zu leuchten begonnen.

Das kam einer Katastrophe gleich. Stand doch geschrieben, dass mit dem Leuchten des Kristalls die Ära des Schattenreiches zu Ende ginge und das Zeitalter des Lichts anbräche. Damit konnte nur ein Sieg des Todfeindes Illumina, der Lichtwelt, über Penumbra gemeint sein und damit das Ende all dessen, wofür Imperfekt und die Schwarze Sonne standen.

»Sucht das Siegel und stört mich nicht länger!«, riss ihn Imperfekts donnernde Stimme aus den düsteren Gedanken. »Ist Lateran informiert?«

Wieder verneinte Seramis.

»Dann werde ich das tun und nun verschwindet. Findet den Dieb und werft ihn Celab zum Fraß vor.«

Seramis erschauderte. Celab war die Ausgeburt der Hölle, ein Monster Thanats, der Unterwelt, und wie das Siegel selbst ein Überbleibsel der alten Zeit. Niemals würde Seramis sich diesem blutgeifernden Ungetüm nähern, das in den Tiefen des Unbesteigbaren Gebirges hauste und den Zugang zur Unterwelt bewachte. Aber noch war der Siegeldieb auch nicht gefasst.

So verneigte er sich schließlich und verließ in gebeugter Haltung den Saal. Er zitterte am ganzen Körper und diesmal lag es nicht am Eis, aus dem der Raum geschaffen war.



Kapitel 5




Leander hatte die Schule mittlerweile verlassen und trottete das holprige Kopfsteinpflaster in Richtung Altstadt entlang. Mochte Zinnober noch so geheimnisvoll tun, er musste wenigstens mit Sally über dieses merkwürdige Erlebnis sprechen. Sonst würde er platzen.

Der Regen hatte aufgehört. Einzig Nebel kroch noch grau und feucht durch die alten Gassen, vorbei an blinden Schaufensterscheiben und ehemaligen, mit Brettern vernagelten Krämerläden. Modrig dampfte es aus den Abflusslöchern der Straße und ein Geruch von alter Wäsche drang durch jede Ritze der baufälligen Häuser. Tauben pickten zwischen den Kopfsteinen nach letzten Krumen. Ansonsten schien die Stadt wie ausgestorben. Nur vereinzelt sah Leander Leute an den wenigen offenen Läden anstehen, meist nach Brot oder Kartoffeln. Butter war rationiert und Obst hatte es seit der Heuschreckenplage im letzten Jahr keines mehr gegeben. Es fehlte an Sonne und die Regierung hatte Kohlköpfe an jede Familie verteilen lassen. Einen pro Kopf. Vermutlich würde es heute wieder Kohlsuppe oder Krautwickel geben, doch Leander hatte keine rechte Lust heimzukehren. Zu sehr musste er an den Brief und seine Mutter denken, auch wenn vermutlich alles nur ein dummer Streich war.

Ob er seinem Vater von dem Brief erzählen sollte? In jedem Fall musste er mit ihm über dieses doofe Camp sprechen. Er hoffte im Stillen, mit Hilfe seines Vaters um das Lager herumzukommen. Da riss ihn lautes Hupen aus seinen Gedanken. Ein motorisierter Panzerwagen der Staatspolizei schoss an ihm vorbei und bog in die nächste Gasse ein. Die Tauben flogen aufgeregt gurrend in die Luft und auch Leander war erschrocken zur Seite gesprungen. Kopfschüttelnd sah er der rußigen Staubwolke, die das Gefährt hinterließ, hinterher. Es war wohl doch besser, nach Hause zu gehen.


Flora schlug die Hände zusammen, als sie Leander in seiner vor Schmutz starrenden Schuluniform und der geschwollenen Lippe zur Tür hereinkommen sah. Der Rest der Familie saß bereits am Mittagstisch. Glücklicherweise gab es nichts mit Kohl.

»Geht schon«, wehrte Leander halbherzig Floras Bemühen ab, seine Verletzungen zu untersuchen. »Ist nur ne Schramme. Bin ausgerutscht.«

Dabei hoffte er, dass Sally noch nichts von der unrühmlichen Begegnung mit den Tauss Zwillingen erzählt hatte. Die aber sah kaum von ihrem Teller auf und nuschelte mit vollem Mund, dass mancher zu doof zum Laufen wäre. Dann aß sie weiter. Leander fiel ein Stein vom Herzen.

Noch satt von den Ereignissen des Nachmittages, fragte er, ob er auf sein Zimmer gehen dürfe. Er hätte keinen Hunger und müsse sich umziehen. In Wirklichkeit wollte er Marvin als erstem von diesem merkwürdigen Tag erzählen und hoffte, wenigstens sein Kissen würde eine Idee haben, was er mit diesem Buch anstellen solle.

Doch Leander hatte kaum die Tür zu seiner Kammer hinter sich geschlossen, da klopfte es auch schon und Sally schlüpfte hinein. Sie hatte gespürt, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte und brannte darauf zu erfahren, ob es mit dem wunderlichen Zinnober zu tun hatte.

Noch bevor Leander antworten konnte, rief Florin, Sallys Großvater, nach oben, ob sie ihm kurz helfen könnten. Leander hob entschuldigend die Hände und vertröstete Sally mit einem vielsagenden »später«. Sichtlich enttäuscht folgte sie ihm in den Garten.

»Wolltest du dich nicht umziehen?«, fragte Florin, als er Leander zwei lederne Arbeitshandschuhe reichte. Der verdrehte nur die Augen und fragte, wofür die Handschuhe seien. Da betrat auch sein Vater den Garten und gesellte sich zu ihnen.

»Wir müssen den Baum da fällen«, zeigte Florin auf eine knorrige Buche neben dem Haus. »Die Wurzeln zerstören das Fundament.«

»Doch nicht den mit unserem Baumhaus?«, rief Sally entsetzt und auch Leander hielt erschrocken die Luft an.

»Tut mir leid, Kinder. Baumhaus oder die Villa, einer muss weichen«, brummte Florin sichtlich bedrückt und schob sich ratlos eine weiße Haarsträhne aus dem Gesicht.

Natürlich war das Haus alles andere als eine Villa. Das Holz war an vielen Stellen morsch und abgeblättert, Fenster und Türen quietschten in den Angeln. Die Dachschindeln waren bemoost und die Regenrinne hing durch. Es war nicht leicht, in Penumbra an Baumaterial zu kommen. Einzig der Größe wegen nannte man das Anwesen, um das sich Florin, so gut es eben ging, kümmerte, liebevoll spöttisch Die Villa.

Sally standen Tränen in den Augen, während Leander hilfesuchend zu seinem Vater emporsah. Der aber strich seinem Sohn über die blonden Haare und fragte lediglich, ob es heute nicht Zeugnisse gegeben hätte.

Tolle Hilfe, dachte Leander enttäuscht und schob die Hand seines Vaters weg. Es war ihm peinlich, im Beisein von Sally wie ein Kind behandelt zu werden.

»Dann lass dich später mal bei mir blicken«, beendete Laurenz Noel die Diskussion um den Baum und ging zurück ins Haus.

Florin hatte zwischenzeitlich damit begonnen, die unteren Äste vor dem Fällen abzusägen. Leander sollte diese zu einem großen Haufen zusammentragen und Sally half ihrem Großvater, die Leiter umzustellen. Gelegentlich wechselten die Kinder wütende Blicke. Doch was hätten sie tun sollen?


Am Abend lag der große, stolze Baum in Stücke zersägt und zu Holzscheiten aufgeschichtet an der Stelle, wo einst im Schatten seiner breiten Krone Leander und Sally Schlossherr und Burgfräulein gespielt oder einander aus Büchern Geschichten von fernen Ländern und magischen Wesen vorgelesen hatten. Traurig ließ Leander einen letzten Blick über seinen gefallenen Freund schweifen. Dann ging er bedrückt ins Haus zurück, wo sein Vater auf ihn wartete.

Dunkelheit umfing ihn beim Betreten der Diele. Wie so oft hatte das Kraftwerk den Strom über Nacht abgestellt, weshalb Leander nach einer Kerze suchte, sein Zeugnis griff und schließlich am Zimmer seines Vaters klopfte.

Der saß an seinem Schreibtisch und telefonierte. Leander war von diesem großen, schwarzen Apparat fasziniert. Obwohl er das Telefon selbst noch nie benutzt hatte, – keiner, den er kannte, hatte so ein Gerät – fand er das knatternde Geräusch beim Drehen dieser löchrigen Scheibe aufregend. Sein Vater allerdings schätzte es nicht, wenn man ihn beim Telefonieren störte. Deshalb wollte Leander die Tür gerade wieder schließen, als ihn sein Vater heranwinkte.

»...dann sehen wir uns am Montag«, beendete er sein Gespräch und sah seinen Sohn einen Moment lang schweigend an. Dann legte er auf.

»Große Ferien also? Ja, Kind müsste man noch mal sein.« Hast du eine Ahnung, hätte Leander fast geantwortet und dachte an die vielen Tage, an denen er sich nach der Schule heimschleichen musste, um der Tauss Clique nicht in die Arme zu laufen. Tatsächlich aber nickte er nur und hockte sich auf den kleinen Schemel am Fuße des schweren Eichenschreibtisches seines Vaters. Der saß ebenfalls bei Kerzenschein, so dass Leander den Rest des Zimmers nur erahnen konnte. Er war selten in dem sonst abgeschlossenen Raum und meist war es so dunkel wie heute.

»Ehrenrunde oder Versetzung?«, schmunzelte Laurenz, als ihm Leander sein Zeugnis reichte. Mit leichtem Nicken quittierte er die einzelnen Noten. Wie immer gab es wenig auszusetzen. Doch plötzlich stutzte er und runzelte die Stirn. »Eine Ermahnung in Perfekta?«

Perfekta, oder auch Parteikunde genannt, war ein Schulfach, in dem aktuelle Zeitgeschichte unterrichtet wurde. Gelegentlich kamen Parteivertreter der Schwarzen Sonne an die Schule und erklärten den Kindern, dass die Bewohner Penumbras im Mittelpunkt der Partei ständen. Da rutschte Leander die Frage heraus, wer denn dann im Vordergrund stünde? Er musste daraufhin das Klassenzimmer verlassen und kassierte einen Zeugniseintrag.

Leander verzog nur das Gesicht und schwieg. Sein Vater schüttelte missbilligend den Kopf, beließ es aber bei der lauen Ermahnung, Leander möge seine Zunge hüten und an seine Zukunft denken. Dann gab er ihm das Zeugnis zurück, verdoppelte das für den Monat fällige Taschengeld und wünschte seinem Sohn schöne Ferien.

»Eins noch«, zögerte Leander aufzustehen. Sein Vater sah ihn überrascht an. »Direktor Knock will, dass ich in das Sommercamp fahre.«

»Will er das?«, fragte Laurenz, ohne dass Leander daraus Zustimmung oder Ablehnung heraushören konnte. Er nickte.

»Und du?« #

»Na, nicht unbedingt.«

»Verstehe. Nur ich fürchte, du machst dir keine Freunde, wenn du nicht hingehst.«

»Naja, schlimmer als dort kann’s auch nicht werden«, erwiderte Leander und dachte mit Grauen an die vielen Horrorgeschichten, die über das Camp kursierten. Nachdenklich sah sein Vater in den flackernden Schein seiner Kerze.

»Gut, ich spreche mit deinem Direktor und bitte ihn, sich die Sache noch einmal zu überlegen. Du aber sieh zu, nicht wieder aufzufallen.«

Leander nickte erleichtert und erhob sich.

»Und was ist am Montag?«, fragte er, die Klinke schon in der Hand.

»Ich muss verreisen. Ein paar Tage, schätze ich. Die Woods kümmern sich in der Zeit um dich«, antwortete sein Vater abwesend, die Hand bereits wieder am Telefonhörer. »Und jetzt muss ich weiterarbeiten. Gute Nacht, mein Sohn.«

Damit war Leander entlassen und trat in den dunklen Flur hinaus. Die vor dem Arbeitszimmer abgestellte Kerze war verschwunden, weshalb er sich am Treppengeländer hoch zu seiner Kammer tasten musste. Dort angelangt wunderte er sich über den schwachen Lichtschein, der durch die Ritzen seiner Tür drang. Einen zufällig auf dem Gang stehenden Besen in der Hand riss er die Tür seines Zimmers auf und sprang mit einem lauten »Hände hoch!« hinein.

Sally hätte vor Schreck fast ihr Wasserglas fallen lassen.

»Spinnst du?«, fuhr sie ihn an und sah entgeistert auf den ihr entgegen gestreckten Besenstiel. »Hände hoch? Nicht wirklich, oder?«

Leander ließ den Besen langsam sinken und schloss erleichtert die Tür.

»Was tust du denn hier?«

»Dich besuchen«, grinste Sally, nicht mehr ganz so sicher, ob das eine gute Idee gewesen war. Dann nahm sie Marvin auf den Schoß, damit sich Leander neben sie aufs Bett setzen konnte.

»Mitten in der Nacht?«, brummte der, aber Sally wusste, dass er ihr nie lange böse sein konnte.

»Naja, wir haben Ferien. Erzähl mir lieber endlich, wie’s bei Zinnober war.«

Oh Mann, Zinnober. An den hatte Leander seit Stunden nicht mehr gedacht. Doch jetzt kamen die Bilder des Nachmittags wieder hoch und er erzählte Sally von all den komischen Dingen, die er in der Bibliothek erlebt hatte. Schließlich holte er das braune Lederbuch aus seinem Rucksack.

Unsicher griff Sally danach, denn Neugier hin oder her, so ganz geheuer waren ihr weder Zinnober noch die wirren Erzählungen Leanders. Als sie aber das Büchlein aufschlug, stutzte sie, zog eine Augenbraue hoch, sah Leander von der Seite an und warf ihm das Buch zurück auf den Schoß.

»Sehr witzig, Leander.«

»Was denn? Ich weiß, es ist leer. Aber hast du den Brief nicht gesehen?«

»Welchen Brief und wieso leer?«, fragte Sally und griff ein zweites Mal nach dem Buch, schlug es auf und hielt es Leander unter die Nase.

Erstaunt las er den mit unsicherer Handschrift hineingekrakelten Spruch


Wer das liest, ist doof



und ahnte den Grund für Sallys Verärgerung. Der Rest der Seite war mit Kritzeleien ohne jeden erkennbaren Sinn gefüllt. Der Brief jedoch schien verschwunden.

»Ich schwöre, heute Nachmittag war es leer und der Brief hier hinten drin«, rechtfertigte sich Leander und wollte gerade die Stelle aufschlagen, an der er den Brief gefunden hatte, da klopfte es laut an seiner Zimmertür. Erschrocken fuhren die Kinder zusammen und Leander ließ das Buch fallen. Zurück in seiner Hand blieb eine einzelne, leere Seite.

»Schlaf gut, mein Sohn«, hörte er seinen Vater noch rufen, dann verebbten dessen Schritte am Ende des Gangs, wo er sein Zimmer hatte.

»Verdammt, das wollte ich nicht«, flüsterte Leander und sah bestürzt auf die herausgerissene Seite. Sally dankte stumm dem Himmel, dass nicht ihr das Missgeschick passiert war, und tröstete ihren Freund, dass es bei so vielen Seiten wohl kaum auf eine einzelne ankommen würde. Leander antwortete nicht, sondern schlug erneut die Stelle auf, an der er den Brief vermutete. Doch was war das?

Überrascht hielten beide Kinder den Atem an, denn anstelle des gesuchten Briefes formten sich aus dem Nichts Linien und bildeten in der Handschrift seiner Mutter Worte, deren Sinn sie nicht verstanden:



Suche, was aus Licht geboren,

und eine, was vollkommen war.

Hell und dunkel sind erkoren,

zu finden was vor tausend Jahr

dreien Brüdern ging verloren

und des Rätsels Lösung war.



Kapitel 6




Ein eisiger Wind pfiff vom Gipfel des Imperials hinab auf das Plateau, auf dem Imperfekt gerade rastete. Heute fiel ihm der Aufstieg besonders schwer. Seit mehr als einer Stunde war er unterwegs, den Schal fest um den Hals geknotet und den Hut tief ins Gesicht gezogen. Schneeflocken tanzten vor seinem Gesicht und bildeten einen Vorhang, durch den hindurch er den Weg zur alten Berghütte kaum erkennen konnte. Seramis hatte ihm eine Kanne Tee in den Thronsaal gestellt, bevor er sich entfernen musste, damit Imperfekt ungesehen den Kristallpalast verlassen konnte.

Kein Schatten durfte ihn zu Gesicht bekommen, kein Foto existierte von ihm. Sie sollten ihn als eine sorgende Macht begreifen, die über sie wachte, nicht herrschte. Als ihr Führer und Hirte war er nicht das Maß aller Dinge, sondern das Regulativ einer unfertigen Welt, in der auch die Mächtigen als Teil des Volkes begriffen werden wollten. Recht und Gesetz gab die Schwarze Sonne, die Partei Penumbras, vor. Er war nur die Botschaft, auf die sich Cato und seine Minister beriefen, wenn sie eine Zukunft beschworen, in der nicht das Individuum, sondern die Gemeinschaft zählte, so ungleich Macht und Besitz auch unter Volk und Führung verteilt waren.

Er selbst besaß nichts außer seinen Räumen im Palast und einer Dienerschar, für die er unsichtbar war, sein musste. Selbst seinen richtigen Namen hatte er abgelegt, seit er vor vielen Jahren aus seinem Elternhaus entführt und in den diamantenen Käfig des Kristallpalastes gesperrt worden war.

Nachdenklich schlürfte er den heißen Tee, dessen Dampf seine Brillengläser beschlagen ließ. Er war unterwegs zu Lateran, dem Alten vom Berg, der sich seiner einst angenommen hatte.

Imperfekt wusste nicht viel von Lateran, nicht einmal, wo dieser tatsächlich lebte. Die Berghütte war lediglich der Ort, an dem sie sich trafen und über die großen Linien sprachen, an denen Penumbra entlang geführt werden sollte. Dabei war es weniger ein Gespräch, das Imperfekt mit dem Alten führte. Es waren Anweisungen, deren Inhalt seit Jahrhunderten vorbestimmt schien. Immer, wenn Imperfekt eine Rückfrage wagte, gar Entscheidungen in Frage stellte, antwortete Lateran, dass das Erbe Calis ihn verpflichte und das Land der Schatten nur auf diesem Wege aus der Sklaverei des Lichts geführt werden könne. Das zu begreifen, sei weder Sache der Partei noch des Volkes. Hier entschieden höhere Mächte.

Mittlerweile hatte Imperfekt aufgehört, Fragen zu stellen. Einem Treffen konnte er sich dennoch nicht entziehen, nicht jetzt, wo diese Zukunft des Landes in Gefahr schien.

Endlich gewahrte er die tief verschneite Holzhütte am Ende eines schmalen Bergpfades, dessen Verlauf nur durch die steile Abbruchkante des Imperial-Massivs markiert wurde. Ferner Lawinendonner ließ Bergkrähen aufsteigen und den Boden unter Imperfekts Füßen erzittern. Er kam nur langsam voran. Es kostete ihn viel Kraft, den harschen Schnee mit seinen schweren Schuhen zusammenzupressen. Immer wieder blieb er stecken oder brach bis zu den Knien im lockeren Untergrund ein. Seine halberfrorenen Hände um einen Stock gepresst, quälte er sich schwer atmend die letzten Schritte bis zum Eingang der Hütte den Berg hinan.

Blutspuren kreuzten seinen Weg und ließen ihn seine unsichtbaren Begleiter ahnen. Eishasen tummelten sich auf dieser Höhe und terrorisierten das rare Wild unweit des Gipfels des Mount Imperials. Ihr weißes, flauschiges Fell und die niedlichen Ohren täuschten über die in ihnen steckende Bosheit hinweg. Sie jagten stets im Rudel und lebten vom Blut ihrer Opfer, die sie bei lebendigem Leib zerfleischten. Imperfekt fürchtete sich vor ihnen, auch wenn er noch nie einen lebenden Eishasen aus der Nähe gesehen hatte. Dennoch zeugten die zerfetzten Kadaver am Wegesrand von ihrer Präsenz und der Möglichkeit, selbst Opfer ihrer Blutgier zu werden.

In der Hütte war es dunkel und kalt. Nur mit Mühe bekam Imperfekt die angefrorenen Fensterläden geöffnet. Die dahinterliegenden Scheiben waren von Eisblumen überzogen und ließen nur wenig Tageslicht hindurch. Ein schmaler Gang verband die Außentür mit dem Kaminzimmer, in dem sich neben einem Sessel nur noch ein paar Kerzenständer sowie ein schmales Buchregal mit alten, ledergebundenen Folianten befanden. Manchmal, wenn Imperfekt auf Lateran wartete, blätterte er in den verstaubten Büchern und versuchte, die Schrift der alten Zeit zu entziffern.

Ein plötzlicher Windstoß ließ die Eichentür in ihren Angeln beben und kündigte das Kommen Laterans an. Imperfekt versteifte sich. Trotz der vielen Jahre, die er den Alten kannte, fürchtete er sich noch immer vor ihm und seinem Jähzorn. Calis, dem Gründer Penumbras, schrieben die Historiker magische Kräfte zu. Ob Lateran als dessen Nachfahre über ähnliche Fähigkeiten verfügte, vermochte Imperfekt nicht zu sagen. Doch seine Kenntnisse von mystischen Wesen, sein Wissen um künftige Ereignisse, aber auch Gerätschaften, wie das der Schwarzen Liga zur Verfügung gestellte Magnificop, ließen auf Kräfte schließen, vor denen er sich besser in Acht nahm. Er durfte seine Stellung als Hirte der Schatten nicht überschätzen, gab ihm doch Lateran stets das Gefühl, ersetzbar zu sein.

