Als meine Frau und ich am nächsten Morgen Sandy für die Schule wecken wollten, trauten wir unseren Augen nicht. Das Bett, in welchem unserer Tochter normalerweise schlief, war leer. Auf dem Fußboden sah ich deutlich zwei nasse Fußabdrücke.
„Sandy, bist du hier irgendwo?“ , rief ich, erhielt jedoch keine Antwort.
„Sandy, hör auf mit solchen Spielchen, du musst in die Schule,“; sagte meine Frau.
Aber es blieb still.
„Wo ist sie bloß? Sie muss hier doch irgendwo sein?“
„Liebling sieh du in der Küche und Wohnzimmer nach, ich schau im Bad bei und bei uns im Schlafzimmer nach. Vielleicht ist sie auch draußen im Garten, also los beeilen wir uns. Und bleib jetzt ganz
ruhig.“
Als meine Frau das Zimmer verließ, sah ich zuerst im Kleiderschrank ihres Zimmers nach. Ich nahm Kleider, Hosen, T - Shirts und Pullover aus dem Schrank und warf sie aufs Bett. Nichts und unter dem Bett auch nichts. Ich schaute hinter der Tür und unter ihrem Schreibtisch nach. Nichts. Hatte irgendein perverses Schwein unsere Tochter entführt? Aber wieso, wir hatten keine Feinde. Eine unbändige Wut stieg in mir auf und ich ballte die Hände zu Fäusten. Meine Nägel gruben sich in meine Handflächen. Wenn irgendein Wichser meine Tochter entführt hatte und ihr etwas antat. Ich würde diesem Wichser seine verfluchten Eier abschneiden. Anschließend ging ich ins Bad, es war leer. Ich schob den Vorhang der Duschkabine zur Seite. Sie war leer, die Duschkabine war so trocken sauber, wie ich sie heute Morgen verlassen hatte. Ich verließ das Band und rannte die Treppe hinunter durch den Flur ins Wohnzimmer. Ich sah hinter und unter der schwarzen Ledercouch nach, doch Sandy blieb verschwunden. Ich lief die Treppe hinab in unseren Keller. Die Glühbirne flackerte leicht, als ich das Licht einschaltete. Erst nahm ich mir den Vorratskeller vor, er war leer, bis auf die Truhe, Konserven und Getränke, die in dem Regal an der linken Wand standen, war niemand hier. Ich drehte mich und eilte auf die andere Seite des Kellers. Meine Schritte klangen dumpf auf dem grünen Estrich. Ich schaute unter der Kellertreppe, dort an der Seite hatten wir noch eine alte Garderobe hängen. Ein paar alte ausrangierte Mäntel und Jacken hingen noch an ihren Haken, die ich irgendwann einmal zur Altkleidersammlung bringen wollte, aber von Sandy fehlte jede Spur. Ich rief den Namen meiner Tochter, aber außer meinem eigenen Echo blieb es still. Ich rannte die Treppe hinauf zu meiner Frau. Sie sah mich mit erwartungsvollen Augen an. Ich schüttelte den Kopf.
„Das kann doch nicht sein, unsere Tochter kann doch nicht einfach so verschwinden.“, sagte meine Frau.
„Sandy, komm jetzt reicht es aber, es ist schon spät, komm jetzt raus, wo immer du auch bist, sonst kannst du etwas erleben. Du musst in die Schule also komm endlich hervor und mach dich fertig. Das ist nicht mehr komisch“, sagte ich.
Ich erhielt keine Antwort.
„Schatz du brauchst keine Angst zu haben, was immer auch geschehen ist. Was immer du auch getan hast, du kannst mit uns doch über alles reden. Mami und Papi sind dir auch ganz bestimmt nicht böse. Tue uns einen Gefallen und komm aus deinem Versteck ja. Wenn du ein Problem in der Schule hast darüber können wir dich reden, aber bitte komme jetzt da raus. Falls du heute nicht in die Schule gehen willst, ruf ich einfach Frau Erdmann an und sage ihr, dass du krank bist. Dann machen wir uns heute einen ganz schönen Tag mit Eiscreme. Wir könnten ja auch schwimmen fahren. Na wie findest du das? Du musst dafür nur aus deinem Versteck kommen.“ , sagte meine Frau.
„Schatz hast du schon auf dem Dachboden nachgesehen? Vielleicht hat sich Sandy dort verstekt?“
Sie erhielt jedoch keine Antwort.
Ich eilte zusammen mit meiner Frau die Treppe hinauf. Aus dem Schlafzimmer nahm ich die Stange, die wir benötigten, um die Luke des Dachbodens zu öffnen. Wie sollte Sandy ohne dass wir es merkten auf den Dachboden gekommen sein? Die Stange, um die Klappe zum Dachboden zu öffnen, lag noch immer an Ort und Stelle. Ich nahm die Stange und steckte sie in die Öse. Die Klappe zum Speicher öffnete sich mit einem lauten Quietschen. Ich ließ die Holzleiter hinab und achtete darauf, dass sie sicher stand. Meine Frau reichte mir eine Taschenlampe und sagte: „Schatz bitte sei vorsichtig.“
Ich nahm ihr die Taschenlampe aus der Hand und steckte sie in die rechte Hosentasche. Langsam stieg ich die braune Holzleiter hinauf. Die Stufen knarzten unter meinem Gewicht. Oben angekommen zog ich die Taschenlampe hervor und schaltete sie ein. Ich betrat den Dachboden, räumte Stühle und Kartoons beiseite. Ich sah eine alte Stehlampe, Sandy erstes Babypuzzel, einen alten Karton, indem eine Rassel, ein paar alte Bilderbücher und Schnuller steckten. Ein alter Schaukelstuhl und Stühle aus unserem alten Esszimmer. Kleine Staubwölkchen tanzten in der Luft. Irgendwann müssen wir hier mal entrümpeln dachte ich noch, als der Strahl meiner Taschenlampe auf einen Kronleuchter traf, den meine Großeltern bereits vor gefühlten tausend Jahren im Esszimmer hängen hatten. Es war ein altes Familienerbstück, was aber seine besten Zeiten schon lange hinter sich hatte. Ich durchsuchte jeden Quadratmeter des Dachbodens, aber ohne Erfolg.
