Claus und Jochen lebten auf dem Land. Ihre Eltern besaßen einen großen Bauernhof, mit Hühnern, Kühen und Schweinen. Außerdem besaßen sie Korn und Maisfelder, es gab immer etwas zu tun. Häufig standen Claus und Jochen gemeinsam mit ihren Eltern um vier Uhr morgens auf, um die Arbeit auf dem Hof zu erledigen. Sie misteten die Ställe aus, halfen beim Melken der Kühe und beim Füttern. Claus fand das Leben auf dem Land spannend und aufregend. Er konnte im Heu schlafen oder bei Hühnern. Er konnte mit ihnen kuscheln und sie streicheln. Er konnte sogar Traktor fahren, auch wenn er noch keinen Führerschein besaß. Sein Vater ließ ihn häufig allein aufs Feld fahren, um das Mais oder Roggenfeld abzuernten. Man konnte sogar Tiere in freier Wildbahn beobachten. Sie sahen Füchse, Wildhasen, manchmal sogar Wildschweine im angrenzenden Wald. Dafür mussten sie zwar leise und geduldig sein, aber das war die Sache wert. Wer von den Stadtkindern konnte schon behaupten, dass sie mal ein Wildschwein oder einen Fuchs in freier Wildbahn beobachtet hatten? In der Stadt war das Leben hektisch und von der Natur sah man dort so gut wie gar nichts. Jochen war selbst mit seinen Eltern schon oft genug in der Stadt gewesen und fand sie schrecklich. Dort hetzten Mütter ihre Kinder durch die Fußgängerzone und keiner achtete auf den anderen, besonders schlimm fand Jochen es, dass Menschen in der Fußgängerzone auf dem Boden saßen und bettelten. Diese Menschen taten Jochen leid. Noch schlimmer jedoch fand er die Jugendlichen, welche die Obdachlosen wie ein Stück Dreck behandelten und ihnen ihre letzten Almosen wegnahmen. Sein Bruder Jochen war da anders, er war etwas pummelig und er hasste das Leben auf dem Land. Er sagte immer, wenn er mal groß ist, wollte er in die Stadt ziehen. Dort gab es Discos und richtig geile Weiber, Jochen hielt das für das coolste Ding überhaupt. Dabei gab es bei ihnen auf dem Land auch Feste, es gab zum Beispiel das Oktoberfest. Bis vor drei Jahren wurde zu Ostern auch ein riesiges Osterfeuer angezündet, dann wurde gegrillt, es gab Kartoffel und Taccosalat mit Stangenbrot, dazu selbstgemachte Knoblauch und Chili Sauce. Zu Weihnachten und Silvester veranstalteten sie immer ein großes gemeinschaftliches Glühwein und Grog trinken mit der Familie und Nachbarn. Für die Kinder gab es dann Kinderglühwein und Kinderpunsch, das Zeug schmeckte richtig geil und Claus fühlte sich dann immer wie ein Erwachsener. Wenn Claus erwachsen war, würde er den Hof seiner Eltern übernehmen und ihn in ihrem Interesse weiterführen. Am Liebsten würde er nur von der Landwirtschaft leben, aber das konnte keiner. Es sei denn, man gehörte einem großen Landschaftsverband oder einer großen Molkerei an. Sein Vater arbeitete halbtags bei einer Molkerei rund fünf Kilometer von ihrem Wohnort entfernt und seine Mutter strickte Schals und Pullover für Freunde und Bekannte, die sie für ein paar Euro verkaufte. Wenn sie ihren Eltern bei der Arbeit in den Ställen oder auf dem Feld halfen, bekamen sie auch ein paar Euro dafür. Sie erhielten kein Taschengeld, sondern mussten sich jeden Euro hart erarbeiten. Aber das störte sie nicht, so konnten sie wenigstens sagen, sie hätten für ihr Geld gearbeitet und das war nicht bei all ihren Klassenkameraden der Fall. Viele ihrer Mitschüler lebten nur auf Kosten der Eltern. Außerdem kannten sie noch Geschichten. Sie besaßen keine Spielekonsole oder ein Tablet wie dieses ganze neumodische Zeug hieß, dafür hatten sie eh keine Zeit, aber sie besaßen Bücher, sie hatten Tiere, für die sie Verantwortung übernahmen und sie konnten Traktor fahren. Welches Stadtkind konnte das schon? Am schönsten aber war es, wenn sie im Sommer draußen auf dem Feld ihres Vaters mit ein paar Freunden zelten durften.
