Cover


Ich, der Killer © 2012 Stefan Lehner

Umschlaggestaltung, Illustration: Stefan Lehner
nach Fotos von Ralph-Thomas Kühnle
und Thomas Schiegl / pixelio.de
Lektorat, Korrektorat: Stefan Lehner

Verlag: Eigenverlag ("Phantastik-Buch")
Erhältlich auch als Taschenbuch, ISBN-13: 9781480022072


Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Personen und Handlung sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig und nicht beabsichtigt.


Quellenverzeichnis der Illustrationen



Sämtliche Illustrationen im Innenteil des Buches wurden vom Autor (Stefan Lehner) anhand von Fotos erstellt und zu Zeichnungen umgewandelt.
Die Fotos stammen im Einzelnen von folgenden Fotografen:

Widmung: eigene Aufnahme
Kapitel 1: Peter Habereder c/o pixelio.de
Kapitel 2: Berlin-Pics c/o pixelio.de
Kapitel 3: Günther Gumhold c/o pixelio.de
Kapitel 4: Ingo132 c/o pixelio.de
Kapitel 5: Jutta Rotter c/o pixelio.de
Kapitel 6: Marc Tollas c/o pixelio.de
Kapitel 7: Jurec c/o pixelio.de
Kapitel 8: Thommy Weiss c/o pixelio.de
Kapitel 9: Barbara Frolik c/o pixelio.de
Kapitel 10: Erich Kasten c/o pixelio.de
Kapitel 11: Rainer Sturm c/o pixelio.de
Kapitel 12: Maria Cardozo Espinoza

Vielen Dank!