»Wieso brennt noch kein Feuer?«, herrschte Lateran den kleinen, glatzköpfigen Mann beim Betreten des Zimmers an. Imperfekt zuckte zusammen, suchte aber dienstbeflissen nach Papier, Holz und Zunder. Minuten später prasselte ein kleines Feuer im rußgeschwärzten Kamin, während Lateran im einzigen Sessel des Raumes Platz nahm.

»Weshalb stört Ihr diesmal meine Ruhe?«, knarrte der Greis mit rauer Stimme. Imperfekt schluckte. Schließlich räusperte er sich und erzählte leise von dem Gespräch mit Seramis und dem Leuchten des blauen Kristalls.

»Ohne das Siegel kann der leuchten, solange er will«, brummte Lateran müde. »Habt Ihr das Siegel zurück?«

Zögernd verneinte Imperfekt, was die verwitterten Gesichtszüge des Alten noch mehr versteinern ließ.

»Dann wissen nur noch die blinden Seher von Gul einen Rat. Geht hin und lasst das Orakel in den Höhlen Äons befragen.«

Imperfekt nickte. Er kannte die steinernen Fluchten unterhalb der Hauptstadt aus längst verbotenen Büchern und wusste um die drei alten Männer, die in der Finsternis der Höhlen hausten. Es hieß, eine heiße Quelle blauen Rauchs hielte sie am Leben, weshalb der Tod sie fürchten und Weisheit ihre blinden Augen durch Raum und Zeit führen soll. Offenbar bediente sich sogar Lateran ihres Wissens, wenn er ihn zu dem Orakel schickte. Doch Imperfekt selbst hatte die Seher von Gul noch nie zu Gesicht bekommen. Er wusste nicht einmal, wo der heutige Zugang zu den Höhlen Äons lag.

Dennoch wählte er sorgsam seine Worte, als er den Alten vom Berg um Rat bat. Der reagierte nicht gleich, sondern ließ seine weißen Augen durch den Raum wandern, ganz als ob er hinter dem Nebel seiner Blindheit Antworten auf Imperfekts Fragen erkennen würde. Schließlich räusperte er sich.

»Cato kennt den Weg. Er hatte mich einst begleitet und die Seher befragt. Gebt ihm den Auftrag und lasst ihn sich nach der alten Prophezeiung erkundigen.«

Damit war die Audienz beendet und der alte Mann erhob sich ächzend aus seinem Sessel. Müde schleppte er sich zur Tür, die Sekunden später laut ins Schloss fiel. Imperfekt atmete auf und sah durch das Fenster hinaus in den Schnee. Lateran stand an der Schwelle des Hauses, von wo der einzige Pfad hinunter ins Tal führte. Als Imperfekt kurze Zeit später die Hütte verließ, um selbst abzusteigen, waren der Alte und mit ihm seine Fußspuren verschwunden.



Kapitel 7




Wütend ging Cato in seinem Büro auf und ab. Die Welt stand Kopf und ausgerechnet er sollte es richten. Das hatten sich die da oben ja fein ausgedacht. Als ob er wüsste, wieso dieser verdammte Kristall zu leuchten begonnen hat und wo das Siegel Äons wäre. Was war nur so wichtig an diesem alten Ding, dass sich sogar Lateran dafür interessierte? Hätte der das Siegel nicht einfach herbeizaubern können? Nun sollte ausgerechnet er, Cato, das Orakel von Gul befragen. Schon einmal hatte er sich auf den Weg zu den blinden Sehern gemacht und wäre fast von explodierenden Kraterkröten verletzt worden. Ein weiteres Mal in die Katakomben der Stadt hinabzusteigen, war ihm mehr als zuwider.

Aber er ärgerte sich auch über Imperfekt, der ihn vor wenigen Tagen angerufen und mit diesem Fall betraut hatte.

Die nationale Sicherheit steht auf dem Spiel. Ich, nein ganz Penumbra, braucht Sie jetzt, enttäuschen Sie mich nicht, hörte er den Hirten noch sagen, oder, wie er ihn heimlich nannte, das Phantom. Keiner kannte ihn und doch war er der große Vorsitzende, der Liebling Laterans, der Hirte all dieser einfältigen Schatten Penumbras. Er aber, Cato, Regent von Skylla, der Hauptstadt Penumbras, und Parteivorsitzender, konnte sich als Imperfekts Vertreter nun die Hacken nach diesem verdammten Siegel ablaufen.

Nicht mit mir, dachte Cato grimmig. Da können sich gern andere die Finger schmutzig machen. Damit drückte er eine Taste seiner Gegensprechanlage und forderte seine Sekretärin auf, die Herren einzulassen. Die gepolsterte Stahltür öffnete sich lautlos und zwei hochgewachsene, schwarz gekleidete Männer traten ein. Sie ähnelten einander. Einzig, dass einer der beiden, nämlich Melek Tauss, eine Uniform trug.

»Willkommen die Herren. Ich hoffe, Sie haben Ihre Regenschirme dabei«, begrüßte Cato seine Gäste und ging ohne weitere Erklärungen an ihnen vorbei hinaus in die große Eingangshalle des Regierungsgebäudes.

Die beiden Männer tauschten befremdete Blicke, folgten dann aber dem Parteivorsitzenden. Laurenz hatten bereits der Anruf letzte Woche und die Bitte von Catos Sekretärin, einen Regenschirm mitzubringen, irritiert. Mehr noch, dass ihm außer der Dringlichkeit, kein weiterer Grund für seine Einbestellung in die Staatskanzlei genannt wurde.

Melek schien es nicht anders zu ergehen. Er schimpfte beim Nähertreten, dass er keine Absichten hege, im Regen spazieren zu gehen, und nicht wüsste, was er in einem Gebäude mit einem Regenschirm solle. Cato zuckte nur mit den Schultern, strich sich die dünnen, grauen Haarsträhnen über den Kopf und bat die Männer, ihm zu folgen. Dann schritt er auf einen dekorativen Brunnen am Rande der Vorhalle zu, den ein mannshoher Wasserfall speiste.

Das Regierungsgebäude selbst war ein eher wehrhafter, wenig ansprechender Betonbau, den ein hoher, stromführender Metallzaun umgab. Auch die Fläche zwischen Zaun und Haus war betoniert und erinnerte an einen riesigen Parkplatz, nur dass hier kein einziges Fahrzeug stand. Anstelle von Rasen, Sträuchern oder Bäumen hielten Kameras, Bewegungsmelder und Scheinwerfer unerwünschte Besucher ebenso fern wie die schwerbewaffnete Militärpatrouille und deren Hunde. Den alleinigen Zugang zum Grundstück bildete ein mit Metallspitzen bestücktes Stahltor, neben dem ein Wachhaus errichtet war. Nicht einmal Cato selbst kam ohne Ausweiskontrolle an den dort stationierten Soldaten vorbei. Eine in seinen Augen lästige Notwendigkeit.

Laurenz fragte sich jedes Mal beim Betreten dieses Bunkers, wie man es hierin länger als eine halbe Stunde aushalten konnte. Kein einziges Fenster ließ Licht ins Innere. Stattdessen tauchten nackte Neonröhren die Halle in eine kalte, künstliche Atmosphäre, während Ventilatoren den Zweckbau mit Außenluft versorgten. Von den kahlen, grauen Betonwänden gingen zahlreiche Türen zu den Büros ab, welche mit Kameras und Scheinwerfern gesichert waren. Zusätzlich zu einer Sirene war ein Notfallgitter oberhalb der Eingangstür angebracht, das es unerwünschten Eindringlingen unmöglich machte, das Gebäude wieder zu verlassen. Zumindest nicht als freie Bewohner des hier regierten Landes.

An der Stirnseite der Eingangshalle prangte der Dreistrahl, das Parteisymbol der Schwarzen Sonne, und vervollständigte die kalte Optik dieses Amtsgebäudes. Den einzigen Kontrast bildete der große und von Grünpflanzen eingewachsene Brunnen am anderen Ende der Halle, auf den Cato mit flinken Trippelschritten zusteuerte. Er stoppte auch nicht, als er über dessen Rand ins Wasser trat, sondern spannte nur seinen Regenschirm auf und verschwand hinter der glitzernden Wand des herniederbrausenden Wasserfalls. Laurenz schluckte, als er ihm zögernd folgte, und Melek wusste nun, wozu er den Regenschirm hätte mitbringen sollen. Von Kopf bis Fuß durchnässt folgte er den Männern und verfluchte Cato und dessen ewige Heimlichtuerei.



Kapitel 8




Gerade als Leander das Küchenfenster öffnen wollte, sah er sie. Eine kleine, unscheinbare Blume, deren rote Blüte das vom Regen der letzten Tage matschig-graue Grün des Gartens überstrahlte. Sie wuchs neben dem Wurzelstrunk der unlängst gefällten Buche und brachte Leander auf eine Idee.

»Flora, weißt du, wo die Schere ist?«, rief er in Richtung Speisekammer, wo die Haushälterin das Frühstück vorbereitete.

»Was willst’n damit?«, fragte die erstaunt zurück und kam, sich die klammen Hände reibend, aus der Kammer.

»Ach, nix, ich wollt nur die Blume dort abschneiden«, druckste Leander herum und zeigte aus dem Fenster. Es war ihm plötzlich peinlich. Flora indes ahnte den wahren Grund und schmunzelte.

»Ich denke, Sally freut sich auch so über die Blume. Wäre doch schade, sie einfach abzuschneiden und zu töten.«

Leander nickte. Flora hatte natürlich Recht. Eine Blume wie diese war etwas sehr Rares in Penumbra. Die meisten Pflanzen blühten überhaupt nicht oder nur kurz im Frühjahr, wenn ihnen nicht plötzlicher Nachtfrost den Garaus machte. Selbst im Garten hinter dem Haus wuchsen für gewöhnlich keine Blumen. Denen war es in Halphas viel zu nass und zu kalt. War doch die Nähe der Stadt zu den Eiswüsten Penumbras bei Westwind zu spüren.

Deshalb nahm Leander missmutig den Tellerstapel und ging zum Esstisch. Da glitt ein Grinsen über sein Gesicht. Als Flora wieder in der Kammer verschwunden war, stellte er die Teller zurück auf die Anrichte und öffnete leise die Tür zum Garten.


Sally, die wenig später mit einem lauten Gähnen in die Küche kam, staunte nicht schlecht, diese leer und den Tisch ungedeckt vorzufinden. Dabei hatte Leander heute Küchendienst und auch Flora war meist lange vor den anderen wach. Verschlafen griff sie nach einem Brotkanten vom Vortag und wollte gerade wieder zurück in ihr hoffentlich noch warmes Bett, als Leander hereinkam. Er sah belustigt auf ihre roten Puschen, die wunderbar zu Sallys zerzausten schwarzen Haaren und dem grünen Hausanzug passten, und wünschte ihr einen wunderschönen Guten Morgen. Sally drehte sich verwundert um, doch hinter ihr stand niemand.

»Meinst du mich?«, brummte sie misstrauisch und ahnte irgendeinen Streich dieses merkwürdigen Jungen.

»Klar mein ich dich«, lachte Leander und holte vier Teelöffel aus der Küchenschublade. »Wir warten schon auf dich. Aber zieh dir was über, wir essen heute draußen.«

Ungläubig folgte sie ihm hinters Haus, wo sie neben einem bunt gedeckten Gartentisch eine amüsierte Flora vorfand, die augenzwinkernd auf den Platz zu ihrer Rechten wies.

»Hierher schönes Mädchen, dann können wir anfangen.«

Sally verdrehte die Augen, glaubte sie doch noch immer an einen Streich, bis sie die rote Blume neben ihrem Stuhl sah.

»Wunderschön«, flüsterte sie und beugte sich zu der Blüte hinab. »Und deshalb essen wir heute im Garten?«

Leander nickte verlegen und Flora lachte.

»Bedank dich bei diesem romantischen Gentleman dort«, wies sie auf Leander, der begonnen hatte, mit einem gezackten Messer Scheiben vom Brotlaib herunterzuschneiden.

Sally lächelte und Leander spürte, wie sein Gesicht Feuer fing. Zum Glück wurden sie von einem lauten Knall abgelenkt. Florin war gekommen und hatte die Gartentür ins Schloss geworfen. Er schien sich über irgendetwas furchtbar aufgeregt zu haben. Alle warteten gespannt, bis er Platz genommen, sich eine Tasse Tee eingeschenkt und von seinem Brot abgebissen hatte, bevor Flora vorsichtig fragte, was denn los sei.

»Alles Wahnsinnige«, antwortete Florin mit halbvollem Mund und wischte die dabei ausgespuckten Brotkrumen vom Tisch.

»Wer?«, erkundigte sich Flora geduldig, ahnte aber die Quelle seines Ärgers.

Florin war nämlich noch vor dem Frühstück zur Stadtverwaltung gegangen, um sich einen Passierschein zu besorgen. Dieser war nötig, wenn man die Stadt verlassen wollte, zum Beispiel um in eine der anderen Städte Penumbras zu reisen. Den Schein musste man an den Toren der Mauer vorzeigen. Glaubte man der Regierung, diente diese zur Sicherung gegen unbefugte Eindringlinge. Nur wer würde Interesse an baufälligen Häusern, löchrigen Straßen und einer, von graugelbem Smog eingehüllten Stadt haben? Überhaupt, woher sollten diese Eindringlinge kommen und wozu? Penumbra war ein düsteres Land, in dem die Tage kurz, die Nächte kalt und die Sonne nur eine fahle Scheibe am Himmel waren. Im Westen endete alles Leben an einer sich im Horizont verlierenden Eiswüste und im Osten grenzte das Land an das Unbesteigbare Gebirge. Im Norden und Süden vereinten sich Eiswüste und Gebirge, so dass Penumbra einer Gefängnisinsel glich, auf die kein vernünftiger Mensch seinen Fuß setzen würde. Dennoch benötigten Reisende einen Passierschein, um Städte wie Halphas zu verlassen.

»Ab sofort braucht man auch einen Zugangsschein, um in die anderen Städte rein zu kommen«, schimpfte Florin schließlich. »Und natürlich kostet das extra.«

»Wo willst du denn hin?«, fragte Sally neugierig.

»Nächsten Monat ist wieder Registratur und dafür müssen deine Großmutter und ich nach Skylla, in die Hauptstadt.

Registratur war eine weitere Schutzmaßnahme der Regierung, nach der sich jeder Einwohner, der älter als sechzehn war, zweimal im Jahr persönlich in der Hauptstadt melden musste. Dort wurden seine Angaben zu Wohnort, Beruf und persönlichen Lebensumständen überprüft. Angeblich diente das der Städteplanung und abermals dem Schutz vor Feinden des Landes. Tatsächlich aber fühlten sich hierdurch die meisten Bewohner Penumbras überwacht und eingesperrt.

»Eine einzige Schikane«, erregte sich Florin weiter »Als ob sich jemand von draußen für dieses Elend hier interessiert.«

Flora sah sich besorgt um und zischte ihren Mann an, doch leiser zu sprechen.

»Zum Schluss zeigt dich noch ein Nachbar an und du kannst dir den Passierschein sparen.«

Leander indes war hellhörig geworden.

»Was meinst du mit draußen?«, fragte er Florin, der ihn überrascht ansah.

»Sagte ich draußen?«, stotterte der. »Ich meinte halt jemand außerhalb Halphas.«

Dabei wechselte er einen nervösen Blick mit Flora, die vorwurfsvoll mit den Augen rollte.

»Genug geredet, Kinder«, beendete sie das unangenehme Schweigen, das sich am Tisch ausbreitete. »Esst euer Frühstück auf und dann raus mit euch, solange es nicht regnet. Ihr wolltet mir Mutschelbeeren pflücken.«



Kapitel 9




Tatsächlich hatten Leander und Sally die letzten Tage überwiegend im Haus verbracht, während eine Gewitterfront über Halphas in Richtung Gebirge hinweggezogen war. Sie hatten sich stundenlang über die merkwürdigen Zeilen in Leanders Buch unterhalten, gegrübelt und gesponnen. Einzig einer Lösung waren sie nicht näher gekommen.

»Also in Zeile drei könnten wir gemeint sein. Du blond, das heißt hell, und ich schwarzhaarig, dunkel«, fing Sally nach dem Frühstück wieder an, über das Gedicht zu rätseln. Leander war der Gedanke auch schon gekommen, noch mehr aber blieben seine Gedanken an den tausend Jahren hängen. Irgendetwas im hintersten Winkel seines Gehirns versuchte sich zu erinnern, wo er schon einmal davon gehört hatte. Plötzlich fiel es ihm wieder ein. Der Traum am Morgen des letzten Schultages. Dort hatten sich der uralte Mann und Imperfekt über etwas unterhalten, was tausend Jahre zurücklag. Konnte das Zufall sein?

»Nur was bitte kann aus Licht geboren werden? Ist doch Quatsch, oder?«, plapperte Sally ungeachtet Leanders Schweigen. »Ich meine, Licht an oder aus, aber geboren? Und welche eine? Das ist doch kein Satz. Da fehlt ein Wort. Außerdem müsste es: eine, die vollkommen war... heißen.«

So ging das in einem fort, ohne dass Leander auch nur ein Wort erwiderte. Stattdessen begleitete er Sally zum Scharlach-Tümpel am Fuße des Sichelwaldes und hing seinen eigenen Gedanken nach.

Wo war der Brief seiner Mutter? Und hatte das Gedicht etwas mit ihr zu tun? Vielleicht war die Antwort in dem Gedicht selbst versteckt, nur wo? Er war froh, mit Sally darüber reden zu können, denn auch Marvin hatte keine Idee, was das alles zu bedeuten hatte.

Bis zum Tümpel dauerte es eine halbe Stunde durch zum Teil dichtes Unterholz, an ehemaligen Kasernen und verfallenen Plattenbauten vorbei, direkt über eine vom Regen aufgeweichte Wiese. Ihre Schuhe versanken tief im Morast und schmatzten bei jedem Schritt, den sie sich den lehmigen Boden entlang kämpften. Der Tümpel hatte seinen Namen von den Mutschelbäumen an seinem Ufer, deren scharlachrote Früchte ein beliebter Kuchenbelag oder Obstersatz für Säfte und Kompott waren. Lediglich roh durfte man sie nicht essen, wollte man nicht Übelkeit oder Schlimmeres riskieren.

Als sie endlich das Ufer des eingewachsenen Tümpels erreichten, warf sich Leander unter einen der Mutschelbäume und forderte eine Pause. Sally aber war das Gras zu nass. Sie ließ Leander allein und machte sich mit Korb und Gartenschere auf die Suche nach noch nicht von Vögeln geplünderten Beerendolden.

»Geh nicht zu weit weg«, rief ihr Leander noch nach, doch Sally war bereits hinter den tiefhängenden Zweigen der Bäume verschwunden. Zu müde, um sich zu sorgen, nahm er Marvin aus dem Rucksack, schob ihn zwischen Rinde und seinen Kopf und begann in Zinnobers merkwürdigem Buch zu blättern. Vielleicht, so hoffte Leander, tauchten wieder Texte oder Bilder auf und gäben ihm Antworten auf die vielen Fragen. Doch nichts geschah.

Da bewegten sich plötzlich die Zweige, durch die Sally gerade erst verschwunden war. Leander, der annahm, sie hätte etwas vergessen, blickte auf und blieb wie erstarrt sitzen. Ein gleißendes Licht brach durch den Vorhang aus Zweigen und ergoss sich über die Lichtung. Das grün-braune Moos erstrahlte und aus dem Licht trat eine Figur. Leander musste blinzeln und schirmte seine Augen gegen das blendende Licht mit der Handfläche ab. War das Sally? Doch die von Licht umflossene Gestalt schien größer. Auch schwebte sie und hatte langes, golden wehendes Haar. Sally hingegen trug einen Pferdeschwanz. Nur wer war das?

Gebannt blickte Leander auf das Lichtwesen und versuchte ein Gesicht zu erkennen. Er verspürte keinerlei Furcht, nur Neugier, aber auch ein Gefühl von Vertrautheit. Langsam ließ er das Buch sinken und wollte gerade die ihm von der Lichtfrau entgegen gehaltene Hand berühren, als das Licht erlosch und Sally aus der plötzlichen Dunkelheit in die Lichtung trat.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte sie verwundert. »Hast du Gespenster gesehen oder wieso starrst du so?«

Leander, vom raschen Lichtwechsel geblendet, rieb sich die Augen. Verwirrt versuchte er sich an Details dieser Erscheinung zu erinnern. Oft verschwammen Träume nach dem Erwachen zu einem diffusen Brei. Hier allerdings war es anders. Er wusste plötzlich, woher er diese Frau kannte und was ihm ihr Erscheinen sagen wollte.

»Wir müssen nach Illumina«, antwortete er und richtete sich auf.

»Hä?«, sah ihn Sally entgeistert an.

»Wir müssen nach Illumina«, wiederholte er. »Meine Mutter suchen.«

»Wir müssen was?«

Sally konnte nicht fassen, was sie hörte, und sorgte sich um den Verstand ihres Freundes.

»Suche, was aus Licht geboren«, zitierte Leander die erste Textzeile des mystischen Gedichts und hielt Sally wie zur Bestätigung das Buch hin. »Das meint meine Mutter. Sie ist eine von dort, ein Lichtwesen aus Illumina.«

»Du spinnst«, schüttelte Sally missbilligend den Kopf. »Selbst wenn es Illumina wirklich gäbe, wieso sollte deine Mutter von da kommen? Und falls doch, ist sie längst tot.«

Leander lächelte nachsichtig. Er wusste, wie verrückt sich das anhörte, und ahnte, wie schwierig es werden würde, Sally zu überzeugen. Aber das Lichtwesen war die Frau aus seinen Träumen. Und wer anders als seine Mutter sollte ihm dort erscheinen. Sie musste noch leben und rief nach ihm. Vermutlich war sie in Gefahr. Diese Gewissheit hatte ihn bei der Berührung des Lichts durchflutet und würde solange in ihm brennen, bis er seine Mutter gefunden hatte.

