Cover

Prolog

Die Sonne wird von ein paar Wolken versteckt, der Wind beginnt stärker zu wehen und es fängt an zu tröpfeln. Zu Beginn gleichen die Tropfen einer Brise, bis sie sich zu dicken Regentropfen bilden. Der Geruch des Regens, das endlich auf den heißen Asphalt prallt, wird von einer Frau aufmerksam wahrgenommen, die einen roten Regenschirm in der Hand hält. Sie bleibt mitten im Laufen stehen, schließt die Augen und saugt den Geruch nach Sommer in sich hinein. Der Duft erfrischt ihre Erinnerungen, lebt sie wieder auf, wie Sonnenstrahlen eine Blume wieder zum Leben erwecken. Doch sie weiß, dass die Erinnerungen vergangen sind und sie diese wieder unterdrücken muss. In den wenigen Sekunden, in denen sie die Augen geschlossen hält und den Geruch des Regens begierig einatmet, fühlt sie sich wieder jung.

 

Die Leute um sie herum laufen hektisch mit ihren Handys, Aktenkoffer oder Kaffees in den Händen an ihr vorbei und drehen sich zischend zu ihr um, wenn sie gegen sie stoßen. Während für die Frau mit dem roten Regenschirm die Welt für ein paar Minuten stillsteht, düsen Autos an ihr vorbei, welche entweder wild hupen oder fest auf die Bremse drücken, wenn ein Mann oder eine Frau über die Straße rennt, um ein Taxi oder einen Bus zu bekommen. Langsam und heiter öffnet sie ihre blauen Augen, wirft ihr dunkelblondes Haar hinter die Schulter und läuft weiter, als wäre nichts gewesen. So macht sie das nämlich immer, wenn sie etwas an die Vergangenheit erinnert. Kurz gibt sie sich den Erinnerungen und lässt sie dann frei, bis sie nach einiger Zeit vom Winde verweht wieder zu ihr zurückkehren.

 

Als sie zu Hause ankommt, legt sie ihren Regenschirm zur Seite, zieht ihre Jacke und Schuhe aus und will gerade nach ihrem Sohn rufen, als sie plötzlich innehält. Ihr Spiegelbild an der Wand hat ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Schweigend stellt sie sich direkt vor den Spiegel und blickt verloren drein. Ihre blauen Augen mustern ihre kleinen Falten auf dem Gesicht und die winzige Narbe oberhalb ihrer Lippe. Sie seufzt, als sie merkt, dass sie sich dieses Mal nicht von den Erinnerungen lösen konnte, wie üblicherweise. Und ohne überhaupt darüber nachzudenken, wendet sie sich vom Spiegel ab, läuft ins Wohnzimmer, öffnet eine Schublade, greift tief hinein und holt ein Fotoalbum heraus. Unentschlossen hält sie das Album in der Hand und blickt verstohlen zu den Treppen, die hoch zu ihrem Schlafzimmer und das Kinderzimmer ihres Sohnes führt. Das Gefühl etwas Verbotenes zu tun und dabei ertappt zu werden macht sich in ihr breit. Doch dieses Gefühl, der schnelle Puls und das immer stärker werdende Adrenalin kennt sie von früher. Wieder klagt sie innerlich, als sie sich an die Vergangenheit erinnert, oder besser gesagt an ihn erinnert. Sie merkt gar nicht, dass die Aufregung verschwunden ist und sich ein Lächeln auf ihren Lippen gebildet hat. Sie öffnet das Buch mit ihrer zarten Hand, wobei ihr der Ehering ins Auge fällt und sie diesen gekonnt ausblendet.

 

Schon die erste Seite entlockt der Frau ein Kichern aus der Kehle, welche sie mühsam versucht zu verkneifen. Sie erkennt ihre Mutter, die sie mit ihren langen, blonden, lockigen Haaren in den Arm hält, als sie noch drei Jahre alt war. Auf die Kamera wurde gar nicht geschaut, denn sie blickt strahlend ihre kleine Tochter an, welche ein rot gepunktetes Kleid trägt. Auf einem anderen Foto steht sie Hand in Hand, auf der linken ihre Mutter, auf der rechten ihr Vater, im Disney Land. Sie weiß wieder, wie viel Spaß sie doch früher mit ihren Eltern gehabt hat. Auf dem nächsten Bild steht sie mit ihrer besten Freundin, als sie sechs Jahre alt waren, vor ihrer alten Grundschule. Beide blicken etwas nervös, aber trotzdem mit einem Lächeln auf den Lippen in die Kamera.

 

Die nächste Seite ihres Fotoalbums lässt ihr Herz für einen kurzen Moment innehalten. Es wurde am Tag der Beerdigung ihrer Mutter geschossen. Mit ihren gerade mal acht Jahren sitzt sie auf dem Schoß ihres Vaters. Beide blicken verloren in die Kamera, ein Blick der Verzweiflung und Angst. Sie weiß noch, dass ihr Onkel das Foto geschossen hat. Eigentlich wollte er nur, dass sie ein wenig lächeln, aber die verweinten Augen zeigen das Gegenteil. Ab dem Tod ihrer Mutter hat sich das Leben der Frau gewaltig verändert. Sie verlor nicht nur ihre Mutter, sondern auch ihren Vater. Immer seltener kam er nach Hause und das kleine Mädchen musste anfangen auf sich selbst zu achten. Die Zeit war nicht sehr leicht für sie, und als ihr Vater gar nicht mehr auftauchte und nur ab und zu mal anrief, bekam sie eine „Nanny“. Auf dem nächsten Foto sieht man das junge Mädchen mit ihrer männlichen Nanny. Dieser ist ein Angestellter ihres Vaters und war verpflichtet auf das Kind aufzupassen, bis sie volljährig war und für sich selbst sorgen konnte.