Kapitel 1 – Der Anfang



Den Mann auf dem Boden sah ich als erstes. Mir stockte der Atem. Ich hielt ganz still und bewegte mich nicht. Der Mann lag auf dem Waldboden auf dem Rücken in leicht verdrehter Stellung. Das sah etwas unbequem aus und ich sollte gleich erfahren, warum. Sein Blick war starr und er stierte in den Himmel. Der Mann war tot. Da lag eine Leiche! Eindeutig. Ich machte instinktiv einen Schritt zurück und ein Ästchen knackte unter dem Gewicht meines nackten Fußes. Ich hielt den Atem an. Eigentlich bestand ja kein Grund, in Anwesenheit einer Leiche besonders leise zu sein, aber da war noch etwas. Ich sah in etwa fünf Metern Entfernung rechts von dem Toten eine weitere Person, die irgend etwas langes in Händen hielt. Genau konnte ich es nicht erkennen, da war ein Gestrüpp in meinem Blickfeld zwischen mir und der anderen Person. Aber dieser jemand stand und lebte offenbar, so dass ich ganz leise sein wollte. Immerhin war da jemand neben einer Leiche im Wald, keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte, aber Vorsicht war bestimmt erst mal angebracht. Ich versuchte instinktiv, nicht zu atmen, um mich nicht zu verraten. Eigentlich Blödsinn, aber wenn man sich erschreckt und ertappt fühlt, dann hält man den Atem an. Klappt aber nicht lange und danach atmet man um so lauter und heftiger. Da stand jemand neben einer Leiche im Wald! Das würde bestimmt nicht ungefährlich werden, sollte mich die Person entdecken!
Es gab aber noch einen weiteren Grund, warum ich nicht entdeckt werden wollte in dieser Situation: Ich war nackt! Splitternackt, ich hatte nicht mal Schuhe an. So wollte ich jetzt doch nicht in die Verlegenheit kommen, quasi über eine Leiche zu stolpern und noch dazu jemandem zu begegnen, der sich bei der Leiche aufhielt - warum auch immer.
Ich war tatsächlich splitternackt unterwegs im Wald. Es war ein heißer Tag und hier im Wald war es schattig und angenehm. Zwar auch noch warm, aber nicht so brüllend heiß wie draußen in der Sonne. Ich bin mit dem Auto auf diesen Feldweg gefahren, an dessen Ende sich ein kleiner Parkplatz und ein großer Wald anschließt und man gut parken kann. Parkplatz ist etwas übertrieben, es war vielmehr einfach eine großzügige Wegverbreiterung, aber es genügte. Da kommt der Bauer mit seinem Traktor noch gut vorbei und ich störe nicht.
Seit einiger Zeit habe ich das Nacktwandern für mich entdeckt. Wobei Wandern zu viel gesagt ist, mehr nackte Spaziergänge, das trifft es besser. Ich bin nicht der Typ, der kilometerlange Märsche mit Rucksack und Proviant unternimmt. Mehr der kurzfristig Entschlossene, der eine schöne Ecke findet und sich für vielleicht eine Stunde auf einen kleinen Erkundungsspaziergang der Umgebung aufmacht. Aber nicht angezogen wie andere, sondern eben nackt. Ich ziehe mich am Auto ganz aus und bin so froh, bei diesem Wetter aus den klebrigen Klamotten raus zu sein und auch die Füße aus den Schuhen zu schälen. Natürlich achte ich darauf, keine belebte Gegend dafür auszuwählen, ich will ja keinen Ärger. Aber wer das einmal gemacht hat, wird begeistert sein. Es ist eigentlich auch nichts dabei und man braucht nichts dazu außer ein bisschen Mut beim ersten Mal. Danach geht es viel leichter und man zieht sich schon ganz selbstverständlich aus.
Ich kann durchatmen, fühle mich frei und natürlich. Ich bin der Natur ganz nah und spüre mit allen Sinnen. Daher gehe ich auch barfuß. Das ist auch nur eine Sache der Gewöhnung. Waldboden ist zwar meist weich und fühlt sich gut an, aber manchmal ist eben doch ein Tannenzapfen dabei oder ein Stein oder Ast, den man nicht gleich gesehen hat. Das tut dann schon mal kurz weh wenn man drauf tritt, aber das ist ja kein Problem. Auf jeden Fall ist es das wert. Jeden kleinen Luftzug und jede noch so geringe Temperaturschwankung nimmt man unmittelbar wahr, es ist einfach unglaublich. Natürlich wäre das fast genauso, wenn ich in Unterhosen oder Badehose durch den Wald laufen würde, aber erstens käme ich mir dabei erst recht blöd vor, so irgendwie wie gewollt und nicht gekonnt und zudem ist es einfach auch noch viel bequemer ohne alles. Ich würde bestimmt genauso blöd angeschaut werden, wenn mir in Badehose im Wald jemand begegnen würde als wenn ich gleich ganz nackt wäre. Beides ist wohl ungewöhnlich, also wenn schon, denn schon!
Meistens begegne ich jedoch niemandem. Ich bin ja auch nicht drauf aus. Ich will ja gerade allein sein, frei, nackt und ganz für mich auf meinen erholsamen Naturspaziergängen. Ob das so ganz normal ist oder nicht, weiß ich nicht, aber was ist schon normal Ich tue niemandem weh damit und mir tut es gut, also was soll es!
In meinem Beruf komme ich nicht so viel an die frische Luft und sitze meist im Büro. Da ist es stickig und irgendwie auch muffig. Die Luft wirkt durch die Computer und Drucker, das ganze Papier und den anderen Bürokram so merkwürdig verbraucht. Bei einer solchen Hitze wie heute ist es auch nicht zweckmäßig, die Fenster aufzureißen. Kommt eh nur heiße Luft rein und dazu auch noch der Verkehrslärm.
Ich bin jetzt Anfang 30 und arbeite bei der Stadtverwaltung. Dort bearbeite ich die Abfallgebühren und kümmere mich um alles, was mit damit zu tun hat. Nicht gerade das Aufregendste, aber ganz ok. Manchmal ist es auch recht amüsant, wenn man Einsprüche von Bürgern liest, warum sie jetzt nicht zahlen können oder wollen oder warum sie eine größere Tonne brauchen.
Meine Freundin hat mich vor drei Wochen verlassen, wir waren kurz davor, zusammen zu ziehen, aber dann hat sie es sich doch anders überlegt. Ich war soweit und wollte es unbedingt, aber offenbar war ich dabei etwas zu forsch und sie hat einen Rückzieher gemacht. Scheinbar hat sie schon einen Neuen. Naja, was soll's. Kann man nichts machen, bin ich eben mal gerade wieder Single. Ist ja normal heutzutage, dass man nicht schon mit Anfang 20 heiratet und eine Familie gründet.