Meine Frau drehte sich zu mir um und als ich vom Dachboden wieder nach unten kam, sagte sie: „Schatz was ist mit unserer Tochter passiert, wo kann sie sein nur sein?“
Meine Frau schluchzte, inzwischen glaubten wir nicht mehr an einen Streich. Wir hätten Sandy längst gefunden, wenn sie sich irgendwo hier versteckt hätte.
„Ich glaube ich weiß was wir tun können, warum ist uns das nicht ehr eingefallen, unserer Tochter hat doch ein Smartphone.“, sagte ich und eilte ins Schlafzimmer, um es zu holen. Zum Glück hatte ich nicht vergessen, es letzte Nacht an die Steckdose anzuschließen. Ich ging auf Watts App und rief Sandy Nummer an. Es klingelte. Das Läuten kam aus dem Zimmer meiner Tochter. Ich eilte in das Zimmer meiner Tochter, das Smartphone lag auf ihrem Schreibtisch. Wenn meine Tochter weggelaufen war, warum hatte sie dann ihr Smartphone zurückgelassen? Das ergab doch keinen Sinn.
„Wir können jetzt nur eines tun mein Schatz, rufe du Sandys Freunde an, alle einem nach dem anderen. Ich werde die Nachbarschaft alarmieren und mit ihnen gemeinsam die Gegend absuchen. Vielleicht finden wir sie. Sollten wir sie nicht finden, bleibt uns nichts anderes übrig, als die Polizei zu rufen.“
Meine Frau nahm das Telefon in die Hand, während ich nach Manfred einem unserer Nachbarn ging. Manfred war gemeinsam mit seiner Frau Roberta im letzten Jahr nach Marienheim gekommen. Sie hatten ein Mädchen namens Natascha im Alter von acht Jahren und einen Jungen Robert im Alter von sieben Jahren. Unsere Kinder spielten häufig zusammen am Strand. Auf dem Weg zu unserem Nachbarn traf ich Damian Becker, er lungerte mit einer Flasche Korn in der Hand vor meiner Kneipe auf der Straße rum. Er stank nach Pisse, Schweiß und Alkohol. Ich rümpfte die Nase, es kostete mich Überwindung, an ihm vorbeizugehen und nicht die Straßenseite zu wechseln.
„Er kommt und holt das Kind bei Nacht, will eine Kiste haben am siebten Tag. Ist die Kiste leer und zu klein. Das Meer färbt sich rot vom Kindelein.“, sagte er, als ich an ihm vorbeihuschte.
Ich hatte keine Zeit für irgendwelche Sprichworte, oder lyrische Ergüsse und ging an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Ich klingelte, es dauerte nicht lange und Manfred öffnete die Tür. Er stand im Morgenmantel vor mir und sagte: Morgen Alter, es ist gerade einmal halb sieben´, was verschafft mir die Ehre so früh von dir geweckt zu werden?“
„Manfred ist meine Tochter Sandy bei euch oder hast du sie gesehen?“
Manfred riss die Augen auf, mit einem Schlag schien er hellwach zu sein.
„Was ist los? Deine Tochter ist verschwunden? Ich komme sofort und helfe dir suchen. Wir werden den gesamten Ort zusammen trommeln. Habt ihr bereits Freunden angerufen, ob sie da ist?“
„Das erledigt meine Frau gerade, ich weiß nicht, zu wem ich sonst gehen soll?“
„Am besten informiert ihr die Polizei. Es wird zwar ein wenig dauern, bis die Hundertschaft hier ist. Aber die werden kommen. Habt ihr versucht, Sandy über Handy zu erreichen?“
„Meine Frau telefoniert gerade alle Freunde ab, vielleicht ist Sandy auch bei einer Freundin. Das ist seltsam, ihr Smartphone liegt auf dem Nachttisch. Normalerweise verlässt meine Tochter nie ohne Smartphone das Haus. Es ist auch gar nicht ihre Art einfach, abzuhauen, ohne uns Bescheid zu sagen.“
Manfred kratzte sich hinter seinem linken Ohr und sagte: „Ist sogar sehr wahrscheinlich, dass sie bei einer Freundin geschlafen hat und ihr Smartphone einfach vergessen hat. Du wirst sehen, in über 90 % der Fälle tauchen die Kinder nach ein paar Stunden wieder völlig unversehrt auf. Auch wenn es schwerfällt, ihr solltet euch nicht allzu große Sorgen machen. Aber ich verspreche dir, ich werde alle Leute informieren wir werden die ganze Stadt von oben bis unten abkämmen, wir werden euch helfen versprochen. Ich werde mich so schnell wie möglich anziehen. Du kannst reinkommen und einen Kaffee trinken ´, während ich mich fertig mache.“
Manfred stieß die Tür und verschwand aus meinem Blickfeld. Ich drehte mich auf dem Absatz um, ohne etwa zu erwidern. Wie konnte Manfred nur glauben, dass ich jetzt auch nur einen Schluck Kaffee runter bekam. Es dauerte gar nicht lange, da kam mir Manfred mit frisch gestylten Haaren entgegen.