 

Danach fing ihre rebellische Phase an. Schon auf dem nächsten Bild sieht man, wie sie in ihr dunkelblondes Haar, pinke Strähnchen hinein gefärbt hat. Ihre beste Freundin hat dasselbe getan, nur in blau. Die Frau erinnert sich, wie schnell ihre Freundin und sie zu den Außenseitern der Schule geworden sind, das war gerade als sie in die Mittelstufe kamen. Zwei Jahre später waren ihre Haare komplett schwarz, genauso wie ihre Kleidung. Härter wurde es auf dem nächsten Bild. Als sie es betrachtet, muss sie deutlich hörbar schlucken. Sie war 16 Jahre alt und hatte ihre Haare komplett abrasiert, trug Militärhosen und schwarze Boots. In dieser Zeit war sie ziemlich aggressiv und wechselte jede Stunde ihre Laune.  Schnell blättert die Frau weiter und bleibt auf einer Seite stehen, wo sie auf einem Bild die Zunge rausstreckt und ihre nachgewachsenen Haare komplett rot gefärbt sind. Sie fragt sich, wieso sie früher nur so wild auf verschiedene Frisuren war. Das nächste Bild zeigt sie und ihre Freundinnen an ihrem 21. Geburtstag. Auf dieser Seite bleibt sie nun länger verwalten als auf den anderen. Auch wenn ihre Haare damals nicht mehr rot, sondern wasserstoffblond waren, hatte sie in dieser Zeit wieder ihr eigenes Ich gefunden. Sie erinnert sich nur zu gern an diesen Geburtstag.

 

Wieder steigt der Puls der Frau, da sie genau weiß, welches Bild als Nächstes kommt. Das ist eben nicht das erste Mal, dass sie dieses Fotoalbum in den Händen hält und darin blättert. Wenn sie ehrlich ist, wollte sie das Album nur öffnen, wegen des nächsten Bildes. Sehnsuchtsvoll blättert sie um und erkennt ihn sofort. Ihre Lippen verwandeln sich zu einem Lächeln, ihre Augen werden glasig und ihre Wangen warm. Instinktiv nimmt sie das Foto aus der Folie heraus und drückt es sich leise seufzend gegen die Brust, direkt an ihr Herz. Dann betrachtet sie das Bild wieder genauer. Die Worte, die er auf das Foto geschrieben hat, lässt ihr Herz schmerzlich zusammenziehen. Willkürlich legt sich ihr Finger auf sein Gesicht und sie spürt eine starke Sehnsucht aufkommen. Schnell wird ihr bewusst, dass es dringend Zeit wird, das Album wieder zurückzulegen. Also schiebt sie das Foto wieder vorsichtig unter die Folie, fast so als wäre es zerbrechlich. Mit einem letzten Blick schaut sie sich das Bild noch einmal an. Er hält sie in seinen starken Armen und blickt verschmitzt in die Kamera. Sie weiß noch ganz genau, was er ihr damals ins Ohr geflüstert hat, was der Grund war, wieso sie lachend aber trotzdem ein wenig beleidigt ausschaute. „Ach Kitty Cat“. Sie fasst die mit Füller geschriebene Schrift an: „Für meine Cathleen“ und spürt das verdächtige Jucken in ihren Augen.  

 

„Schatz, ich bin wieder da“, ertönt es von der Haustür.

 

Wie aus einem Traum erwacht, schüttelt die Frau ihre Tränen weg und legt das Album wieder in die Schublade zurück. In dem Moment, als sie die Schublade schließt, verschließt sie auch wieder ihre Erinnerungen und atmet tief und bestimmt ein. Mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht erhebt sie sich und läuft zur Haustür, um ihren Ehemann zu begrüßen.

Geburtstagskuchen

Eine Studie hat bewiesen, dass ein schwitziger Händedruck oft der Anfang einer romantischen Beziehung ist

 

Cathleen Havering hat schon immer von etwas Wahrem geträumt. Als sie neun Jahre alt war, hatte die kleine Cat einen unsichtbaren Freund namens Freddy. Fünf Jahre später verwandelte sich ihr unsichtbarer Freddy zu einem coolen imaginären Freund, der ihr aus ihrem langweiligen Alltag heraushalf und sie auf andere Gedanken brachte. Mit 17 Jahren wünschte sie sich dann, Freddy würde in ihrem realen Leben auftauchen und sie mit seinen muskulösen Armen und Waschbrettbauch entführen. Nun ist Cathleen 21 Jahre alt und sie wurde weder entführt, noch hat sie einen Mann mit Waschbrettbauch kennengelernt, der an ihr interessiert war. Ihre stummen Seufzer verwandelten sich von Jahr zu Jahr zur echten Verzweiflung und sie wünscht sich die große, wahre Liebe.

 

An einem frischen und sonnigen Morgen liegt die junge Cathleen in ihrem Bett und denkt fieberhaft nach, wie sie heute einen heißen Millionär schnappen könnte. Natürlich ist ihr klar, dass es am Ende kein Millionär sein wird, aber gut aussehen sollte er schon! Und wenn er nicht gut aussieht, soll er wenigstens nett sein. Mit schürzenden Lippen bemerkt Cathleen, dass ihre Erwartungen immer weiter sinken und sie ermahnt sich, sich nicht unter ihren Wert verkaufen zu lassen. Sie braucht endlich einen Freund, endlich mal wieder richtigen Sex, schließlich ist heute ihr Geburtstag! Seufzend springt sie aus ihrem Bett und stellt sich vor ihren Spiegel. Leicht spitzt sie ihre Lippen, um sie ein klein wenig dicker aussehen zu lassen. Ihre Augen weitet sie aus und ihre Brust schiebt sie nach vorne. Kopfschüttelnd sieht sie die Katastrophe vor sich und schüttelt verärgert den Kopf; das ist nicht sie!

 

Mit gerunzelter Stirn nimmt Cathleen eine Strähne zwischen ihre Finger und durchsucht die wasserstoffblonden Haare nach Spliss. Sie begreift einfach nicht, wieso sie keinen Freund hat. Sie sieht doch gar nicht so schlecht aus. Schöne Gesichtszüge und dünne Beine besitzt sie ja schließlich, wenn man das kleine Bäuchlein unter ihrem „Who’s ur MOMMA?“ T-Shirt übersieht. Aussehen war ihr nie so wichtig gewesen, dass sie dafür das Essen aufgeben könnte und bereuen tut sie das auch nicht. Außer im Sommer, wenn sie sich selbst versprochen hat, im Winter ein wenig an ihrem Speck zu arbeiten. Augenverdrehend läuft sie zum Fenster, öffnet diesen und lehnt sich nach draußen an die frische Luft. Die Menschen sind schon wach, genauso wie der Verkehr. Aus ihrem Schlafzimmerfenster hat sie keine Aussicht. Nun ja, es sei denn, man nennt Aussicht, einen Ausblick auf das Wohnzimmer eines Nachbarn. Trotz mancher Makel ihrer Stadt würde sie nirgends anders wohnen, es ist nun mal ihr zu Hause.