Ganz und gar nicht normal war es aber, eine Leiche zu finden. Dabei selbst ganz nackt zu sein, irgendwo in einem Wald, macht die Sache nicht normaler und besser. Ich hatte jetzt regungslos vielleicht eine Minute so da gestanden, um nicht die Aufmerksamkeit desjenigen, der hinter dem Gestrüpp stand, auf mich zu ziehen. Aber jetzt zuckte mein Bein doch ein wenig, weil ich so unbequem stand, ein Bein so nach hinten gestreckt, als ich unwillkürlich eben beim Anblick des Toten mit den starren Augen einen Schritt nach hinten machte. Das Ästchen knackte und ich blieb wie angewurzelt stehen. Das ging jetzt nicht mehr und ich zog das andere Bein ebenfalls ein Stück nach hinten. Dabei trat ich auf einen Tannenzapfen und quiekte kurz auf, während der Zapfen knirschend zerbröselte.
Der Mann hinter dem Gestrüpp hatte es auch gehört, trat einen Schritt zurück, sah in meine Richtung und entdeckte mich! Sofort kam er mit dem Spaten, den er in Händen hielt, auf mich zu.
Das war es also, was ich eben gesehen hatte! Er warf den Spaten weg. Ich war erstarrt und mein Fuß tat weh. Für einen Moment konnte ich mich wirklich nicht bewegen. Ich fühlte mich total ertappt. Wobei, eigentlich war das ja Unsinn, denn ich war bloß nackt und hatte nichts verbrochen, während der andere neben einer Leiche mit einem Spaten hantierte und wahrscheinlich ein Grab aushob! Der hätte sich ertappt fühlen müssen. Der hätte erstarrt da stehen müssen! Aber nichts da, er reagierte sofort. Den Spaten hatte er schon weg geworfen und er zog einen Revolver aus dem Hosenbund und hielt ihn in meine Richtung!
»Wer ist da? Sofort raus kommen!« forderte er mich auf. Er war jetzt nur noch zwei oder drei Meter von meiner Deckung weg aber er hatte mich gesehen, das war klar.
»Raus kommen!« befahl er abermals und er hatte mich jetzt fast erreicht. Ich hob die Hände und trat langsam einen Schritt zur Seite, so dass er mich ohne Deckung sehen konnte.
Der Mann war etwa 55 bis 60 Jahre alt, grau melierte Haare und deutliche Geheimratsecken. Aber er war von der Statur her noch recht drahtig, nicht dick oder plump. Aber man sah ihm schon an, dass er die besten Jahre hinter sich hatte. Dennoch hatte er nun eindeutig das Heft in der Hand. Genauer gesagt hatte er einen Revolver in der Hand und der zielte auf mich. Er glotzte mich an wie eine Kuh wenn es donnert und musterte mich von oben bis unten.
Eine völlig absurde Situation, in der wir beide da steckten. Von außen betrachtet muss das schon sehr surreal gewirkt haben. Ein Mann mit einem Revolver bedroht einen splitternackten anderen Mann mitten im Wald und neben den beiden liegt eine Leiche.