»Glaub mir, ich weiß es. Sie lebt und braucht meine Hilfe. Ich muss sie suchen gehen.«

»Aber nicht in Illumina. Da kommst du nie hin«, versuchte Sally ihrer Erregung Herr zu werden. Ihr machte Leander Angst und auch die Vorstellung, dass er sein Leben für eine solch fixe Idee riskieren wollte.

»Keine Ahnung, irgendwie wird das schon gehen. Ich bin sicher, es gibt die Lichtwelt, genauso wie es unser Schattenreich gibt.«

Entgegen aller Vernunft spürte er die Zuversicht seiner Worte und wollte von Sallys Zweifeln nichts hören.

»Ich weiß auch, wen wir um Rat fragen können.«

Sallys Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

»Zinnober«, lachte Leander, der offenkundig vergessen hatte, dass er dem das Buch gerade erst entwendet hatte. »Der kann mir dann auch gleich sagen, wieso hinten im Buch Seiten fehlen. Vielleicht hat das was mit der zweiten Textzeile zu tun.«

Tatsächlich schien etwas zwischen hinterem Buchdeckel und Textblock herausgerissen zu sein. Die ausgefranste Klebekante des Buchrückens ließ auf wenige fehlende Seiten schließen.

»Ver-Eine, was vollkommen war«, zitierte Leander erneut das Gedicht und zeigte Sally die Lücke. »Da fehlt kein Wort, sondern nur ein paar Seiten. Und vielleicht stand dort auch, wie ich nach Illumina komme.«

»Du spinnst«, wiederholte Sally kopfschüttelnd, machte sich aber mit Leander auf den Rückweg, um die Mutschelbeeren bei Flora abzuliefern.


Zuhause jedoch trafen sie niemanden an. Einzig zwei Nachbarskinder spielten Hüpfseil zwischen den überquellenden Mülltonnen. Sally sah ihnen amüsiert zu und überlegte kurz mitzumachen, als Leander sie ins Haus zog.

»Die Frage ist, wie wir in die Schule kommen, ohne dass uns einer sieht«, grübelte er, während er in der Abstellkammer kramte.

»Du meinst das wirklich ernst, oder?«, fragte Sally ungläubig. »Was suchst du eigentlich?«

»Eine Taschenlampe.«

»Nein, ich meine, was willst du in der Schule?«

»Antworten«, erwiderte Leander, der die Taschenlampe gefunden hatte. »Wenigstens die Gewissheit, dass ich nicht völlig bekloppt bin.«

»Na, da ist Zinnober ja genau der Richtige«, antwortete Sally und versuchte ein Lächeln. Doch ihr war das Ganze nicht geheuer und die Aussicht, in die Schule einzubrechen, verstärkte das ungute Gefühl.



Kapitel 10




Der Weg zur Schule schien wie ausgestorben. Keiner, der in seinem Garten arbeitete oder wenigstens hinter der Gardine stand. Die Erwachsenen waren vermutlich in der Fabrik. Die Kinder zumeist sich selbst überlassen oder im Hort, einer staatlichen Verwahreinrichtung. Selbst bei den verwitterten Wohnblöcken am Ende der Siedlung trafen Leander und Sally lediglich auf einen alten Mann, der seinen ebenso betagten Hund Gassi führte. Zwischen den Hausfluchten flatterten derbe Laken auf Wäscheleinen und eine müde dahinschwingende Schaukel quietschte im Wind. Das einzige Geräusch in einer Gegend, in der selbst die Vögel schwiegen.

Leander kam die bedrückende Ruhe gerade recht. Sie durften nicht gesehen werden. Er hoffte nur, Zinnober trotz der Ferien in der Schule anzutreffen und nicht versehentlich Direktor Knock oder Ms. Barcuda in die Arme zu laufen. Ein Alptraum.

Das Schulgelände war verwaist. Das große Eisentor am Eingang verschlossen. Sally atmete erleichtert auf und wollte Leander gerade fortziehen, als der ansetzte und beherzt an die mittlere Querstange des Tores sprang. Von da zog er sich nach oben, schwang sein rechtes Bein über den Rand, schob seinen Körper nach und hievte sich auf die andere Torseite. Fast wäre er beim Herunterspringen gestürzt, doch schließlich stand er Sally gegenüber im Inneren des Pausenhofs.

»Jetzt du«, keuchte er. Dann vergewisserte er sich, dass die Luft rein war und eilte auf die große Haupttür der Schule zu Sally blieb mit offenem Mund zurück und rührte sich nicht. Um nichts in der Welt wollte sie über dieses Eisentor klettern. Nur was sollte sie tun, Leander allein in sein Verderben rennen lassen? Fluchend entschied sie sich, ihm zu folgen, quälte sich ebenfalls über die Torstange und hoffte inständig, nicht dabei gesehen zu werden. Ächzend landete sie hinter dem Tor und sah sich nach Leander um. Der aber war verschwunden.

Unschlüssig folgte sie ihm ins Innere des Pausenhofs. Die Flügelgriffe der Schultür waren mit einer dicken Kette verschlossen. Das Gebäude wirkte ebenso verlassen wie das ganze Gelände. Nur wo war Leander? Plötzlich hörte sie ein leises Pfeifen, dann ihren Namen. Es schien aus den Büschen neben der Turnhalle zu kommen. Vorsichtig ging Sally auf die Hecke zu, bog die Zweige auseinander und erwartete dahinter ihren Freund. Doch da war er nicht. Dafür wieder das Pfeifen, nun höher, über ihr. Verwundert ließ Sally ihren Blick an der Schulwand emporwandern, drehte den Kopf und hielt erstaunt inne. Leander stand oberhalb der Hecke und hielt sich an der Feuerleiter fest. Er winkte ihr.

»Wollten wir nicht zu Zinnober?«, flüsterte Sally. Als sich Leander ans Ohr griff und signalisierte, sie nicht verstanden zu haben, wiederholte sie ihre Frage etwas lauter.

»Ja, schon«, rief Leander mit gepresster Stimme zurück. »Aber die Türen sind verschlossen.«

Und da klettern wir aufs Dach, um in den Keller zu kommen?, dachte Sally mit leichtem Kopfschütteln. Sehr clever.

Da fiel ihr Blick auf eine unscheinbare Metallklappe neben einem der vergitterten Kellerfenster. Die Kohlenrutsche.

»Ich habe eine besser Idee«, erwiderte sie und zeigte auf die Klappe. Leander folgte ihrer Hand und wäre fast von der Leiter gekippt. Als er nämlich Sallys Plan erkannte, wollte er sich an die Stirn schlagen und hatte dafür die Leitersprossen losgelassen. Rasch kletterte er die Feuerleiter wieder hinab.

»Das könnte klappen«, strahlte er Sally anerkennend an und lief auf die Kohlenrutsche zu.

Bevor Sally ihn zurückhalten konnte, war Leander mit zwei Sätzen neben der Klappe und Sekunden später im dunklen Bauch der Schule verschwunden. Sally konnte nicht glauben, dass sie selbst diesen Weg vorgeschlagen hatte. Nervös lugte sie in den rußigen Schacht und rief leise Leanders Namen. Der aber antwortete nicht. Manchmal hasste sie diesen merkwürdigen Jungen, mehr noch, dass sie seinetwegen überhaupt hier war.

Plötzlich hörte sie Schritte. Irgendjemand näherte sich ihrem Versteck. Verzweifelt rief sie nochmals nach Leander, ohne Erfolg. Die Schritte kamen näher und ihr blieben nur noch Sekunden. Resigniert setzte sie sich auf den Rand der Rutsche, griff nach dem Klappendeckel, hielt sich die Hand vor den Mund und drückte sich ab. Die Luke schloss sich und Sally rauschte in die Finsternis des Kellers. Einen rasanten Augenblick später landete sie in einer Kohlestaubwolke, aus der heraus zwei Hände nach ihr griffen. Leander stand bereit, ihr aufzuhelfen. Wütend stieß sie ihn zurück.

»Du Idiot. Die Flecken krieg ich nie wieder raus.«

Betreten sah Leander an Sally herab. Doch das wenige Licht, das durch die Kellerfenster drang, ließ ihn den Zustand ihrer Kleidung nur erahnen.

»Das wird schon wieder«, antwortete er und zog die noch immer wütende Sally tiefer in die Dunkelheit des Kohlenkellers. Mit einer Hand an der Wand tastete er sich zaghaft vorwärts, als Sally mit einem Quieken stoppte. Sie war auf etwas Weiches getreten, ohne dass sie erkennen konnte, worum es sich handelte. Ekel schüttelte sie und Leander hatte Mühe, sie weiterzuziehen. Schließlich stießen sie auf eine Metalltür, die er vorsichtig öffnete. Auch dahinter war es dunkel, weshalb Leander die raue Ziegelwand nach einem Lichtschalter absuchte.

»Dachte, du hast ne Taschenlampe«, flüsterte Sally.

»War leer«, antwortete Leander kurz angebunden und tastete weiter hektisch die Wand ab. Er fürchtete, eine Spinne zu berühren, und wollte nicht, dass Sally seine kindische Angst spürte. Auch waren ihm diese dunklen Katakomben unheimlich. Endlich fand er den Schalter. Einzelne Glühbirnen erwachten zum Leben und tauchten ihre staubige Umgebung in ein mattes, gelbes Licht. Leander erkannte den Gang wieder, den er vor wenigen Tagen das erste Mal gegangen war. An dessen Ende stießen sie auf die Tür mit dem rostigen Schild:



BIBLIOTHEK



Leander klopfte zögernd und hielt den Atem an. Doch nichts geschah. Als auch auf ein lauteres Pochen keine Antwort erfolgte, wagte er die Klinke herabzudrücken und öffnete vorsichtig die Tür. Überrascht trat er einen Schritt zurück und Sally auf den Fuß. Anders als bei seinem ersten Besuch war der Raum nicht bis unter die Decke mit Büchern gefüllt. Lediglich zwei halbvolle Regale mit zerfledderten Schulbüchern standen verloren im Raum, der ansonsten mit Altpapier, Kartons und wertlosem Kram vollgestopft war. Irritiert drehte sich Leander zu Sally um und stand vor Zinnober.

Zu Tode erschrocken starrte er den hutzeligen Greis an, der hustend an ihm vorbei in die Kammer schlurfte. Sally aber, bleich bis unter die Haarspitzen, stand stocksteif neben der Tür und ließ sich nicht dazu bewegen, ihm in den Raum zu folgen.

»Sag Knock, ich hab heute nichts für dich«, krächzte Zinnober mürrisch, ohne Leander anzusehen. Er schien nicht im Mindestens verwundert, den Jungen trotz der Ferien im Schulhaus anzutreffen.

»Ich komme nicht von Direktor Knock«, erwiderte Leander leise.

»Sondern?«

Zinnober schien ehrlich überrascht.

»Wegen dem Buch.«

»Des Buches«, korrigierte Zinnober und Leander starrte ihn irritiert an.

»Was? Egal, das Buch, das Sie mir gegeben haben. Ich müsste wissen, was es bedeutet.«

»Ich hab dir kein Buch gegeben«, brummte Zinnober. Da fiel Leander siedend heiß ein, dass er das Buch geklaut hatte. Beschämt erzählte er Zinnober von dem Fund anlässlich seiner Strafarbeit und den merkwürdigen Ereignissen seitdem. Schließlich holte er ENIGMA aus seiner Tasche und reichte es dem Alten. Der allerdings schien eher amüsiert als verärgert und ging an Leander vorbei zur Tür.

»Du da, komm rein«, forderte er Sally auf, ihm zu folgen. »Sonst sieht dich noch einer.«

Sally hatte sich von ihrem Schock erholt und betrat zögernd die Bibliothek, sah sich erstaunt um und suchte Leanders Blick. Der aber starrte unverwandt auf Zinnober.

Mit einem »wenn ihr erlaubt« nahm dieser auf einem gefährlich wackelnden Holzschemel Platz und sah abwechselnd von Leander zu Sally. Den Kindern wurde es unbehaglich. Doch gerade als Leander das Schweigen brechen wollte, hob Zinnober die Hand und der Junge verstummte wieder.

»Ich kann euch nicht viel zu dem Buch sagen. Es ist älter als die Welt und birgt ungeahnte Gefahren. Allein, es kann euch auch beschützen.«

»Wovor?«, platzte Sally dazwischen und Zinnober runzelte die Stirn.

»Langsam, mein Fräulein. Ihr braucht Geduld. Nur so viel. Das Buch sucht sich seinen Träger aus und führt ihn. Wohin kann ich euch nicht sagen.«

Leander drehte das Buch enttäuscht in den Händen. Schließlich öffnete er es und wollte Zinnober die merkwürdigen Verszeilen zeigen. Doch die waren verschwunden.

»Lernt das Buch zu verstehen. Es wird euch den Weg weisen. Nur erzählt keinem davon«, fuhr Zinnober fort.

»Aber wie soll man es verstehen, wenn ständig Dinge darin auftauchen und wieder verschwinden? Wie das Gedicht von meiner Mutter«, mischte sich Leander ein.

»Deiner Mutter?«, richtete sich Zinnober neugierig auf.

»Zumindest glaub ich das«, stammelte Leander, dem die Vorstellung, seine tote Mutter schicke ihm durch so ein komisches Buch Gedichte, nun auch reichlich doof vorkam.

»So doof ist das gar nicht«, schien Zinnober Leanders Gedanken erraten zu haben. »Das ist kein gewöhnliches Buch, sondern ein Reiseführer.«

»Ein Reiseführer?«, fragte Leander aufgeregt. »Etwa nach Illumina?«

»Vielleicht«, antwortete Zinnober ernst und Sally sah verwirrt zwischen Leander und dem Greis hin und her.

»Quatsch, es gibt kein Illumina«, widersprach sie schließlich.

»Kann sein oder auch nicht«, wiegte Zinnober den Kopf. »In jedem Fall werdet ihr Antworten auf eure Fragen in dem Buch da finden. Doch alles zu seiner Zeit.«

Sally schüttelte energisch den Kopf. Da unterbrach Leander den aufkeimenden Disput und schlug das Buch auf.

»Komischer Reiseführer. Da ist ja nicht mal ne Karte drin.«

»Gut beobachtet, mein Sohn«, brummte Zinnober freundlich, bevor er etwas aus der Innenseite seiner verfilzten Jacke holte. »Vielleicht hilft dir das.«

Damit reichte er Leander ein kleines, quadratisches Stück Leder, auf dem sich schwarze Linien zu Straßen und Wegen verbanden. Leander griff danach und war überrascht, wie dünn und weich sich der Fetzen anfühlte. Allerdings endeten die Linien am Rand der Karte, zu der offensichtlich ein weiteres Stück fehlte.

»Um genau zu sein, fehlen noch vier Stücke«, erriet Zinnober abermals Leanders Gedanken und hieß ihn, das Buch zu öffnen. Zur Überraschung der Kinder fügte sich das Lederstück wie von Zauberhand an der Stelle ein, von der Leander dachte, jemand hätte einzelne Seiten herausgerissen.

»Nur wo finde ich den Rest?«, fragte Leander erregt. Die Hoffnung, seine Mutter vielleicht doch wiederzusehen, trieb das Blut durch seine Adern.

»Das weiß ich leider nicht«, erwiderte Zinnober nachdenklich. »Das Buch wird euch führen. Haltet die Augen offen und den Mund geschlossen. Für die erste Etappe genügt das Kartenstück.«

»Welche erste Etappe?«, fragte Sally, die gehofft hatte, Zinnober würde Leanders Spinnereien ein Ende setzen. Nun sah es so aus, als ob der alte Mann ihn auch noch bestärkte.

»Ihr müsst nach Skylla, das Orakel von Gul finden. Das ist alles, was ich euch sagen kann.«

»Das Orakel von Gul?«, wiederholte Sally skeptisch. »Nie davon gehört.«

»Das wird euch noch öfter auf dieser Reise passieren. Aber keine Angst, es gibt auf alles eine Antwort.«

»Euch? Öfter? Und welche Reise?«, schüttelte Sally den Kopf. »Ich hab nicht vor zu verreisen.«

Zinnober antwortete nicht. Auch Leander schwieg und fast hätte man glauben können, die beiden unterhielten sich stumm, als Leander das Buch zuklappte und sich räusperte.

»Wir kommen ohne Passierschein ja nicht mal aus der Stadt, geschweige denn nach Skylla.«

»Kommt Zeit, kommt Rat«, brummte Zinnober. »Doch gebt Acht und erzählt niemandem von dem Buch. Euer Leben hängt davon ab.«

Sally blickte den alten Mann verunsichert an.

»Unser Leben?«

Zinnober legte den Finger auf den Mund.

»Genug für heute. Die Wände haben Ohren. Wenn ihr in Notfällen nicht weiter wisst, richtet eure Fragen an ENIGMA.« Dabei tippte er mit seinem langen Zeigefingernagel auf das Buch, das Leander noch immer in der Hand hielt. »Und jetzt kommt.«

Zu Leanders Überraschung ging Zinnober aber nicht zum Ausgang der Bibliothek, sondern zog einen verschlissenen Wandvorhang neben einem der beiden Buchregale zur Seite. Eine weiße Holztür kam zum Vorschein. Als Zinnober die Tür öffnete und die Kinder aufforderte, hindurch zu gehen, verglomm das Licht im Raum und Leander konnte gerade noch einen flüchtigen Blick auf ein kleines Schild oberhalb der Tür werfen. Dort stand in goldenen Buchstaben:


Ihr habt Augen, um zu sehen,

Ihr habt Ohren, um zu hören.

Doch wieso seht und hört Ihr nichts?


Kirche Amons



Gute Frage, dachte Leander noch und trat durch die Tür.



Kapitel 11




Nachdenklich saß Melek in Catos Büro und dachte an die letzten Worte der blinden Seher von Gul.

Der Eine wird kommen, hatten sie gesagt, und das Tor zum Licht öffnen, um Äons Reiche zu vereinen. Doch wer war der Toröffner? Hier gingen die Meinungen auseinander.

Cato hatte sie durch den Brunnen hinab in einen endlos scheinenden Schacht geführt, der sich plötzlich zu einer Höhle erweiterte. Unzählige Lichtpunkte waren herumgeschwirrt und hatten das Rund der Höhle in ein diffuses Licht getaucht. Lidlose Augen blickten von den Wänden auf sie herab und ein Brummen aus den Tiefen der abgehenden Schächte verhieß wenig Gutes. Es war Meleks erster Besuch in den Hallen Äons, wie man die Höhlen unterhalb Skyllas im Volksmund auch nannte. Er hatte das stets für eine Legende, ein Märchen gehalten, dessen wahrer Kern weit im Verborgenen der alten Zeit lag. Fast vergessen. Als sie aber am Ende der ersten Höhle auf eine Kammer trafen, aus der heraus beißend blauer Dampf emporstieg, erinnerte er sich wieder an Details der alten Geschichten.

Darin hieß es, dass die Seher von Gul unter dem Reich Äons hausten und jedermanns Schicksal kannten. Gul stand für den Odem des Lebens, der in Gestalt des blauen Rauches an die Oberfläche trat. Aber nur die, die den Weg zu ihnen fanden, waren auserkoren, Antworten auf ihre Fragen zu finden. Antworten, deren Inhalt vielerlei heißen konnte. Denn wie so häufig bei Wahrsagungen hielt sich die Wahrheit hinter Andeutungen verborgen. So auch diesmal, als sie den uralten Männern gegenüberstanden, die sie mit ihren weißen Pupillen zu mustern schienen. Der ätzende, blaue Rauch hatte ihnen das Augenlicht genommen, aber auch die Gabe der Weitsicht verliehen. Man sagt, sie würden seit Anbeginn der Zeit in den Höhlen leben und auf den Tod warten. Der jedoch, so berichtet die Legende weiter, fürchte sich vor ihrer Weisheit, weshalb er die Höhlen mied und sie ewig leben mussten.

Cato hielt all das für eine lächerliche Geschichte. Ebenso die Mär um den Auserwählten, den sogenannten Toröffner. Dennoch hatte er auf Geheiß Imperfekts das Orakel von Gul aufgesucht und sich zusammen mit Melek und Laurenz dessen Weissagungen angehört. Darüber hinaus lehnte er es ab, sich weiter mit dem Gefasel der alten Zausel zu beschäftigen, wie er sich nach ihrer Rückkehr im Regierungspalast ausdrückte.

Die Zeichen waren da, doch er ignorierte sie. Melek dagegen hatte die Aura der drei Propheten gespürt, hatte die Weisheit hinter ihren blinden Augen gesehen. Sie sprachen von dem Einen, der aus Licht und Schatten geboren wurde, und er ahnte den Ernst ihrer Warnung.

Sie hatten vom ewigen Zyklus der Kriege berichtet. Zuletzt vor eintausend Jahren, als sich die Söhne Äons, des Urvaters des Reiches, um dessen Erbe stritten. Zwei von ihnen, Calis und Butan, hatten den erstgeborenen Amon nach Thanat in die Unterwelt verbannt. Doch statt fürderhin zusammen zu regieren, setzten sie die Fehde gegeneinander fort, bis in der großen Schlacht von Sirrte die wertvollste Hinterlassenschaft Äons, die Ewige Uhr, zerstört wurde. Dabei handelte es sich um einen besonderen Kristall, dessen Macht das große Reich Äons zusammengehalten hatte. Mit dem Zerbrechen des Edelsteins zerfiel auch das Land in die Regionen Penumbra und Illumina, die fortan von den Brüdern Calis und Butan in nie versiegender Feindschaft regiert wurden.