An einem Sommerabend im August, Claus und Jochen zelteten zusammen mit Martin auf dem Feld. Sie hatten ein Lagerfeuer angezündet, grillten Würstchen über offenem Feuer und erzählten sich Gruselgeschichten.en Ausdruck der Spannung im Gesicht,
"Wisst ihr ...", begann Jochen und machte eine Pause. Claus und Martin starrten ihren Freund mit großen Augen an. Jochen konnte unglaubliche gute Geschichten erzählen. Fast so gut wie ihr Großvater.
"Was?", fragte Martin und sah seinen Freund an, d
"Vor einigen Jahren wurden dort drüben im Wald zwei kleine Jungen gefunden. Die Legende besagt, das ein Wesen ähnlich wie ein Werwolf in diesem Wald lauert, der Nachts bei Vollmond einsame Wanderer oder Menschen die sich im Wald verirren überfällt und umbringt. Noch keiner soll einen Angriff dieses Monsters überlebt haben. Die Polizei fand unter anderem einen nackten Frauenkörper, der von riesigen Kratzwunden übersät war. Einer weitern Frau soll das Wesen die Bauchdecken aufgerissen haben, sodass ihre Eingeweide herausquollen. Außerdem werden seit geraumer Zeit mehrere Personen vermisst, die zuletzt in dieser Gegend oder in der Nähe gesehen worden sind..."
Claus lief ein Schauer über den Rücken, Jochen hatte nicht unrecht, es gab in letzter Zeit tatsächlich etliche Vermisstenmeldungen,
Die Polizei durchkämmte die Ortschaft mit einem Großaufgebot, aber gefunden wurde nichts, nichts außer ein paar blutverschmierte Schuhe oder eine Jacke. Die Polizei hatte nicht mal einen Verdächtigen, da es keine Fingerabdrücke oder sonstigen Hinweise gab. Das Einzige, was man fand, waren Fußabdrücke eines Tieres, welches hier in Deutschland aber bereits seit über hundert Jahren ausgestorben war. Das war zumindest das, was man in der Regenbogenpresse fand. Claus und Jochen glaubten jedoch nicht daran. Bild sprach zuerst mit den Toten.
"Man erzählt sich, dass er Täter immer noch in diesen Wäldern lebt. Jäger haben damals im Wald einigen herrenlose Hunde abgeschossen, ebenso wie Hunde von Besitzern die nicht angeleint waren, aber das Morden ging weiter. Seitdem meiden alle den Wald, oder hat einer von euch jemals jemanden gesehen, der aus diesem Wald kam?", fragte Martin.
Jochen sah Claus an, ihre Eltern hatten ihnen unmissverständlich klargemacht, dass sie nicht in den Wald gehen durften. Und erst Recht nicht, wenn es dunkel wurde oder während einer Vollmondnacht. Ihre Eltern waren nicht leicht zu reizen, sie waren manchmal ein wenig streng, aber wütend hatten sie sie nur einmal gesehen. Als Claus verschwunden war. Er war am Waldesrand gefunden worden von ihrem Vater. Das hatte ihm eine Standpauke und eine Woche Hausarrest eingebracht. Normalerweise erteilten ihre Eltern keine Strafen, das war ungewöhnlich.
"Niemand weiß wo sich das Wesen versteckt hält, wahrscheinlich lebt es mitten unter uns. Ich hätte gerne mal Lust in den Wald zu gehen, vielleicht finden wir ja das Versteck des Werwolfes.", sagte Martin.
"Klingt spannend, warum eigentlich nicht?", fragte Jochen.
"So eine Nachtwanderung ist mit Sicherheit aufregend", antwortete Martin.
"Du Jochen, du weißt, dass wir nicht in den Wald dürfen, kannst du dich nicht mehr an das Theater erinnern als ich...", sagte Claus.
"Mach dir nicht in die Hose, von uns wird keiner etwas erzählen, also wie sollen sie es dann bitte schön erfahren? Und selbst wenn, das bisschen Hausarrest kriegen wir auch noch rum.", sagte Jochen. Er sah zum Himmel und wie es der Zufall wollte, heute war Vollmond. Der Mond stand wie ein mahnender Wächter am Himmel und schien die Jugendlichen zu beobachten, zumindest Claus kam es so vor. Der wirkte unheimlich bei Nacht und den Jungen stiegen langsam die Nackenhaare auf, auch wenn sie sich das gegenseitig niemals eingestehen würden. Die Äste der Bäume wirkten im Mondlicht wie Gerippe von Verstorbenen. Claus hatte den Eindruck, dass sich die Äste langsam auf ihn zu bewegten, um ihn zu packen und mitzureißen. Ohne das seine Freunde es mitbekamen, spürte er, wie ihm ganz warm zwischen den Beinen wurde. Er fühlte wie der Urin sein rechtes Hosenbein hinablief. Seine Knie zitterten, während er sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn wischte. Martin trat auf einen Ast, der so laut unter seinem Gewicht zerbrach, dass er zusammenzuckte. Claus und Jochen fuhren erschrocken herum.