 

Nachdenklich zückt sie eine Zigarette aus ihrer Packung und zündet sie an. Schon seit einer Woche planen sie und ihre beste Freundin Luise ihre Geburtstagsparty. Man wird eben nicht jeden Tag 21 Jahre alt! Lange hat sie sich auf diesen Tag vorbereitet, sagt sie ermutigend zu sich selbst und zieht den Rauch in die Lunge. Nach dem Frühstück wird sich die Nanny von Cat verabschieden, da sie nun volljährig geworden ist. Jawohl, Cathleen besitzt eine Nanny! Und keine weibliche Gehilfin, sondern einen gut durchtrainierten, schon etwas älteren aber trotzdem noch fitten Aufpasser, der immer eine Waffe mit sich trägt. Um es auf den Punkt zu bringen: Cathleens Vater ist Waffenhändler, und dazu auch noch ein ganz berühmter unter den Sträflingen in ihrer Stadt. Als ihre Mutter von einem unzufriedenen Kunden ermordet wurde, versteckte sich ihr Vater aus Trauer in seinem Geschäft und organisierte einen Offizier von der Army, auf seine Tochter aufzupassen. Also lebt sie nun schon seit 13 Jahren mit Wade Hole zusammen. Er ist so was wie ein zweiter Vater für sie.

 

Als sie die Zigarette zu Ende geraucht hat, zieht sie sich schnell etwas Ordentliches an, putzt sich die Zähne und bürstet sich die Haare. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen das Zimmer heute nicht zu verlassen, da sie wusste, dass Wade laut seinem Vertrag, heute mit ihr fertig ist. Doch sie hat heute Geburtstag und wenn sie nicht aus dem Zimmer kommt, wird es auch keine Party geben und sie findet keinen Millionär. Gestern sprachen sie und Wade darüber, dass er nach dem Frühstück wieder zu seiner Familie ziehen würde. Wade besitzt zwei kleine Mädchen, Anna und Bella, die für Cat wie ihre eigenen kleinen Schwestern sind, da sie jedes zweite Wochenende seine Familie besuchten. Wenn Cathleen ehrlich ist, ist sie noch nicht bereit Wade loszulassen. Als sie klein war und Kummer hatte, hat er ihr immer beiseite gestanden und geholfen, wo er nur konnte. Selbst als sie sich in ihren komischen Phasen befand, in denen sie mal entweder pinke Strähnchen, pechschwarze Haare oder überhaupt keine besaß, war er immer für sie da. Sie liebt ihre Nanny abgöttisch, aber sie kann ihn nicht zwingen bei sich zu bleiben, das wäre zu egoistisch gegenüber seiner Familie.

 

Laut hörbar schluckt sie, als sie die Tür öffnet und die Treppen hinunterläuft. Unten angekommen riecht sie schon den angebrannten Duft von Pfannkuchen.

 

„Du gibst wohl nie auf, was?“, fragt sie lachend, als sie die Küche betritt.

 

Wade steht mit einer Schürze um die Hüfte vor dem Herd und hält eine Pfanne in der Hand.

 

„Du weißt, dass es nicht meine Art ist einfach aufzugeben“, verteidigt er sich gekonnt und blickt Cathleen überlegen an.

 

Wade ist ungefähr ein Kopf größer als Cathleen, doch dafür zweimal so breit wie sie. Er besitzt breite Schulter, muskulöse Arme, Pferdebeine und einen dicken Hals. In den dreizehn Jahren, die er auf Cathleen aufgepasst hat, ging er in der Natur viel Laufen, fuhr oft Mountainbike oder boxte in seiner freien Zeit, alles um fit zu bleiben. Trotz des Sportes sieht man Wade sein Alter schon an. Feine Falten bilden sich unter seinen dunkelbraunen Augen und die Geheiratsecken sind auch schon größer geworden. Doch das alles ist Cathleen bislang nicht aufgefallen, denn sie liebt Wade mit all seinen Ecken und Kanten. Wenn ihr in den Jahren eine Veränderung aufgefallen ist, dann in seiner Haltung ihr gegenüber. In den letzten zwei Jahren spürte Cathleen, wie Wade sich langsam und unauffällig von ihr zu distanzieren versuchte. Cathleen weiß, dass er das machte, um ihr die Trennung zu erleichtern, doch sie wollte sich bislang nie damit auseinandersetzen und sah über seine Haltung hinweg.

 

„Klar, aber du weckst noch die ganze Nachbarschaft auf mit diesem verkohlten Geruch.“

 

„Ich werde sie erst recht aufwecken, wenn du sie am Ende nicht alle aufisst und ich die Nachbarn zwingen muss, sie runter zu würgen“, grinst er drohend.

 

Dann wendet er sich von ihr ab und dreht den fast schon verkohlten Pfannkuchen um. Sie blickt Wade von hinten an und ignoriert den stechenden Schmerz unterhalb ihrer Brust und die heißen Tränen, die sich in ihren Augen bilden und drängt sie zurück. Sie wird die Zeit mit ihm vermissen, so schmerzhaft vermissen. Die tollen Ratschläge, die er ihr immer gibt. Das verständnisvolle Lächeln, wenn sie sich über etwas aufregt. Seine Hand auf ihrer Schulter, wenn sie einem Typen nachtrauert. Zu wem kann sie sich wenden, wenn es ihr nicht gut geht? Sie schüttelt die Gedanken und die Angst allein zu sein beiseite und setzt sich auf den Küchenstuhl, um zu essen. Kauend sitzt sie am Tisch und würgt die Pfannkuchen mit dem Kaffee herunter. Sie denkt daran, wie scheußlich sie schmecken, und schwört sich am nächsten Tag bessere zu machen. Sozusagen als einen Neustart.

 

„Schmeckt‘s?“, fragt Wade und blickt sie mit leuchtenden Augen an.

 

„Wunderbar“, antwortet sie leicht ironisch und kaut weiter.

 

Als er am Herd fertig ist, gesellt er sich zu ihr und verschluckt sich selbst laut hörbar an seine Pfannkuchen. Er hustet so stark, dass Cathleen aufstehen muss, um ihn auf sein Rücken zu klopfen.

 

„Du alter, alter Mann“, seufzt Cat und setzt sich lachend wieder an ihren Platz.