„Ich würde sagen wir fahren als Erstes ihren Schulweg ab, vielleicht ist sie dort irgendwo. Habt ihr euch gestritten?“, fragte Manfred.
Ich warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und antwortete: „Nein wir haben uns nicht gestritten.“
„Tut mir leid, ich weiß in so einem Moment eine solche Frage zu stellen ist nicht unbedingt die feine englische Art, aber die Polizei wird euch diese Frage ebenfalls stellen. Falls wir Sandy nicht vorher finden.“
Manfred und ich schritten Sandys Weg zum Bus ab. Die Schule war in Cuxhafen, es war die Abendrotschule. Unterwegs sprachen wir Kinder und Passanten an, ob sie ein 6 Jahre altes Mädchen gesehen hatten. Zum Glück hatte ich ein aktuelles Foto von Sandy in meiner Brieftasche. Aber jeder Passant verneinte die Frage.
„Sandy, Sandy, wo bist du? Egal, was ist, du brauchst keine Angst zu haben.“, sagte ich. Aber Manfred und ich erhielten keine Antwort. Wir sahen den Tretboot- und Strandkorbverleih, ebenso wie die Fischimbissbude an der Ecke des Strandes. Ein paar Surfer und Hochseefischer waren auf dem Wasser, aber ansonsten war der Strand leer wie ausgestorben. Wir sahen einen Mann der DLRG auf einen Hochsitz, der mit Hilfe eines Fernglases den Strand beobachtete. Ich fragte ihn, ob er ein kleines acht Jahre altes Mädchen gesehen hatte. Er schüttelte den Kopf, gab mir aber, nachdem ich ihm Sandy beschrieben hatte, die Versicherung, dass er mir oder meiner Frau Bescheid gab, falls ihm so ein Mädchen auffiel. Ich notierte meine Smartphone- und Festnetznummer auf einem Zettel. Er kam für einen kurzen Moment von seinem Hochsitz und nahm die Nummer entgegen. Als ich mich bei ihm bedanken wollte, sagte er: „Machen Sie sich keine Sorgen die meisten Kinder tauchen sehr bald völlig unversehrt wieder auf, bestimmt ist sie mit einer Freundin unterwegs und hat einfach nur die Zeit vergessen.“
Ich erwiderte nichts, sondern nickte nur stumm. Hatte jemand meine Tochter entführt? Wenn ja wer? Meine Tochter war keine Ausreißerin, normalerweise kam sie mit jedem Problem zu uns. Wieso war unsere Tochter entführt worden? Meine Frau und ich hatten keine Feinde und wir waren auch nicht so reich, dass es sich lohnte, von uns Lösegeld zu erpressen. Ich ballte die Hände zu Fäusten, wenn irgendjemand es wagen sollte, meiner Tochter etwas anzutun, so würde ich garantiert nicht warten, bis die Polizei eintraf. Nein, ich würde mir diese Drecksau höchst persönlich vornehmen.
Aus der Küche vernahm ich die Stimme meiner Frau, die gerade bei Familie Burkhard anrief, als ich die Haustür aufschloss. Meine Frau, sagte: „Guten Morgen Frau Burkhard ist Sandy zufällig bei Ihnen oder hat Ihre Tochter Sandy zufälligerweise heute Morgen gesehen, oder weiß sie vielleicht, wo Sandy sein könnte? Bitte es ist wirklich wichtig.“
Daraufhin vernahm ich ein kurzes Schweigen, bis meine Frau sagte: „Vielen Dank sollte Sandy bei Ihnen auftauchen oder sollten Sie oder Ihre Tochter Sandy begegnen, sagen Sie meiner Tochter bitte, sie möchte umgehend nach Hause kommen.“
Ich hing die Jacke an den Kleiderhaken, ging auf meine Frau zu und fragte: „Und hattest du Glück?“
Meine Frau schüttelte langsam den Kopf und kam auf mich zu. Sie schlang ihre Arme um mich und weinte.
„Was ist, wenn wir Sandy nie wiedersehen? Was ist, wenn jemand unseren Spatz entführt hat, um ihn in die Prostitution zu verkaufen. Wenn ich mir vorstelle, dass ... “, sagte meine Frau. Sie konnte und brauchte auch nicht weiter zu reden. Meine Frau verfiel in einen Weinkrampf. Ihr ganzer Körper zitterte unter meinen Händen.
„An so etwas solltest du nicht mal denken. Ich schwöre dir, wir werden Sandy finden. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Sollte irgendjemand unserer Tochter auch nur ein Haar gekrümmt haben, so wird derjenige garantiert niemals ein Gericht von innen zu sehen bekommen. Dann werde ich ihn mir persönlich vornehmen, auch wenn ich dann ins Gefängnis muss.“, sagte ich mit einer Kälte in der Stimme, die meine Frau und mich frösteln ließ.
„Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir die Polizei einschalten.“ , sagte ich.
Meine Frau nickte stumm, während ich mich aus ihrer Umarmung löste und zum Telefon ging.