»Was zum Teufel...« sagte der Mann mit dem Revolver, »...was machen Sie denn hier?«
»Das wollte ich Sie auch gerade fragen!« entgegnete ich und das mulmige Gefühl in der Magengegend verstärkte sich noch bei meinen Worten. Ich war nun wirklich nicht in der Situation, auch noch Scherze zu machen. Aber ich verstand es schon lange, peinliche oder angespannte Situationen mit einem lockeren Spruch aufzulösen und die Antwort kam einfach so aus mir heraus, ohne lange nachzudenken.
»Sie sind nackt, was machen Sie denn hier nackt im Wald?« fragte er erneut.
»Ich gehe spazieren! Und Sie? Heben Sie ein Grab aus?« Ich konnte es nicht lassen.
»Schnauze!« raunzte er mich an und fuchtelte zur Verdeutlichung noch mit dem Revolver herum.
»Sind Sie irgendwie pervers? Man läuft doch nicht einfach so ohne Klamotten rum...«
»Doch ich schon. Sehen Sie, ich erkläre Ihnen das gerne und wir können uns unterhalten, aber nehmen Sie die Waffe runter, ich bin doch nun wirklich keine Bedrohung und wie Sie sehen, bin ich unbewaffnet!« sagte ich.
»Na schön. Setzen Sie sich da hin!« Dabei zeigte er auf einen umgestürzten Baumstamm, der schon deutlich mit Moos bewachsen war. Ich setzte mich und sah ihn erwartungsvoll an. Er verstand wohl und steckte die Waffe wieder hinten in seinen Hosenbund.
»Haben Sie ihn umgebracht?« fragte ich und deutete mit dem Kopf zu der Leiche.
»Geht Sie nichts an!«
»Oh, prima. Gut. Na dann geht es Sie auch nichts an, was ich hier mache. Also ich gehe dann mal, schönen Tag noch!« rief ich und erhob mich.
»Hinsetzen!« befahl er mir sofort. Ich setzte mich wieder. Er hatte die Waffe und ich rein gar nichts, also war es für das erste besser, ihn nicht wütend zu machen, sonst kommt er womöglich in die Verlegenheit, noch ein zweites Loch graben müssen.
»Also warum laufen Sie nackt durch den Wald?« fragte er mich. Ich erklärte ihm meine Beweggründe und was ich dabei fühlte und wie gut es tat. Ich wollte ihn gerade ermuntern, es mir gleich zu tun, denn dann hätte er den Revolver weglegen müssen, aber er unterbrach mich.
»Ok, komischer Vogel sind Sie. Aber was soll es. Eine Macke hat ja wohl jeder.«
»Ja, wohl wahr« sagte ich, »Ich laufe nackt durch den Wald in dem Sie Leute umbringen und verscharren!«
Er grinste. »Schlagfertig sind Sie ja!«
»Danke. Und?«
»Und was?«
»Haben Sie den Mann umgebracht?«
»Ja natürlich!«
»Und jetzt buddeln Sie ein Grab für ihn?« bohre ich nach. Er hatte einen Mord einfach so unumwunden zugegeben. Ich wusste noch nicht, was ich davon halten sollte. Ob das gut oder schlecht für mich war, ließ sich noch nicht sagen.
»Ja.«
»Warum?« fragte ich.
»Warum was? Warum ich ihn umbrachte oder warum ich ein Loch grabe?«
»Beides«
»Ersteres geht Sie nichts an und das Loch grabe ich, damit er verschwindet. Möglichst nie gefunden wird. Zufrieden?«
»Na ja...«
»Genug gequatscht, das muss reichen.«
Ich nickte stumm. Der Anfang war gemacht, ich wirkte wohl nicht mehr bedrohlich auf ihn, denn er machte gar keine Anstalten, zu seiner Waffe zu greifen. Aber wie sollte ich aus der Situation jetzt heraus kommen? Er wird mich nicht so einfach gehen lassen, das war mir klar.
»Und nun?« nahm ich das Gespräch wieder auf.
»Wo sind Ihre Klamotten?« fragte er.
»Im Auto, 10 Minuten zu Fuß!«
»Hm.«
»Warum? Ist es Ihnen unangenehm, wenn ich nackt bin?« provozierte ich ihn ein wenig. Im Nachhinein betrachtet war das alles ziemlich leichtsinnig von mir, aber wenn man unter Stress steht, macht man schon mal komische Sachen.
»Das ist mir schnuppe, aber es wäre gut, wenn Sie Schuhe hätten!«
»Schuhe?« fragte ich überrascht.
»Ja Schuhe. Sie graben nämlich jetzt für mich weiter!«
»Oh, aber ...«
»Kein aber! Wir gehen jetzt zu Ihrem Auto, Sie ziehen sich an und dann wird gegraben. Eine falsche Bewegung, ein falsches Wort oder sonst eine Dummheit und ich habe zwei Leichen zum Vergraben! Wir verstehen uns!«
»Ja, alles klar« sagte ich und erhob mich.
»Wo haben Sie denn den Autoschlüssel« fragte er mich.
»Den hab ich auf den linken Hinterreifen gelegt. Es stört, wenn man dauernd was in der Hand hat!«
»Aha« sagte er nur und bedeutete mir, aufzubrechen.
Er blieb die ganze Zeit hinter mir und ich ging langsam in Richtung meines Wagens. Er konnte sich in Ruhe meinen Hintern ansehen und ich konnte nachdenken. Wegrennen war nicht möglich. Ich war barfuß nicht schnell genug und er hatte die Waffe. Also erst mal anziehen und dann weiter sehen.