 

„Tu mir den Gefallen und koch bitte, bitte nichts für deine Töchter, wenn du wieder zu Hause bist“, bittet sie ihn und verdreht lächelnd ihre Augen.

 

„Nein, das mach ich erst wieder, wenn ich dich besuchen komme“, verspricht er ihr und lacht.

 

„Bitte nicht“, betet sie leise, sodass er es aber trotzdem noch hören kann.

 

„Du wirst meine Leckereien noch vermissen Fräulein“, tadelt er.

 

„Ich kann es kaum erwarten“, sagt sie ironisch und räumt ihr Teller in die Spülmaschine.

 

„Ich habe noch etwas für dich“, meint er auf einmal, steht geschmeidig auf und läuft aus der Küche.

 

Neugierig sieht sie ihm hinterher und fragt sich, wovon er sprechen mag. Mit einer kleinen Schachtel in der Hand kommt Wade leicht lächelnd zu ihr zurück und überreicht ihr die Verpackung.

 

„Alles Gute zum Geburtstag meine Kleine.“

 

Verwundert blickt sie abwechselnd Wade und dann das Geschenk an. Wade hat ihr noch nie etwas zum Geburtstag geschenkt, darum ist das so ungewöhnlich für sie. Stumm und vorsichtig reißt sie die Verpackung auf und öffnet schließlich die Box. Mit großen Augen entdeckt sie darin eine silberne Kette, an dem ein Anhänger mit ihrem Namen hängt. Sie blickt vom Stuhl aus zu ihm hoch und kann sich nicht mehr halten. Die Freude über das Geschenk, der überaus großen Geste von Wade und dem Wissen, dass er sie gleich verlassen wird, treibt ihr die Tränen in die Augen und sie kann ein trauriges Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Mit einem Schritt liegt sie in den Armen von Wade und weint sich die Augen aus. Tätschelnd und verständnisvoll hält er sie in den Armen und spürt ebenfalls die Traurigkeit auf seinen Schultern lasten. Er hat so lange auf sie aufgepasst, sie war wie eine Tochter für ihn, die er nun verlassen muss. Denn sie muss jetzt ihr eigenes Leben beginnen, das war so abgemacht mit Herrn Haverings.

 

„Das wäre nicht nötig gewesen“, schluchzt Cathleen weiterhin in seine Brust hinein.

 

„Doch, das war es!“, antwortet er sicher.

 

Dann drückt er sie von sich weg und sieht sie mit einem Jetzt-hör-mir-gut-zu-mein-Fräulein-Blick an.

 

„Ich will, dass du die Kette zum Andenken behältst. Du musst sie nicht anziehen, wenn du nicht möchtest. Aber wenn du dich einsam fühlst, dann denke immer daran, was ich dir gesagt habe“, erklärt er eindringlich.

 

Er braucht die Worte nicht zu nennen, denn Cathleen weiß sofort, wovon er spricht. Einsamkeit ist Unabhängigkeit, hat Wade ihr all die Jahre immer wieder eingetrichtert. An schlechten Tag hat er ihr das immer vorgehalten, bis sie die Worte nicht mehr hören konnte und jedes Mal die Augen verdrehen musste. Nun fühlen sie sich wie ein Anker für sie an, etwas, woran sie festhalten kann.

 

„Danke“, sagt Cat ehrlich, als sie ihm in die Augen blickt. „Könntest du sie mir anziehen?“

 

„Natürlich“, lächelt er.

 

Mit einem dicken Grinsen blicken beide die Kette um Cathleen Hals an. Vertraut berührt Cat die Kette und blickt Wade seufzend an. Schließlich räumen sie zufrieden den Tisch und die Küche auf, bis alles blitz blank ist. Nachdem die Kuckucksuhr zwölfmal schlägt, weiß Cathleen, dass es nun Zeit ist Abschied zu nehmen. Erst als Wade mit den Koffern aus seinem Schlafzimmer kommt, wird Cathleen bewusst, was gleich passieren wird. Ihr Herz krampft sich schmerzhaft zusammen, doch sie zwingt sich zu einem sicheren und glücklichen Gesicht.

 

„Du weißt, wo deine Magentabletten liegen?“, fragt er sie liebevoll.

 

„Ja Wade.“

 

„Die Telefonnummer von mir hast du, ja?“

 

„Ja Wade“, wiederholt sie artig.

 

„Du weißt auch, wo der Elektroschocker liegt, falls die Nachbarskatze auftauchen sollte?“

 

„Ja Wade“, antwortet sie leise beschämt und verdreht ihre Augen.

 

„Du weißt auch, wie man sie benutzen soll?“

 

„Jaa“, sagt Cathleen nun ungeduldig und beginnt zu zappeln.

 

„Nichts da `Ja Wade´“, äfft er ihr nach und fährt fort. „Wir wollen doch nicht noch einmal so ein kleines Ungeschick haben, wie mit Kater Max, was?“

 

„Zuerst zielen, dann drücken, nicht andersrum, habe verstanden!“, erklärt sie und wird ein wenig rot.

 

„Na gut“, sagt Wade, atmet tief ein und breitet dann seine Armen aus. „Komm her.“

 

Mit einer bebenden, aber trotzdem noch lächelnden Lippe, läuft sie in seine Arme und legt ihren Kopf auf seine Brust. Sie prägt sich sein Duft ein und merkt, wie sich ihr Herz unter ihrer Brust verkrampft. Was für ein grässliches Gefühl, denkt sie sich nur. Dann trennen sie sich von ihrer Umarmung und blicken sich traurig in die Augen.

 

„Sag Lilly und den Süßen schöne Grüße von mir, ich komme euch bald besuchen“, verspricht Cathleen.

 

Wade blickt das Mädchen, worauf er schon so lange aufgepasst hat, eindringlich an und wird traurig bei dem Gedanken sie zu verlassen. Er lächelt, als er ihre allzu bekannte Körperhaltung bemerkt: Zittrige Beine, gebückte Haltung, was einem geschlagenen Dackel ähnelt und ihre rechte Hand, welche die Haut ihres linken Armes fetzt.

 

„Pass bitte auf dich auf“, kann er nur sagen, was Besseres fällt ihm in der Situation nicht ein.