Deren Nachfahren pflegten diese Fehde bis zum heutigen Tag. Das Zerbrechen des Kristalls hatte allerdings eine solche Kraft freigesetzt, dass sich zwischen Penumbra, dem Schattenreich, und Illumina, der Lichtwelt, das Unbesteigbare Gebirge aufschob und die ihm zufließenden Flüsse zum Unendlichen Meer aufstaute. Ein Teil des Kristalls ging dabei verloren. Die anderen zwei Stücke lagen wohlverwahrt in den Schatzkammern der beiden Paläste dies- und jenseits der Grenze. Als aber in den Tiefen Thanats Äons Erstgeborener Amon im Kampf gegen die Zenobiten ums Leben kam, wurde prophezeit, dass dessen Reich auferstehen und die Trennung beenden würde, sobald die Ewige Uhr wieder zu schlagen beginnt.

Er, Melek Tauss, musste nun alles daran setzen, dass sich diese Prophezeiung niemals erfüllte.

Cato würde ihm dabei keine große Hilfe sein. Vielleicht Laurenz, doch der hatte sich nach ihrer Rückkehr wegen unaufschiebbarer Termine verabschiedet und war abgereist. Melek hatte ihm in die Augen gesehen und wusste, dass er log. Nur weshalb? Oder war er zu misstrauisch? Als Chef der Schwarzen Liga, des Geheimdienstes Penumbras, gehörte es zu seiner Aufgabe, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden und misstrauisch zu sein. Jeder konnte zum Feind des Systems, der Partei und damit zu seinem Feind werden. Auch Laurenz, der zumindest Letzteres schon war. Das aber lag weit zurück und Melek zwang sich, die Gedanken an Laura und das Ende ihrer Liebe beiseite zu schieben.

Heute galt es, Cato von der Gefahr für Volk und Vaterland zu überzeugen und Penumbra zu retten. Imperfekt forderte das und damit war es Gesetz. Die Partei, nein das ganze Volk würde sich einer Öffnung der Grenzen widersetzen. Kein Sonnenstrahl sollte von Illumina nach Penumbra dringen, kein verräterischer Gedanke sich in die Köpfe der dumpfen Masse schleichen, sich ihrer Schwäche bedienen und den Gehorsam untergraben. Dafür würde er, Melek Tauss, schon sorgen.

Wenn nur Renzo Lumael nicht wäre, ein störender Stachel im Fleisch der Partei, ein Abtrünniger und Feind des Landes. Ein Wurm, den Melek unter seinem Stiefel zu zertreten gedachte. Und mit ihm das ganze Ungeziefer der Kirche Amons, die Lumael anführte. Diese Bewegung war im Angedenken Amons, des verstorbenen Sohns Äons, kurz nach der Trennung der verbliebenen Reiche entstanden und fand Anhänger auf beiden Seiten des Unbesteigbaren Gebirges. Ihre Lehre galt der Freiheit, der Zusammenführung von Licht und Schatten und einer geeinten Welt. Melek hasste diese Sektierer und Prediger einer neuen Zeit, einer Zeit voller Licht und Überfluss. Einer Welt, die es für Penumbra nicht gab und nie geben würde, sofern Cato die Gefahr nicht länger ignorierte.


»Ich hoffe, ich habe dich nicht zu lange warten lassen, mein Lieber«, entschuldigte sich der beim Betreten seines Büros. Melek hatte auf der Besuchercouch Platz genommen und erhob sich halbherzig. »Imperfekt aber wollte sofort von unserem Gespräch mit dem Orakel unterrichtet werden.«

»Und was meint er?«, fragte Melek interessiert.

»Er übertreibt. Doch das ist ja nichts Neues.«

»Findest du?«, zweifelte Melek und lehnte das von Cato angebotene Wasserglas ab. Er hatte noch vom Brunnen genug.

»Ich finde, wir sollten unsere Zeit nicht mit Ammenmärchen und Gruselgeschichten für Kinder verschwenden. Diese alten Zausel sind blind und taub. Was können die schon wissen?«

»Und die Zeichen? Der leuchtende Kristall? Der lebende Berg? Das verschwundene Siegel Äons? Alles Ammenmärchen?«, bohrte Melek weiter und spürte, wie ihn Catos Ignoranz wütend machte. Der lachte nur.

»Ein alter Stein, der seit tausend Jahren in einem Kristallpalast herumliegt und nun plötzlich leuchtet, ist für mich noch lange kein Zeichen. Von einem lebenden Berg weiß ich nichts und ein Siegel erscheint mir als eine überschaubare Gefahr. Außerdem wurde das Siegel noch nie zu etwas benötigt. Wie wichtig kann es also sein?«

Melek versteifte sich. Es machte ihn rasend, wenn sich diese Bürokraten für unfehlbar hielten und seinesgleichen verachteten. Ihn und seine Leute der Liga, die immer nur Gefahren sahen, und in alles ihre Nase stecken wollten. Doch genau das war seine Aufgabe. Informationen beschaffen, auszuwerten und Konsequenzen daraus zu ziehen. Und eine solche war es, die Seher von Gul ernst zu nehmen.

»Das Siegel gehörte zuletzt Calis, dem jüngsten Sohn Äons und Begründer Penumbras. Es entstammt der alten Zeit«, erinnerte sich Melek an die Worte Imperfekts, der ihn ebenso wie Cato beauftragt hatte, nach dem Dieb zu suchen.

Cato blieb der Mund offen stehen.

»Du meinst, das gab es schon vor dem großen Krieg?«

»Wie ich sagte, das Siegel ist so alt wie der Kristall, den es bewacht, bewacht hat.«

»Auch so ein nutzloses Stück Glas, um das sich die Orakel-Zausel sorgen«, erinnerte sich Cato an deren mahnende Worte, den Toröffner zu finden, bevor er den Kristall an sich nähme.

»Ich bin mir da nicht so sicher«, startete Melek einen letzten Versuch und schlug vor, wenigstens vorübergehend die Sicherheitsmaßnahmen rund um den Palast zu verstärken. Ihm steckte die Panik noch immer in den Knochen, als bekannt wurde, dass ein bis heute nicht identifizierter Dieb in den Kristallpalast eindringen und das Siegel Äons unter den Augen dutzender Wachen entwenden konnte. Gleichzeitig ahnte er, dass es noch ein weiter Weg war, Cato auf Linie zu bringen.

»Meinetwegen«, gähnte der und griff nach einem Apfel auf seinem Schreibtisch. »Wer, glaubst du, hat das Siegel gestohlen?«

Melek schluckte. Obst war in Penumbra rar, Zuteilungsware und nahezu unerschwinglich. Gern hätte auch er sich von Catos Obstkorb bedient, doch daran war nicht zu denken.

»Ich tippe auf die Kirche Amons, allen voran Renzo Lumael. Vielleicht ist er dieser Toröffner, von dem die Seher sprachen.«

»Der aus Licht und Schatten Geborene? Seniles Geschwätz. Aber gut, such du Lumael. Nimm ihn fest oder mach mit ihm, was dir beliebt. Hauptsache, es kehrt wieder Ruhe ein. Die Tausendjahrfeier steht an und ich habe Besseres zu tun, als alten Legenden nachzujagen.«

Melek nickte zufrieden. Damit hatte er freie Hand und keiner schrieb ihm vor, wie weit er Catos Zustimmung auszulegen hatte. Ginge es nach ihm, würde er diese ganze Kirche mit Stumpf und Stiel ausbrennen. Und glücklicherweise ging es jetzt erst einmal nach ihm.

Schrilles Telefonklingeln riss ihn aus seinen dunklen Gedanken und Catos Gesichtsausdruck bei der Annahme des Gesprächs verhieß wenig Gutes.

»Falls das mal kein Zufall ist«, beendete Cato das Telefonat und nickte in Meleks Richtung.

»Was ist?«

»Wenn man vom Teufel spricht. Lumael ist in Dusk und verteilt Eier.

»Er tut was?«, fragte Melek ungläubig und stand auf.

»Er verteilt Eier, angeblich welche mit unserem Parteiabzeichen darauf.«

»Aber wozu?«

»Keine Ahnung, du Fuchs«, antwortete Cato lächelnd. »Finde es raus und schnapp dir das Huhn.«


***


Im mehrere Meilen entfernten Dusk drängten sich zur gleichen Zeit zahlreiche Marktbesucher um einen Mann, der aus einem Weidenkorb weiße Hühnereier mit dem Emblem der Schwarzen Sonne verteilte. Dabei rief er immer wieder:

»Für den Feiertag. Gebt der Partei, was ihr gebührt.«

Jeder der Angesprochenen wusste, dass damit die bevorstehende Jahresfeier zum Sieg der Schatten über das Licht gemeint war. Dieses Fest jährte sich zum tausendsten Mal und wurde traditionell mit einer Festparade der politischen Elite in der Hauptstadt begangen. Flankiert wurde die von zahlreichen Bewohnern, die aus allen Teilen des Landes angekarrt und rechts und links der Festallee aufgestellt wurden. Sie hatten zu jubeln, Fahnen zu schwenken und Weizenähren als Symbol für den Reichtum Penumbras auf die Defilierenden zu werfen. Eine Farce, denn viele Felder lagen brach und der Rest brachte gerade genug auf den Tisch, damit die Bevölkerung nicht verhungerte. Zum Werfen blieb nichts übrig. Deshalb wurden anstelle des kostbaren Weizens auch Blumen oder kleine Grasgarben toleriert. Die Anspielung, stattdessen Eier auf die Mächtigen des Staates in ihren offenen Limousinen zu werfen, wurde von jedem verstanden und Renzo Lumael konnte sich weitere Erklärungen für seine Verteilaktion sparen. Natürlich wusste er, dass keiner so etwas Kostbares wie Eier auf die Regierenden werfen würde. Viel zu schade und außerdem riskierte man dabei Kopf und Kragen. Aber es würde die Runde machen und das war fast so befriedigend, wie sich diese Parteibonzen über und über mit Eiglibber vorzustellen.

»Greift zu, für jedes Schwein ein Ei«, rief er deshalb fröhlich in die Menge.



Kapitel 12




Gute Frage, dachte Leander noch und trat durch die Tür in die Abstellkammer seines Vaters. Erst hielt er es für eine Halluzination und wollte umdrehen. Da prallte er auf Sally, die ihm aus der Bibliothekstür gefolgt war. Hinter ihr aber war keine Tür mehr. Stattdessen hing eine Leiter an der Wand, zusammen mit einem Besen und zwei Küchenschürzen. Verdutzt berührte Leander die Leiter, dann strich er über den Rauputz. Nichts ließ auf eine Öffnung oder gar Verbindung zu Zinnobers Kellerreich schließen. Was war hier los?

Auch Sally wusste keine Antwort. Sie verließ wortlos die Kammer in Richtung Küche, wo sie sich am Spülbecken kaltes Wasser ins Gesicht spritzte. Dann setzte sie sich zu Leander an den Küchentisch und sah ihm ernst in die Augen.

»Wenn du mich fragst, sollten wir die Sache vergessen und nie wieder darüber reden.«

Leander nickte stumm. Doch dann holte er das Buch hervor und schlug es an der Stelle auf, an der sich das Kartenstück eingefügt hatte.

»Keine Ahnung, was das gerade war«, flüsterte er mit belegter Stimme. »Aber es war so echt wie dieses Kartenstück hier.«

Sally vermied es, auf das Buch zu schauen, und griff stattdessen nach Leanders Händen.

»Leander, das war Hexerei und geht uns nichts an.«

»Nein, das war Magie«, widersprach Leander und fühlte Sallys kalte Finger. Beruhigend rieb er ihre Hand. Sie lächelte schwach.

»Im Ernst Sal. Zinnober mag wunderlich sein, genau wie das Buch, die Karte und diese merkwürdige Tür. Alles zusammen könnte allerdings bedeuten, dass meine Mum noch lebt.«

»Wieso weiß dein Vater dann nichts davon?«

»Keine Ahnung«, seufzte Leander. »Ich weiß ja nicht mal, wo der gerade steckt.«

»Und was willst du jetzt tun?«

»Ich will wissen, wo meine Mutter ist und ob mich diese Karte zu ihr führt.«

Endlich sah auch Sally auf die Karte und folgte den Linien bis an den ausgefransten Rand, wo die Umrisse Skyllas, der Hauptstadt, zu erkennen waren. Eine Vielzahl kleiner Bäume markierte den ausgedehnten Düsterwald zwischen den kreisförmig dargestellten Orten. Schmale Linien deuteten auf Wege hin, die breiteren waren vermutlich Straßen. Schraffierte Flächen standen für besondere Stellen, wie zum Beispiel das Darkmoor oder den Tagebau bei Halphas. Hinzu kamen diverse Symbole, doch ohne Legende war mit denen nicht viel anzufangen. Schließlich bemerkte Sally an der äußeren Kante der Karte die Buchstaben THA. Was immer das heißen sollte, stand vermutlich auf einem der noch fehlenden Kartenstücke.

Am meisten aber wunderte sich Sally über die merkwürdige Form des Lederfetzens. Es handelte sich um ein Viereck, dem die rechte untere Ecke fehlte. Zinnober hatte Recht, die Karte musste aus fünf Teilen bestehen, wenn in der Mitte kein Loch bleiben sollte. Sie hatten das linke obere Randstück. Nur wo war der Rest? Doch das war jetzt nebensächlich. Wichtiger war, Leander zu überzeugen, die Finger von diesem Hokuspokus zu lassen.

»Trotzdem, Magie gibt es nicht«, versuchte Sally das Thema zu beenden, sah aber in Leanders Augen, dass die Geschichte gerade erst begonnen hatte.

»Mag sein oder auch nicht«, antwortete der. »Nur was meinte Zinnober mit: Wenn ihr Fragen habt, richtet sie an ENIGMA.«

Ratlos verzog Sally das Gesicht. Da klappte Leander das Buch zu und tippte auf den goldenen Buchtitel.

»Vermutlich das Buch selbst.«

Sally stöhnte auf. Jetzt will er das Buch fragen, dachte sie verzweifelt und suchte nach ersten Anzeichen von Wahnsinn in Leanders Gesicht. Der hingegen schien hellwach und blätterte aufgeregt durch die leeren Seiten des Büchleins.

»Mist, kein Wort, was ENIGMA bedeutet«, stellte er schließlich enttäuscht fest und schlug das Buch wieder zu. Dann hellte sich seine Miene auf, während Sally die Luft anhielt.

»Ich hab’s«, flüsterte er und sah sich verschwörerisch um. »Wir schauen im Lexikon meines Vaters nach.«

»Und wie willst du da rankommen?«, fragte Sally ebenso leise zurück, wusste doch jeder im Haus, dass das Arbeitszimmer von Leanders Vater tabu und stets verschlossen war. Nicht einmal Flora durfte darin sauber machen. Auch Leander wusste das und sah nachdenklich auf Florins Werkzeugkasten, der am Boden neben der Spüle stand.

»Wir müssen ins Zimmer«, stellte er schließlich fest und holte den Kasten zum Tisch. »Vielleicht finde ich was, womit wir die Tür aufbekommen.«

»Du willst ins Zimmer deines Vaters einbrechen?«

Sally war entsetzt, während Leander unbeirrt zwischen Florins Werkzeugen herumkramte und schließlich einen Hammer hervorzog.

»Damit sollte es gehen.«

Sallys Augen weiteten sich und mit sanfter Stimme versuchte sie Leander davon abzubringen, die Tür zum Arbeitszimmer mit dem Hammer einzuschlagen. Da lachte Leander. »Natürlich nicht mit dem Hammer, den brauch ich für das Seil.«

»Welches Seil?«, fragte Sally verwirrt.

»Das aus dem Geräteschuppen.«

»Und wozu?«

»Um mich ins Arbeitszimmer abzulassen.«

»Hab ich schon erwähnt«, fragte Sally kopfschüttelnd, »dass du spinnst?«

»Ja, mehrfach. Aber glaub mir, das funktioniert.«

»Und wenn du einfach deinen Dad fragst, ob er dir das Lexikon gibt?«

»Keine Ahnung, wann der zurück ist und was, wenn er wissen will wozu?«

»Dann zeigst du ihm das Buch und gut«, stellte Sally pragmatisch fest, doch Leander war anderer Meinung.

»Nee, besser nicht. Am Ende nimmt er es mir noch weg.«

Besser wär’s, dachte Sally und stellte sich mit Grausen vor, wie Leanders Vater sie beim Einbruch erwischen würde.

»Nur wozu dann der Hammer?«

»Für den Türriegel am Gartenhäuschen. Den krieg ich mit bloßen Händen nicht auf«, antwortete Leander und stellte den Werkzeugkasten zurück. Darauf wusste Sally nichts zu erwidern.

Ausgerüstet mit einer Leiter, einem Seil, Zündhölzern und einem Glas Murmeln kehrten die Kinder vom Geräteschuppen zurück in den Garten. Dort stellte Leander die Leiter an das kleine Vordach der Terrasse und warf sich das Seil über die Schulter.

»Du willst das jetzt echt durchziehen?«, versuchte Sally einen letzten Versuch, Leander von diesem Unsinn abzubringen, doch der nickte nur.

»Und du schaust, dass keiner kommt.« Sally seufzte, hielt aber die Leiter, bis Leander auf dem Vordach war, und ging dann zurück ins Haus. Dort bezog sie vor dem Arbeitszimmer Stellung und hoffte inständig, dass Leander vor den Erwachsenen zurückkäme. Zum Glück waren ihre Großeltern Besorgungen machen und Leanders Vater noch immer auf Dienstreise.

Leander dagegen kletterte über das Terrassendach auf einen Zwischensims. Von dort weiter zu einer Dachluke, über die er in das Zimmer seines Vaters gelangen wollte. Die Luke war klein, aber Leander schmal genug, um sich hindurchzuzwängen. Allein die Höhe war ein Problem. Doch dafür hatte er ja das Seil. Dieses schlang er um einen Metallgriff neben der Luke und verknotete es im Abstand von jeweils zwei Fuß. So konnte er sich an den Knoten herabhangeln, ohne am Seil abzurutschen. Es war gefährlich, weshalb Leander nicht lange darüber nachdachte. Er ließ das Seilende ins Innere des dunklen Arbeitszimmers fallen, setzte sich auf den Rand der Luke und griff nach dem ersten Knoten. Einen nach dem anderen hangelte er sich am schwankenden Seil hinab, bis er endlich die Dielen unter seinen Füßen spürte. Die Vorhänge waren zugezogen und das wenige Licht, das durch die Luke drang, ließ nur die Konturen der Möbeln erahnen.

Wo war das Buchregal?, versuchte sich Leander zu erinnern und tastete nach den Zündhölzern in seiner Hosentasche. Sekunden später flammte ein Streichholz auf und Leander sah sich um. Er stand nur wenige Schritte von der Bücherwand entfernt. Bevor ihm aber das Streichholz die Finger versengte, schaltete er die Schreibtischlampe seines Vaters an. Ein warmes, gelbes Licht erhellte den Raum und Leander atmete auf.

»Geschafft«, sprach er sich selbst Mut zu. »Jetzt noch schnell nach dem Lexikon suchen und zurück aufs Dach. Das sollte klappen.«

Doch gerade, als er die Glastür des Buchregals geöffnet und den Band E der Lexikonreihe herausgenommen hatte, ließ ein ohrenbetäubender Lärm sein Herz für eine Sekunde stillstehen. Sallys Warnsignal. Er steckte in der Falle.

Hastig wollte er das Lexikon zurückstellen und sich aus dem Staub machen, als er die Stimme seines Vaters hörte. Der schien sich mit Sally zu unterhalten, die gerade dabei war, die fallengelassenen Murmeln wieder aufzusammeln.

Der Trick hatte funktioniert. Die Glaskugeln hatten nicht nur einen Heidenkrach verursacht, sondern Laurenz auch am Betreten seines Zimmers gehindert. Stattdessen half er Sally nun, die über den ganzen Boden verteilten Murmeln aufzulesen. Lediglich das Zittern ihrer Hände, als sie eine der bunten Kugeln ins Glas zurücklegte, wunderte ihn.

Er schien sie erschreckt zu haben. Denn kaum hatte Laurenz Noel das Haus betreten und das im Halbdunkel des Flurs stehende Mädchen begrüßt, hatte sie ihn wie einen Geist angesehen und das Murmelglas fallenlassen. Und noch immer beäugte sie ihn misstrauisch.

»Wovor hast du dich denn so erschrocken?«, wollte Laurenz wissen, doch Sally antwortete nicht. Peinliche Sekunden des Schweigens verstrichen, bis sich Sally sicher war, dass Leander genug Zeit gehabt hatte, um zu verschwinden.

»Tut mir leid, ich dachte, ich wäre alleine«, stammelte sie schließlich und fragte sich, wo Leander nur blieb. »Meine Großeltern sind in der Stadt und Leander, glaube ich, auf seinem Zimmer.«

Der aber lauschte noch immer an der Tür. Erst als er seinen Namen hörte, fiel ihm sein Plan wieder ein. Es blieben ihm nur Sekunden, bis sein Vater das Zimmer betreten würde. Hektisch suchte er im Lexikon nach ENIGMA, fand die Erklärung und stellte das Buch zurück in den Schrank. Ein dabei herausgefallenes Lesezeichen steckte er gedankenverloren ein. Schließlich löschte er hastig das Licht. Als er aber nach dem Seil greifen und hinaufklettern wollte, hörte Leander einen Schlüssel im Schloss und sah, wie sich die Türklinke senkte. Panik stieg in ihm auf.