"Was war das verdammt noch mal?", fragte Jochen.
"Das war ich sorry, ich bin auf einen Asts getreten,", antwortete Martin.
"Pass auf wo du hin tritts.", sagte Jochen.
"Ist ja schon gut, tut mir leid, habt ihr zwei etwa Angst?", fragte Claus.
"Ganz wohl ist mir nicht zumute.", sagte Martin.
"Mach dir mal keine Sorgen, wahrscheinlich ist der Täter längst über alle Berge und so einen Scheiss wie Werwölfe gibt es doch eh nicht. Trotzdem finde ich es hier im Wald bei Nacht ziemlich aufregend.", sagte Claus.
Wortlos gingen die Jungen weiter, ohne zu ahnen, dass ihnen etwas folgte. Die Jugendlichen hörten den Strom des Baches, hier hatten sie mal vor einiger Zeit einen kleinen Damm gebaut und eine Hütte, die aber mit der Zeit von den anderen Kindern niedergerissen worden waren. Sie drangen tiefer ins Unterholz und kamen an einer alten verwitterten Bank vorbei. Papiertaschentücher und Überreste von Lunchpaketen lagen auf dem Boden. Martin hob den Abfall auf und warf ihn in den Mülleimer. Manche Leute waren echte Schweine, wenn die Menschen schon die Natur so verschandelten, wie sah es dann erst bei ihnen zuhause aus? Er schluckte, das wollte er sich lieber nicht vorstellen. Ein Heulen zerschnitt die Stille, was war das? Es schien weit entfernt zu sein.
"Leute ich...ich glaube wir sollten von... von hier ver- ver- verschwinden.", stotterte Martin.
"Hast du etwa Angst? Das war nichts weiter als ein Vogel oder eine Eule.", sagte Jochen.
Eine dunkle Wolke schob sich vor den Mond, dann fing es an zu regnen und Nebel stieg aus dem Boden hervor. Blitze zuckten vom Himmel herab und tauchten den Wald in gleißendes Licht. Der Schrei eines Uhus hallte von den Bäumen. Claus kam das alles merkwürdig vor. Plötzlich wollte er nicht mehr hier sein, er musste hier weg. Etwas kam auf sie zu, er wusste nicht, was es war, aber etwas beobachtete sie. Er konnte es nicht sehen, aber er konnte es fühlen. Etwas bewegte sich durch das Unterholz auf sie zu und wenn es sie erst einmal hatte, würde es sie nicht mehr gehen lassen.
"Ich denke wir sollten zu unserem Zelt zurück gehen, da ist es wenigstens schön trocken.", sagte Claus.
Ein Heulen ertönte ganz in der Nähe, es klang wie das Heulen eines Wolfes.
"Was war das?", fragte Claus und fuhr herum, sein Gesicht war kreidebleich.
"Keine Ahnung, Leute aber das klang wie das Heulen eines Wolfes", antwortete Martin, seine Stimme zitterte.
"Es gibt keine Wölfe, wahrscheinlich habe wir uns das alle nur eingebildet.", antwortete Jochen.
"Trotzdem ist es besser, wenn wir zu unserem Zelt zurück gehen", sagte Martin.
"Du hast recht, lass uns gehen, bevor wir uns noch eine Grippe einfangen.", sagte Claus.
Ein Heulen begleitet von knackenden Ästen aus dem Unterholz ließ die Jungen aufhorchen.
"Was zur Hölle war das?", fragte Jochen.
"Das ist... ist das...?", Martins Stimme stockte.
"Quatsch, das ist wahrscheinlich ein Fuchs oder ein Wildschwein, lasst uns gehen.", sagte Claus.
