Cover

Zauberhafte Erzählungen aus Paris und anderswo: Ein Lesebuch von Stephanie Berth-Escriva - Leseprobe -

Impressum

Covergestaltung:     Stephanie Berth-Escriva

Digitalisierung:        Gunter Pirntke

das-e-book24

Gunter Pirntke Verlag

http://das-ebook24.de/

© 2014

Mail: ebook24verlag@aol.de

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Inhalt

Impressum

Alex ist sauer

Begegnungen in einem Pariser Vorstadtpark

Das Haus im Wald

Das Mädchen und das Blatt

Die Frau mit der Ananas

Ein Mississippi-Dampfer

Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt!

Ein infernales Dreieck

Im Augen des Drachen

La Flaneuse

Perfekte Illusionen in der Finsternis

Blaue Rabenfedern

Mein namenloser Alptraum

Pepe und das Postkartenbild

Wenn Sterne verschwinden!

Verlorengegangene Doudous in Paris

Das Monster

Der Held

Odurs Zorn

Die Autorin

 

 

 

Alex ist sauer

Grauer Himmel, weder Regen noch Sonne, Alex schob die alte Holztür von Bubas Wohnung auf. Winzige chinesische Glöckchen bimmelten und kündeten das Erscheinen des Jungen an. Es roch nach kalter Asche im Kamin und Zigarettenrauch. Wenn Buba kein Feuer machte, heizte er nicht, denn das städtische Gas war ihm abgedreht worden.

 Alex rieb sich fröstelnd die Hände, er bebte innerlich vor Wut, wo ihm eben noch so warm gewesen war, wurde ihm jetzt kalt.

„Guten Morgen Alex! Was bringt Dich denn zu so früher Stunde hier her? Es ist Sonntag, ich dachte, Du würdest ausschlafen.“

Buba kam mit zwei großen Tassen an und stellte die auf den Tisch. Allein der schlürfende Schritt des alten Händlers beruhigte den Jungen.

„Morgen Buba. Ich würde noch pennen, wenn mein Alter mich nicht aufgeweckt hätte.“

„Habt ihr euch wieder gestritten?“ Aber Buba erwartete keine Antwort. Wenn Alex zu dieser Stunde zu ihm kam, war er verärgert, anders konnte es nicht sein.

Der Junge nickte und starrte mit zusammengekniffenen Lippen auf die vom Feuer geschwärzten Kaminwände.

„Setz dich! Das Wasser kocht gleich und ich mache dir einen Kaffee.“  Der alte Mann beobachtete, wie sein junger Freund einen Stuhl über den Steinboden scharren ließ und sich darauf ausbreitete. Die Zeiten des unruhigen, kleinen Kindes waren lange vorbei. Damals hatte er ihn nicht eine Sekunde aus den Augen lassen können, wenn er mit seinem Vater bei ihm aufgekreuzt war. Alex’ Vater war der neue Lebensgefährte seiner Stieftochter gewesen und er hatte ihn sofort ins Herz geschlossen. Nachdem die beiden auseinander gegangen waren, sah er öfter seinen Schwiegersohn als seine Anverwandte. Aber wie konnte es auch anders sein, denn seine Beziehung zu seiner letzten Lebensgefährtin hatte sich auch nach ein paar Jahren auseinandergelebt.

Alex wohnte jetzt bei seinem Vater, weil er es mit seiner Mutter nicht mehr aushielt. Fünfzehn Jahre war er alt, rauchte, trug sein Haar lang und gab sich die größte Mühe, seine Gedichte vor den Augen anderer zu verbergen. Doch Buba kannte sein abgenutztes Notizbuch welches Alex stets in seiner Jeanshosentasche bei sich trug.

In der Küche blubberte der Wasserkocher und verkündete mit einem Klacken, dass Kaffee zubereitet werden konnte. Der alte Mann holte den Kocher und die Dose Konzentrat in die Stube. Alex wusste, dass die meisten Menschen dieses Getränk verschmähten und eine Wissenschaft daraus machten, wie und wann man diesen brauen Saft zu sich nehme. Doch es verstand keiner so wie Buba das richtige Verhältnis von Zucker und braunen Körnchen mit heißem Wasser zu vermischen.

 Dankbar nahm er die dampfende Tasse entgegen und wärmte seine Hände daran.

 „So wie ich dich kenne, hast du heute noch nichts zu dir genommen.“, brummte der Alte, woraufhin Alex verneinend den Kopf schüttelte und sich eine Zigarette anzündete. Bei Buba durfte er im Haus rauchen, in der neuen Familie seines Vaters war das ein Unding. Er akzeptierte diese Regel nur, weil Papas Freundin sich als Raucherin selbst daran hielt.

„Nun mal raus mit der Sprache: worüber habt ihr euch denn gestritten?“ Buba hielt den prüfenden Blick des Jugendlichen stand und wartete auf eine Erklärung. Doch Alex verbarg sich so lange hinter seiner geheimnisvollen Komödie, bis er aufstehen musste, um die Asche seiner Zigarette in den Kamin zu tippen.