„Ich gehe nach oben.“, sagte meine Frau. Ich nickte.
Ich hatte den Hörer gerade aufgelegt, als ich meine Frau schreien hörte. „Schatz bitte komme in Sandys Zimmer, schnell beeil dich!“, sagte sie.
Ich stürzte zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinauf. Das Herz in meiner Brust pochte wie eine Dampflock und schien für einige Sekunden auszusetzen. Ich riss die Tür zu Sandys Zimmer auf. Meine Frau sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr Gesicht war kreidebleich. Sie sah aus, wie eine lebende Tote. In der rechten Hand hielt sie ein nasses Stück Stoff? Ich wusste nicht genau, was es war auf dem etwas in altdeutscher Schrift geschrieben stand. Ich nahm es ihr aus der Hand und versuchte es, zu lesen, was mir jedoch im ersten Moment nicht gelang.
Sieben Tage lang werde ich bringen Pein.
Wo ist nur das Kindlein?
Am siebten Tage ich wiederkehr,
um das zu holen, was ich begehr.
Eine Kiste wird stehen am Strand,
in der Bucht wo einst ein Mensch bei Vollmond verschwand.
Steht die Kiste in sieben Tagen nicht dort,
das Kind wird hinfortgespült an einen anderen Ort.
Sofort schossen mir die Bilder jener Bucht in den Sinn, in welcher meine Frau und ich ein schreckliches Ende nehmen sollten. Von was für einem Kind war die Rede? War mit dem Kind unsere Tochter gemeint? Wer war dieser Mann und von was für einer Kiste war die Rede? Ich hatte mich also nicht getäuscht, unsere Tochter befand sich in der Hand eines Sadisten. Ich ballte die Hände zu Fäusten, so stark, dass meine Knöchel ganz weiß wurden. Eine unbändige Wut stieg in mir auf. Am Liebsten hätte ich geschrien, aber meine Kehle war wie zugeschnürt. Sollte dieses Schwein meiner Tochter auch nur ein Haar krümmen.
Alina war kreidebleich. Ihre Augen waren jedoch gerötet und blutunterlaufen. Sie schluckte, mit zittriger Stimme sagte sie: „Unser – uns - unser Schatz – is – ist – ent – ent- entführt worden.“
Ich nickte stumm, während mir Tränen in die Augen stiegen. Ich wischte sie mit dem Handrücken fort. Der Traum aus vergangener Nacht kam mir wieder in den Sinn. Sollte ich meiner Frau von dem Traum erzählen? Wieso sollte ich, wahrscheinlich war das alles nur ein dummer Zufall. Meine Frau schlang ihre Arme um mich und weinte. Auch icht konnte die Tränen in dieser Sekunde nicht zurückhalten. Ich weiß nicht wie lange wir Arm in Arm in Sandys Zimmer standen. Meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding. Alles in meinem Kopf begann sich zu drehen, als hätte ich eine Flasche Scotch geleert. Ich sackte gemeinsam mit meiner Frau zu Boden, wo wir uns einfach nur gegenseitig festhielten, um uns die Augen aus dem Kopf zu heulen. Vor meinem inneren Auge stiegen Bilder von toten Kindern auf, ich sah Sandys Körper in zerrissener Kleidung leblos am Stand angespült von der Strömung. Ihre Augen starr gegen den Himmel gerichtet. Ihr Körper war vor Wasser ganz aufgedunsen und mit dunklen Flecken übersät. Mir schauderte, am Liebsten hätte ich geschrien und das ganze Zimmer verwüstet. Was hatte der Zettel zu bedeuten, von was für einer Kiste war die Rede?
„Weiß du mein Liebling, was diese Nachricht zu bedeuten hat und was damit gemeint ist?“, fragte mich meine Frau.
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung.
Ich nahm mein Smartphone aus der Hosentasche und rief die Polizei. Es dauerte knapp 40 Minuten, bis ein Streifenwagen vor unserem Haus hielt. Zwei Polizisten stiegen aus dem Auto noch, ehe sie klingeln konnten, öffnete ich ihnen die Tür.
Ich bat die Beamten herein, meine Frau fragte sie, ob sie eine Tasse Kaffee haben wollten, aber die Beamten lehnten dankend ab.
„Ich weiß, es ist schwer für Sie, aber können Sie einige Angaben über Ihre Tochter machen?“ ,fragte einer der Beamten, an seinem Namensschild auf der Uniform konnte ich den Namen Eckmann lesen.
Ich nickte.
„Ich weiß es ist schwer, aber seit wann ist Ihre Tochter verschwunden? Die meisten Kinder tauchen nach wenigen Stunden wieder völlig unversehrt zuhause auf.“, sagte Herr Eckmann.
„Zuletzt gesehen haben wir unsere Tochter gestern Abend, um acht, als wir sie ins Bett gebracht haben.“, antwortete ich.
„Was hat Ihre Tochter getragen, als sie ins Bett ging?“, fragte Herr Eckmann.
„Ihren weißen Schlafanzug mit den bunten Hunden drauf. Warten Sie, ich glaube, ich habe irgendwo noch ein einigermaßen aktuelles Foto davon.“, antworte ich und verschwand ins Wohnzimmer.
„Fehlt sonst noch etwas von Ihrer Tochter Kleidung, Schuhe, Unterwäsche?“, fragte Herr Eckmann.