 

Kurz und schmerzlos verlässt er das Haus mitsamt seinen Koffern und lässt die junge Frau allein in ihrem großen Haus zurück. Sie dreht sich einmal um ihre eigene Achse und versucht die Lage positiv zu sehen. Heute ist ihr Geburtstag! Und auch noch ihr 21.! Sie kann sich die nächsten Tage über sein Fehlen die Augen ausheulen, heute nicht. Außerdem ist Wade nicht gestorben, sondern einfach bei seiner Familie, da wo er auch hingehört. Cathleen ist jetzt erwachsen und muss sich auch so benehmen. Geschmeidig läuft sie die Treppen hinauf zu ihrem Zimmer und sucht nach ihrem Handy. Nach zehn Minuten Haare raufen findet sie es endlich und muss sofort an Wade denken, der immer wusste, wo ihr Handy liegt, woher auch immer. Fünf neue Nachrichten, aber hallo!

 

„Süße, erst einmal alles Gute zum 21. Ich komme um fünf zu dir, damit wir uns richten können, es ist schon alles geplant. Heute wird ein unvergessl.“

 

Diese Nachricht ist von Luise, Cathleens beste Freundin, für die Wörter „unvergesslicher Tag“, hätte es wohl die zweite SMS gekostet, was für ein armer Tropf.

 

„Alles alles liebe Caht, wir freun uns wen du uns mal wider besucht.“

 

Die muss von Anna und Bella sein, mit einem Lächeln mustert sie die Rechtschreibfehler und schließt die Nachricht, um die nächste zu öffnen.

 

„Lieber AT&T- Kunde, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!...“

 

Ohne die Nachricht weiterzulesen, schließt und löscht sie die SMS und hört das imaginäre, laute Lachen von Luise, wenn sie wüsste, dass von den fünf Nachrichten, auf die sie sich gefreut hatte, eine von ihrem Telefonanbieter war.

 

„Hey Cat, happy Birthday. Wir sehen uns heute Abend.“

 

Diese SMS ist von Sven, ihrem Ex-Freund. Der einzige Grund, wieso er ihr schreibt, muss der sein, dass er mit ihr schlafen will, was sie jedoch auf keinem Fall möchte. Augenverdrehend öffnet sie die letzte Nachricht.

 

„Hallo Cathleen. Alles Gute zum Geburtstag. Ich hätte dich gerne besucht oder auch angerufen, aber es ist zurzeit sehr stressig auf der Arbeit, also sei mir nicht böse. Habe bitte einen schönen Tag und pass heute besonders gut auf dich auf.“

 

Nachricht löschen. Wollen Sie wirklich diese Nachricht löschen? Ja. Natürlich, ist ja von ihrem Vater.

 

Nach dem Tod ihrer Mutter sprachen Cathleen und ihr Vater kaum noch ein Wort miteinander. Er verließ sie und fragte nur an Feiertagen nach ihr. Das einzige Mal als sie ihren Vater wiedersah war, als sie sich mit 15 Jahren ihr Bein brach. Er kam sofort als er von dem Unfall hörte hergefahren und verlangte die besten Ärzte für sie. Cathleen hasst ihren Vater nicht, natürlich liebt sie ihn, aber sie ist mächtig enttäuscht von ihm.

 

Kopfschüttelnd wirft sie ihr Handy aufs Bett und begutachtet ihren Kleiderschrank. Sie hat keine Ahnung, was sie heute Abend anziehen soll. Eigentlich hatten sich schon vor Monaten etliche Möglichkeiten ergeben, ein Kleid zu kaufen, aber Luise versprach ihr zum Geburtstag selbst ein Kleid zu besorgen. Da sie erst später kommt, kann Cathleen noch nichts in Richtung Make-up planen. Sie schlendert gelangweilt zum Spiegel und fährt mit ihrer Hand durch ihre Haare. Spontan beschließt sie, sich ein Pony schneiden zu lassen. Also zieht sie sich eine Jeans, ein Sweatshirt und Sportschuhe an, und nimmt einen Regenschirm mit, für den Fall, dass es regnet.

 

Mit Musikstöpsel in den Ohren und einem Lächeln auf den Lippen läuft sie aus der Tür und schaltet ein Gute-Laune-Song an. Bei einer Bäckerei macht sie einen kurzen Stopp, um sich ein Kaffee zu kaufen, dann läuft sie weiter. Gestern Nacht hat es geregnet, bemerkt Cathleen, da die Sonne auf den feuchten Asphalt prallt und der Duft in der ganzen Stadt zu riechen ist. Nach einem Spaziergang kommt Cat endlich an einem Friseursalon an und darf nach ein paar Minuten auch schon auf den Friseurstuhl.

 

„Was darf es sein?“, fragt eine freundliche Friseurin.

 

Cathleen blickt die kurzen, schwarzen Haare von der Frau an und erinnert sich an ihren abrasierten Schädel von damals, daraufhin muss sie lächeln.

 

„Ich hätte gerne die Spitzen geschnitten und ein Pony“, antwortet sie freundlich.

 

„Wie ich sehe, haben Sie schon ein Seitenpony, wollen Sie ihn in Form bringen oder einen geraden?“

 

„Einen Geraden“, antwortet Cat ihr, als sie sich im Spiegel betrachtet.

 

„Alles klar!“

 

Gespannt schaut Cathleen der Friseurin zu und hofft auf ein gutes Ergebnis.

 

„Gibt es einen bestimmten Anlass?“, fragt die Friseurin plötzlich.

 

„Ohja einen ganz bestimmten sogar! Heute ist mein Geburtstag“, antwortet Cat lächelnd und aufgeregt.

 

Die Friseurin macht große Augen und fängt an zu lachen.

 

„Ja dann muss ich mir ganz besondere Mühe geben! Alles Gute zum Geburtstag meine Liebe, wie alt sind Sie denn geworden?“, fragt sie.

 

„Sie können mich ruhig duzen. Ich habe endlich die 21 erreicht“, strahlt Cathleen stolz.

 

„Das beruht auf Gegenseitigkeit. Gott ich erinnere mich an meinem 21. Geburtstag“, sagt die schwarzhaarige Friseurin und fängt daraufhin an zu kichern.

 

„Wie alt bist du?“, fragt Cat sie neugierig.

 

„Vor zwei Jahren hatte ich meinen 21. Schließe kurz die Augen“, sagt sie konzentriert, schnippelt an Cathleens Pony und fährt wieder fort.

 

„Wo gehst du heute feiern?“, fragt sie lächelnd.