Nicht anders bei Sally. Der fiel langsam nichts mehr ein, womit sie Leanders Vater noch am Betreten seines Zimmers hindern konnte. Die Murmeln waren eingesammelt, Höflichkeiten ausgetauscht und Laurenz hatte bereits die Tür geöffnet, als ihr die rettende Idee kam.

»Kanntest du eigentlich meine Eltern?«, fragte sie und Laurenz blieb abrupt stehen. Er hielt zwar noch immer die Klinke gedrückt, hatte sich aber wieder zu Sally umgedreht und sah sie überrascht an.

»Wieso willst du das wissen?«

»Weil ich mich frage«, murmelte Sally mit dem unbestimmten Gefühl, dass ihr etwas die Luft abschnürte, »wieso sie gestorben sind.«

Laurenz schluckte. Er hatte geahnt, dass diese Frage irgendwann kommen würde. Dennoch traf sie ihn unvorbereitet.

»Ich schätze, weil sie ihr Land verraten haben«, antwortete er zögernd und sah, dass Sally mit einer solchen Antwort nicht gerechnet hatte. Tränen füllten ihre Augen und schluchzend vergrub sie ihren Kopf an Laurenz Brust. Der war zu ihr getreten und nahm sie tröstend in den Arm.

Tatsächlich aber hatte Sally nur ihren letzten Trumpf ausgespielt, um Leander eine Gnadenfrist zum Verschwinden zu verschaffen. Sie hatte ihre Eltern nie kennengelernt, und dass die das Land verraten hätten, in dem sie nun lebte, machte sie eher stolz als traurig. Doch das musste Leanders Vater nicht wissen. Nur sein Zimmer durfte der nicht betreten, solange sein Sohn nicht wieder zurück im Haus war.

Und Leander nutzte die Zeit. Eilig quälte er sich das Seil empor, dann durch die Luke und zurück über das Vordach auf die Leiter und runter in den Garten. Rasch ein wenig kaltes Wasser aus der Regentonne ins Gesicht und die roten Flecken von Anstrengung und schlechtem Gewissen waren verschwunden. Seil und Leiter hatte er wieder im Schuppen verstaut.

Sally fiel ein Stein vom Herzen, als Leander endlich durch die Küchentür kam und so tat, als wolle er sich nur etwas zu trinken holen. Er wirkte glaubhaft überrascht, seinen Vater anzutreffen und würdigte Sally kaum eines Blickes. Ganz so, als hätten sie sich den ganzen Tag schon gesehen und gelangweilt. Laurenz begrüßte seinen Sohn und wünschte beiden Kindern einen guten Abend, er habe noch zu arbeiten. Sally strich er nochmals über den Kopf, versprach, ein anderes Mal mit ihr darüber zu reden, und zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Sally und Leander atmeten erleichtert auf.

»Puh, das war knapp«, stöhnte Sally, als Leander fragte, worüber sein Vater ein anderes Mal mit ihr reden wolle. Sie aber winkte ab und wollte ihrerseits wissen, ob er Erfolg hatte. Leander nickte aufgeregt.

»Es ist die letzte Zeile des Gedichts.«

»Was?«

»Na, das Rätsel. ENIGMA ist das Rätsel.«

»Ja, ich weiß«, antwortete Sally. »Nur, was bedeutet das Wort?«

»Das Rätsel«, lachte Leander und Sally war vollends verwirrt.

»Wird das ein Quiz?«, reagierte sie leicht gereizt.

»Nein, das ist die Antwort«, stellte Leander klar. »ENIGMA bedeutet Rätsel und muss die letzte Gedichtzeile meinen.«

»Und des Rätsels Lösung war«, erinnerte sich Sally. »Du meinst...«

Da hörten sie die Woods heimkehren und Sally schlug vor, sich in Leanders Zimmer zu verziehen. Dort schrieben sie das Gedicht nochmals auf einen Zettel und stellten fest, dass sie zu fast jeder Zeile eine Antwort hatten, auch wenn ihnen der Sinn des Ganzen weiterhin rätselhaft blieb.

»Ok«, fasste Leander zusammen. »Wir sollen meine Mutter suchen. Am besten mit der magischen Karte, für die uns aber noch ein paar Stücke fehlen und dabei finden wir irgendwas, das vor tausend Jahren drei Brüdern verloren ging. Damit würden wir ein Rätsel lösen, das uns das Buch aufgegeben hat.«

»Meinst du. Nur wer sind diese Brüder?«, zweifelte Sally an Leanders Interpretation.

»Keine Ahnung, vielleicht klärt sich das auf dem Weg.«

»Welchem Weg?«, fragte Sally erschrocken.

»Nach Skylla. Du hast Zinnober ja gehört. Dort müssen wir anfangen zu suchen.«

»Hey, wir sind vierzehn. Wie sollen wir ohne einen Erwachsenen aus der Stadt kommen?«

»Ich weiß nicht«, seufzte Leander ernüchtert. »Das hab ich Zinnober auch schon gefragt.«

»Und bis Skylla ist es ohne den Bus viel zu weit.«

»Vielleicht war das doch keine so gute Idee?«, grübelte Leander und blätterte niedergeschlagen in ENIGMA. Plötzlich fiel ihm Sally in die Hand und blätterte einige Seiten zurück. Dort stand unübersehbar in der Mitte der Seite:


DOCH !



Sally lief es kalt über den Rücken und auch Leander sah sich furchtsam in seinem Zimmer um. Aber da war keiner, der sie belauschte.

»Ok, das ist gruselig«, flüsterte Sally und klammerte sich an Leander, der seinerseits froh war, Sally bei sich zu haben. Eng umschlungen hockten die beiden auf dem Bett und sahen auf die langsam verlöschenden Buchstaben, bis die Seite so weiß und unbedruckt wie ehedem war.

»Ich glaube, ich geh dann mal«, riss sich Sally von dem Buch los und stand auf. »Ist spät geworden. Wir sehen uns morgen.«

Leander nickte.

»Wetten, wir finden eine Lösung?«, verabschiedete er Sally und wollte gerade die Tür hinter ihr schließen, als ihm noch etwas einfiel.

»Sally, warte kurz«, rief er ihr nach und trat an den Treppenabsatz. »Es tut mir leid, ich wollte dich da nicht mit reinziehen.«

»Ist nicht mehr zu ändern«, lachte sie und blieb stehen.

»Es ist nur«, flüsterte Leander zögerlich, »ich würde gern meine Mum kennenlernen. Aber das ist zu gefährlich.«

»Für wen?«, fragte Sally irritiert und stieg die Stufen bis zu Leander wieder empor.

»Für dich. Du hast deine Eltern auch verloren und sollst jetzt nichts riskieren, nur weil ich meine Mutter wiedersehen will.«

Sally sah Leander schweigend an. Dann plötzlich legte sie ihre Arme um Leanders Hals und küsste ihn.

»Allein schaffst du das nie«, flüsterte sie und lief die Treppe hinab.


An deren Fußende trat Laurenz Noel zurück in die Dunkelheit. Voller Sorge hatte er den ersten Kuss seines Sohnes beobachtet.



Kapitel 13




»Hey Schimmelpilz, schieb endlich deinen dürren Arsch über die Wand!«, rief Terry Tauss und alles um ihn herum lachte. Leander aber hing an der Palisadenwand und spürte seine Finger kaum noch, so taub waren sie vor Anstrengung und Kälte.

Es war sechs Uhr morgens. Das dämmrige Grau des Tages quälte sich hinter aschfarbenen Wolkenschlieren über den Rand des Horizonts und die einzelnen Jugendgruppen hatten mit dem Frühsport begonnen. Es galt durch Büsche zu robben, in Wassergräben zu springen und über Wände zu klettern. Wer das nicht schaffte, wurde zu zwanzig Liegestützen verdonnert und wenn das nicht reichte, durfte die ganze Einheit so lange durch den Sichelwald laufen, bis die Lungen brannten und sich Einzelne übergaben. Das Frühstück fiel für diese Gruppe dann aus. Leander wusste, was dem Schuldigen blühte, und war nicht scharf darauf, es am eigenen Leib zu erfahren. So quälte er sich unter Aufbietung letzter Kräfte über die raue Holzwand und fiel wie ein reifer Apfel auf der anderen Seite in den Matsch. Die Jungen grölten und Terry klatschte in die Hände.

»Bravo, das nenn ich Einsatz. Mal sehen, ob Titte genauso sportlich ist wie sein schwuler Freund hier.«

Damit war Tizian gemeint. Ein kleiner, schmächtiger Junge, der zitternd in kurzer Sporthose und weißem Unterhemd vor der mannshohen Holzwand stand und verzweifelt nach oben sah.


Aber auch Leander war verzweifelt. Verzweifelt und wütend. Vor allem auf seinen Vater. Der hatte am Morgen nach seiner Rückkehr aus Skylla erklärt, ihn doch in das Sommercamp zu schicken. Leander war aus allen Wolken gefallen. Gerade noch hatten er und Sally herumgealbert und herzhaft über Floras Ungeschicklichkeit beim Köpfen ihres Frühstückseies gelacht, da kam sein Vater in die Küche und teilte ihm diese Entscheidung mit. Leander blieb der Mund offenstehen und bevor er ihn wieder schließen konnte, hatte Laurenz den Raum verlassen und war unterwegs zur Arbeit. Dass er sich auch später weigerte, ihm einen Grund für seinen Sinneswandel zu nennen, enttäuschte Leander besonders. All sein Flehen, Bitten, Weinen und Trotzen hatten nichts genützt. Sein Vater war nicht umzustimmen und die letzten Tage in Freiheit verloren sich im Trübsal seiner Verzweiflung.

Auch Sally hatte es nicht fassen können und obwohl sie alles Erdenkliche versuchte, Leander auf andere Gedanken zu bringen, vermochte sie ihren Freund nicht aufzumuntern.

Das überschattete auch den verwirrenden Kuss, die Aufregung um das Buch und die Sehnsucht, seine Mutter zu suchen. Apathisch hatte er, Marvin im Arm, in seinem Bett gelegen und an die Wand gestarrt. Nie zuvor war ihm derart elend zumute gewesen. Wieso konnte ihn sein Vater nur so verraten?

Der aber ging ihm aus dem Weg. Selbst Sally schaffte es nicht, zu ihm durchzudringen. Ihre Versuche, Laurenz Noel umzustimmen, scheiterten ebenso wie die Hoffnung, dass sich ihre Großeltern für Leander einsetzen würden. Doch weder Flora noch Florin mochten sich in die Familienangelegenheit ihres Dienstherren einmischen. Sie strichen ihrer Enkelin mitfühlend über den Kopf. Ändern aber konnten auch sie nichts.

Am Tag der Abreise hatte sich Leanders Vater in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen und es Flora und Sally überlassen, seinen Sohn zur Busstation zu begleiten. Dort waren bereits dutzende Jungen der einzelnen Jahrgangsstufen versammelt und lärmten über den Busparkplatz. Andere standen in kleinen Gruppen mit ihren Familien unweit des Wartehäuschens. Einzig Leander und seine Begleitung wirkten verloren neben dem fröhlichen Toben und Rufen seiner Mitschüler. Sally ahnte, wie Leander zumute sein musste, als die Tauss Zwillinge in der schwarzen Limousine ihres Vaters vorfuhren und sich die Meute um sie scharte.


Tizian war auch beim dritten Versuch, die obere Kante der Palisadenwand anzuspringen, gescheitert und lag völlig entkräftet im Dreck. Die Menge johlte und Kniesz, der Sportlehrer, griff zur Pfeife.

»Los, zwei Waldrunden! Bedankt euch bei diesem Weichei hier!«, schrie er über den Lärm der dreißig Jungen hinweg und gab mit einem schrillen Pfiff das Startsignal. Widerstrebend setzten sich die Buben in Bewegung, nicht ohne Tizian mit Worten und Füßen klar zu machen, dass er sich auf eine gehörige Abreibung gefasst machen könne.

Der lag wimmernd und weinend im Schlamm und krümmte sich unter den Tritten und Knuffen seiner Mitschüler. Nur Leander wollte ihm aufhelfen. Da packte ihn Kniesz am Arm und stieß ihn der laufenden Menge hinterher.

»Noel, schau, dass du Land gewinnst! Sonst rennst du, bis dir die Füße bluten! Um diesen Vaterlandsverräter hier kümmere ich mich.«

Leander wagte keine Erwiderung, ballte nur die Fäuste und folgte den anderen, die bereits hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden waren. Reif bedeckte Halme und Blätter am Boden und die Kälte der Nacht umfloss die dicht stehenden Bäume. Er zitterte, während der Tag traurig von den feuchten Zweigen troff.

Leander hasste dieses Camp. Es war um vieles schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte. Es bestand aus dem Kommandeurssitz, mehreren Wohnbaracken, einem Speisesaal, der gleichzeitig als Unterrichtsraum diente, und einem Sport- und Exerzierplatz. Es gab Gemeinschaftsduschen und einen hohen Zaun rund um das ganze Areal.

Noch bevor sie ihre Mannschaftsquartiere bezogen hatten, in der Regel kleine, kahle Räume mit Spinden und Hochbetten für jeweils sechs Jungen, erhielten sie die sogenannte Lagerkleidung, die sich kaum von den Uniformen der Erwachsenen unterschied. Die Hose war Leander viel zu weit und auch die Ärmel der Jacke musste er umkrempeln. Zum Glück durften sie wenigstens ihre Turnschuhe behalten und mussten nicht mit schweren Militärstiefel, wie er sie von seinem Vater kannte, durchs Gelände rennen.

Am schlimmsten aber war, dass er noch weitere zehn Tage in diesem Straflager gefangen saß. An eine Flucht war nicht zu denken. Man hätte ihn in Nullkommanichts aufgespürt und zurückgeschleift. Und was ihm dann blühte, daran wagte er nicht einmal zu denken.

Nach dem Frühsport hatten sich die Schüler in der Kantine einzufinden, wo Lagerkommandant und Reserveoffizier Matt Wendell einen täglichen Kurs in politischer Bildung gab. Trotz Ferien galt es, den Körper der künftigen Soldaten Penumbras zu stählen und ihren Geist zu schulen. Leander schmerzten stattdessen Arme und Beine und bleierne Müdigkeit befiel ihn, wenn er nur an diesen Unterricht dachte. Schon in der Schule hatte er Perfekta, wie man das Fach Parteikunde auch nannte, nicht gemocht. Hier hasste er es.

Als einer der letzten schleppte er sich in den Speiseraum, wo er sich in die hinterste Reihe verzog und Tizian einen Platz freihielt. Der allerdings kam nicht. Dafür brachte Wendell eine ausgestopfte Nachtmire mit.

»Achtung!«, gellte der Ruf des Gruppenführers durch den Raum und die Schüler sprangen von ihren Stühlen auf. Die Hände an der Hosennaht standen sie aufrecht und blickten ernst zum Lehrerpult, wo Wendell auf einen Stock gestützt lächelnd abwinkte.

»Rührt euch und setzen.«

»Lang lebe Penumbra!«, begrüßten ihn achtundzwanzig Münder. Leander hatte nur die Lippen bewegt. Danach nahmen die Schüler wieder Platz und der Raum wurde von scharrenden Stuhlbeinen erfüllt. Wendell stellte währenddessen das Tierpräparat ab und legte seinen Stock über das Pult. Der Hocker davor reichte ihm fast bis zur Brust, so dass er sitzend wie ein kleines Kind mit den Füßen in der Luft baumelte. Mit hochrotem Kopf hievte er seine rundliche Gestalt auf den Sitz. Schließlich wischte er sich schwer atmend den Schweiß mit einem großen, karierten Taschentuch von der Stirnglatze und rückte die Nachtmire in die Mitte des Pultes. Draußen kam Wind auf. Papierblätter wirbelten auf und eines der offenstehenden Fenster schlug mit lautem Knall zu. Als das Rauschen der Zweige unweit der Baracken stärker wurde, bat Wendell einen der Schüler, auch die übrigen Fenster zu schließen.

»Nachdem wir uns in der letzten Stunde über die großartigen Leistungen unserer Arbeiter und Bauern unter der Führung unserer ruhmreichen Partei unterhalten haben«, begann er mit dünner, kratziger Stimme, »möchte ich heute über die dunkle Seite der Macht sprechen.«

Einzelne kicherten, denn trotz des militärischen Ranges konnte sich kaum einer Wendell als Soldat vorstellen, geschweige denn als Teil irgendeiner Macht. Wendell aber fuhr unbeirrt fort.

»Wie manche von euch vielleicht wissen, tobte vor vielen Jahrhunderten ein Krieg zwischen Penumbra und Illumina, oder wie man es noch nennt, der Lichtwelt.«

Erschrocken hielten die Schüler den Atem an. Mitnichten war jedem klar, dass es dieses unbekannte Reich voller Licht und fremder Wesen wirklich gab. Viele hielten Illumina für eine Legende, andere für eine Art Wunschvorstellung. Wieder andere für Verrat an Penumbra, dem Schattenreich. Doch die meisten hatten stets angenommen, dass es keine Lichtwelt gab, geben durfte. Erstarrt hingen die Schüler an Wendells Lippen und Leander fürchtete, man würde sein Herz in diese Stille hinein schlagen hören.

»Allerdings wollen wir heute nicht über Illumina sprechen, noch nicht. Das steht erst ab nächstem Schuljahr auf dem Lehrplan. Heute geht es mir um eine Folge dieses Krieges. Genauer um die Plagen, die von den Lichtwesen im Kampf gegen Freiheit und Fortschritt auf uns gehetzt wurden.«

Dabei rückte er das ausgestopfte Tier an den Rand des Pultes, so dass alle Schüler das merkwürdige Wesen mit seiner Hornplattenpanzerung und den ledrig schuppigen Flügeln sehen konnten.

»Nachtmiren oder auch nocturnus vexator, aus der Familie der Flughunde, sind eine lästige Plage. Kann mir einer sagen wieso?«

Neunundzwanzig fragende Augenpaare sahen Wendell erwartungsfroh, aber bar jeder Ahnung an.

»Nachtmiren«, erklärte Wendell nach einigen Sekunden gespannten Schweigens, »ernähren sich von frischer Glut. Der oft einzigen Wärmequelle vieler unserer rechtschaffenen Bürger, von denen mancher am Morgen nicht mehr aufgewacht ist, weil er im Schlaf erfror. Also gebt Acht und lasst ein offenes Feuer nie unbewacht.«

Dabei sah er Leander direkt in die Augen. Der senkte voller Unbehagen den Blick und fragte sich, was ausgerechnet er mit dieser Information anfangen solle.

Zu Leanders Erleichterung lenkte ein stämmiger Junge mit pickligem Gesicht Wendells Aufmerksamkeit auf sich, als er wissen wollte, ob die Plagen direkt aus der Lichtwelt kämen.

»Schnauze Streber!«, zischte Wayne den Jungen an, doch Wendell ignorierte den Einwurf.

»Nicht direkt. Die Nachtmiren blieben nach der Trennung der Reiche in unserem Land und fanden nicht mehr zurück in die Lichtwelt. Das gilt auch für andere Plagen. Welche kennt ihr noch?«

Leander aber hörte die Antworten schon nicht mehr. Seine Ohren brannten und seine Gedanken kreisten nur noch um ein Wort. Trennung. Von welcher Trennung sprach der da und wenn es Illumina tatsächlich gab, musste ein Weg dorthin führen. Zinnober hatte also Recht.

Wendell berichtete unterdessen über Kraterkröten, einer Amphibienart, die bei Berührung explodiert und tiefe Löcher in den Boden reißt. Ebenso über die Grums, ein unterirdisches Volk, das von Steinen lebt und angeblich plante, das Unbesteigbare Gebirge zum Einsturz zu bringen, und zuletzt über Bluteichen.

»Bluteichen«, dozierte er, »sind eine extrem gefährliche Spezies, die sich von rohem Fleisch ernährt, ohne den Besitzer dieses Fleischstücks um Erlaubnis zu fragen.«

Dabei zog er sein rechtes Hosenbein hoch und klopfte vor den Augen der verblüfften Jungenschar mit seinem Stock an eine hölzerne Unterschenkelprothese. Der Grund für sein auffälliges Hinken.

»Also macht einen großen Bogen um diese Biester und wenn es nicht anders geht, nehmt einen toten Hasen mit. Vielleicht reicht das, ihren blutsaugenden Wurzeln zu entkommen. Verlassen würde ich mich darauf nicht.«

Wieder sah er Leander direkt in die Augen, der froh war, als ihn das Pausenklingeln von weiteren Horrorgeschichten erlöste.



Kapitel 14




»Wieso warst du nicht in Perfekta?«, fragte Leander Tizian, als er diesen niedergeschlagen auf seinem Bett sitzend vorfand. Der drehte den Kopf weg, doch Leander hatte Tizians gerötete Augen bereits gesehen.

»War was mit Kniesz?«, hakte er vorsichtig nach. Tizian aber schüttelte nur den Kopf. »Was dann?«

»Nichts«, erwiderte Tizian leise und Leander zögerte. Schließlich siegte die Neugier.

»Komm erzähl schon«, drängte er seinen Freund. Dazu holte er ein Stück Schokolade aus seinem Geheimversteck und reichte es Tizian. Der machte große Augen, denn Schokolade war in Penumbra offiziell verboten. Leander bekam hin und wieder eine Tafel von seinem Vater zugesteckt, über deren Herkunft er nur spekulieren konnte. Als Tizian zaghaft lächelnd zugriff, hockte sich Leander zu ihm aufs Bett.