Als ich mit meinen nackten Ausflügen begann, habe ich mir viele Gedanken gemacht, in was für Schwierigkeiten ich eventuell dadurch kommen könnte, was aber alles unbegründet war. Wenn ich mal jemandem begegnet bin, habe ich mich ganz normal verhalten, ganz ruhig und freundlich gegrüßt und bin einfach weiter gegangen. Hat bislang immer gut funktioniert, manchmal habe ich sogar eine witzige Bemerkung bekommen, aber aufgeregt hatte sich noch niemand. Gewundert bestimmt, aber es gab keine Probleme. Nun, wie man sieht, kann man nicht alle Eventualitäten im Vorfeld bedenken, denn die jetzige Situation hatte ich so nicht kommen sehen und auch keinen Plan, was zu tun wäre, wenn ich auf einen Totengräber neben einer Leiche im Wald treffen würde und der Totengräber mich mit einer Waffe bedrohte.
Als wir den Parkplatz erreichten, war da außer uns kein Mensch. Nur mein Auto und noch ein alter BMW, da saß aber niemand drin. Ich nahm meinen Schlüssel vom Hinterrad und schloss auf. Mein Begleiter beäugte mich sehr genau und hielt mich mit der Waffe ständig im Auge. Vielleicht befürchtete er, ich hätte unter meinen Klamotten im Kofferraum auch eine Waffe und es käme zum Showdown. Aber er konnte beruhigt sein. Außer meinen Klamotten lag da nur eine halb volle Öldose. Das Werkzeug, was mir vielleicht genützt hätte, lag unter dem Kofferraumboden und da kam ich jetzt nicht dran. Also bewaffnete ich mich mit meiner Unterhose und zog sie an. Dann den Rest und er bedeutete mir mit einem Wink der Waffe, dass ich mich wieder auf den Weg machen sollte.
»Hören Sie, ich kann schweigen...« begann ich und hoffte darauf, den Mann noch dazu bewegen zu können, mich gehen zu lassen. Der sah sich während ich mich anzog, ständig um, ob jemand kommt, aber da war weit und breit niemand zu sehen.
»Nein, vergessen Sie es! Sie kommen jetzt wieder mit!« herrschte er mich an. Widerstand zwecklos! Ich schloss den Wagen ab und steckte den Schlüssel jetzt ein. Dann waren wir auch schon wieder im Wald. Chance vertan, dachte ich noch, aber welche Chance? Da war keine!