Die Jungen gingen den Weg entlang, den sie gekommen waren. Das Licht ihrer Taschenlampen konnte die Finsternis kaum durchdringen. Bäume und Sträucher zeichneten sich als schemenhafte Silhouetten in ihren Lichtkegeln ab. Die Äste bewegten sich leicht im Wind und Laub raschelte. Der Ruf eines Uhus halte von den Bäumen wieder. Bodennebel stieg langsam aus der Erde empor und umschloss ihre Füße. Sie vernahmen das Rascheln von Zweigen und Blättern. Abgesehen davon war es still, gespenstisch still. Der Uhu war verstummt. Diese Stille gefiel den Jungen nicht, überhaupt nicht. Es schien fast so, als hielt die Welt den Atem an. Diese Ruhe kannte Claus aus Horrorfilmen, wenn es still wurde, stand ein Überfall unmittelbar bevor, sie mussten hier weg und das so schnell wie möglich. Das Herz in seiner Brust schlug schneller und kalter Schweiß lief seinen Nacken hinab. Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte er einfach loszustürmen und seine Freunde im Stich zu lassen, doch konnte er das nicht mit seinem Gewissen vereinbaren. So etwas taten Freunde untereinander nicht. Warum mussten sie auch ausgerechnet eine Nachtwanderung im Wald machen? Warum hatten sie nicht auf ihre Eltern gehört?
Ein erneutes heulen und knurren ließ die Jungen erzittern.
"W - was - ww - war das?", fragte Claus, sein Gesicht war im Schein der Taschenlampe kreidebleich.
"Keine Ahnung, aber ich denke wir sollten von hier verschwinden und das so schnell wie möglich.", antwortete Martin.
Jochen nickte, er brachte keinen Ton hervor. Das Heulen eines Tieres zerschnitt die Stille.
"Ist...ist...ist das ein Wolf?`", fragte Claus, das Herz in seiner Brust schlug so schnell, dass er befürchtete jede Sekunde einen Herzanfall zu bekommen.
"Das ist mir egal, ich will so schnell wie möglich von hier verschwinden.", sagte Martin, seine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding. Seine Freunde nickten. Claus und Jochen sahen ihren Freund voller Entsetzen in die Augen. Sie waren kreidebleich und sahen im Schein von Martins Taschenlampe aus wie lebende Tote.
"Was ist?", fragte Martin.
Ein Wolfskopf brach aus dem Unterholz hervor, das Wesen hatte riesige Tatzen, sein Oberkörper war mit dichten braunen Haaren übersät. Der Wolf ging jedoch nicht wie seine Artgenossen auf vier Beinen, sondern aufrecht auf zwei Beinen, wie ein Mensch.
"Lauft so schnell ihr könnt", rief Jochen und stürmte los, Martin spürte, wie ihn etwas am Genick packte. Es gab ein lautes Knacken, als sein Genick brach. Der Werwolf grub seine Zähne tief in Martins Fleisch, riss Haut und Muskelgewebe aus seinem Leichnam und verschlang die Leckerbissen. Blut tränkte die Erde, das Wesen heulte, dann folgte es Claus und Martin. Er konnte die Jungen Kilometer weit riechen. Ihr Schweiß hing in der Luft, er musste nur ihrem Körpergeruch folgen.
Martin schoss auf dem Pfad dahin, auf welchen sie gekommen waren. Seine Lunge brannte und seine Klamotten waren von Schweiß getränkt. Wie nah war ihnen das Monster auf den Fersen?
"Hilfe, ist hier jemand, irgendjemand? Wir brauchen Hilfe.", brüllte Martin. Aber wer war schon nachts um zwei Uhr in einem Wald unterwegs? Martin vernahm das Rascheln der Büsche und zerbrechen von Holz. Wer war das? Lag vielleicht in seinem Bett und schlief? War das hier alles nur ein Traum. Hatte er sich das alles nur eingebildet? Wenn ja müsste er langsam aufwachen. Was sollte er seinen Eltern sagen? Das sie von einem Werwolf angegriffen worden sind? Seine Eltern würden ihn für bescheuert erklären und in die Geschlossene einweisen. Er vernahm ein Heulen hinter sich, dann wurde er zu Boden gerissen und ein stechender Schmerz führ ihm in die Schulter. Das Wesen schlug seine Zähne in seine linke Schulter. Martin spürte wie warmes Blut seinen Arm hinablief, während ihm der stinkende Atem des Monsters die Sinne raubte. Er verlor das Bewusstsein.