Er hatte Tizian erst im Schülercamp kennengelernt. Tizian kam aus Dusk, einem Städtchen im Mittelwesten Penumbras, das vor allem für seine landwirtschaftlichen Produkte und Viehzucht bekannt war. Tizians Eltern arbeiteten für eine Produktionsgenossenschaft, zu der sich eine Vielzahl früherer Höfe zusammengeschlossen hatten, nachdem es den Bauern unmöglich wurde, alleine den Erwartungen der Staatsregierung nach immer höheren Erträgen gerecht zu werden. Es war eine harte Arbeit in einem Land, in dem nur selten die Sonne schien und Hochwasserperioden ganze Ernten vernichten konnten. Tizian war es gewohnt, zusammen mit seinen Eltern auf dem Feld zu arbeiten. Militärische Sportübungen jedoch lagen ihm ebenso wenig wie Leander.

Wie es der Zufall wollte, waren sie auf die gleiche Stube gekommen, zusammen mit vier anderen, weitgehend verträglichen Jungs aus den übrigen Regionen Penumbras. Ähnlich wie Leander war Tizian zu klein für sein Alter und von schmächtiger Statur. Gemeinsam war ihnen auch, dass sie zu den Klassenbesten gehörten, wofür sie von den weniger engagierten, aber größeren Mitschülern regelmäßig schikaniert wurden. Das nahm Tizian für Leander ein, der schon gefürchtet hatte, gar keinen im Lager zu treffen, mit dem er sich verstehen würde. Deshalb lag Leander auch viel daran, von Tizian zu erfahren, was der jähzornige Sportlehrer mit ihm angestellt hatte.

Nach einer Weile berichtete Tizian stockend, wie ihn Kniesz für sein Versagen beim Frühsport gezwungen hatte, die Gemeinschaftstoiletten zu putzen. Kurz bevor er fertig war, kamen plötzlich die Tauss Zwillinge nebst Gang, um heimlich auf dem Klo zu rauchen. Tizian hatte sich gerade noch in einer Kabine verstecken können, als er hörte, wie sie sich über ihn lustig machten. Auch planten sie, ihn nach dem Unterricht für eine Abreibung abzufangen. Wayne hatte dreckig gelacht und Tizian war das Herz in die Hose gerutscht. Voller Angst hockte er mit angezogenen Beinen auf dem Toilettendeckel und wartete, bis die Clique endlich abgezogen waren. Anschließend hatte er aus Furcht, ihnen in die Arme zu laufen, Perfekta geschwänzt und sich auf sein Zimmer verkrochen.

Wieder liefen Tizian Tränen über die Wangen, weshalb Leander ein weiteres Stück Schokolade holte und vorschlug, sich vom Gelände zu schleichen. Sie könnten den Nachmittag außerhalb des Camps verbringen.

Tizian willigte nach kurzem Zögern ein und gemeinsam stahlen sich die beiden Freunde an den Zimmern der anderen Mitschüler vorbei, an den Wohnbaracken des Lagers entlang und durch ein Loch im Zaun in ein nahegelegenes Waldstück. Der Wind hatte aufgefrischt und trieb Staubwolken über den Exerzierplatz. Das Lager selbst lag auf einer Anhöhe oberhalb eines alten Krematoriums und war vom Sichelwald umgeben. Dieser wiederum wurde durch die Stadtmauer begrenzt. Man würde sie vor dem Abendessen kaum vermissen. Zwar fanden für gewöhnlich am Nachmittag Gruppenarbeiten, Mannschaftsspiele oder Exerzierübungen für den Fahnenappell statt, doch es war Wochenende und da hatten sie frei.

»Lang halt ich’s hier nicht mehr aus«, sagte Leander zu Tizian, als sie das Waldstück erreichten. Schrille Vogelschreie mischten sich mit dem Rauschen der Bäume, während lautes Rascheln im Unterholz nichts Gutes verhieß. Eilig setzten sie ihren Weg fort.

Schließlich überquerten sie eine Wildgräserwiese, um zu einem nahegelegenen Steinbruch zu gelangen. Der Regen der letzten Tage hatte den Boden in Schlamm verwandelt und ihre Schuhe schmatzten bei jedem Schritt.

Auch heute ballten sich Wolken über Halphas und kreischende schwarze Vögel zogen knapp über den Köpfen der Buben ihre Kreise. Am Fuße der Abbruchkante standen abgewrackte Loren, manche noch halb voll mit Geröll, sowie ein verrosteter Förderbohrer, der seit langem keinen Stein mehr aus der Felswand getrieben hatte. Ein porös gewordenes Transportband ragte in die Mitte der Abraumfläche, wo neben einem Schuttberg das austretende Grundwasser einen kleinen See gebildet hatte. Dort setzten sich die Jungen ans windgeschützte Ufer und warfen kleine Steine ins Wasser, wetteiferten, wessen Stein öfter die Oberfläche berührte, bevor er versank.

Plötzlich ließ Tizian den gerade aufgenommenen Stein wieder sinken und seufzte: »Scheiß Camp, am liebsten würde ich abhauen.«

»Wohin denn?«, murmelte Leander, der nach einem besonders flachen Stein Ausschau hielt. »Aber möchtest du wissen, was noch schlimmer ist?«

Tizian sah Leander fragend an.

»Wenn man eigentlich hätte zuhause bleiben können und am Ende doch hier landet.«

Dann erzählte er Tizian von dem Gespräch mit Direktor Knock und wie ihn sein Vater im Stich gelassen hatte.

»Wieso das denn?«, empörte sich Tizian. »Aber denk dir nichts. Mein Vater schwärmt heute noch von diesem Lager. Da war klar, dass ich auch hin musste.«

»Echt bitter«, nickte Leander nachdenklich. »Vor allem, da Sally und ich noch so tolle Sachen vorhatten.«

Neugierig geworden stellte Tizian das Steinewerfen ganz ein.

»Sally? Ist das deine Freundin?«

Leander sah überrascht auf und spürte, wie sein Gesicht zu glühen begann.

»Nee, wieso?«

»Hörte sich so an«, grinste Tizian und zwinkerte verschwörerisch mit dem linken Auge.

»Ach, tat es das?«

Leander hatte bedrohlich die Stimme gesenkt und Tizian spürte, wie unangenehm seinem Freund das Thema war.

»Tut mir leid, Mann. Dachte ja nur, dass sie sicher ganz nett ist.«

Das ist sie, erinnerte sich Leander voller Wehmut an ihren ersten und bislang einzigen Kuss und die tränenreiche Verabschiedung, als er in das Lager musste.

»Nein, schätze, sie ist nur ein Freund«, antwortete er schließlich, obwohl er spürte, wie sehr ihm Sally fehlte. Gerade noch hatten sie gemeinsam die Ferien verbracht, da war plötzlich alles vorbei und er musste in dieses verdammte Schülercamp.

Ob das mit Straflager gemeint war?, erinnerte er sich an ein Gespräch zwischen Florin und seinem Vater, das er belauscht hatte, und in dem es um die Internierung von politischen Gefangenen gegangen war. Er hatte keine Idee, was das bedeutete, aber in diesem Ferienlager eingesperrt zu sein, war in jedem Fall auch eine Strafe.

Am schlimmsten allerdings waren die Nächte. Allein in seinem Bett hielt er Marvin fest an sich gedrückt und spürte das Heimweh wie nasse Kleidung an einem Wintertag auf nackter Haut. Doch auch am Tage sehnte er sich nach der unbeschwerten Zeit mit Sally zurück, bis er beschloss, ihr einen Brief zu schreiben. Natürlich gab es weder Papier noch die Möglichkeit, einen solchen abzuschicken. Aber er hoffte, ihr wenigstens gedanklich ein bisschen näher sein zu können.

Zurückgezogen auf seinem Zimmer schrieb er Sallys Namen auf eine der leeren Seiten ENIGMAs und ließ anschließend seinen Gedanken freien Lauf. Er schrieb sich all seinen Kummer von der Seele, berichtete von den Tagen im Lager, dem schrecklichen Sportlehrer Kniesz und dem langweiligen Unterricht bei Wendell. Selbst von den Schikanen und Hänseleien der Tauss Brüder erzählte er und spürte, wie viel leichter es ihm ums Herz wurde. Da passierte etwas Sonderbares. Sally antwortete.

Während sein eigener Text zu verblassen begann, formten sich Buchstaben in Sallys weicher Handschrift auf dem Papier und bildeten ein einziges Wort? Leander. Dann ein Fragezeichen. Und noch zwei.


Leander???



Die Härchen auf seinem Unterarm stellten sich auf, als er zaghaft ein Ja auf die freie Fläche unter seinem Namen schrieb. Sekundenlang geschah nichts. Dann tauchten erneut Buchstaben auf und schließlich stand Sallys Antwort quer über ENIGMAs Buchseite geschrieben:


Das ist gruselig.



Ja, das fand Leander auch. Aber es war ebenso aufregend und, kaum traute er sich den Gedanken zu Ende zu denken, irgendwie magisch.

Es stellte sich heraus, dass Sally die einzelne, von Leander herausgerissene Seite aus Enigma aufgehoben und als Lesezeichen benutzt hatte. Sie las gerade in einem alten Abenteuerroman aus Floras Buchkiste, als ihr Name auf dem losen Blatt erschien. Vor Schreck ließ sie ihr eigenes Buch fallen. Eine gefühlte Ewigkeit lang starrte sie auf die am Boden liegende Seite und beobachtete, wie sich Zeile um Zeile von Leanders Gedanken darauf abbildeten und wieder verblassten. Unfähig, sich zu rühren, las sie Leanders ganzen Brief und erst, als er über die Tauss Zwillinge zu schreiben begann, löste sich die Starre und sie griff zögerlich zu einem Stift.

In der Folgezeit nutzten sie, so oft es ging, diese neu entdeckte Möglichkeit, sich auszutauschen. Leider waren diese Gelegenheiten rar. Dennoch half es ein wenig gegen die Einsamkeit und das Heimweh, das Leander nach wie vor plagte.

Tizian hatte dessen Schweigen gar nicht bemerkt. Zu sehr hing er seinen eigenen Gedanken nach, die kaum weniger schwermütig waren. Schließlich räusperte er sich.

»Ich habe auch keine Freundin, nicht einmal Freunde«, stellte er nüchtern fest und warf seinen Stein mit solcher Kraft auf die Wasseroberfläche, dass er mit lautem Spritzen versank.

»Außer vielleicht dich.«

»Ja, geht mir genauso«, nickte Leander. »Zum Glück hab ich noch Marvin.«

Tizian sah überrascht auf.

»Welcher Marvin? Ist der auch in dem Camp?«

Leander schüttelte lachend den Kopf. Dann sah er sich um und ließ Tizian schwören, nie ein Wort darüber zu verlieren. Tizian schwor und Leander erzählte ihm von seinem Kissen, das er einst von seiner Mutter bekommen hatte und das seitdem sein treuester Begleiter war. Ein Freund, mit dem er über alles reden konnte, und der ihn verstand. Tizian hörte ihm staunend zu. Und als Leander geendet hatte, lachte er ihn nicht etwa aus. Im Gegenteil. Tizian wünschte, er hätte ebenfalls so einen Freund, auch wenn er froh war, dass seine Mutter noch lebte.

»Und antwortet Marvin auch, wenn du ihn was fragst?«, wollte er schließlich wissen, was Leander bejahte.

»Naja, man hört ihn nicht direkt, also niemand außer mir. Aber ich weiß genau, was er sagen will.«

Fasziniert sah Tizian Leander an, dann löste er den Blick und schaute auf seine Uhr.

»Verdammt, wir müssen zurück.«

Mittlerweile war der Wind zu einem respektablen Sturm angewachsen, der grollend dunkle Gewitterwolken vor sich hertrieb. Blätter wirbelten durch die Luft und Windböen bildeten Gischt auf der Oberfläche des Wasserlochs. Das Tageslicht schwand für einen Julitag viel zu früh. Die Dämmerung brach an. Nur mühsam kamen Tizian und Leander gegen den Wind voran. Noch mühsamer war es, sich in dem dunklen Sichelwald zurechtzufinden. Bäume ächzten, Äste knarrten und Zweige knackten unter der Kraft des Windes. Da schlug ein Blitz in die Baumwipfel und ließ einen armdicken Ast direkt neben Tizian zu Boden krachen. Leander hatte ihn gerade noch zur Seite reißen können, um das Schlimmste zu verhindern. Lediglich ein Zweig streifte Tizians Wange und hinterließ einen roten Striemen. Erschrocken starrte der auf das knorrige Baumstück. Dann stemmte er sich gegen den zunehmenden Wind und sie rannten weiter.

Unweit des Lagers blieb Tizian plötzlich stehen und hielt Leander am Arm fest.

»Schau mal dort, das alte Krematorium«, wies er auf einen kleineren Hügel, der sich gegenüber dem Schülercamp erhob.

Leander kannte das verlassene Gebäude und auch die Geschichten, die sich darum rankten. Es hieß, Kinder seien beim Spielen dort umgekommen und würden heute noch auf der Suche nach ihren Eltern herumspuken. Das und die sich gegen das letzte Licht des Tages abzeichnenden Grabmale des verfallenen Friedhofs ließen Leander erschauern. Um nichts in der Welt würde er seinen Fuß dort hineinsetzen wollen.

»Komm lass uns gehen«, drängte er Tizian, der halb fasziniert, halb bleich vor Angst auf die im Grau der aufziehenden Nacht liegende Ruine starrte. Nur mühsam ließ er sich zum Gehen bewegen.

»Zum in die Hose sch...«, wollte Tizian gerade noch sagen, als ihm die Worte im Halse stecken blieben. Direkt vor ihnen standen Terry, Wayne und deren Clique. Sie grinsten.

»Überraschung. Titte und der Schimmelpilz, was ein Traumpaar. Wolltet euch wohl vor uns verstecken?«, fragte Wayne und schielte zu seinem Bruder, der selbstgefällig auf einem Streichholz kaute.

Tizian hatte es vor Schreck die Sprache verschlagen und auch Leander wusste nichts zu sagen. Seine Wut mischte sich mit Tizians angstvoller Miene und weit und breit war keiner, der ihnen helfen konnte.

»Titte«, wand sich Wayne nun direkt an Tizian. »Du schuldest uns noch was für heute Morgen und ich hab schon eine Idee.«

Dabei beugte er sich zu Tizian herab und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Mit schreckensgeweiteten Augen sah dieser erst zu Wayne, dann zu den anderen und flüsterte heiser:

»Niemals. Das könnt ihr nicht von mir verlangen.«



Kapitel 15




Imperfekt konnte sich kaum noch daran erinnern, wie lange er schon im Kristallpalast eingesperrt war. Bald dürften es drei Dekaden sein. Er war damals fast noch ein Kind. Der alte Mann indes, auf den er heute wartete, war zu jener Zeit bereits ein Greis gewesen. Einer, vor dem sich Imperfekt selbst dreißig Jahre nach ihrer ersten Begegnung noch immer fürchtete.

Einsam fühlte er sich. Einsam an der Spitze einer Partei, die ihn nicht gewählt hatte, die ihn nicht einmal persönlich kannte. Keiner kannte ihn. Er war zum Symbol einer Bewegung geworden. Zu einer Institution, wie ein Gebäude, das man betritt, wenn es regnet oder man einen Passierschein benötigt. Beides war in Penumbra alltäglich. Wenigstens konnte er mit einigen Vertrauten aus dem engsten Kreis der Macht telefonieren. Ein persönliches Treffen mit ihm war nur Lateran, dem Alten vom Berg, vorbehalten. Heute verspätete der sich.

Anders als Cato hatte Melek Tauss aufgeregt geklungen, als er ihm vom Besuch des Orakels berichtete. Der Toröffner schien geweckt und die Prophezeiung erfülle sich. Die Zeichen ließen keinen anderen Schluss zu und doch hatten die Zeichen schon einmal geirrt. Damals, als man ihn für den Toröffner hielt und entführte.

Fast hoffte Imperfekt, die Zeichen mögen diesmal den Richtigen ans Ziel führen und damit auch das Tor zu seinem Gefängnis öffnen. Vermutlich würde er dabei sterben. Das aber kümmerte ihn nicht. Nicht mehr. Er war bereits tot, lebendig begraben in einem diamantenen Sarg.

Da hörte Imperfekt die schwere Außentür gehen und das Schaben fester Schuhe auf dem Holzfußboden des schmalen Gangs. Lateran war gekommen und mit ihm ein eisiger Hauch, gegen den selbst das müde flackernde Kaminfeuer nichts auszurichten vermochte. Ohne ein Wort der Begrüßung nahm der alte Mann im abgewetzten Lehnsessel Platz, hob seine Hand und Imperfekt bückte sich, um dessen schwarzen Ring zu küssen.

»Was sagt das Orakel?«, krächzte Lateran, bevor er sein Gesicht dem Feuer zuwandte, in dessen rotem Licht die weißen Augen des Alten beängstigend leuchteten.

»Sie sagen, dass sich mit dem Erwachen des Kristalls die Prophezeiung erfüllen wird.«

»Dazu bedarf es des Auserwählten, des Toröffners. Der aber seid Ihr«, antworte der Greis mit tiefer, müder Stimme.

»Oder auch nicht«, wagte Imperfekt zu widersprechen.

»Wären sonst die beide Reiche nicht längst vereint?«

»Nicht ohne den Kristall und der ist zerbrochen«, antwortete Lateran, ohne den Kopf vom Feuer abzuwenden.

»Dennoch hat er zu leuchten begonnen. Fehlt nur noch der Lebende Berg, dann...«

Weiter kam Imperfekt nicht. Wütend hatte der Alte mit dem Schürhaken auf die Armlehne des Sessels geschlagen. Eine Staubwolke schoss empor.

»Niemals mehr wird es zur Einigung von Licht- und Schattenwelt kommen! Nicht, solange ich lebe, und auch tausend Jahre später nicht!«, spie der Greis Imperfekt entgegen, wobei die letzten Worte in einem röchelnden Husten untergingen. Imperfekt war nicht zurückgezuckt. Er kannte die Wutausbrüche des Alten. Doch heute war es anders, heute wirkte er schwach.

»Dann glaubt Ihr nicht, dass das Siegel Äons gestohlen wurde, um den Kristall nach Illumina zu bringen?«, fragte Imperfekt vorsichtig, einen weiteren Hieb mit dem Schürhaken fürchtend.

»Wer auch immer das Siegel hat, er wird das Tor nach Illumina nicht finden«, hustete der Alte noch immer. »Dafür haben meine Ahnen gesorgt. Und selbst wenn, ohne das dritte Kristallstück nutzt ihm das Siegel nichts.«

»Aber wenn Aurelia...?«

»Zum Teufel mit Aurelia«, unterbrach ihn der alte Mann erneut. »Kein Sterblicher hat je ihr Reich betreten und es lebend wieder verlassen.«

Imperfekt nickte. Da war was dran. Aurelia war die Tochter Amons, des ersten Sohns Äons, der als rechtmäßiger Erbe von seinen Brüdern Calis und Butan nach Thanat, der Unterwelt, verbannt worden war. Nach Amons gewaltsamem Tod übernahm dessen Tochter die Führung der Amoniter und regiert die Unterwelt bis zum heutigen Tag. Die Zeit konnte ihr im Totenreich nichts anhaben, auch wenn schon damals galt: Nur die Toten konnten Thanat betreten oder die, die dort sterben würden. Ausnahmslos. So lautete die Überlieferung, die vor fast tausend Jahren aufgeschrieben und seitdem von Generation zu Generation weitergegeben wurde.

»Ich schätze, in Illumina sieht man das ähnlich?«, versuchte sich Imperfekt ein letztes Mal dem Thema zu nähern. Lateran spuckte aus.

»Denen bleibt gar nichts anderes übrig, ohne einen weiteren Krieg zu riskieren.«

Das erinnerte Imperfekt sorgenvoll an die waffenstarrenden Lager Penumbras und die Kosten, die alljährlich für deren Erhalt und Erweiterung anfielen. Doch die Wirtschaft lag am Boden, die Erzvorkommen waren erschöpft. Die Ernten verdarben und die Menschen hungerten. Oft konnten sie nur noch mit Gewalt für die Ideale der Schwarzen Sonne begeistert werden. Von Unruhen hörte man und von den immer frecheren Kundgebungen der Kirche Amons.

»Und wenn wir der Kirche Amons ein Ende bereiten? Nur dort könnte sich der Toröffner verstecken.«

Lateran zögerte. Mehrmals setzte er an, dann verstummte er wieder. Imperfekt wartete und betrachtete die wächserne Haut des Alten, die sich wie Pergament über dessen Schädel spannte.

»Ein alter Pakt hindert uns daran«, zischte der schließlich durch seine dünnen, verkniffenen Lippen. »Doch den Kopf dieses Natterngezüchts müssen wir abschlagen. Wie heißt der noch mal?«

»Renzo Lumael«, sekundierte Imperfekt. Der Alte nickte.

»Bringt mir diesen Verräter und die Kirche wird verbluten.«

»Ob er der Toröffner ist?«

Lateran richtete seine blinden Augen auf Imperfekt.

»Wir werden sehen.«



Kapitel 16




»Ihr wollt was?«, fragte Leander entsetzt. Mehr noch aber erschreckte ihn Tizian, der kreideweiß auf die Ruine des Krematoriums starrte und am ganzen Leib zitterte.

»Wenn du was dagegen hast, Schimmelpilz«, grinste Wayne, »kannste gerne mitgehen.«

Er und seine Clique hatten sich als Rache für den morgendlichen Waldlauf eine Mutprobe ausgedacht. Tizian sollte in das Leichenhaus gehen und mindestens eine halbe Stunde dort ausharren. Sonst würde er bereuen, heute überhaupt aufgestanden zu sein. Das hatte der bereits viele Male an diesem Tag bereut und schlotterte bei dem bloßen Gedanken, nur einen Fuß auf diese düstere Stätte des Todes setzen zu müssen. Einem Ort, von dem, glaubte man den unheimlichen Geschichten, keiner je lebend zurückgekehrt sein soll.

