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1. Kapitel - Ein ungeladener Gast




„Tine?“, fragte das kleine Mädchen mit vorsichtiger Stimme und drückte sich behutsam durch den Türspalt. Sie war gerade fünf Jahre alt, wusste aber genau, wann sie das Zimmer ihrer großen Schwester betreten durfte und wann nicht.
An diesem Abend waren ihre Eltern ausgegangen, Tine hatte sich wie eine Erwachsene um das Abendbrot gekümmert, wollte jetzt aber lieber für sich sein.
Es hatte mit ihrer besten Freundin einen Streit gegeben.

„Was ist denn? Warum kann ich nicht mal für mich sein?“, fragte Tine mit gedehnten Ton und nahm ihre rosafarbenen Kopfhörer ab.
Die kleine Meike setzte ihr niedliches Lächeln auf und schob sich am Bett ihrer Schwester vorbei hin zum Schreibtisch.
„Was machst du gerade?“, erkundigte sie sich so beiläufig wie möglich.
„Hast du noch Hausaufgaben?“
Tine blickte in ihr aufgeschlagenes Geschichtsbuch und seufzte. Eigentlich sollte sie noch lernen, aber heute war nicht der richtige Abend dafür. Sie war der Meinung, dass es für die Schule zu viel zu tun gab, als einer Zwölfjährigen zugemutet werden konnte.

„Nein, nein, die sind erledigt. Ich höre Musik …“, erklärte sie und ließ das Buch zuklappen.
„Was denn für Musik? Darf ich mithören?“
Tine nahm ihre kleine Schwester auf ihre Knie und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Es ist doch bald Zeit zum Schlafengehen. Ich bin sicher, deine Freundinnen aus dem Kindergarten sind schon im Bett.“
Meike nickte und spielte mit dem Anhänger, welchen ihre große Schwester um den Hals trug. Ein kleines silbernes Einhorn an einer schwarzen Kordel.

„Willst du nicht schon mal mit dem Zähneputzen anfangen? Ich komme gleich und helfe dir mit deinem Schlafanzug.“
„Ich hab Angst, da ist was …“
„Das brauchst du doch nicht. Mittlerweile haben wir Frühling und es ist noch nicht dunkel draußen.“
„Doch, halbdunkel wird es bald.“
„Aber ich bin doch da …“
Meike ließ von dem Einhorn ab und betrachtete den Schreibtisch. Sie mochte diesen Ort besonders gerne, denn dort befanden sich so viele verbotene, hübsche Dinge, wie bunter Füller, feines Schreibpapier und ein verschlossenes Tagebuch. Wenn Tine nicht da war, durfte sie überhaupt nicht an den Tisch herantreten, das war eine Regel. Doch wenn sie in den Armen ihrer Schwester war, durfte sie sich wenigstens umschauen und ihr Löcher in den Bauch fragen.

„Ich muss mal Pipi machen", sagte das kleine Mädchen einfach und griff nach einem Radiergummi in Erdbeerform.
„Das ist doch normal. Bevor man sich schlafen legt, geht man noch mal auf Toilette.“
„Aber ich habe Angst.“
„Warum denn nur? Es gibt doch keinen Grund.“
„Doch …“
„Ach, und der wäre?“
„Da ist was in der Toilette.“
Tine fuhr sich genervt mit der Hand über das Gesicht und atmete einmal tief durch. Was wollte sich dieser kleine Quälgeist nun schon wieder einfallen lassen, damit sie sich um sie kümmern musste?

„Da ist nichts in der Toilette“, erwiderte sie streng.
„Woher willst du das wissen? Du hast ja gar nicht nachgeschaut. Du hast nur selber Angst», brummte Meike mit bemerkenswert tiefer Stimme, weil sie enttäuscht war.
„Das ist nicht wahr! Ich fürchte mich nicht. Und du solltest auch lernen, allein zu gehen. Mama und Papa sind nicht da, das ist aber kein Grund.“
„Doch, du hast vor Nachtfaltern Angst, wie das letzte Mal …“, fiel ihr die Kleine ins Wort.
„Einen Totenkopffalter! Und das war im vergangenen Sommer. Kannst du dich an die Größe von diesem Untier erinnern? Der war fast so groß wie ein kleiner Vogel …“, verteidigte sich Tine schnell und ihre Schwester lachte.
„Ja, und er machte Brummgeräusche mit seinen Flügeln, wenn wir das Licht anstellten. Wir mussten auf Papa warten, der hat ihn mit einem Glas raus in den Garten gebracht. Aber bis dahin haben wir Pipi in mein Töpfchen gemacht.“
Tine verzog unwillig den Mund, weil es ihr peinlich war, in ihrem Alter so ein Ding benutzt zu haben, wo andere Mädchen ihrer Klasse schon mit ihren ersten Regeln prahlten.
Aber der riesige Nachtfalter war eine Ausnahme gewesen. Von diesem Tag an machte sie abends immer alle Fenster sorgfältig zu. Sie konnte die Leichtsinnigkeit ihrer Eltern nicht verstehen, die bei schönem Wetter immer alles offen ließen. Sie mochte keine Nachtfalter und wollte auf jeden Fall eine weitere Begegnung mit einem Totenkopffalter oder einer großen Spinne vermeiden.

„Jetzt hab dich nicht so!“, hatte ihr Vater gesagt.
„Sei doch froh, dass wir von so einer gesunden Natur umgeben sind.“ Nur Erwachsene konnten so reden, scheinbar machte denen nichts Angst …

„Meinetwegen benutze du dein Töpfchen. Ich werde es dann ausleeren und du kannst dich fürs Bett fertigmachen“, schlug Tine vor, doch erntete nur ein energisches Kopfschütteln.
„Ich mag nicht hochgehen, weil da was in der Toilette ist.“
„Herrje, willst du denn dein Leben lang ein Feigling sein?“
„Selber Feigling! Du guckst ja nicht einmal nach!“

Tine zog ärgerlich ihre Augenbrauen zusammen und fragte:
„Wenn ich nachschaue, kommst du dann mit mir?“
Doch Meike hob nur die Schultern an als wüsste sie nicht, was sie antworten sollte.
„Und wenn ich nichts in der Toilette finde, was dann?“
Die Kleine machte einen ulkigen Gesichtsausdruck und blies ihre Wangen auf.
„Also gut, ich werde nachschauen. Du wirst sehen, wie unangenehm es ist, wenn man Lügen erzählt, um sich interessant zu machen …“
Energisch stellte Tine ihre Schwester auf den Fußboden und erhob sich von ihrem Stuhl. Kaum hatte sie ihr Zimmer verlassen, wurde sie in ihrem Elan gestoppt, denn die Kleine folgte ihr nur sehr zögernd.
„Na, was ist denn? Selbst wenn dort nichts zu finden ist, werde ich dich schon nicht auffressen. Komm mit – es wird schon spät.“ Sie streckte Meike ihre Hand entgegen, welche diese nach kurzem Zögern ergriff. Sie schien wirklich bedrückt zu sein und die große Schwester musste etwas dagegen unternehmen.

„Weißt du Tine, ich mag nicht wie seine Augen leuchten,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Stephanie Berth-Escriva
Bildmaterialien: Wolfgang Berth
Tag der Veröffentlichung: 18.08.2012
ISBN: 978-3-95500-267-1

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für Sam, Lilou und Wolfgang

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