„Ich halte es einfach nicht mehr aus. Am Sonntag stehen die so früh auf, da bekommt man kein Auge zu…“

„Naja, so ist das nun mal mit jüngeren Geschwistern. Du warst in dem Alter auch nicht anders. Jeden Morgen um fünf kamst du ins Bett deines Vaters gekrabbelt, manchmal brachte er dich zurück, manchmal nicht.   Außerdem hast du mir gesagt, wie froh du seist, endlich Schwestern zu haben.“, sprach Buba mit seiner beruhigenden, eintönigen Stimme.

„Das bin ich auch, für Vierjährige sind die Zwillinge echt lieb, darüber kann niemand klagen.

 Papa wollte unbedingt, dass wir heute zusammen zu seiner Mutter fahren, ihr einen Besuch im Altersheim abstatten… dazu war ich nicht im Stande, heute nicht, und er wollte davon nichts hören. Er ist regelrecht ausgerastet.“

Alex saugte energisch den Qualm in sich ein und wartete ab.

„Ich kann mir vorstellen, wie schwierig es für deinen Vater sein mag, seine Mutter in so einem schwachen Zustand zu sehen.“

Doch der Jugendliche schnitt ihm das Wort ab:

„Was kann ich denn dafür? Ich bin dieses Familientheater nicht gewöhnt. Meine Mutter hat mich nie zu sonntäglichen Besuchen verdonnert. Meine ganze Kindheit habe ich mich jedes Wochenende in Omis Sozialwohnung angeödet. Ich habe die Nase voll davon! Wann kann ich denn mal meine Freunde sehen?“

„Und warum kommst du dann zu mir? Mehr oder weniger gehöre ich doch zur Familie, wenn ich auch nicht dein leiblicher Opa bin.“, warf Buba ein und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

„Das ist was anderes, du hörst mir wenigstens zu … mich regt das Gemache von Papas Familie auf. Seine neue Freundin ist nur noch für ihre Töchter und ihre Arbeit da.“

„Sei nicht ungerecht mit ihr. Als du klein warst und deine Eltern arbeiten mussten, hat sie dich an ihren freien Tagen mit in den Louvre genommen. Ich erinnere mich, wie begeistert du damals von den ägyptischen Hieroglyphen warst. Jetzt sind ihre Töchter dran.“

Buba fand immer die richtigen Worte, um ihn zu beruhigen, auch wenn sein Ärger noch lange nicht verzogen war.

 

Der Alte nannte sich Antiquitätenhändler, hatte sein Leben eher mit dem Entrümpeln alter Dachböden verbracht. Vor einigen Jahren noch fuhr er mit seinem kleinen Lastwagen um vier Uhr morgens durch die Straßen von Paris und stöberte in den Mülleimern der wohlhabenden Vierteln nach verkaufbaren Gegenständen. Wie er heute lebte, konnte sich keiner aus der Familie erklären, er bezahlte alles in bar und beklagte sich nie.

„Meinetwegen bin ich eben ein herzloser Egoist, der keine Zeit mit seiner alten Oma verbringen will. Was soll das alles? Weil sich die Erwachsenen für ihre Kinder über eine gewisse Zeit aufgeopfert haben, müssen wir den Rest unseres Lebens uns um sie kümmern? Nur weil sie irgendwann vergessen haben, wer sie eigentlich sind und was sie wirklich interessiert?

Es scheint so, als trügen die Kinder die Schuld dafür und sind dann zu Gehorsam verpflichtet.“

 Die Stimme des jungen Mannes nahm wieder mit jedem Wort zu. Nur Bubas ruhiger Blick aus seinen dunklen Augen ließ ihn Luft holen.

„Fühlst du dich denn besser, wenn du deinen Vater verärgerst und seine Mutter nicht siehst?“, erkundigte sich der Alte und nahm einen Schluck Kaffee.

„Woher soll ich denn wissen, wie ich mich fühle? Diese ganzen Geschichten von Familie und so sind doch nur eine Ideen von politischen Elitedenkern, um den Pöbel ruhigzustellen. In der Werbung wird uns auch Familienglück vorgegaukelt. Nach dem Motto:  schaut alle her, so sollt ihr es machen! Wenn ihr das nicht hinbekommt, ist es kein Wunder, dass ihr unglücklich seid!“

Daraufhin erwiderte Buba nicht sofort, der Bengel war verdammt intelligent für sein Alter und hinterfragte so Vieles.

„Als ich in deinem Alter war, verfluchte ich die ganze Welt, weil ich meine Eltern nicht kannte. Irgendwie war es einfach für mich, denn ich hatte eine Erklärung für mein Unglück. Jedenfalls war ich lange dieser Annahme gewesen.“, sprach er schließlich.

„Kennst du eigentlich die Geschichte von dem Jungen, der auszog, um ein Künstler zu werden?“, begann Buba, um die Stimmung zu entspannen. Doch er erntete einen finsteren Blick aus Alex Augen, wenn er sich auch erneut auf einen Stuhl fallen ließ.

„Ja, mein Junge, ich weiß, dass ich dir in deinem Alter keine Geschichten mehr erzählen kann. Da werde ich mich kurz fassen müssen.

Der Junge wollte raus aus dem Loch, wie er sein Dorf nannte. Raus in die weite Welt, denn es war ihm daheim zu eng geworden. Fest davon überzeugt, Künstler seien reiche Menschen, wollte er einer von ihnen werden.“

Der alte Mann baute eine Atempause ein und wartete ab, ob Alex ihm überhaupt zuhören mochte.