Wieder an der Leiche angekommen, bat ich darum, eine Zigarette rauchen zu dürfen, um mich zu beruhigen, bevor ich mit meiner Totengräbertätigkeit anfing.
»Im Wald ist rauchen verboten« brummte er, zündete sich aber gleichzeitig selbst eine an. Klar, dass den Typen so was nicht schert. Ich nahm aus der Packung, die er mir hin hielt, eine Zigarette raus und ließ mir sogar von ihm Feuer geben.
Nach zwei, drei Zügen wurde ich ruhiger. Und mutiger.
»Sie erschießen mich, wenn ich fertig gegraben habe, ja?« fragte ich.
»Hm« sagte er nur.
»Sie haben sich doch Gedanken darüber gemacht, oder hat sie mein nackter Hintern beim Denken abgelenkt?«
Wir mussten beide grinsen. Die Lage entspannte sich ein wenig. Er nahm die Waffe runter, hielt sie aber weiter in der Hand. Ich hatte momentan auch keine Fluchtgedanken, mich faszinierte die Situation irgendwie. Schon verrückt, aber so war es. Fast schon wäre ich ein wenig enttäuscht gewesen, wenn ich jetzt doch hätte gehen dürfen und nicht mitbekommen hätte, wie es weiter ging. Das ist schon seltsam, wie man manchmal trotz einer Gefahr empfindet und was man dann so denkt und macht!
»Also, ich sag einfach mal, was ich denke, ok?« begann ich wieder. »Wenn das Loch fertig ist und der Typ da drin ist, dann werden Sie wohl kaum so nett sein, mir einen schönen Tag zu wünschen und mich laufen lassen. Sie müssen ja Angst haben, ich könnte sie verraten!«
»Hm« brummte er wieder. Schien wohl ein zustimmendes Brummen zu sein.
»Ok, aber will nicht erschossen werden, also was kann ich tun, damit Sie mir vertrauen?«
»Vertrauen?« fragte er.
»Ja.«
»Vertrauen ist ein Luxus in meiner Branche, den ich mir nicht leisten kann!«
»Also bin ich tot?«
»Hm.« Seine Standardantwort auf meine Fragen war immer unbefriedigender für mich. Ich redete mich außerdem quasi gerade um Kopf und Kragen.
»Was, hm?« fragte ich.
»Ich muss überlegen ...« wich er aus.
»Ok, gut, mehr kann ich momentan wohl nicht verlangen« sagte ich. »Ich fang' dann schon mal an zu graben, ok?«
»Du bist in Ordnung, Mann. Ja mach das, aber komm mir mit der Schaufel nicht zu nahe, ja?«
»Klar.« Vielleicht fand ich tatsächlich noch Zugang zu ihm. Ein bisschen Hoffnung keimte auf.
Nach ein paar Schippen begann ich bereits zu schwitzen und ich stellte fest, dass es nackt wirklich angenehmer im Wald war. Aber gut, meine Transpiration war jetzt egal, ich brauchte Inspiration, um hier irgendwie aus der Nummer raus zu kommen! Mein Bedroher saß auf einem umgestürzten Baumstamm und beobachtete mich. Was sollte ich machen? Sobald ich mit Graben fertig wäre, wäre der Zeitpunkt der Entscheidung gekommen. Ich musste ihm Zeit geben, nachzudenken aber andererseits auch nicht zu auffällig Zeit schinden.
»Komm her!« rief er plötzlich. Schon vor ein paar Minuten war er zum DU übergegangen. »Und lass die Schaufel da liegen!« befahl er noch.
Ich setzte mich Schweiß triefend neben ihn und bemühte mich, keine Angst zu zeigen. Das ging erstaunlich gut, denn eigentlich hatte ich keine Angst, sondern ein merkwürdiges Gefühl der Zuversicht und immer noch Faszination.
»Wie heißt Du?« fragte er mich.
»Andreas Steinmann« sagte ich wahrheitsgemäß. »Und Du?« fügte ich noch hinzu. Ich duzte ihn jetzt auch.
»Bruno« sagte er. Und weiter: »Ich bin jetzt 64 und eigentlich zu alt für diesen Scheiß!« Dabei grinste er mich an. Ich verstand die Anspielung auf die »Leathal Weapon«-Filme sofort. Ich grinste zurück.
Das Eis schien nun endgültig gebrochen und Bruno fing an zu erzählen...