„Ich weiß es nicht hundertprozentig, aber es scheint noch alles an seinen Platz zu sein“, hörte ich meine Frau sagen.
„Fühlen Sie sich imstande weitere Fragen zu beantworten?“ , hörte ich einen der Polizisten aus der Küche sagen.
„Wie alt ist Ihre Tochter?“, fragte der Polizist weiter.
„Sechs Jahre alt“ , vernahm ich die Stimme meiner Frau.
Ich nahm das Fotoalbum aus dem Wohnzimmerschrank, blätterte mich durch die Seiten, ich schluckte, Tränen stiegen in mir hoch, als ich Sandy bei der Geburt sah, wie schon bei unserem ersten Sohn Sven, hatte ich auch bei Sandy die Nabelschnur durchgeschnitten. Ich konnte mich noch gut an den Tag erinnern, es war an regnerischen Morgen im August gewesen. Meine Frau hatte 3. 40 Uhr geweckt. Wir hatten eine halbe Stunde benötigt um von uns bis ins nächste Krankenhaus zu kommen. Eine weitere halbe Stunde hatte Alina im Kreißsaal gelegen. Ich hatte während der ganzen Zeit ihre Hand gehalten und war nicht eine Sekunde von ihrer Seite gewichen. Wie bei unserem ersten Sohn Sven hatte ich auch bei unserer Tochter die Nabelschnur durchtrennt und sie gewaschen, anschließend hatte ich Sandy in ein Handtuch gewickelt und meiner Frau auf den Bauch gelegt. Damals hatte ich gedacht, wie schade es war, dass unser ersten gemeinsames Kind Sven diesen Moment nicht miterleben konnte. Ich blätterte weiter, bis zu einem Foto vom letzten Heiligabend. Auf diesem Foto trug Sandy den Schlafanzug mit den bunten Hunden drauf. Ich schlucke. Ich nahm das Bild aus dem Fotoalbum und wischte mir die Tränen mit dem Handrücken fort. Ich schluckte und eilte in zurück in die Küche. Wieso wir?, dachte ich, als ich die Küche betrat. Warum war unser Sohn, bei dem Unfall ums Leben gekommen? Warum war ausgerechnet Sandy entführt worden? Warum musste das alles nur uns passieren? Wir hatten uns nie etwas zu Schulden kommen lassen.
Ich eilte zurück in die Küche und reichte dem Polizisten das Bild.
„Ich weiß, das ist nicht der richtige Augenblick dafür, aber haben Sie Feinde? Oder hatten Sie Streit mit jemanden? Haben Sie irgendeine Ahnung, wer Ihre Tochter entführt haben könnte?“; fragte der Polizist.
Meine Frau und ich schüttelten den Kopf.
„Nein wir haben keine Feinde“, antwortete ich.
„Hatte sie vielleicht Ärger in der Schule oder eine schlechte Note und hat Ihre Tochter vielleicht deshalb Angst nach Hause zu kommen?“, fragte der Polizist weiter.
Ich ballte die Hände zu Fäusten. Für einige Sekunden stand ich kurz davor den Polizisten am Kragen zu packen und ihm hohen Bogen aus unserem Haus zu schmeißen.
„Was erlauben Sie sich, wie stellen Sie uns denn hin? Als wenn wir ...?“ ,entfuhr es mir.
„Es tut mir leid, ich weiß wie schwer das für Sie beide ist, aber diese Fragen müssen wir Ihnen stellen, wenn wir Ihre Tochter wiederfinden wollen.“, antworte Herr Eckmann.
„Warten Sie wir gehen auch von einer Entführung aus,“ , sagte Alina und reichte Herrn Eckmann den Zettel, mit der etwas seltsamen Botschaft.
Der Polizeibeamte betrachtete den Zettel eine Zeit lang. Runzelte die Stirn und sagte. „Also haben wir es mit einer Kindesentführung zu tun. Okay ich schicke heute noch die Spurensicherung vorbei und werde das SEK informieren. Wir werden Ihr Telefon anzapfen. Sie sollten sich auf jeden Fall in der Nähe des Telefones aufhalten“
Ich nickte stumm.
„Hören Sie ich weiß wie schwer das für sie beide ist, wenn Sie wollen, können wir ihnen auch geistlichen Beistand oder einen Psychologen senden. Sie brauchen sich keine Sorgen machen, wir wissen, was wir tun. Wir werden alles tun, um Ihre Tochter unverletzt da raus zu holen. Noch was wenn der Entführer anruft, beleidigen und bedrohen Sie ihn nicht. Nehmen Sie ihn und seine Forderungen ernst und lassen Sie ihm nicht wissen, dass Sie uns eingeschaltet haben. Haben Sie mich verstanden?“, sagte Herr Eckmann.
Ich nickte.
„Auch wenn es schwerfällt, bleiben Sie ruhig und sachlich verlieren Sie nicht die Beherrschung ich weiß angesichts der Tatsache, dass es sich um Ihre Tochter handelt, ist das sehr schwer. Aber wenn Sie ausrasten oder ihn beleidigen, könnte er sich provoziert oder herausgefordert fühlen und seine Wut an Ihrer Tochter auslassen. Denken Sie daran. Bleiben Sie ruhig, was auch immer passiert, schaffen Sie das?“ ,fragte Herr Eckmann.