„Und weiter!“, forderte er ihn auf, ohne dabei wenigstens freundlich zu klingen. Buba räusperte sich.

 

„Als er erwachsen geworden von seiner Reise zurück in seine Heimat kam, war er weder ein Maler, noch ein Poet, noch ein Bildhauer oder Musiker geworden.

Er hatte einfach überlebt und kam zurück, um seiner Familie die Frau vorzustellen, welche sein Kind erwartete.

Ein Lebenskünstler war er geworden, sonst nichts.“

Alex schob seine geballten Fäuste in die Hosentaschen und musste spöttisch auflachen.

„Komische Geschichte - wahrscheinlich wäre der Typ nie in sein Dorf zurückgekommen, wenn er eine andere Kunst erlernt hätte.“, waren die grimmigen Worte des Jungen.

Buba nickte, rieb sich die Hände und pustete sie warm.

„Wird Zeit, dass die Tage wieder wärmer werden, ist schwierig geworden, Holz zu besorgen…“

„Außerdem ist es verboten, in der Stadt mit einem offenen Feuer zu heizen, nicht wahr?“, erkundigte sich Alex und Buba seufzte.

„Was nicht alles verboten ist? … Du könntest schon Recht haben, wahrscheinlich hätte es den Mann nie danach gedrängt, in seine Familie zurückzukehren, wenn er sich einer anderen Kunst zugewandt hätte. Aber vielleicht wäre er dabei verrückt geworden und gestorben.

 Du weißt schon, wie das mit Geschichten ist. Wenn sie einen beruhigen sollen, enden sie mit: … und sie lebten ein langes, glückliches Leben bis ans Ende ihrer Tage.“

Wenigstens war es Buba gelungen, den verärgerten Jungen ein zweites Mal zum Lachen zu bringen. Er erhob sich zufrieden und brachte die Tassen in die Küche. Heute am Sonntag wollte er sein Glück auf dem Flohmarkt versuchen.

Seine alten Knochen machten ihm das Leben schwer und wer weiß, wofür Alex‘ Streit mit seinem Vater gut sein sollte. Der Junge konnte ihm wenigstens beim Aufbauen seiner Artikel helfen. Von klein auf hatte der Kerl sich zwischen den alten Sachen und den neugierigen Leuten wohlgefühlt. Ein bisschen Gesellschaft konnte Buba auch gut vertragen.

„Magst du mir beim Trödel heute Nachmittag helfen oder  hast du was vor?“, rief er ihm aus der Küche zu.

„Kein Problem, Buba, war schon lange nicht mehr auf so einem Markt. Hast du etwas zu Essen da?“

Doch Buba hatte bereits Baguette mit Butter und Konfitüre auf ein Tablett gelegt und brachte es in die Stube.

Begegnungen in einem Pariser Vorstadtpark

Mittwoch ist ein schulfreier Tag in Frankreich, ein Tag der Entspannung für die gestressten Kinder, der auch zur sportlichen und musischen Bildung dienen soll. Doch die meisten Familien sind froh, wenn sie überhaupt eine zuverlässige Person gefunden haben, welche sich den ganzen Tag um den Nachwuchs kümmert. Ich war eine von diesen Personen, Au-Pair-Mädchen, mindestens dreizehn Stunden an einem Stück für einen vierjährigen Jungen da sein, die Rolle eines nichtvorhandenen Familienmitgliedes zu übernehmen.

Ich war froh, wenn der ermüdende Vormittag schon mal überstanden war, nach einem halbherzigen Mittagsschlaf erwarteten wir einen Spielkameraden, was mich sehr erleichterte, denn zwei Kinder sind amüsanter als ein chronisch gelangweiltes Einzelkind, welches sich in dieser Erwachsenenwelt verloren und unverstanden fühlte.

Der gleichaltrige Freund aus der Schulklasse wurde von seiner Mutter pünktlich abgeliefert. Selbst wenn Franzosen für ihre Unpünktlichkeit bekannt sind, trifft dies selten für Mütter ein, besonders wenn ein kleines Kind irgendwo gratis betreut werden kann…

Die beiden vierjährigen Jungs beschlossen sofort mit imaginären Pistolen herum zu ballern und dabei albern zu kichern. Diese geistreiche Tätigkeit war mir beim Anorak anziehen sehr hinderlich, die Sonne schien und ich wollte unbedingt raus in den Park mit den beiden. Das kleine Mietshaus kam mir im Laufe des Tages immer enger und staubiger vor. Diesen goldenen Oktobernachmittag mit seinen leuchtenden Herbstfarben musste man irgendwie genießen.

Irgendwann hatten die Jungs ihre bunten Jacken an, an jeder Hand einen aufgedrehten, kleinen Kerl, mit Trinktütchen, Stofftaschentüchern und Keksen bewaffnet, am linken Handgelen einen in die Haut schneidenden Plastikbeutel mit Sandspielsachen, zockelten wir Hundehaufen ausweichend auf dem Asphaltweg los.

Wir waren nicht die einzigen, die noch ein paar Sonnenstrahlen abbekommen wollten. Der Park war voll mit Kindern unterschiedlichsten Alters und den dazu gehörigen Müttern, Vätern und Nounous.