Kapitel 2 - Vor Gericht



Ja, so war das damals. Das ist jetzt schon ein paar Jahre her und ich weiß immer noch genau, wie es war. Bruno und ich haben noch länger dort gesessen und geredet. Er hat viel erzählt und ich übernahm den Part des Zuhörers. Bruno hat mir klar gemacht, dass er mich tatsächlich erschießen müsste, wenn ich meine Totengräber-Arbeit erledigt hätte.
Die Tatsache, dass ich jetzt, einige Jahre später, immer noch da bin, ist Beweis genug, dass ich ihn davon abbringen konnte. Ich lebe. Bruno ist tot. Er starb nur zwei Wochen nach unserem denkwürdigen Treffen in dem einsamen Wald. Doch dazu komme ich noch.
Jetzt kreisten meine Gedanken wild hin und her zwischen meiner jetzigen Situation und den damaligen Geschehnissen. Ich rieb über meine Handgelenke, denn die Handschellen waren schon sehr unangenehm und schnitten bei etwas schnelleren Bewegungen in die Haut ein. Der Justizbeamte hätte sie nicht ganz so fest schließen sollen.
Ich saß hier in einem Nebenraum des Verhandlungssaals 12 im ersten Stock des altehrwürdigen Gerichtsgebäudes zu Köln am Rhein. Gleich begann mein Prozess und ich musste hier warten. Abgeschottet von den anderen Beteiligten, den Zeugen und Besuchern der Verhandlung. Man hatte mich, sagen wir mal vorsichtig, sehr zeitig hier her gebracht und nun hockte ich hier und grübelte. Ich saß seit nunmehr fast drei Monaten in Untersuchungshaft und heute war quasi der erste Tag, an dem ich so etwas wie Ausgang hatte. Ich hätte mir auch was besseres vorstellen können, aber seit ich inhaftiert war, hatte ich die Kontrolle über mein Leben und meinen Tagesablauf gezwungenermaßen in die Hände der Justiz beziehungsweise des Strafvollzugs gegeben. Geben müssen, genauer gesagt.
Der Justizwachtmeister stand in der Zimmerecke und beobachtete mich. Er war es, der mir die Handschellen anlegte und mich hier her brachte. Der Raum hatte kein Fenster und die Neonröhren an der Decke machten ein kalt weißes, ungemütliches Licht. Aber was heißt hier ungemütliches Licht? Das ganze Ambiente hier war sehr nüchtern, kalt und zweckmäßig und im Ganzen ungemütlich. Ist wohl auch nicht als Raum zum wohl fühlen gedacht, dachte ich und musste grinsen. Eine Holzbank, ein kleiner Tisch, der am Boden verschraubt war und ein Stuhl, ebenso am Boden verankert. Das war alles. Die ganze Einrichtung. Sehr karg. Die Wände waren in einem sehr hellen gelb gestrichen. Die Farbe glänzte und war wohl so beschichtet, dass sie leicht abwaschbar ist. Die einzige Tür zu diesem Raum hatte keine Klinke, nur ein Schloss Direkt neben der Tür war eine Art Klingelknopf. Also an Flucht brauchte man hier keine großartigen Gedanken verschwenden, das war mal klar. Ich hatte aber auch keine diesbezüglichen Ambitionen. Es wäre sinnlos gewesen.
Mein Anwalt durfte hier auch nicht bei mir sein, wir hatten vorher in der Zelle Gelegenheit, uns noch kurz zu besprechen. Viel gab es nicht zu klären, es war alles gesagt zwischen uns. Seine Verteidigungsstrategie war klar und er hat mir Mut zugesprochen und noch ein paar Tipps gegeben, was ich sagen konnte und auf welche Fragen ich schweigen sollte.
Nun musste ich warten. Warten, bis ich von hier in den Verhandlungssaal geführt werden würde und mein Prozess begann.

Ich dachte wieder an Bruno. Bruno hat sich als Ehrenmann erwiesen und mir eine Möglichkeit eröffnet, um meinem Tod zu entgehen. Ich bin darauf eingegangen und Bruno hat Wort gehalten. Er gestand mir, dass er bereits seit Jahren für Geld Menschen tötete. Er war ein Auftragsmörder, ein Killer. Wegen des offensichtlichen Beweises für seine Angaben in Form des toten Mannes auf dem Waldboden und seiner ganzen Art, wie er erzählte, glaubte ich ihm. Er machte einen ehrlichen Eindruck und erzählte mit ruhiger fester Stimme. Bruno sah nicht aus wie ein Killer. Aber wie sah ein Killer aus? Keine Ahnung. Bruno war in meinen Augen ein normaler älterer Mann, der so unauffällig wie nur irgendwie möglich war. Unter normalen Umständen hätte ich ihn nirgends bemerkt, wenn er mir begegnet wäre. Eine gute Tarnung, wenn man so will.
Bruno erzählte von seinem Leben und wie er zu dieser Art von Arbeit kam. Er war müde. Müde von der Schufterei hier und heute in der Hitze aber auch müde, was seine ganze Arbeit betrifft. Doch irgendwie schien er den Absprung nicht zu schaffen oder bisher wenigstens nicht geschafft zu haben. Ich ahnte, dass es nun so weit sein könnte.
Seine Stimme war nunmehr leise und

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: (c) Stefan Lehner
Bildmaterialien: siehe Innenteil
Lektorat: Stefan Lehner
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2012
ISBN: 978-3-7309-0114-4

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meinen Siamkater »Mozart«, der mir während des Schreibens immer wieder auf den Schoß geklettert ist, um zu sehen, wie weit ich schon bin und um mir gute Tipps zu geben ;-)

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