»Hey Jungs, das könnt ihr nicht machen«, bat Leander nochmals, als zwei von Terrys Leuten Tizian packten und in Richtung des alten Friedhofs schleiften. Der schrie, heulte und trat um sich. Ohne Erfolg. Wayne lachte, sein Bruder kaute ungerührt auf seinem Streichholz und Leander fühlte sich hilflos. Plötzlich ließen die beiden Jungs Tizian fallen.

»Verdammt, die Sau hat sich eingepinkelt«, rief einer angewidert und der andere bog sich vor Lachen. Leander aber sah mit Entsetzen, wie sich ein dunkler Fleck auf Tizians Hose bildete. Der versuchte ihn mit den Händen zu verdecken, doch der Fleck breitete sich aus und zog sich an Tizians Hosenbein entlang. Da sah Tizian flehend zu Leander. Als der aber den Blick senkte, brach der schmächtige Junge zusammen und kniete weinend am Boden. Er flehte die Jungen an, ihn in Ruhe zu lassen. Die lachten nur. Es war erbärmlich. Da konnte Leander nicht länger zusehen, trat zwischen Tizian und die anderen und sagte:

»Ich geh für Tizian.«

Terry nahm überrascht das Streichholz aus dem Mundwinkel.

»Sag das noch mal.«

Leander wiederholte sein Angebot und bereute die Worte, kaum, dass sie seinen Mund verlassen hatten. War er verrückt geworden? Sein Herz schlug beim bloßen Gedanken an die verfallene Leichenhalle wie ein Hammerwerk und fast hätte auch er sich in die Hose gemacht, wäre nicht das Signalhorn des Ferienlagers angegangen. Das war das Zeichen für den Abendappell und der unüberhörbare Befehl, das Lager nicht mehr zu verlassen.

Erschrocken hasteten die Jungen zurück ins Lager und Leander hoffte bereits, noch einmal davon gekommen zu sein, als Terry und seine Gang wenig später in seinem Schlafraum auftauchten. Zum Glück waren er und Tizian allein auf der Stube, da die anderen vier aus seinem Zimmer zur Nachtwache am Lagertor abkommandiert waren.

»Wenn ihr Pisser glaubt, aufgeschoben ist aufgehoben, könnt ihr morgen gleich Windeln anziehen«, teilte Terry den verängstigten Buben ungerührt mit. »Wir treffen uns nach dem Mittagessen vor dem Friedhof.«

Leander schwieg und hoffte, dass Terry möglichst bald wieder gehen würde, als dessen Bruder ihm etwas ins Ohr flüsterte.

»Ach ja«, nickte Terry und drehte sich nochmals zu Leander um. »Um sicher zu gehen, dass du morgen nicht kneifst, will ich ein Pfand. Sonst geht Titte und darf in den Gräbern nach Knochen suchen.«

Dem wich die Farbe vollends aus dem Gesicht und Leander erwiderte, dass er nichts Wertvolles habe, als ihn Tizian am Ärmel zog.

»Dein Kissen«, flüsterte der und Leander blieb fast das Herz stehen. Wütend stieß er Tizian zurück, doch es war zu spät. Terry hatte es gehört und sah sich im Zimmer um.

»Welches Kissen denn?«, fragte er laut, während er herum ging und Leanders Miene beobachtete. Dem war schlecht vor Sorge um Marvin. Da packte Wayne Tizians Arm und drehte ihn dem Jungen auf den Rücken. Tizian schrie auf und wimmerte um Gnade. Wayne verstärkte den Druck und forderte Tizian auf zu sagen, wo dieses verdammte Kissen sei. In seiner Not deutete Tizian auf Leanders Rucksack. Terry griff danach und wies auf Leander.

»Haltet ihn fest.«

Drei seiner Freunde packten Leander und drückten ihn an die Wand, während Terry Marvin aus dem Rucksack zerrte. Leander stöhnte auf und versuchte mit aller Kraft, die Jungen wegzuschieben. Doch gegen drei hatte er keine Chance. Terry drehte das Kissen neugierig hin und her. Dann warf es seinem Bruder zu.

»Keine Ahnung, was so wertvoll an diesem Dreckskissen sein soll. Aber wenn du schön brav bist, kriegst du's morgen zurück.«

Dabei lächelte er Leander falsch ins Gesicht und tätschelte dessen Wange. Leander bäumte sich nochmals auf und wollte Terry ins Gesicht spucken. Doch der drehte sich grinsend um und die Clique verließ das Zimmer. Leander rutschte entkräftet zu Boden, während Tizian wie gelähmt inmitten des Raumes stand und sich kaum zu atmen traute. Er hatte einen schrecklichen Fehler begangen, auch wenn es nicht seine Absicht gewesen war.

In dieser Nacht brachte Leander kaum ein Auge zu. Er hatte noch nie ohne sein Kissen geschlafen und malte sich in immer düstereren Farben aus, was Terry und seine Gang mit Marvin anstellen mochten. Ihm war zum Heulen zumute. Noch stärker aber tobte die Wut auf Tizian in ihm. Der lag grün und blau geschlagen in seinem Bett und rührte sich nicht. Leander war, kaum dass die Jungs den Raum verlassen hatte, auf Tizian losgegangen und hatte ihn wütend an die Wand gestoßen, ihn wieder und wieder auf Arme und Brust geboxt und angeschrien, wieso er sein Versprechen gebrochen habe.

Tizian wehrte sich nicht. Er wusste nun, was das Kissen Leander bedeutete, und bereute mit jedem Schlag mehr, Leanders Vertrauen enttäuscht zu haben. Als der schließlich von ihm abließ und schluchzend zu Boden sank, legte Tizian seine Hand auf Leanders Schulter und bat ihn um Verzeihung. Doch Leander stieß ihn weg.

Schweigend waren beide zu Bett gegangen und Tizian schwor sich, alles dafür zu tun, dass Leander Marvin zurückbekam, selbst wenn er persönlich in dieses grauslige Leichenhaus gehen musste.

Leander hatte gewartet, bis Tizian eingeschlafen war. Als er endlich dessen gleichmäßige Atemzüge hörte, überlegte er, Sally zu erreichen. Die schlief vermutlich längst und wäre wenig erfreut, mitten in der Nacht aus ihren Träumen gerissen zu werden. Wer aber sonst konnte ihm helfen? Verzweifelt dachte er daran, in das Zimmer der Tauss Brüder zu schleichen, Marvin zu stehlen und aus dem Camp zu fliehen. Nur wohin?

Da fiel ihm ENIGMA ein. Vorsichtig kramte er das Buch unter seiner Matratze hervor, wischte den Staub von dessen Umschlag und schlug es auf. Der schwache Lichtstrahl eines zur Lagerbewachung entfernt angebrachten Scheinwerfers erhellte das Zimmer. Dennoch fand er keine Hilfe in dem Buch, dessen Seiten einmal mehr leer waren. Gerade, als er es wütend in die Ecke werfen wollte, kamen ihm die letzten Worte Zinnobers in den Sinn. Der hatte ihnen geraten, das Buch in Notfällen zu befragen. Und ein solcher Notfall war heute.

Aufgeregt flüsterte Leander die Frage, wie und wohin er fliehen solle, in eine der leeren Seiten. Doch nichts geschah. Auch bei der zweiten, dritten und vierten Wiederholung seiner Frage schwieg das Buch. Kraftlos und enttäuscht schob er es schließlich beiseite und bat sein Kissen zum tausendsten Mal um Vergebung, dass er einem Fremden von ihm erzählt hatte. Marvin aber konnte ihn nicht hören.

Da beschloss Leander, Sally doch um Rat zu fragen. Vorsichtig, um Tizian nicht zu wecken, schlich er zu seinem Rucksack und holte einen Bleistift daraus hervor. Zurück in seinem Bett schlug er das Buch erneut auf und schrieb die Frage in die Mitte einer leeren Seite. Dann wartete er.

Wie üblich verschwanden seine Zeilen. Zu seiner Überraschung aber antwortete nicht Sally, sondern die vertraut geschwungene Schrift seiner Mutter zeichnete Wörter auf das Papier, die zu Leanders Erstaunen abermals ein Gedicht ergaben.



Wo leere Augen Tränen sehen,

und Kreuze an den Wegen stehen,

die alle hier und dereinst enden,

und Kinder einen Held entsenden,

der sich seinen Ängsten stellt,

und dafür seinen Lohn erhält.


Ratlos las Leander die Verse und grübelte, was ihm das Buch damit sagen wolle. Ihm fehlte Sally, die sicher eine Idee gehabt hätte. Einzig hier allein, traurig und mitten in der Nacht wollte ihm nichts Vernünftiges einfallen.

Irgendwann musste er in einen unruhigen und von düsteren Gestalten bevölkerten Traum gefallen sein, denn als ihn ein zerlumpter Bettler mit toten Augen nach dem Weg fragte, erwachte er mit klopfendem Herzen. Es dämmerte bereits. In weniger als einer Stunde würde das Horn zum Frühsport rufen und sein vermutlich letzter Tag bräche an. Noch immer hatte er das Bild des geträumten Untoten mit der von Maden gefüllten Mundhöhle vor Augen und hörte dessen Frage nach dem Weg.

Welcher Weg?, grübelte Leander und wollte die Erinnerung gerade beiseiteschieben, als ihm die Karte einfiel.

Klar, dachte Leander. Wer, wenn nicht die Karte kennt den Weg? Wieder holte er ENIGMA hervor, schlug die letzte Seite auf und rollte das Kartenstück aus.

Da plötzlich wusste er, was das Gedicht bedeutete und auch, wie er diesem ganzen Lagerelend entkommen konnte. Hoffnung glomm auf und zum ersten Mal seit Stunden fühlte sich Leander stark genug, die Mutprobe zu bestehen. Jetzt waren andere Dinge wichtig. Dinge, die es zu organisieren galt, bevor er diesem Leben für immer den Rücken kehren würde.



Kapitel 17




Wie in Trance absolvierte er Morgenappell, Frühsport und die ersten Unterrichtsstunden bei Wendell. Mit keinem sprach er ein Wort. Auch Tizian ging er aus dem Weg. Terry und seine Leute grinsten, wenn sie ihn sahen. Doch Leander nahm sie nicht wahr. Zu sehr war er mit den Planungen für den Nachmittag beschäftigt. Außerdem suchte er nach einer Gelegenheit, sich bei Sally zu melden. Die ergab sich, als ihn Wendell während des Seminars in den Lagerraum schickte, um eine Kiste Zinnsoldaten zu holen. Damit sollte die militärische Zangenoffensive in einem Manöver nachgestellt werden.

Leander hastete in sein Zimmer, holte ENIGMA, das er sicherheitshalber unter seinem Bett versteckt hatte, und rannte weiter zum Lagerraum. Dort hockte er sich unter einen Tisch und kritzelte Sallys Namen auf die erstbeste Seite des Buches. Dann hieß es warten und beten, dass sie das herausgerissene Blatt bei sich trug. Zu seiner grenzenlosen Erleichterung tauchte kurz darauf Sallys runde Mädchenschrift vor ihm auf. Sie fragte, wie es ihm ginge.

Keine Zeit, krakelte Leander hektisch zurück und Sally wollte wissen, was los sei. Auch diesmal antwortete Leander nicht, sondern beschrieb in kaum leserlicher Handschrift seinen Plan und bat sie, seinen Instruktionen genau zu folgen. Drei Fragezeichen waren die Antwort.

In seiner Aufregung überhörte Leander Schritte, die sich dem Lagerraum näherten. Und da er mit dem Rücken zur Tür saß, bemerkte er auch nicht die Person, die nun den Raum betrat, um nach ihm Ausschau zu halten. Es war Wayne, den Wendell ihm hinterhergeschickt hatte, nachdem Leander nach zehn Minuten noch immer nicht zurückgekommen war.

Der musste nun erstaunt feststellen, dass Leander offensichtlich geisteskrank geworden war. Der blonde Junge hockte unter einem Tisch und kritzelte in ein Buch.

Dem ist die Angst ins Hirn gestiegen, grinste Wayne und trat zu Leanders Tisch.

»Hey, Schimmelpilz. Wendell fragt, wo du bleibst, und ich mich, ob du ne Schraube locker hast?«

Leander fuhr zu Tode erschrocken herum und stieß sich den Kopf an der Tischplatte. Wayne lachte hämisch. Dann zerrte er den Jungen unter dem Tisch hervor.

»Los jetzt, schnapp dir die Kiste und ab!«, herrschte er Leander an und stieß ihn in Richtung der Regale, wo die Zinnsoldaten lagerten. Leander, der das Buch hastig in seinen Hosenbund gestopft hatte, stolperte und konnte sich gerade noch an einem der Regalböden festhalten, als das Regal zu schwanken begann und mehrere Kartons herabfielen. Schrauben, alte Farbdosen, Schießscheiben und Übungshandgranaten für den Sportunterricht verteilten sich quer über den Fußboden und Leander rutschte verzweifelt umher, um all den Kram wieder einzusammeln.

»Du Idiot!«, schrie ihn Wayne an und riss ihn empor. »Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Nimm den Karton und lauf!«


Wie ein Teppich legte sich das Geräusch umherhastender Füße, metallener Stuhlbeine und Besteckklapperns über die Stimmen der Schüler, die den Speisesaal allmählich füllten. Sie unterhielten sich aufgeregt über Wendells letzte Unterrichtsstunde und die erneute Erwähnung Illuminas. Nur Leander beteiligte sich nicht an dem Flüstern und Tuscheln. Er hatte das Mittagessen eigentlich ganz ausfallen lassen wollen. Zu sehr waren ihm die jüngsten Ereignisse auf den Magen geschlagen. Doch wenn sein Plan aufging, würde das vielleicht für längere Zeit seine letzte Mahlzeit sein. Also entschied er sich für Kartoffelbrei, Blutwurst und Grießpudding, nahm das Tablett und setzte sich abseits der anderen in eine Ecke des Speisesaals. Aber kaum hatte er zu essen begonnen, bauten sich auch schon Terry und seine Leute vor ihm auf.

»In zehn Minuten am Tor«, zischte Terry und hob drohend die Faust. »Sonst gibt’s Saures.«

Leander würgte die halbgekaute Blutwurst herunter und nickte. Er hatte gehofft, etwas mehr Zeit zu bekommen. Hastig schlang er auch den Rest seiner Mahlzeit in sich hinein, rannte auf sein Zimmer, stopfte wahllos Sachen in seinen Rucksack und verließ den Raum in Richtung Ausgang. Am Tor wartete bereits Tizian, der sich nicht traute, Leander in die Augen zu sehen. Nach und nach kamen auch die übrigen Jungs und gemeinsam stahlen sie sich hinaus in Richtung Krematorium.


Der Wind heulte und trieb die schweren Regentropfen vor sich her, die aus bleigrauen Wolken fielen. Rostrot färbte sich der Horizont im Dunst zahlreicher Schornsteine der Stadt. Allen voran die des Kohlekraftwerks, aus dessen Schloten gelbbrauner Qualm gen Himmel stieg.

Die Ruine des ehemaligen Krematoriums lag auf einem kleinen Hügel, der von dicken Platanen gesäumt war. Von der anderen Seite wurde sie durch die übermannshohe Stadtmauer begrenzt, in deren Schatten ein verfallener Friedhof lag.

Die Jungen kämpften gegen den Sturm an und quälten sich auf den Totenbuckel, wie man die Stelle vor dem Leichenhaus im Volksmund nannte. Mochte auch manch einer von ihnen fluchen, im Pfeifen und Rauschen von Wind und Bäumen war davon nichts zu hören.

Wie so oft hingen die Wolken über der Anhöhe derart tief, dass sich die windschiefen Grabmale im Dunst nur schemenhaft abzeichneten und das rostige Tor zum Friedhof wie der Eingang zur Unterwelt wirkte. Quietschend und jammernd schwang einer der Torflügel im Wind und warnte jeden, der verrückt genug war, sich diesem Platz zu nähern. Hier endete die reale Welt und das Reich der Toten begann.

Die Jungen schauderte es, als sie in respektvollem Abstand vor dem verfallenen Gemäuer stehenblieben. Anstelle der Fenster blickten sie tote Höhlen an und eine Schar Raben kreischten, als sie der Meute gewahr wurden. Ein langer, dünner Schornstein ragte über den spitzen Giebel des Verbrennungsraumes hinaus und wo einst Menschen von ihren Hinterbliebenen Abschied nahmen, war das Dach halb eingefallen. Der Wind, der durch die Balken pfiff, sang seine traurige Melodie und ließ das morsche Holz wimmern. Tizian war kurz davor, sich abermals in die Hose zu machen. Doch auch den anderen sträubten sich die Haare an Armen und Nacken.

»Na, dann mal viel Vergnügen, Schimmelpilz«, schrie Terry gegen das Heulen des Windes an und zeigte auf das halboffene Eingangstor. Leander aber blieb stehen.

»Erst will ich mein Kissen!«, schrie er zurück, auch wenn man im Sturm nur ein Wispern davon vernahm.

»Meinetwegen«, brummte Terry noch kurzem Zögern, zog Marvin aus seiner Umhängetasche und warf ihn Leander zu.

»Jetzt mach, wir haben nicht ewig Zeit und vergiss nicht, eine halbe Stunde, keine Minute weniger. Wir warten hier.«

Leander schluckte, sah nochmals zurück auf das Feriencamp, dann wieder zum Friedhof und seufzte. Hoffentlich klappt das, dachte er und ging quälend langsam auf das Tor zu. Hinter ihm johlte die Meute. Leander indes war mit seinen

Gedanken längst bei der ersten Gedichtzeile.



Wo leere Augen Tränen sehen



Damit mussten die blinden Fenster des Krematoriums gemeint sein. Er war also richtig.



und Kreuze an den Wegen stehen



Auch das war einfach. Zahlreiche Grabmale waren Kreuze, die den Weg vom Tor zum ehemaligen Eingang des Gemäuers säumten. Dazwischen standen oder lagen Steinplatten, auf denen Namen eingraviert waren. Namen von Menschen, denen Leander hoffte, heute nicht zu begegnen.



die alle hier und dereinst enden,

und Kinder einen Held entsenden


Ob er ein Held war, würde sich zeigen. In jedem Fall war er mutig genug, den Friedhof zu betreten und sich langsam dem Eingang des Krematoriums zu nähern. Ja, hier endete alles Irdische. Nichts erinnerte mehr an Leben, Menschen, Freude oder Licht. Nichts als Verfall, Kummer und Tod sprangen ihn aus den Nebelschwaden heraus an, ließen sein Herz so schnell schlagen, dass er fürchtete, es würde ihm aus dem Brustkorb springen. Einzig eine fette, schwarze Ratte hockte auf einem Grabstein und blickte Leander finster an. Erst als er auf sie zutrat, huschte sie zurück zu den Vergessenen, die hier begraben lagen. Leander wagte kaum zu atmen. Jedes Knirschen unter seinen Schuhen konnte diese Toten wecken, sie zu ihm führen. Er hatte schreckliche Angst und war versucht, umzukehren, als ihm die beiden letzten Zeilen des Gedichts wieder einfielen:



der sich seinen Ängsten stellt,

und dafür seinen Lohn erhält.



Ja, seinen Ängsten stellte er sich, mehr als er es sich je selbst zugetraut hätte. Ob auch der Lohn der war, den er sich erhoffte, würde sich noch zeigen. Wenn nicht, wäre das vielleicht der letzte Weg, den er in seinem Leben ging. Ihn schauderte.

Wieder und wieder murmelte er die Verse vor sich hin, hoffte, dass ihn dieses Mantra beruhigen würde, als sein Herz für eine Sekunde aussetzte. Er hatte einen Schatten gesehen. Keinen gewöhnlichen Schatten. Einen, der sich bewegte. Vielleicht hatte ihm die Angst einen Streich gespielt. Doch was war das dann?

Abermals schien es Leander, als ob sich etwas oder jemand hinter den leeren Fenstern bewegt hätte. Bildete er sich das nur ein? In seinen Ohren rauschte das Blut, das sein Herz unerbittlich durch seinen Körper jagte, und nasskalter Schweiß rann ihm von Nacken und Stirn. Nass war auch seine Hand, mit der er zitternd versuchte, die schwere Eingangstür zu öffnen. Langsam gab diese nach und mit einem Kreischen, das Tote erwecken konnte, sprang sie schließlich auf. Leander stand einer Ohnmacht nahe auf der Schwelle und wusste nicht weiter.

Daumengroße Asseln huschten ins Dunkel, als er langsam einen Fuß ins Innere des Gebäudes setzte und sich umsah. Viel war in dem staubigen Zwielicht nicht zu erkennen. Der hintere Teil der Zimmerdecke war eingebrochen und Spinnweben bogen sich im Wind, der durch das löchrige Gemäuer pfiff. In der Mitte des Raumes stapelten sich mehrere, ineinander verkeilte Holzbänke. Bänke, auf denen früher die Trauernden saßen, um Abschied zu nehmen. Die Tische für Blumen und Kränze lagen umgestürzt nahe der Wand, an der – und hier stockte Leander der Atem – ein aufrecht stehender Holzsarg lehnte. Doch das war nicht der Einzige.

Durch ein Loch in der Wand sah Leander einen anderen Raum voller Särge. Braune, schwarze, weiße und manche so klein, dass nur Kinder hineinpassten. Es war unheimlich und fast wäre er die verlangten dreißig Minuten im Eingang stehengeblieben, hätte nicht der Wind die Tür mit lautem Knall hinter ihm ins Schloss geworfen. Leander machte vor Schreck einen großen Satz in den Raum hinein.