Eine Dame saß gelangweilt mit verschränkten Armen und übereinander geschlagenen Beinen weit zurück gelehnt auf einer Bank und beobachtete mit starrem Blick ihr Kind. Eine Sitzgelegenheit weiter hockten zwei junge Mütter und unterhielten sich angeregt, sie waren umgeben von Taschen, Tüten und zwei Kindersportwagen mit unzufrieden quengelnden Babys. Dann war da noch ein mit krausem Haar  und unrasiertem Gesicht, den Bauch in die Sonne gestreckt, beobachtete er schmunzelnd wie sich seine drei Töchter lautstark im Sand balgten und dabei allerlei Sandburgen und halsbrecherisch tief gebuddelte Löcher zerstörten.

Ich fragte mich ernsthaft, warum sich manche Damen mit hohen Absatzschuhen im Sandkasten herum quälten. Wenn deren kleines Kind im Sand nun mal nicht reibungslos spielte, wie es das Beste für Mutti gewesen wäre, und nach ihr rief, weil es Sandkörner im Auge hatte oder sein Lutscher plötzlich so paniert und fremdartig aussah. Dann tapste sie los, die Absätze versunken im Sand und der Minirock war beim Kind trösten sehr hinderlich. Sowieso hätte sie am liebsten überhaupt keinen Schmutz en ihren mit Lack und goldigen Ringen geschmückten Händen gehabt…  Ob sie frisch geschieden war und ihr Kind allein erziehen musste, dabei jeden Moment ihres Lebens für eine eventuelle Begegnung mit einem zukünftigen Partner nutzen wollte? Oder ob sie sich und dem Rest der Welt einfach ihre Weiblichkeit selbst als Mutter beweisen wollte?

Meine beiden Schützlinge und ich suchten uns ein Plätzchen, wo ich auch ein bisschen Sonne abbekommen konnte, denn ich spürte ziemlich schnell, wie die klamme Kälte des Spielsandes durch meinen Jeanshosenboden kroch.

Es bedurfte gar keiner großartigen Animierleistung meinerseits, denn die Jungs waren schnell mit Feuereifer dabei, ihre Spielsachen auszupacken. Jeder bemächtigte sich eines Miniaturfahrzeuges und sie schoben laut brummend, den Oberkörper nach vorn gebeugt, auf die Autos gestützt, das Hinterteil in die Höhe gestreckt, in wilden Kurven über die Spielfläche.

Im Augenwinkel beobachtete ich, wie eine Mutter ihr plärrendes Baby mit Keksen zu beruhigen versuchte. Die Parktauben schienen an den Lärm gewöhnt zu sein. Die grauen Vögel suchten ohne Unterlass die Umgebung der Sitzbänke nach Krümeln ab. Der sandige Boden hatte manchmal ein eigenartiges Muster, welches hunderte von Taubenkrallen abgedrückt hatten.

Im Allgemeinen frieren Kinder während sie spielen nicht so schnell. Wenn ich genauso durch den Sand getobt wäre wie sie, wäre mit bestimmt auch wärmer gewesen. Aber weil Kinder immer etwas trinken wollen, gehen sie auch irgendwann Pippi machen. So suchten wir das chronisch unsauberer Toilettenhäuschen auf. Nachdem alle T-Shirts, Pullover, Latzhosen und Jacken wieder am richtigen Platz und sinngemäß verschlossen waren, ergab es sich, dass wir drei Fangen spielten. Die beiden Jungs eilten los, rutschten beinahe auf fauligen Blättern aus und versteckten sich in der Damentoilette. Ich hüpfte hinterher und sie kreischen vor Freude und Aufregung als ich sie entdeckt hatte. Die Kleinen flitzten um die Ecke und flüchteten in die Toilette auf der anderen Seite. So ging das eine ganze Weile, die Kinder hatten ihren Spaß und ich wärmte mich dabei wieder auf. Doch irgendwann waren wir auch dieses Spiels müde und kehrten in den Sandkasten zurück.

Mittlerweile hatte eine größere Kindergartengruppe den Spielplatz bevölkert. In Zweierreihen waren sie mit ihren Betreuern einmarschiert und hatten sich auf dem Klettergerüst und der Rutsche breit gemacht. Die Kinder jener Gruppe waren etwa so alt wie meine Schützlinge und so konnten sie sich gemeinsam auf den rutschigen Eisenstangen amüsieren. Die Betreuer, junge Studenten, mit wenig Motivation bei ihrer Arbeit, gaben darauf Acht, dass niemand dieser bunten Rasselband einen Schaden nehme.

Ein Student konnte es sich nicht verkneifen, seinen vermeintlichen Charme an mir auszuprobieren, seine Schildmütze verkehrt herum auf seinen Kopf aufgeschraubt, gab er wild Kaugummi kauend allerhand Unsinn von sich. Ein kleines Mädchen mit dunklen Augen und schwarzen Lockenkopf, auf der obersten Stange des Klettergerüsts sitzend, lachte unsere dumme Konversation aus. Dabei stellte ich mir eine weitere Frage, ob kleine, junge Menschen nicht mit einer gewissen natürlichen Intelligenz geboren werden, welche im Heranwachsen hormongesteuert verloren geht? Heute noch betrachte ich die verzweifelten Graffitis auf Parkbänken und Spielplätzen von gelangweilten Jugendlichen mit zermürbender Sehnsucht nach ‚Liebe‘, riesige Erwartungen gefolgt von abgrundtiefen Enttäuschungen…

Die Kindergartenbrigade rückte bald wieder ab und meine beiden Jungs wandten sich wieder ihren Lastwagen zu.