 

„Keine Ahnung. Meine Freundin hat alles geplant, ich kann nur hoffen, dass es gut wird!“

 

„Darf ich dir ein Tipp geben?“

 

„Ja, bitte.“

 

„Kennst du den Club „Sex on Stage“? “, fragt sie und blickt Cathleen im Spiegel in die Augen.

 

Klingt wie ein Puff, ist aber ein Club, und zwar einer der angesehensten in der ganzen Stadt.

 

„Ja, aber ich habe gehört, dass da nur sehr wenige reinkommen“, überlegt Cathleen.

 

„Das stimmt, aber wenn du meinen Namen nennst, kommt ihr alle rein“, zwinkert sie ihr zu.

 

„Du kannst doch gleich mitkommen“, lächelt Cathleen und wird ein wenig rot.

 

„Das ist aber lieb von dir“, sagt die Friseurin und blickt Cat geschmeichelt an.

 

Als sie fertig ist, dreht die Friseurin den Stuhl zu ihr um und reicht ihr die Hand.

 

„Ich bin Alicia“, stellt sie sich vor.

 

„Cathleen“, grinst Cat.

 

„Freut mich dich kennenzulernen Cathleen und danke für deine Einladung. Ich würde sehr gerne kommen, ich nehme meine Freundinnen mit und dann laufen wir alle zusammen rein, wie wärs?“, fragt sie.

 

„Ja, cool.“

 

Sie tauschen ihre Handynummern aus, Cathleen bezahlt schnell und will gerade aus dem Friseursalon, als Alicia ihr hinterherruft.

 

„Hast du dich eigentlich schon im Spiegel betrachtet?“, fragt sie lachend.

 

Schnurstracks dreht sich Cat um und läuft sich an die Stirn schlagend an irgendeinen Spiegel. Zufrieden blickt sie ihr Pony an und bedankt sich noch einmal bei Alicia.

 

„Bis heute Abend!“, ruft Cat, als sie endgültig aus den Laden läuft.

 

In sich hinein kichernd fragt sie sich, wie sie so was Simples vergessen konnte. Auf der nächsten Straße, die sie überqueren muss, schaltet die Ampel gerade auf Rot, also rückt Cathleen ihr Handy aus der Tasche und will nach der Uhrzeit sehen. Zwei verpasste Anrufe. Wer wohl angerufen hat, fragt sie sich und öffnet das Fenster. Vater. Interessant, interessant, denkt sie sich und schließt wieder das Fenster. Was er wohl von ihr will? Sie denkt gar nicht dran, ihn zurückzurufen, auf keinen Fall. Wenn er etwas will, soll er eben noch einmal anrufen, ihr doch egal. Stur überquert sie die Straße und merkt gar nicht, dass die verpassten Anrufe ihr doch tiefer ins Gemüt drücken, als sie wahrhaben möchte, denn nach der Uhrzeit hat sie immer noch nicht gesehen.

 

Zu Hause angekommen, bestellt Cathleen sich beim Chinesen etwas zu essen und verbringt die letzten Stunden ruhig auf ihrem Sofa mit den Frühlingsrollen und ihrem Fernseher, bis Luise kommt und es anfangen kann, spannend zu werden. Entspannt schaut sie im Fernseher eine Reportage über Schmetterlinge an, ihre Lieblingstiere. Sie liebt diese kleinen, süßen und allzu zerbrechlichen Tierchen. Für sie sehen sie wunderschön aus und sie liebt es, wenn sie ein Schmetterling entdeckt und ihn so weit hinterläuft, bis er endgültig wegfliegt, wo sie ihn nicht mehr erreichen kann. Früher war sie mit ihrem Vater oft Schmetterlinge fangen und mit ihrer Mutter hat sie sie dann freigelassen. Sie erinnert sich gerne an die Zeit zurück und schiebt sich noch eine Frühlingsrolle genüsslich in den Mund.

 

Genau eine Stunde zu spät klingelt es an der Tür, Augen verdrehend springt Cathleen vom Sofa und öffnet die Tür.

 

„Alles Gute zum Geburtstag!“, kreischt Luise vor Freude, als die Tür noch nicht einmal richtig geöffnet worden ist.

 

Sofort liegen sich die zwei Freundinnen in den Armen und springen wie verrückt im Kreis, bis sie merken, dass das wohl keine 21-jährigen Erwachsenen mehr tun sollten.

 

„Du bist eine Stunde zu spät!“, sagt Cat vorwurfsvoll zu ihrer besten Freundin.

 

„Jaja ich weiß, tut mir leid, aber das Warten war nicht umsonst“, sagt sie und grinst wie ein Honigkuchenpferd.

 

Aufgeregt laufen sie in die Wohnung hinein und hasten auf Cathleens Zimmer hoch. Sie springen auf das Bett und blicken sich glücklich in die Augen. Die zwei Mädchen sind schon seit Kindesjahren die besten Freundinnen. Während sie vom Aussehen nicht unterschiedlicher sein könnten, sind ihre Charaktere gleich und sie verstehen sich, ohne miteinander Worte austauschen zu müssen. Luise hat im Gegensatz zu Cathleen graublaue Augen und schwarze, wellige Haare. Sie ist kleiner als Cat, hat dafür aber eine dünne Taille, breite Hüfte und einen Po zum Dahinschmelzen. Dafür besitzt Cathleen mehr Oberweite und dünnere Beine. In der Schule war Luise immer die schlauere, aber fauler, weswegen Cat die besseren Noten erhielt, aber im Vergleich zu Luise nicht wirklich verdiente. Luise gleicht einem hinterlistigen Fuchs, der in Sekundenschnelle eine Situation wahrnimmt und ihre eigenen Vorteile daraus ziehen kann. Es sei denn ihre beste Freundin kommt dabei zu Schaden. Denn geht es um Cathleen, würde Luise über Leichen gehen und Cathleen würde dasselbe für Luise tun. Nach dem Tod von Cathleens Mutter litt Luise mit ihrer besten Freundin und war jede Minute für sie da.

 

„Es ist endlich soweit!“, sagt Cat und atmet tief durch.

 

„Ohja! Endlich gehören wir zu den maulenden und immer älter werdenden Erwachsenen und können so richtig fett feiern gehen“, sagt Luise begierig und schiebt eine schwarze Strähne hinter ihr Ohr.

 

Luise ist etwas älter als Cathleen und hatte ein Monat vor ihr Geburtstag. Diesen feierten die zwei Mädchen in Ruhe, da Luise unbedingt auf Cathleens Geburtstag warten wollte.