Da waren sie wieder. Schatten. Irgendwo weinte jemand. Dann hörte Leander Schritte, kleine trippelnde Schritte, ganz in der Nähe. Die Kinder, durchfuhr es ihn. Die toten Kinder, die unerbetene Gäste ins Innere des Krematoriums lockten, wo diese jämmerlich verbrannten. Er wollte fliehen, nur raus aus diesem Alptraum. Doch er kam nicht vom Fleck. Der schwarz-weiß gekachelte Steinfußboden hatte sich in eine zähe Flüssigkeit verwandelt, in der Leander langsam versank. Er schrie und versuchte panisch seine Füße vom Boden loszureißen. Die aber waren schwerer als Blei und der Untergrund wie Teer. Er zerrte, zog und stöhnte. Vergebens. Leander sank und nichts hielt ihn auf.

Er musste an Sally denken, an den Kuss und wie er mit ihr Mutschelbeeren pflücken war. Das lag erst einige Tage zurück. Tage, die ihm nun wie Jahre erschienen, wie der Anfang vom Ende seines Lebens.



Kapitel 18




Sally war zu diesem Zeitpunkt keine Meile mehr vom Krematorium entfernt und kämpfte ebenfalls gegen Wind und Wetter an. Der schwere Rucksack auf ihrer Schulter schmerzte und ihre Jacke blähte sich wie ein Segel im Sturm. Es fiel ihr schwer zu atmen und der Regen rann wie Tränen über ihr Gesicht.

Wieso heute, wieso hier?, fragte sie sich und dachte an die hektischen Zeilen Leanders vor etwas mehr als zwei Stunden. Leider hatte sie in der kurzen Zeit, die ihr zum Packen geblieben war, nicht alles auf Leanders Liste finden und mitbringen können. Sie würden improvisieren müssen, um nicht zu verhungern.

Irgendetwas musste vorgefallen sein, denn die letzten Tage klang Leander meist niedergeschlagen und der Plan, seine Mutter zu suchen, schien vergessen. Heute Vormittag hingegen hatte er nicht einmal Zeit gehabt, sich von ihr zu verabschieden. Das herausgerissene Blatt war leer geblieben und eine Menge Arbeit lag vor ihr. Untypisch für ihn.

Am schwersten fiel es Sally, ihren Großeltern nichts von dem Ausflug zu verraten. Gut, Flora würde einen Brief im Brotkasten der Küche finden, falls Sally bis zum nächsten Morgen nicht zurück wäre. Aber sie würden sich dennoch sorgen. Dabei ging Sally davon aus, nicht weiter als bis ins nächste Dorf zu kommen. Es sollte ein Abenteuer sein, kein Himmelfahrtskommando und selbst Leander würde einsehen müssen, dass sie zu jung für eine solche Reise waren. Nie zuvor waren sie weiter als bis zur Stadtmauer Halphas gekommen. Wozu auch? Die jetzt geplante Reise schien eine Nummer zu groß. Dennoch hatte er sie angesteckt, neugierig gemacht auf eine Welt da draußen und vielleicht sogar auf etwas, das weiter entfernt lag, als ihre Gedanken bislang fliegen konnten.

So hatte sie unter anderem einen Pullover, Socken, Kochgeschirr, Besteck, Waschzeug, eine Mütze, ein Taschenmesser, ihr Tagebuch, Streichhölzer, eine Taschenlampe, Batterien, ein Fernglas, ein Kartenspiel, Wegzehrung aus der Speisekammer und ihre kleine Stoffschildkröte in den großen Militärrucksack ihres Großvaters gestopft. Als sie den aufsetzen wollte, fiel sie fast nach hinten um und musste das schwere Kochgeschirr wieder auspacken. Allerdings rechnete sie auch nicht damit, unter freiem Himmel Essen zubereiten zu müssen.

Ob sich Leander noch an den Kuss erinnerte? Sally dachte oft an den Abend auf der Treppe und an den nächsten Morgen, als plötzlich alles anders war, als sich Leander mit seinem Vater zerstritt und tagelang nicht mehr aus seinem Zimmer kam. Bis heute hatte sie nicht verstanden, was eigentlich vorgefallen war und wieso er nun doch in das Sommercamp musste. Aber weder Leander noch sein Vater sprachen darüber. Dabei hatte sich Sally bei dem Kuss gar nichts gedacht. So spontan sie Leanders Nähe gesucht hatte, so sehr wünschte sie jetzt, es wäre nie geschehen. Leander war ihr bester Freund, nichts weiter. Allerdings auch der Grund, weshalb sie sich bei diesem Wetter aufmachte, ihn zu treffen.

Der Weg war beschwerlich. Sie hatte Gegenwind und die Anhöhe zog sich in die Länge. Wenn Leanders Informationen richtig waren, würde ausgerechnet hinter dem Hügel auch noch die Tauss Clique lauern. Er hatte ihr eingeschärft, dieser unbedingt aus dem Weg zu gehen. Die Warnung war überflüssig. Nichts anderes hatte sie vor.

Nur wieso trafen sie sich überhaupt am Krematorium? Grübelnd stapfte sie den Berg hinan und ächzte unter dem Gewicht des Rucksacks. Der schien von Minute zu Minute schwerer zu werden. Zum Glück hatte sie ihn in eine große Mülltüte gepackt. Sonst wäre er jetzt – nass und durchgeweicht – kaum noch zu heben gewesen.

Jeder, den Sally kannte, machte einen großen Bogen um das alte Leichenhaus. Es solle darin spuken, hörte man. Doch selbst, wenn das nur kleine Kinder glaubten, war es unheimlich, wie sich der Nebel einem Leichentuch gleich über die Anhöhe legte. So war es ihr auch nicht geheuer, nur in die Nähe dieser Ruine zu kommen, geschweige denn, einen Fuß auf das Gelände zu setzen.

Leander hatte angeblich einen Weg gefunden, die Stadt zu verlassen.

»Die Stadt verlassen? Wenn das nur so einfach wäre«, seufzte Sally und ahnte, wie der Tag enden würde. Leander müsste wieder ins Camp zurück und sie – halb erfroren und klitschnass – bekäme von Flora Stubenarrest. Und das zu Recht.

Was nur hatte Leander damit gemeint, sie möge sich nicht fürchten und unbedingt auf ihn warten, egal was geschieht. Sally runzelte die Stirn. Was sollte denn geschehen, wovor sie sich fürchten müsste?



Kapitel 19




Leander versank derweil noch immer im Fußboden der verfallenen Aussegnungshalle. Da begannen sich die Bodenfliesen um ihn herum zu drehen. Die schwarz-weißen Kacheln formten Linien und diese einen Kreis, in dessen Mitte sich ein Strudel bildete. Der verschlang das sich immer schneller drehende Zimmer, Tische, Bänke, Särge, leere Blumenvasen, Kerzenhalter und weiße Tischdecken, die durch den Raum wirbelten. Leichentücher, dachte Leander entsetzt, der sich panisch an einen Stuhl geklammert hatte und nun spürte, wie ihm übel wurde. Um ihn herum splitterte Holz, zerbrach Porzellan, rieb Stein auf Metall. Es war ein ohrenbetäubender Lärm, in dem Leander verzweifelt um sein Leben kämpfte. Nur um Haaresbreite entging er der Kollision mit einer herumschwirrenden Urne, als sich der Mahlstrom senkte und Leander in sein alles verschlingendes Zentrum zog.

Mit einem Mal bildete der ehemalige Fußboden um ihn herum Wände. Wände eines Grabes, an dessen Boden er lag und in weiter Ferne einen schmalen Streifen Himmel sah. Leander fühlte, wie die Finsternis nach ihm griff, das Licht sich entfernte und das Ende nahte. Jeden Augenblick würden sie Erde auf ihn werfen, das Grab auffüllen. Doch plötzlich ragten zwei kleine Hände über den Steinfußbodenrand. Helfende Hände, nach denen Leander in seiner Todesangst griff.

Da erstarb jede Bewegung. Das sich gerade noch drehende Zimmer stand still und der Spuk hatte ein jähes Ende. Alles war wieder an seinem Platz, fast, als ob die letzten Minuten bloße Illusion gewesen wären. Leander fand sich unversehrt inmitten des Raumes wieder, an seiner Hand ein kleines Mädchen, das mit großen, traurigen Augen zu ihm herauf sah.

»Weißt du, wo meine Mama ist?«, flüsterte es und zog an Leanders Arm. Barfuß und nur mit einem Nachthemd bekleidet, schien die Kleine zu frieren. Auch Leander lief es kalt den Rücken hinab. Wer war dieses Mädchen? Ihre Augen waren so schwarz wie ihr Haar und standen in einem beunruhigenden Kontrast zu ihrer Haut, die sich kaum von dem weißen Nachthemd abhob. Es war unheimlich. Leanders Gedanken schienen sich noch immer zu drehen, bildeten einen Strudel, in dem sein Verstand ertrank. War sie eines der toten Kinder, die hier keine Ruhe fanden?

Vielleicht aber war auch er in dem Strudel umgekommen und wurde auf der anderen Seite abgeholt? Nur von wem? Wer war das Kind? Seine Mutter? Nein, es suchte seine Mutter und hatte ihn um Hilfe gebeten. Vielleicht war er ja doch noch nicht tot und all das ein Traum? Nur wieso erwachte er dann nicht? Erneut zog das Mädchen Leander am Arm und wiederholte seine Frage.

»Wer bist du?«, erwiderte Leander tonlos. Doch statt einer Antwort führte ihn das Mädchen zu einer Tür, die ihm bislang verborgen geblieben war. Sie öffnete diese und gemeinsam betraten sie einen Gang, der wiederum an einer Tür endete. Durch diese kamen sie in einen länglichen Raum, in dessen Halbdunkel Leander schemenhaft fünf schmiedeeiserne Metallklappen erkennen konnte. Die Öfen, dachte er mit Schaudern. Da hörte er das rostige Eingangstor im Wind jammern. Der Raum musste nahe des Eingangs liegen, durch den er vor einer gefühlten Ewigkeit den Friedhof betreten hatte. Erkennen konnte er das Tor durch die wenigen blinden Fenster des Verbrennungsraumes nicht.

Irgendetwas huschte an seinen Füßen vorbei. Leander zuckte zusammen und hoffte, dass es nur Mäuse waren. Die Zimmerdecke war schwarz und Staubränder an den Wänden ließen auf frühere Bilder schließen.

Wer hängt Bilder in einem Leichenhaus auf?, fragte sich Leander stumm, als das Mädchen ein drittes Mal an seiner Hand zog und nach seiner Mutter fragte.

»Ich weiß nicht, wo deine Mama ist«, versuchte Leander das Kind zu beruhigen, obwohl er mit seiner eigenen Angst zu kämpfen hatte. »Wo hast du sie denn zuletzt gesehen?«

»Im Garten«, flüsterte das Mädchen.

»Und wo ist der Garten?«

»Da«, zeigte das Kind auf die gegenüberliegende Seite des Zimmers. Doch Leander ahnte im Dunkel des Raumes nur eine unverputzte Ziegelwand. Nicht einmal ein Fenster führte nach draußen. Dort war kein Garten.

»Da?«, fragte er geduldig. »Hinter der Wand?«

Das Mädchen nickte und zog ihn zu der Stelle, auf die es gerade gezeigt hatte. Leander folgte unsicher. Plötzlich hörte er ein Rascheln und blickte erschrocken nach oben. Hatte sich die Decke bewegt? Das, was er zuvor für schwarzen Ruß gehalten hatte, bildete Wellen und wirkte wie flüssiger Teer. Fast schien es, als ob die schwarze Wand lebendig geworden wäre. Gerade, als er fürchtete, die Decke könne herabstürzen und ihn und das Mädchen unter sich begraben, fiel ein Lichtstrahl durch eines der Fenster und Leander traute seinen Augen nicht. Tausende Fledermäuse hingen kopfüber herab und hatten ihre Flügel um sich gelegt. Eine Decke aus lebenden, schwarzen Fellknäueln, die sich im Schlaf bewegten und damit die Wand zum Leben erweckten. Es war ekelhaft und Leander fragte sich, was wohl als nächstes käme. Ein Angriff blutsaugender Vampirfledermäuse?

»Sie ist gestürzt«, unterbrach das kleine Mädchen seine Gedanken.

»Wer ist gestürzt?«, fragte Leander abwesend und blickte noch immer furchtsam zur Zimmerdecke. Die aber war wieder zur Ruhe gekommen. Schwarz und unbeweglich hingen die kleinen, haarigen Monster an der Wand und schliefen.

»Meine Mutter«, antwortete das Kind niedergeschlagen. »Doch dann war sie weg.«

»Wie heißt du eigentlich?«, wollte Leander wissen. »Und was meinst du mit weg

»Willow«, wisperte das Kind. »Willow Ashmore. Ich wollte Hilfe holen. Aber als ich zurückkam, war sie verschwunden.«

Weeping Willow, dachte Leander, als er eine Träne die Wange des kleinen Mädchens herabrinnen sah.

Angekommen an der Seitenwand des Raumes konnte er allerdings noch immer keinen Durchgang zum Garten erkennen. Da ließ das Mädchen seine Hand los, trat auf die Wand zu und verschwand. Leander glaubte zu halluzinieren. Erschrocken trat er einen Schritt zurück, dann näherte auch er sich zögernd der Stelle, an der das Mädchen gerade noch gestanden hatte. Vorsichtig, fast ängstlich tastete er die rauen Ziegel entlang. Das Licht vor den Fenstern wurde schwächer und der Raum versank mehr und mehr in Finsternis.

Plötzlich aber spürte er eine Kante. Zu seiner Verblüffung bestand die vermeintlich solide Wand aus zwei Teilen. Diese standen leicht versetzt zueinander und bildeten einen schmalen Spalt. Eine optische Täuschung, wenn man direkt auf die Mauer zuging. Der Spalt selbst war von wilden Ranken und Spinnweben so zugewachsen, dass kein Lichtstrahl ins Innere des Raumes drang. Nur mit Mühe zwängte sich Leander hindurch und fand sich zerschunden und zerkratzt in einem kleinen Teil des Friedhofs außerhalb der Stadtmauer wieder. Das musste der Garten sein. Wind empfing ihn, Graupel und Regen. Ein typischer Julitag in Penumbra. Doch das kleine Mädchen war verschwunden.

Stattdessen blickte Leander auf zwei Gräber. Am Fußende des einen stak ein kleiner, oben abgerundeter weißer Stein mit goldener Schrift. Eingraviert war nur ein Wort:



Ein größerer, grauer Stein lag umgekippt auf der Erde des anderen Grabmals. Leander richtete ihn mit allerlei Mühe auf und fand den ebenfalls mit goldener Schrift eingravierten Namen Suraja Ashmore. Willows Mutter.

Das Buch hatte Recht gehabt. Sein Mut war belohnt worden, denn wie er es auf der Karte gesehen hatte, verlief genau hinter dem Krematorium ein Weg außerhalb der Stadtmauer in Richtung Skylla. Er war frei, seine Mutter zu suchen. Zuvor aber musste er noch seine Spuren verwischen. Keiner sollte ihm folgen. Doch das war nur der erste Teil seines Plans. Jetzt hieß es improvisieren und hoffen, dass Sally rechtzeitig den Weg hierher zum Leichenhaus gefunden hatte.


Die hielt sich mittlerweile hinter einer der Platanen versteckt und beobachte den Eingang zum Krematorium, wo die Tauss Clique dicht gedrängt dem Wetter trotzte. Nur Tizian stand etwas abseits allein. Leander dagegen sah sie nirgends. Er hatte ihr nicht gesagt, was passieren würde. Nur, dass sie sich vor den Jungs verstecken und keinesfalls verschwinden solle, egal, was geschähe. Leicht gesagt, dachte Sally und bibberte im nasskalten Sturm, der an ihrer Kleidung zerrte. Die Kapuze ihrer Jacke tief ins Gesicht gezogen, schlang sie die Arme um ihren frierenden Körper und wartete.

Die Windböen verfingen sich in den Ästen der hohen Bäume und rissen Blätter und Zweige mit sich zu Boden. Wolken rasten über die Ebene unter ihr und das Heulen des Windes erinnerte Sally an die schrecklichen Grauwölfe, die in den Tiefen der ausgedehnten Wälder Penumbras hausen sollten. Es musste kurz vor zwei Uhr am Nachmittag sein. Allerdings schien es, als stünde der Abend bevor, so bedrohlich ging dem Tag das Licht aus, kamen die Schatten den Hügel herauf und ließen die Nacht am Horizont emporsteigen. Was nur tat sie hier?

Eine Sirene riss sie aus ihren Gedanken. Dann folgten Schreie. Sie sah die Jungs wie vom Teufel geritten davonrennen. Einige stolperten. Einer fiel und riss Tizian, der nicht rechtzeitig zur Seite gesprungen war, mit sich zu Boden. Strampelnd und miteinander ringend mühten sich beide Jungen wieder hoch, warfen einen letzten, gehetzten Blick auf den Friedhof und rannten um ihr Leben. Sally folgte dem Blick und erstarrte. Eine schwarze Wolke zog über die Stelle, an der gerade noch die Gruppe gestanden hatte. Wogte und bewegte sich gleich einem riesigen Organismus über den Friedhof. Es war keine gewöhnliche Wolke. Sie schien zu leben und steuerte zielgerichtet auf Sally zu. Die war versucht, ebenfalls die Beine in die Hand zu nehmen und davon zu laufen, als ihr Leanders Worte wieder einfielen. Er hatte sie eindringlich gemahnt, auf ihn zu warten. Egal was passieren würde.

So nahm sie allen Mut zusammen, machte sich so klein es irgendwie ging und presste sich eng an den Stamm der Platane. Die Wolke näherte sich, verdunkelte die letzten Lichttropfen des Tages und in einem Rauschen ging um Sally herum die Welt unter. Zitternd schloss sie die Augen und bat alle Volkshelden, die ihr einfielen, sie zu verschonen. Da verebbte das Rauschen. Die Wolke verzog sich und sogar der Wind schwächte ab.

Doch was war das? Zwischen den Gräbern sprang eine weiße Gestalt durch den Nebel, ruderte mit den Armen und schrie etwas? Stand der jüngste Tag bevor, an dem die Toten ihre Gräber verließen? Sally hatte genug. Einen Geist würde sie nicht auch noch ertragen, Leander hin oder her. Was dachte sich dieser komische Junge nur, sie hier in diesem Alptraum warten zu lassen? Und wo war er überhaupt?

Plötzlich hörte sie ihren Namen. Das war unmöglich. Wind und Bäume spielten ihre eigene, unheilvolle Melodie, die laut und bedrohlich alles um Sally herum übertönte. Und doch vernahm sie ihren Namen ein zweites Mal. Schwach, aber unverkennbar. Nah genug, um den Rufer sehen zu müssen. Ängstlich blickte sie hinter der Platane hervor und suchte den Friedhof mit den Augen ab. Da war sie wieder, die weiße Gestalt. Hatte sie gerufen?


Währenddessen hatte es Leander eilig. Er musste die Jungs vor dem Tor loswerden und alle, die nach ihm suchen würden. Sie sollten denken, dass die unheimlichen Legenden, die sich um das Leichenhaus rankten, wahr wären. Nur wie? Da fielen ihm die Fledermäuse ein.

Zurück im Raum mit den Verbrennungsöfen öffnete Leander die wenigen, noch nicht zerbrochenen Fenster und suchte den Weg in die ehemalige Aussegnungshalle. Dort griff er sich eine der weißen Tischdecken, warf sie sich über und drehte an der alten Feuersirene, die ihm beim Betreten des Raumes vor gefühlten zwei Leben aufgefallen war.

Sekunden später hörte Leander das erhoffte Rauschen und zeitgleich mit einer riesigen, schwarzen Wolke aus tausenden Fledermäusen rannte er hinaus auf den Friedhof, an den Gräbern vorbei, durch den Nebel auf das rostige Tor zu. Schreiend schwenkte er seine Arme. Doch die alles verdunkelnde Fledermauswolke hatte bereits genügt, den Mitschülern vor dem Tor einen solchen Schreck einzujagen, dass sie Hals über Kopf davongestoben waren. Ihn hatten sie zurückgelassen, allein inmitten der Toten.

Wo ist Sally?, dachte er voller Sorge, die Fledermäuse könnten auch sie vertrieben haben. Hastig rannte er ihren Namen rufend hinaus vor das Tor. Da erst fiel ihm ein, dass er noch immer das weiße Tuch umhängen hatte, riss es sich vom Kopf und sah sich um. Plötzlich trat Sally hinter einem der Bäume hervor. Sie nahm ihre Kapuze vom Kopf und kam zögernd näher.

»Bist du das, Leander?«, hörte er sie rufen. Er nickte. Dann fielen sie sich in die Arme.

»Beeil dich!«, schrie Leander gegen den Wind an und gemeinsam rannten Sally und er auf dem schmalen Weg zwischen den Grabsteinen zurück ins Krematorium.


Tizian hatte fast das Feriencamp erreicht, als eine schwere Detonation die Erde unter ihm erzittern ließ. Erschrocken drehte er sich um und blieb wie versteinert stehen. Wo einst das Leichenhaus stand, gähnte ein riesiger Krater, an dessen Rändern qualmende Ziegelreste, die Stadtmauer und schwelende Bäume aus der Erde ragten. Über all dem stieg dichter, grauer Rauch empor. Das Krematorium war verschwunden, ebenso der Friedhof. Doch wo war Leander?

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.11.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für Marvin

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