Doch plötzlich entschieden sich meine Helden, woanders zu spielen. Ihre kleinen Hände beeilten sich und packten alles Nötige ein. Sie hatten sich entschieden, mit dem Monsieur dort drüben zu spielen und liefen quer über den Sandkasten.

Als verantwortungsvolle Aufpasserin musste ich meinen letzten sonnigen Platz aufgeben und mit jenen Herrn genauer ansehen. Dort angelangt konnte ich die Kleinen mit einem dritten Jungen ihrer Altersgruppe gemeinsam ins Spiel vertieft erblicken. Da waren auf einmal drei vor sich hin brummende Wesen mit merkwürdiger Fortbewegungsweise am Spielen. Sie lärmten, ahmten quietschende Bremsgeräusch nach und beluden Lastwagen mit Sand. Sie spielten auf einer fein säuberlich, von Erwachsenenhand eingerichteten Miniaturlandschaft mit Straßen, Kreuzungen, Garagen und Abgrenzungen.

Der Herr und Meister dieses Werkes saß daneben, mit gutem Schuhwerk und hellem Mantel gekleidet und lächelte schüchtern als er mit einen guten Tag wünschte.

Er käme oft am Mittwochnachmittag mit seinen Sohn in den Park und spiele mit ihm, um ihn kennen zu lernen, erklärte er unverwandt. Sein Sohn, der dritte Wusel, parkte gerade einen Plastikdampfer in eine Lochgarage.

Wir, der Herr und ich, unterhielten uns über Musik und über die anderen Leute im Park und spielten mit den Kindern. Zwischendurch kam der Betreuer der Kindergartengruppe noch einmal herbeigeeilt und gab mir breit grinsend ein Stück Papier, auf dem er seine Telefonnummer geschrieben hatte, was meinem neuen Gesprächspartner offensichtlich missfiel.

Der Nachmittag war fortgeschritten und die Sonne stand bereits tief. Die wärmenden Strahlen waren hinter den Wohnhäusern versteckt und es wurde unangenehm kühl. Die Kinder kümmerten sich darum nicht weiter, aber Monsieur und ich beschlossen, so wie alle anderen Erwachsenen auch, allmählich nach Hause zu gehen und den Park den Tauben zu überlassen. Wir bemühten uns, sämtliches Sandspielzeug so vollständig wie möglich wieder einzusammeln, wobei die Kinder nicht sehr hilfsbereit waren. Die hatten nämlich ihre Arme aus den Jackenärmeln heraus gezogen und wedelten kichernd mit den leeren Stoffhüllen um sich herum.

Bevor sich unsere Wege trennten, überließ mit auch Monsieur seine Telefonnummer, mit der Begründung, dass er sich an meiner Musik interessiere.

Angerufen und mit ihm gesprochen hatte ich dann erst drei Wochen später. Vorher bin ich immer auf einen Anrufbeantworter gestoßen und ich wollte nicht mit meinem etwas holperigen Französisch auf ein Tonband sprechen.

Dann aber trafen wir uns, beschlossen, uns öfter zu sehen und irgendwann sind wir bis heute zusammen geblieben…

 

Das Haus im Wald

Dieter schloss mit bemerkenswerter Sorgfalt die Haustür hinter sich zu und eine ungewohnte Stille ummantelte ihn. Normalerweise waren immer irgendwelche Geräusche im Haus, seine Söhne spielten mit einem Tennisball im oberen Stockwerk, das Radio lief, seine Frau föhnte sich die Haare, telefonierte mit einer Freundin oder redete mit ihm. Diese Ruhe kannte das Haus wahrscheinlich nur an Tagen, wo er und seine Frau an der Arbeit und die Kinder in der Schule waren. Eigentlich verliefen alle Tage gleich, doch gestern war er beim Arzt gewesen und dieser hatte ihn für drei Wochen krankgeschrieben. Vorläufig wollte er sich damit begnügen, seinem Chef ein Mail zu schicken, am Montag könnten sie telefonieren. Doch da fiel ihm ein, dass am Montag Feiertag war, außerdem sollte an diesem Wochenende die Uhrzeit umgestellt werden, was bedeutete, er würde einen Tag und eine Stunde an Freizeit gewinnen!

Monikas Parfum hing noch im Flur, die Wellensittiche beobachteten ihn stumm aus dem geräumigen Käfig heraus. Kleine Federn hatten sich wie jeden Morgen rings um das sperrige Ding abgelegt, er würde saugen müssen. Die Spülmaschine sollte ebenfalls aufgeräumt werden, was er überhaupt nicht mochte. Er verabscheute die Samstagvormittage, nachdem er seine Frau Monika an den Bahnhof gebracht hatte, damit sie an ihre Arbeit fahren konnte. Sie war eine dieser hochkarätigen Verkäuferinnen in den feinen Vierteln der Stadt, sie sprach fließend englisch und französisch und hatte in Abendkursen russisch gelernt. Das war gut für ihren Umsatz und brachte mehr Geld ein – jetzt konnten seine Söhne ohne weiteres Tennisstunden nehmen. Glücklicherweise waren die beiden Buben heute bei Freunden, denn sie wollten gemeinsam Halloween vorbereiten und bei ihnen übernachten.

