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Bodenlos

Es ist kalt und der Wind flüstert vergeblich tröstende Worte in mein Ohr. Die Kälte hat mich im Inneren zu Eis erstarren lassen. Die Regentropfen beißen sich in meine Haut und hinterlassen Brandmale der Trauer. Die dicken, schwarzen Gewitterwolken am Himmel verdeutlichen den Zorn des Verunglückten. Doch all das nehme ich gar nicht war. Weder die Kälte, noch die Nässe, nichts.

 

Ich habe mich verloren, bin kein Mensch mehr. Es scheint, als wäre ich tot. Ausdruckslose Augen, schlaffe Wangen, bleiche Haut und herabhängende Schultern. Mein Äußeres verwelkt, sowie auch die Blumen auf dem Grab verwelken werden. Wie konnte das passieren?

 

Langsam verblasst alles um mich herum. Ich werde blind, bin nicht mehr stark genug etwas zu erkennen. Meine Füße sind zu schwach, um sich zu bewegen und meine Hände haben den Willen verloren, mir zu gehorchen.

 

Plötzlich verschwindet der Boden unter meinen Füßen. Schockiert will ich schreien, doch es kommt kein Laut aus meinem Mund. Ich falle und kann mich nirgends festhalten. Ich falle und niemand hilft mir. Ich falle und ich weiß nicht einmal wohin.

 

Kein Boden ist zu sehen. Alles ist dunkel, nirgends gibt es einen Funken Licht. Und wieder fühle ich mich verloren und allein gelassen. Alles, was man geglaubt hat zu haben ist verschwunden. Die Menschen, von denen man geglaubt hat sie würden einen lieben, sind fortgegangen. Die Liebe ist weg, das Glück hat mich endgültig verlassen. Alles, was bleibt, sind Erinnerungen. Bilder, die mit der Zeit undeutlicher werden und in Vergessenheit geraten.

 

Seine sanften Hände, die jeden Abend mühevoll versuchten meine Probleme weg zu streicheln, werden verblassen. Seine Augen, die mit so viel Leben und Liebe gefüllt waren, werden aus meinem Kopf verschwinden. Das Gefühl, seine Lippen auf meine zu spüren, wird sich verlieren. Und seine Worte, die mir einst versprachen, mich immer zu lieben, für mich da zu sein, bis der Tod uns scheide, werden mir entfallen.

 

Wieso schafft der Tod es so leicht, uns auseinander zu bringen? Warum nahm er nur dich und ließ mich hier zurück? Lass mich nicht alleine, nimm mich mit. Lass mich nicht im Stich! So sprich doch zu mir, sag, wieso bist du gegangen? Ich sagte doch, fahre nicht, es ist schon spät und dunkel draußen. Doch du wolltest nicht hören und musstest das Schicksal herausfordern. Sieh dich um! Schau, was passiert ist. Du bist fort und ich falle in einen unendlichen Abgrund. Ohne dich, ganz alleine.

 

Wer wiegt mich spät nachts in den Schlaf und wird zum Wächter meiner Träume? Wer läuft mit mir Hand in Hand die Straße entlang und bringt mich zum Lachen, wenn mir eher zum Weinen zumute ist? Antworte mir! Ich halte es nicht aus, die Gedanken stehlen mir die Luft aus den Lungen und lassen mein Herz für Sekunden stillhalten.

 

Die Dunkelheit scheint kein Ende zu haben und immer mehr sehe ich ein, dass es keine Hoffnung gibt. Der Albtraum bleibt bodenlos. Wie lange falle ich noch? Warum ist kein Boden zu sehen? Wann ist das alles zu Ende? Weshalb kann nicht alles wie früher sein? Warum höre ich dich nicht mehr sagen, wie sehr du mich liebst?

 

Die Verzweiflung frisst mich auf. Ich spüre den Schmerz, wie er sich ausbreitet. Meine Füße verbrennen, meine Fingernägel kratzen meine Haut auf und ein Messer rammt mir pausenlos in meine Brust. Ich höre mich schreien, jaulen wie ein unglücklicher Wolf. Oh, komm doch wieder zurück zu mir!

 

Und gerade als ich dachte, ich müsse mich mit meinem Ende abfinden, spüre ich eine Wärme um mich herum. Es ist, als würde man von mir die Dunkelheit, die ganze Traurigkeit und den ganzen Schmerz wegnehmen. Ich falle nicht mehr, nein, ich schwebe den ganzen Weg nach oben. Wie eine Verzweifelte klammere ich mich um die Wärme und schwöre nicht mehr loszulassen. Heiße Tränen laufen meine Wange hinab und ein Schluchzen dringt aus meiner Kehle.

 

Irgendwann spüre ich wieder den festen Boden unter mir, traue mich aber trotzdem nicht meine Augen zu öffnen. Aus Angst, eine Dunkelheit zu erblicken und wieder den Boden zu verlieren, kneife ich meine Lider gewaltsam zu. Hast du mich gehört? Bist du gekommen, um mich mitzunehmen?

 

„Du bist nicht alleine“, meine ich in meinem Kopf zu hören.

 

Die Stimme gleicht einer Harfe, so leicht, schön und unbeschwert. Und auch wenn ich weiß, dass das nicht seine Stimme ist, bin ich erleichtert. Denn trotz allem hat sie mir aus dem Abgrund geholfen. Als sie noch einmal ertönt, wird mir klar, dass sie nicht aus meiner Fantasie entspringt. Ich kämpfe mit der Entscheidung, die Augen zu öffnen. Sobald ich sie öffne, bin ich in der Realität angekommen. Dann gibt es kein Entkommen mehr, dann wird es Zeit mit der Tragödie umzugehen. Werde ich irgendwann in der Lage sein, dir Lebewohl zu sagen?

 

Und als ich es tatsächlich schaffe und meine Lider öffne, befinde ich mich immer noch am selben Ort, wie bevor. Ich stehe auf dem grünen Gras, vor dem Grab meiner geliebten Person und die Gewitterwolken über mir. Nichts hat sich geändert. Außer, -

 

„Du bist nicht alleine“, wiederholt die Person noch einmal.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.07.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
An alle Menschen, die jemand im Leben verloren haben

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