Ich holte einmal tief Luft und nickte. Meine Frau und ich warteten und warteten. Warteten darauf, dass das Telefon klingelte. Warteten gemeinsam mit der Polizei darauf, dass vielleicht eine Forderung im Briefkasten lag. Aber es geschah nichts, kein Anruf, kein Brief kein gar nichts. Immer wieder stand ich auf und lief wie ein Tiger im Käfig auf und ab. Jede Viertelstunde eilte ich zum Briefkasten, um zu schauen, ob diese Drecksau vielleicht einen Brief aus ausgeschnittenen Zeitungsschnipseln zusammengeklebt hätte. Aber der Briefkasten war leer. Im Geiste schrie ich mein Smartphone und unseren Festnetzanschluss an.
Klingel, los du feige Sau melde dich. Schell endlich du gottverdammtes Telefon. Ich ballte Hände zu Fäusten. Presste die Knöchel aufeinander, so stark, dass meine Finger knackten. Ungeduldig trommelte ich mit meinen Fingern gegen die Tischkante. Stand erneut auf, nahm mir einen Drink und setzte mich wieder.
„Willst du auch etwas haben?“, fragte ich meine Frau.
Meine Frau nickte kaum merklich.
War unsere Tochter noch am Leben, war sie unverletzt oder hatte dieses Schwein ...? Alles in meinem Innrem zog sich zusammen. Warum kam dieses Schwein nicht direkt zu uns, wenn es ein Problem mit uns hatte? Warum versteckte sich diese feige Sau hinter einem Kind? Eine Sekunde lang verspürte ich den Drang, das Telefon zu nehmen und es gegen die Wand zu schleudern. Ich stand erneut auf und lief unruhig wie ein Tiger im Käfig auf und ab. Schell endlich, schell endlich, schell endlich. , schrie ich im Geiste das Telefon an. Aber das Telefon blieb stumm. Fast als wollte es uns verhöhnen uns verspotten und uns sagten, ihr könnt mir nichts befehlen, ich melde mich, wenn ich es will. Ich nahm ein weiteres Glas aus der Vitrine, goss einen Schluck Whisky ins Glas und reichte es meiner Frau. Sie nahm mir das Glas aus der Hand und spülte den Inhalt in einem Zug herunter. Ich goss mir ebenfalls ein Glas ein, welches ich ebenso schnell leerte, wie meine Frau. Der Whisky brannte in der Kehle, aber danach ging es mir etwas besser.
Das Wohnzimmer, die Polizisten, meine Frau dass alles wurde mir zu eng. Ich hatte das Gefühl, als würde ich langsam erdrückt. Ich brauchte frische Luft und trat nach draußen. Ich nahm einen tiefen Zug. Der salzige Geruch des Meeres der in der Luft lag, stieg mir in die Nase. Am Himmel und über dem Wasser kreisten Möwen auf der Suche nach einem Leckerbissen. Ich schloss für einige Sekunden die Augen und versuchte zu vergessen. Das konnte doch alles nicht wahr sein, war das vielleicht alles nur ein böser Traum? Lag ich in Wahrheit in meinem Bett und schlief? Wenn ja warum konnte ich nicht erwachen?
„Sie werden Ihre Tochter nicht finden“; riss mich eine Stimme aus meinen Gedanken. Ich kannte diesen penetranten Geruch von Schweiß, Pisse und Alkohol nur zu gut. Nur einer in Marienheim roch so. Daimian Becker.
Ich wollte etwas sagen, wollte ihn anschreien, er solle sich zum Teufel scheren. Ich tat dies aber nicht. Was hatte er gerade gesagt? Woher wusste er, dass unsere Tochter vermisst war? Hatte er etwas damit zu tun. Ich wirbelte herum, packte ihn am Kragen und sah ihn mit wutentbrannten Augen an.
„Was hat du versoff-.“ ,sagte ich, hielt jedoch mitten in der Rede inne.
Daimian grinste mich an, dann sagte er: „Sieben Tage lang, werd ich bringen Pein, wo ist nur das Kindlein ...?“
Ich war wie vor den Kopf gestoßen, woher kannte er diesen Vers, woher wusste er, dass unsere Tochter verschwunden war?
„Was hast du unserer Tochter angetan du versoffene Drecksau? Was hast du mit ihr gemacht?“, schrie ich, wobei ich Daimian schüttelte.
„Gar nichts, gar nichts habe ich getan. Aber ich weiß, wer Ihre Tochter entführt hat.“, sagte Daimian, dabei hob er beide Hände. Ich ließ von ihm ab und sagte: „Entschuldige bitte, was weißt du?“
„Ich weiß, wer eure Tochter entführt hat“
Meine Augen weiteten sich. Ich ballte die Hände zu Fäusten.
„Wer?“, fragte ich, wobei ich ihn ansah wie lästiges Insekt, ein gefährliches, welches ich schnellsten zerquetschen musste.
„Blackbart die Geisel der sieben Meere“
„Blackbart?“, ich zog eine Augenbraue hoch. Wovon sprach dieser versoffene Penner?
„Er war es, es ist sein ruheloser Geist, der aus den Tiefen des Meeres emporgestiegen ist, um Schätze zu bergen“
Im ersten Moment wusste ich nicht, ob ich lachen, oder Daimian die Fresse polieren sollte.
„Labbern Sie nicht so eine abgedroschene Scheiße“
„Haben Sie Träume, haben Sie letzte Nacht von einem Schiff geträumt, einem Piratenschiff aus dem 16. oder 17. Jahrhundert? Ein Schiff mit großen schwarzen Segeln und einem durch gehenden
Kanonoendeck?“
Ich schluckte und sah Daimian mit weit aufgerissenen Augen an. Er beschrieb exakt das Schiff aus meinem Traum von vergangener Nacht. Wie konnte er davon wissen?