Dieter konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich das letzte Mal wirklich allein mit seiner Frau gewusst hatte. Kinder, ständig Verpflichtungen, Fragen, Hausaufgaben, Noten, Hefte zu unterschreiben, Rechnungen zu bezahlen, Lehrern Rede und Antwort zu stehen, Klamotten besorgen, Turnschuhe, Skatboards, Fahrräder… letztens war die Rede von einem neuen Computer gewesen, damit wenigstens Timo, der ältere, seine Hausaufgaben darauf machen konnte. Von wegen! Ungestört ins Internet wollte er damit und mit seinen Freunden chatten, Musik hören, sich einen Blog machen und so weiter. Ich hatte in deinem Alter keinen eigenen Computer, war Dieter schwaches Gegenargument gewesen, doch er hatte im Voraus verloren. Allein der Blick seines zehnjährigen Timos sagte mehr als alle Worte: Papa, wir leben nicht im selben Zeitalter!

Wann hatte das angefangen? Das neue Zeitalter? Er erinnerte sich noch, wie er seinen Vater mit einer neuen Stereoanlage genervt hatte. Er hatte darauf bestanden, sowohl einen Kassettenspieler, als auch einen CD-Leser und einen Plattenspieler zu haben. Sein Vater hatte ihn damals vorgewarnt und darauf hingewiesen, wie überholt die großen, schwarzen Scheiben bald sein würden.

Dieter fuhr sich müde mit der rechten Hand über sein Gesicht und schüttete abwesend Wasser in die Kaffeemaschine. Die Tür der Spülmaschine stand gähnend in die Küche und wartete auf ihn. Eigentlich sollte er sich freuen, er verfügte über einen freien Samstagvormittag, an dem er in aller Ruhe seine Zeitung lesen und seinen Kaffee genießen könnte. Der Arzt hatte ihm deutlich gesagt, er solle sich um sich kümmern, sich ruhen und Dinge tun, welche ihm Freude bereiteten. Doch er wusste gar nicht, wo er die verdammte Zeitung hingelegt hatte. Monika hatte gestern Abend Wäsche waschen lassen, der automatische Trockner hatte über Nacht dafür gesorgt, dass die sauberen Unterhosen jetzt in die jeweiligen Schränke geräumt werden konnten. Unter Dieters Sweatshirt roch es nach Freitagabend und Rotwein, er hätte eine ausgiebige Dusche gut vertragen können. Die Schlafzimmer mussten gelüftet werden und das Katzenklo war dreckig. Er hatte sich an den Schrank der Einbauküche gelehnt und in seinem Rücken bereitete sich der Kaffee zu – wenn er all das, was er jeden Samstagmorgen tat, verrichtet hätte, wäre der Kaffee kalt geworden, wie immer… draußen schien strahlende Sonne. Das Surren seines Handys ließ ihn aufschrecken. Auf dem erleuchteten Minibildschirm erkannte er Monikas Nummer wieder. Was wollte sie denn schon um diese Uhrzeit? War sie nicht schon im Geschäft mit schwerreichen Kunden beschäftigt? Fremdbestimmt nahm er das Telefon auf und wollte sich anhören, was seine Frau Wichtiges zu sagen hatte.

„Oh, mein Liebling, wie geht es dir?“ Dieter wusste genau, dass sie überhaupt keine Antwort seinerseits erwartete und hörte weiter zu:

„Du hast bestimmt vergessen, dass morgen Halloween gefeiert wird. Cindy lädt uns zu einer Party ein. Wer möchte, kann sich verkleiden, was natürlich keine Verpflichtung ist. Das wäre doch toll, was meinst du? Wir könnten da doch hingehen, so wie früher, die Jungs sind doch bei ihren Freunden und du würdest mal meine Freunde kennenlernen.“

„Nein, nein, der Arzt hat mir Ruhe verordnet und es ist mir nicht danach, zu feiern. Außerdem wird bestimmt getrunken und wir müssten mit der letzten Stadtbahn nach Hause fahren.“, erwiderte er und hab sich Mühe, seine Stimme neutral klingen zu lassen.

„Cindy schlägt vor, bei ihr zu übernachten. Sie weiß, dass wir weit raus wohnen.“

„Das ist wirklich sehr nett von ihr, dennoch denke ich, dass ist nicht der richtige Moment. Aber du kannst ruhig hingehen“, schlug er vor, woraufhin einen kurzen Moment Stille im Telefon herrschte. Offenbar hatte Monika nicht mit so einem Vorschlag gerechnet. Doch bald nahm sie das Gespräch wieder auf: “Fühlst du dich noch nicht besser? Hast du deine Medikamente genommen?“

„Ja, ja, natürlich.“, log Dieter, denn er verabscheute das bittre Zeug und die Tabletten waren ihm zuwider. Alle Probleme konnten so nicht geregelt werden. Um zu vermeiden, dass Monika weiter darüber nachfragte, fuhr er fort: “Geh ruhig zu der Party, das wird dir auch gut tun. Morgen früh hole ich dich vom Bahnhof ab und du erzählst mir alles bei einem ausgiebigen Frühstück.“