Jochen hatte den Waldesrand erreicht, als der Schrei seines Freundes durch die Nacht hallte und ihm durch Mark und Bein fuhr. Er hielt im Rennen inne und lauschte. Die Schreie seines Freundes waren entsetzlich, er hätte ihm gerne geholfen, aber was sollte er tun? Er konnte nur eines tun, er musste nach Hause und seine Eltern informieren, aber würde die ihm glauben? Wahrscheinlich würden die ihm zu einem Psychiater schicken, wenn er ihnen von einen Werwolf erzählte, der seine Freunde umgebracht hatte. Er konnte es selbst kaum glauben und versuchte, sich einzureden, dass das nichts weiter als eine Halluzination oder ein Traum war, aus dem er jede Sekunde erwachte. Das Heulen des Wolfes hinter ihm, machte ihm bewusst, dass dem nicht so war. Jochen rannte so schnell ihn seine Füße trugen, er erreichte in wenigen Minuten den Feldweg, Maisfelder schossen links und rechts an ihm vorbei. Er atmete in schnellen kurzen Stößen. Über die kleine verwitterte Brücke. Er wagte nicht sich, umzudrehen und nach hinten zu sehen. Er rannte, rannte und rannte. Dann war es still, er war entkommen. Ihm fiel ein Stein vom Herzen und er atmete erleichtert auf. Seine linke Seite schmerzte. In seinem Innerem stiegen Bilder aus vergangenen Tagen auf, Bilder wie er mit seinen Freunden in diesem Wald eine Hütte gebaut hatte, wie als sie noch klein waren hier verstecken und fangen gespielt hatten. Wie sie mit Holzschwertern, die sein Vater ihnen gebaut hatte, Ritter gespielt hatten und wie sie Rehe und Hasen mit einem Fernglas beobachtet hatten. Eine Träne floss seine Wange hinab, was sollte er Martins und seinen Eltern sagen? Wie sollte er den Erwachsenen erklären, dass ihre Söhne tot waren und das er sie auf dem Gewissen hatte, Wieso war er weggelaufen? Warum hatte er seinen Bruder und seinen Freund im Stich gelassen? Er kam sich so schäbig vor. Sie hatten die Regeln gebrochen, ihre Eltern hatten sie vor dem Wald gewarnt, doch sie konnten ja nicht hören, die Lausbuben, die es darauf anlegten. Mit gesenktem Kopf ging er langsam den Feldweg entlang, als er hinter sich ein Heulen hörte. Jochen drehte sich um und erblickte den Werwolf. Das Monster sah ihn an wie ein lästiges Insekt, ein gefährliches, welches schnellstens zerquetscht werden musste. Jochen schlug das Herz bis zum Halse. Er sah dem Wesen genau in die Augen. Der Geruch von nassem Fell wie bei Hunden schlug ihm entgegen. Einige Sekunden standen der Werwolf und Jochen sich regungslos gegenüber. Sie schienen sich genaustens zu studieren, so wie bei einem Duell in den Wildwestfilmen. Der Wolf sabberte und fletschte die Zähne. Blut klebte an seinen Barthaaren und tropfte auf den Boden. Jochen spürte nichts mehr, er spürte nicht mehr den Wind, der über seine Arme strich. Er vernahm auch nicht das Rascheln der Bäume die sich im Wind bewegten oder den Ruf der Eule, der durch die Nacht hallte. Das rechte Auge des Ungeheuers war blutunterlaufen. Sein Fell stand in allen Himmelsrichtungen von seinem Körper ab. Der Werwolf ließ ein bedrohliches Knurren hören, bei dem es Jochen durch Mark und Bein fuhr. Jochen schluckte. Der Wolf hob den Kopf und heulte den Mond an. Jochen schloss die Augen. Eine Träne lief seine Wange hinab, er schluchzte leise, dann stürmte das Monster auf ihn zu. Es riss den Jungen zu Boden und stellte sich über ihn. Blut und Geifer tropften aus seinem Maul, als es die Zähne fletschte und sie seinem Opfer in die Kehle rammte. Blut floss aus Jochens Hals und tränkte den Waldboden. Es gab ein fürchterliches Knacken, als sich die Zähne des Ungeheuers durch Sehnen, Knorpel und Knochen arbeitete und sie zermalmte.
Am nächsten Morgen fand ein Förster die toten Körper von drei Jungen, einem von ihnen war der Kopf von den Schultern gerissen worden. Der Förster informierte die Polizei, während Claus und Jochens Vater zwanzig Kilometer von seinem Wohnort entfernt nackt in einem Wald aufwachte. An seinen Lippen klebte getrocknetes Blut. Wie er dahin gekommen war und was in der vergangenen Nacht geschehen war, daran konnte er sich nicht mehr erinnern. Jochens und Claus Mutter begann zu trinken. Zwei Jahre nachdem ihre Söhne gestorben waren, fand eine Nachbarin Frau Winter, wie sie unter der Decke baumelte.
Texte: Stefan Lamboury
Tag der Veröffentlichung: 10.05.2021
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