„Ich kenne diesen Ort. Auf diesen Ort liegt ein Fluch und es ist kein Ort für Kinder.“, sagte Daimian und zeigte mir dabei seine sechs übriggebliebnen Zähne. Der Geruch von Brandy und Zigarettenrauch schlug mir entgegen, sodass ich mir unwillkürlich eine Hand vor Mund und Nase halten musste. Er zog einen silbernen Flachmann aus der Tasche seiner fleckigen Jeans und nahm einen Schluck,
anschließend hielt er mir die Falsche unter die Nase und sagte: „Na brauchen Sie jetzt einen Drink?“
Ich lehnte ab und würgte, während ich spürte, dass mein gestriges Abendessen sich langsam seinen Weg vom Magen hinauf in meine Kehle arbeitete.
Ich schluckte.
„Ich glaube Ihnen kein Wort“, sagte ich.
„Das werden wir noch sehen, um was wollen Sie wetten, dass Sie nächste Nacht um genau zwölf Uhr wieder träumen werden. Dann werden Sie nach Cuxhaven zum Rathaus fahren und ins Stadtarchiv gehen, um Informationen zu sammeln. Glauben Sie mir, Sie werden von Ihrer Tochter und einem Schiff träumen. Ich kenne diesen Ort. Auf diesem Ort liegt ein Fluch.“
Ohne ein Wort zu sagen drehte ich mich um und ließ ihn stehen. Woher wollte dieser versoffene Hund wissen, was ich träumte oder zu tun dachte? Was bildete er sich überhaupt ein? Vielleicht war er derjenige, der Sandy entführt hatte und mich nun erpressen wollte. Eines war sicher, ich würde die Sache der Polizei erzählen. Wenn dieses Schwein meine Tochter auch nur ein Haar gekrümmt hatte ... Ich brach den Gedanken ab und eilte ins Haus zurück.
„Gibt es etwas Neues“, fragte ich, als ich das Wohnzimmer betrat.
Meine Frau schüttelte den Kopf. Ihre Augen von weinen ganz verquollen. Dicke Tränensäcke hingen an ihren Augenlidern. In der Hand hielt sie ein Glas Scotch. Ihre Hand zitterte leicht, als sie das Glas zum Mund führte. Mein Blick fiel auf die Flasche Whisky, die auf dem Wohnzimmertisch stand. Vorhin war sie noch halb vollgewesen, doch inzwischen war sie fast leer.
Herr Eckmann saß mit einem seiner Kollegen auf dem Zweisitzer. Ich sah Herrn Eckmann an und deutete mit einer leichten Handbewegung an, dass er mir nach draußen folgen sollte. Der Kommissar folgte mir in den Flur.
„Ich glaube, ich weiß, wer unsere Tochter entführt hat“, sagte ich zu Herrn Eckmann.
Der Kommissar sah mich mit großen Augen an, während er sich eine Zigarette anzündete und mir ebenfalls eine anbot. Ich lehnte ab.
„Wer?“, fragte er.
„Daimian Becker, ich habe ihn vorhin hier draußen getroffen. Er hat so seltsame Andeutungen über meine Tochter gemacht. Er wusste, dass Sandy verschwunden ist. Das kann er nur wissen, wenn er mit der Sache zu tun hat“
Der Polizist kritzelte in sein Notizbuch herum und fragte: „Wo wohnt dieser Daimian Becker, ich werde unverzüglich eine Einheit mit einem Durchsuchungsbeschluss zu ihm schicken. Sollte er wirklich mit dem Verschwinden Ihrer Tochter etwas zu tun haben, werden wir es herausfinden. Keine Sorge wir werden Ihre Tochter finden.“
Die Hausdurchsuchung und Vernehmung von Daimian führte zu keinem Ergebnis, die Beamten ließen ihn nach drei Stunden laufen. Sie fanden im Haus von Daimian keine Spur von Sandy. Ich nahm ein Foto von meiner Tochter vom PC und ließ über Vistaprint 1000 Flyer und 150 Plakate drucken. Die Plakate und Flyer legte ich in der Stadt und an belebten Orten wie Cafés, Kneipen und Strandbars aus. Manchmal stellte ich mich in die Stadt oder hier ins Dorf und drückte den Leuten einen Flyer meiner Tochter in die Hand, aber niemand hatte meine Tochter gesehen. Unser Telefon blieb stumm, sodass die Polizei den Ort und alles umliegenden Ortschaften gemeinsam mit der THW; der Hundertschaft, freiwilligen Helfern und Suchhunden die gesamte Umgebung durchkämmte, Hubschrauber kreisten Tag und Nacht über Marienheim. Die Wasserschutzpolizei rückte mit Booten und Sporttauchern aus, um das Meer nach Sandy ab zu suchen, aber gefunden wurde nichts. Nicht eine Locke von ihrem Haar oder eine Faser von ihrem Schlafanzug, regionale und überregionale Zeitungen und Nachrichtensender kamen vorbei um einen Bericht über unsere Tochter abzudrucken und ins Internet zu stellen. Auf Social Media Kanälen wie facebook und youtube wurden Videos und Suchanfragen gepostet, aber niemand hatte unsere Tochter gesehen. Seit Sandy verschwunden war, bewegten wir uns wie Roboter durch unseren Alltag. Jeden Tag fuhr ich Cuxhaven und Marienheim ab, in der Hoffnung, Sandy zu finden. Ich durchkämmte Waldgebiete in unseren Nachbarorten. Ich überlegte auf die versprochene Belohnung der Polizei noch etwas draufzulegen, damit meine Frau und ich Gewissheit bekamen. Wir waren schon fast paranoid geworden. Mit jedem Läuten an der Haustür oder dem Klingeln des Telefons zuckten meine Frau und ich zusammen. Aber wir erhielten keine Nachricht von unserer Tochter, kein Lebenszeichen, keine Lösegeldforderung, nichts. Doch am dritten Tag begannen die Träume.