„Ich kann nicht lange mit dir telefonieren, meine Abteilungsleiterin sucht mich bereits. Wie du meinst. Ich rufe dich in meiner Pause an. Magst du bitte bei den Duponts nachfragen, ob alles in Ordnung ist?“

„Wer sind die Duponts?“, fragte Dieter perplex und er hörte sofort an Monikas entnervten Seufzer, dass er etwas Falsches gefragte hatte. Doch sie antwortete mit künstlicher Geduld: „Die Duponts sind die Eltern von den Freunden von Maximilian und Timo. Ich möchte sicher sein, dass ihnen nichts fehlt, denn wahrscheinlich werde ich keinen Moment finden, wo ich sie in Ruhe anrufen könnte. Die Nummer klebt am Kühlschrank.“

„Was soll denen schon fehlen!“ Dieter mochte diese Leute nicht. Sie gehörten zu dieser Sorte Menschen, wo immer alles glatt ging, die Großeltern den BMW finanzierten und die Hälfte des Hauses bereits abbezahlt war. Zu allem Überfluss verfügten sie über eine Ferienwohnung in einem Skigebiet in der Schweiz und überhaupt – sie waren immer gut gelaunt und höflich. Ein Gärtner kümmerte sich um ihren Garten, eine Putzfrau um das Haus und das Ehepaar spielte jeden Sonntag Golf.

"Ich bitte dich, Dieter, ruf nur der Form halber an, damit wäre ich beruhigt. Ja? Ich liebe dich.“, sagte Monika und damit wusste er, dass das Telefongespräch beendet war.

„Ich auch.“, sprach er, doch er war sich nicht sicher, ob sie ihn überhaupt gehört hatte. Und er fand sich allein in seinem stillen Haus wieder. Die Wellensittiche gaben vorsichtige Geräusche von sich, die Sonne schien ihnen zu gefallen. Dieter konnte nicht einmal daran denken, die Familie Dupont anzurufen und eine höfliche Konversation mit Madame zu führen. Er wollte mit diesen Leuten so wenig wie möglich zu tun haben, selbst wenn seine Söhne mit ihren Kindern Halloween feiern sollten. Schuldbewusst entschied er sich dazu, den Staubsauger aus dem Kämmerchen zu holen und das gesamte Haus von seiner gleichmäßigen Staubschicht zu befreien. Wie konnte er sich in einer schmutzigen Umgebung Ruhe gönnen?

Nachdem beide Stockwerke gesaugt, die Betten gemacht und die Zimmer gelüftet waren, machte Dieter sich an der gewaschenen Wäsche zu schaffen. Als endlich sämtliche Socken und Slips sortiert und in ordentlichen Stapeln in den Schränken verstaut waren, läutete die Kirchenglocke Mittag. Dabei musste Dieter augenblicklich an die Mahlzeiten denken, welche er üblicher Weise mit seinen Söhnen an Samstagen einnahm: Nudeln und fertige Tomatensoße oder Bratwürstchen. Unzählige Male hatte er sich mit Monika  über ausgewogene Nahrung gestritten aber er überließ es einfach seiner Frau, wenn sie unbedingt Biomöhren zubereiten wollte. Die Kinder und er zogen Fastfood und Ravioli aus der Dose vor.

In der Küche wartete immer noch die Spülmaschine und der Kaffee war kalt geworden. Sein eigenes Haus erstickte ihn, all die Erinnerungen, Verpflichtungen, Verantwortungen, so entschied er sich endlich, einen Spaziergang zu machen. Alles andere konnte warten, die Sonne schien, niemand verlangte nach einem Mittagessen oder seine Frau würde erst morgen früh wieder hier erscheinen.

Der Tag lud zum Wandern im Wald ein, die Sonne schien, die roten und goldenen Blätter der Bäume schenkten sanftes Licht, die Luft war mild und der Wind hatte sich gelegt.  Dieter entschied sich, direkt loszuwandern und sein Auto stehen zu lassen. Er brauchte Luft und Licht, heute würde es noch eher dunkel werden. Sein Weg führte an den spießigen Vorgärten seiner verschlafenen Kleinstadt vorbei, hinein in den Wald. Dieter war heilfroh, keinem bekannten Gesicht begegnet zu sein. Er wollte sich mit sich selbst in der Natur wiederfinden, einfach losgehen und nicht auf die Uhrzeit Acht geben zu müssen. Zum ersten Mal seit langer Zeit war er mit seiner Entscheidung zufrieden und genoss es, wie sich seine Lungen mit der frischen Luft füllten. Dass er sein Handy zu Hause gelassen hatte, erfüllte ihn fast mit Stolz. Als kleiner Junge hatte er es sich wunderbar vorgestellt, durch den Wald zu wandern, Fährten zu lesen und wilde Tiere zu beobachten. Sein bisheriges Leben als Stadtmensch hatte dies ihm nicht erlauben können. Schritt für Schritt erwärmten sich seine Muskeln und er fühlte sich unbesiegbar. Er wollte den Wald erkunden, mit jeden Augenblick eine neue Landschaft entdecken, Bergauf, Bergab, verwunschene Wege, Felsen, vertrocknete Farne und der Duft des Herbstes. Irgendwann öffnete sich ein sanfter Weg, einfach geradeaus, ohne Steigung oder Hindernis und Dieter hatte Lust, ein Stück zu joggen, was er leider nicht sehr lange aushielt. Bald plagten ihn peinliche Seitenstiche, er quälte sich noch ein Stück weiter, musste aber aufgeben, denn er kam völlig aus der Puste. Natürlich hatte er nicht die richtigen Schuhe an, doch er wusste, dass dies nur eine dumme Entschuldigung war. Er war noch nie sportlich gewesen und es fehlte ihm einfach am nötigen Training. Sein Puls pochte schnell in seinen Ohren und er wartete, bis er wieder zur Ruhe kam, während er mit leisem Schrecken feststellen musste, dass er gar nicht sicher war, ob er seinen Weg wieder zurück finden würde? Vorläufig brauchte er einfach nur zurückgehen und dann musste er eben zusehen, seine Orientierung zu finden.