 

„Alsoo“, sagt Cat und spielt mit ihren Augenbrauen, um auf ihr Geschenk aufmerksam zu machen.

 

„Achja stimmt! Liegt im Auto, bin gleich da.“

 

Schnaufend lässt sich Cat zurück aufs Bett fallen und wartet, bis Luise wieder auftaucht. Als sie schließlich im Zimmer steht, hält sie eine große und eine kleine Box in der Hand. Zuerst überreicht sie Cat die kleine Box. Lächelnd zieht sie die rosa Schleife auseinander, die die Box geschlossen hält, und öffnet vorsichtig die Schachtel. Erstaunt findet sie eine Torte, mit weißem Zuckerguss überbacken und hier und da bunte Blümchen aus Marzipan, auf der Torte steht: Happy Birthday Cat. Grinsend umarmt Cat ihre beste Freundin und dankt ihr für die Kalorienbombe, dann überreicht Luise ihr schon die nächste große Box. Neugierig öffnet sie auch hier zuerst die Schleife und hebt dann die Schachtel hoch. Sofort weiß sie, dass da ihr Kleid versteckt sein muss, denn durch den weißen Stoff, dass das Kleid schützt, spürt sie etwas Weiches. Langsam zieht sie den weißen Stoff ab und erblickt einen anderen knallroten Stoff. Begeistert von der Farbe zückt Cathleen das Kleid heraus und legt es vor sich auf das Bett. Cats Finger können nicht genug von dem Stoff bekommen, es fühlt sich einfach traumhaft seidig an. Nun schaut sie es genauer an, vorne wird das Kleid ideal Cats Ausschnitt zeigen können und hinten gibt es ein großen Cut Out Ausschnitt, indem man ein Teil ihres Rückens sehen wird.

 

„Das kann ich nicht annehmen, es sieht sau teuer aus“, seufzt Cat und packt das Kleid wieder in die Box.

 

„Wage es nicht das Ding wieder reinzustecken! Es ist ein Geschenk, also nimm es bitte an!“, sagt Luise eindringlich.

 

Lange blicken sich die zwei Freundinnen in die Augen, bis Cat lachend vom Bett springt und sich das Kleid sofort anzieht. In den nächsten Stunden bereiten sich die zwei Mädchen auf die große Party vor: Sie schminken sich gegenseitig, probieren verschiedene Frisuren aus und schauen, welche Schuhe besser zu ihren Kleidern passen. Um acht Uhr brechen sie endlich auf und treffen sich mit ihren restlichen Freunden vor dem Club, den ihr Alicia vorgeschlagen hat.

 

„Cathleen! Alles Gute“, gratuliert ihr Melinda, eine Freundin von ihr, als sie vor dem Club stehen.

 

Schließlich folgen weitere Geburtstagswünsche von allen ihren Freunden, bis auch Sven auftaucht und sie in die Arme nimmt.

 

„Du siehst fabelhaft aus Baby, happy Birthday“, flüstert er ihr ins Ohr.

 

Cat könnte sich selbst eine Ohrfeige verpassen, als sie merkt, dass sie wegen ihm eine Gänsehaut bekommt. Kopfschüttelnd betrachtet sie aus dem Augenwinkel sein blonder Haarschopf, die große Statur und versteht einfach nicht, was sie so toll an ihm findet. Noch ehe sie weiter darüber nachdenken kann, ruft jemand ihren Namen von der Seite und erkennt in der Menge Alicia stehen.

 

„Hey!“, ruft Cat fröhlich zurück und als Alicia sich zu ihnen gesellt, umarmen sich die zwei neu gefundenen Freundinnen.

 

„Alles Gute noch einmal!“, sagt sie lächelnd und zeigt auf ihre beiden Freundinnen, die hinter Alicia stehen und Cat freundlich begegnen.

 

„Das sind Kimberly und Janet“, stellt sie ihre Freundinnen vor und schon wenden sie sich zu dem Türsteher.

 

Kurz bekommt Cat es mit der Angst zu tun, ob sie da wirklich reinkommen, da eine lange Schlange vor dem Club steht. Doch Alicia drängelt sich vor zum Türsteher, umarmt und küsst ihn, zeigt auf uns und schon dürfen wir alle rein. Es ist einfach unglaublich, denkt Cat sich nur, als sie in den großen Club reinläuft. Die Musik ist genau richtig, die Typen sehen alle zum Anbeißen aus und die Preise für die Getränke sind nicht hoch. Schon als die Gruppe sich einen großen Tisch ausgesucht hat, folgt die größte Saufparade für Cathleen. So betrunken ist sie noch nie gewesen, was wohl daran liegt, dass jeder mit ihr anstoßen will. Hier und da werden Fotos von ihr gemacht, eine längere Blitzwelle entsteht, als Luise und Cat ihre Gesichter zu Schmollmündern und Fischgesichter verziehen. Irgendwann gesellen sich sie und ihre beste Freundin zu Alicia auf die Tanzfläche und fangen an wie verrückt zu tanzen. Leider können Luise und Cat einfach nicht tanzen, sie haben beide zwei linke Füße, was sie auch genau wissen, aber der Vodka tut ihnen wohl doch ziemlich gut. Nach weiteren zwei Tequilas, sieht Cat ihre beste Freundin schon doppelt, sie verliert ihr Gleichgewicht und stürzt wegen ihrer hohen Schuhe zu Boden. Sofort spürt sie zwei Hände auf ihrer Taille, die sie hoch und weg von der Tanzfläche tragen. Nur mit Mühe merkt sie, dass sie von jemand auf einen Stuhl platziert wird. Aber von wem?

 

„Alles in Ordnung, Cathleen?“, hört sie die laute Stimme von Sven.

 

„Mhm“, murmelt sie.

 

Außerdem rumort ihr Magen wie verrückt und sie könnte schwören, dass nun zwei Svens vor ihr stehen und sie hat keine Ahnung, welchen sie anschauen soll.

 

„Brauchst du etwas zum Trinken?“, fragt er.