Ich träumte ich stände zusammen mit meiner Frau auf der Klippe der Bucht. Eisiger Wind fuhr uns in die Glieder, sodass unsere Zähne vor Kälte klapperten, unsere Finger waren ganz taub. Wellen peitschten gegen den Felsen, der von Wind und Wetter ganz rutschig war. Es war eine kalte, aber sternenklare Nacht. Der Vollmond stand am Himmel, als plötzlich dicke schwarze Wolken am Himmel auftauchten und sich vor den Mond schoben. Ein weiß schimmernder Nebel zog langsam vom Wasser auf uns zu. Ein Donnerschlag schien die Erde zu erzittern, während Blitze vom Himmel herab auf der Wasseroberfläche einschlugen. Meterhohe Wellen peitschten auf das Festland und traten sogar über den Deich. Ich hatte schon einige große Wellen gesehen, aber noch die Wellen, die teilweise über 35 Meter erreichten. Das Naturschauspiel war beängstigend und faszinierend zu gleich. Was war das da hinten? War das nicht ein Licht? War jemand bei diesem Sturm draußen auf hoher See? Wie konnte man nur so verantwortungslos sein. Das Licht stieg fünf bis zehn Meter hoch empor und senkte sich dann wieder. Das Schiff kam direkt auf uns zu. Ich wollte umdrehen und gehen, aber ich konnte meine Beine nicht bewegen. Wir konnten nicht mal mit den Wimpern zucken oder den kleinen Finger rühren. Eine eisige Kälte schoss mir in die Glieder, aber ich zitterte nicht. Mit weit aufgerissenen Augen starrten wir auf die See hinaus, es war das dasselbe Schiff wie aus meinem letzten Traum. Das Schiff kam auf uns zu, Blitze zuckten und tauchten die Umgebung in gleißendes Licht. Der Wind heulte und das tosende Meer hallte in unseren Ohren. Das Schiff bekam Schlagseite und neigte sich stark nach links. Mir blieb der Atem stehen. Ich sah meine Tochter an Bord des Schiffes. Was wenn es kenterte oder gegen die Felsen prallte? Ich wollte schreien, wollte in die tosenden Fluten springen, um sie aus der Hand dieses Scheusals zu befreien. Der süßliche Geruch nach Fäulnis und Verwesung stieg mir in die Nase und ich spürte wie sich meine letzte Mahlzeit, langsam ihren Weg nach oben durch meine Kehle arbeitete. Plötzlich vernahm ich die dunkle Stimme des Piraten, der sagte: „Sieben Tage werd ich bringen Pein, wo ist nur das Kindlein? Am siebten Tag ich Wiederkehr, um das zu holen, was ich begehr. Eine Kiste wird stehen am Strand, dort in der Bucht, wo einst ein Mensch bei Vollmond verschwand. Steht die Kiste in sieben Tagen nicht dort, das Kind wird hinfortgespült an einen anderen Ort"
Ich riss den Mund auf, wollte schreien, aber die Worte blieben mir im Halse stecken. Als das Schiff ablegte und am Horizont verschwand. Ich wachte schreiend und schweißgebadet auf. Meine Frau schreckte ebenfalls hoch. Ich schaltete die Nachttischlampe an. Ihr langes schwarzes Haar hing in Strähnen an ihr herab, ihr weißes Nachthemd war von Schweiß durchtränkt.
„Ich – ich – ich habe geträumt wir ständen an der Klippe, dort in der Bucht, weißt du noch, wo Willy und seine Leute mich opfern wollten“
Ich nahm meine Frau in den Arm.
„Dann kam da dieses Schiff. Ein Piratenschiff mit Kanonen und an Bord des Schiffes war ein Mann ein Pirat. Dieser Mann hielt unsere Tochter im Arm und sagte:„Sieben Tage lang werd ich bringen Pein, wo ist nur das Kindelein. Am siebten Tage ich Wiederkehr, um das zu holen, was ich begehr? Eine Kiste wird stehen am Strand, dort in der Bucht wo einst ein Mensch bei Vollmond verschwand. Steht die Kiste in sieben Tagen nicht dort, das Kind wird hinfortgespült an einen anderen Ort.“, wiederholte ich die Worte.
Meine Frau sah mich mit weit aufgerissenen Augen an und sagte: „Wo – her – weißt – du?“
„Ich hatte denselben Traum“ , antwortete ich.
„Schatz was geht hier nur vor? Was geschieht mit uns? Wo ist unsere Tochter?“, fragte sie mit Tränen in den Augen.
„Ich habe keine Ahnung, aber ich verspreche dir, dass ich es herausfinden werde“
Texte: S.Silver
Tag der Veröffentlichung: 18.01.2022
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Melanie Laven.