Dieter schluckte beklemmt seinen Speichel hinunter und machte sich auf den Rückweg. Das hatte er nun davon, sich ohne etwas gegessen zu haben auf eine Wanderung zu begeben. Die Zeit war fortgeschritten, mittlerweile war es etwa halb vier am Nachmittag und in anderthalb Stunden würde es dunkel werden. Beleuchtete Wege gab es in diesem zurückgelegenen Teil des Waldes nicht und jetzt machte er sich dumme Sorgen. Das half auch nicht weiter, er riss sich zusammen. Seit Jahren quälte ihn ein Magengeschwür und er konnte sich an kein Hungergefühl mehr erinnern, was bedeutete, dass er seine Mahlzeiten einfach vergessen konnte, wenn ihn nicht seine Familie ständig daran erinnerte.

Ach, seine Familie, über Jahre spielte er so gut wie möglich die Rolle des normalen, glücklichen Vaters und Ehemannes, aber tief in ihm trauerte er nach seiner Gitarre, seinen schüchternen Anfängen als Komponist und Sänger, wozu er allerdings nie das nötige Zeug gehabt hatte. Wenn er als Mann seine Frau behalten wollte, musste er gerade stehen, Geld verdienen und Verantwortung tragen, damit die Rechnungen bezahlt werden konnten …

Wie so oft, verstrickte Dieter sich in seinen gewöhnlichen Gedanken, doch ihm wurde klar, dass er seinen Weg nicht wieder fand. Die Sonne näherte sich unaufhaltsam dem Horizont und seine Zeit war begrenzt. Natürlich hatte er keine Taschenlampe bei sich, sein Handy war zu Hause geblieben und ihm würde mit dem anbrechenden Abend kalt werden. Er zog seine Jacke fester um seinen Oberkörper und beschleunigte einfach seinen Schritt. Irgendwann würde er schon an eine Landstraße gelangen, dort würde ihm ein Autofahrer an den nächsten Ort mitnehmen, oder er könnte einem Schild folgen. Dieser Wald war wohl groß aber nicht unbegrenzt.

Er war völlig verschwitzt und hatte Durst, die Dämmerung machte sich zwischen den Baumstämmen breit und er hatte noch immer keine Ahnung, wo er sich befand. Einige Meter vor ihm erkannte er hinter Bäumen und Büschen eine dunkle Silhouette von einem Gebäude und er blieb unwillkürlich stehen. Dieter kniff die Augen zusammen, denn er konnte sich nicht vorstellen, was das für ein Haus sein mochte, mitten im Wald, ohne Licht, doch er entschied sich, das genauer zu betrachten. Vielleicht würde er dort irgendeine Auskunft finden, ein Schild oder einen Hinweis. Doch mit jedem Schritt dem er sich dem Gebäude näherte, wurde ihm klar, dass dort niemand wohnen konnte. Verlassene Mauern mit schwarzen, leeren Fenstern ohne Scheiben, umgeben von einer etwa drei Meter hohen Mauer und Stacheldraht, erhob sich ein dreistöckiges Haus vor dem verloren gegangenen Mann. Ein unangenehmer Schauer durchlief seinen Körper und eigentlich hätte er sich einfach umdrehen müssen und einen anderen Weg einschlagen können. Hier konnte er nichts finden. Es mochte sich um ein verlassenes Militärgebäude handeln, doch heute brauchte es niemand mehr – weiter nichts. Doch Dieter entschloss sich anders und wollte sich das Ding näher betrachten. Wenn er schon einmal hier war, so wollte er wenigstens seinen Söhnen davon erzählen können. Vielleicht würden sie alle zusammen hierher wandern und sich dabei Gruselgeschichten ausdenken. Während er durch die schmale Öffnung in der hohen Betonmauer ging, dachte er bei sich, dass dies genau der Moment in einem absurden Horrorfilm sein konnte, wo der erfahrene Zuschauer den Helden einfach für blöd erklärt, weil dieser sich allein in eine sehr gefährliche Situation begab – aber was sollte hier schon passieren?

 

 

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Texte: Stephanie Berth-Escriva
Bildmaterialien: Stephanie Berth-Escriva
Lektorat: Gunther Pirntke
Tag der Veröffentlichung: 26.03.2014

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