 

Sie könnte ihn verfluchen, schon allein der Gedanke lässt alles hochkommen. Also hüpft sie so gut wie möglich vom Stuhl, rennt zur Toilette und gesellt sich zu den anderen kotzenden Weibern. Nach geschlagenen fünf Minuten tritt sie würdevoll aus der Toilette, zieht sich ihre Schuhe aus und kann wenigstens wieder etwas klarer denken und laufen. Sie versteht selbst, dass sie sich jetzt lieber mal ein Wasser bestellen sollte, um den ekligen Geschmack aus dem Mund zu verlieren.

 

Boah was für eine Nacht, denkt sie sich nur und bleibt plötzlich stehen. Himmel, Arsch und Zwirn sieht der gut aus! Etwa 1,90m groß, gut gebaut, ein Gesicht, wo man seines lieber in der Tüte verstecken möchte und Haare, die wahrscheinlich gesünder sind als die eigene, lehnt sich ein Sohn Gottes an der Bar an. Cat muss hörbar Luft schnappen und sich zwingen, ihn endlich nicht mehr anzustarren. Nachher schaut er noch zurück und fragt sich, warum zum Teufel so ein fertiges Mädchen, mal davon abgesehen, dass sie barfuß ist, ihn anschaut als würde sie jeden Moment auf ihn draufspringen und ihn vernaschen. Bedacht macht sie einen großen Bogen um ihn, da er wohl eine viel zu große Nummer für sie wäre und sie sich für ihr Auftreten schämt. Stolz auf ihre Entscheidung setzt sie sich Meter weit weg von dem Gott an der Bar und bestellt sich ein großes Glas Wasser. Aus dem Augenwinkel bemerkt sie, dass es wohl viele Frauen auf ihn abgesehen haben, aber er ihnen nur eine Abfuhr erteilt. Ist er schwul? Oder vielleicht hat er ja eine Freundin, denkt sich Cat und zuckt nur mit den Achseln. Was für eine glückliche Olle das sein muss.

 

Das Einzige, was sie sich momentan wünscht, ist, dass er sie ja nicht bemerkt, so wie sie aussieht. Sie macht sich nichts vor, nachdem sie auf dem Klo war, hat sie sich ja im Spiegel betrachtet. Ihre Haare sind total verwuschelt, ihr supercooles Kleid hat zwei große Spritzer von Melindas blöden Martini abbekommen, sie hat ein Mörder Mundgeruch, ihr Lippenstift ist verschmiert, ihre Wimperntusche verlaufen und dass sie barfuß ist, will sie gar nicht erst ansprechen.

 

„Ich hoffe ihr habt alle Spaß!“, ruft der DJ ins Mikrofon.

 

Alle jubeln und johlen ihm zu. Irgendwo dort in der Menge muss der Rest ihrer Freunde sein, ob sie wohl genauso fertig sind wie sie, fragt Cat sich.

 

„Ich habe hier einen Geburtstagswunsch an Cathleen Havering von ihrer besten Freundin Luise“, ruft er.

 

Am liebsten würde Cat schreiend aus dem Club rennen. Schnell entscheidet sie sich einfach nicht auf die Tribüne zu sehen, muss ja keiner wissen, dass sie diese Cathleen Havering ist.

 

„Cathleen, wo bist du?“, fragt er ins Mikrofon.

 

Einfach ignorieren, sagt sie sich tausendmal und starrt ihr Wasserglas an.

 

„Hier ist sie!“, ruft irgendjemand und schon steht sie im Lampenlicht.

 

Das ist ein schlechter Scherz, denkt sie nur und blickt ins helle Licht, wobei ihre Augen anfangen wie verrückt zu blinzeln und zu tränen.

 

„Ich soll dir ausrichten: Hasi ich wünsche dir alles Liebe zum Geburtstag, auf dass das heute deine Nacht ist und wehe du nimmst heute keinen Kerl mit nach Hause!“

 

Sie zwingt sich ein Lächeln aufzusetzen und verbannt den Gedanken, dass sie hundert Blicke auf sich spürt. Herrjemine, hoffentlich schaut der Gott sie nicht an. Nach geschlagenen zehn Sekunden ist das Licht endlich weg und sie schnaubt ärgerlich aus. Das ist nicht geschehen, sagt sie zu sich selbst und blickt beschämt tief in ihr Wasserglas. Plötzlich tippt ihr jemand auf die Schulter. Völlig ausgelaugt dreht sie sich mühevoll um.

 

Er steht vor ihr. Der verdammte Gott steht vor ihr. Auf ihrem Atem ist schon längst kein Verlass, mit großen Augen schaut sie zurück, nach rechts und nach links, vielleicht hat er ihr ja nur aus Versehen auf die Schulter getippt? Bestimmt dachte er, da sitzt eine heiße Schnitte, da er sie ja nicht von vorne gesehen hat und bereut es jetzt. Als sich Cat sicher ist, dass er keine andere Frau meint und er sie auch auffordernd anblickt, blickt sie ihn fragend an. Sprechen kann sie vergessen, dass würde alles vermutlich verschlimmern und sie würde sich bis an den Rest ihres Lebens ohrfeigen.

 

„Cathleen Havering?“, fragt er höflich.

 

Mit offenem Mund blickt sie in sein wunderschönes Gesicht und verprügelt ihr Inneres Ich, dass sie sich endlich zusammenreißen und ihr letztes Häufchen Elend aufrappeln soll.

 

„Mhm“, sagt sie und lächelt ihn an.

 

Unauffällig versucht sie ihre Haare von hinten zu glätten, bleibt aber in einem Knoten hängen.

 

„Du hast heute Geburtstag, herzlichen Glückwunsch“, gratuliert er ihr und reicht ihr die Hand.

 

So ein Scheiß aber auch, dass ihre rechte Hand gerade in ihren Haaren hängt. Was zum Teufel hängt da denn drin, etwa ein Kaugummi, oder was? Mit einem Ruck zieht sie ihre klebrige Hand raus und muss mit Mühe einen Aufschrei unterdrücken, da sie einfach viel zu viele Haare rausgerissen hat. Nun wird ihr Lächeln breiter, sie lässt die Haare auf die Schnelle verschwinden und reicht ihm schließlich die Hand.

 

„Vielen Dank“, sagt sie nur, weil ihr nichts Besseres einfällt.

 

„Wie alt bist du denn geworden?“, fragt er neugierig.

 

Dämlich schaut sie ihn an, weil sie es einfach nicht verstehen kann, wieso er mit ihr redet. Vielleicht ist das ja eine Wette. Paranoid blickt sie sich um, ob man die Zwei vielleicht angestrengt beobachtet. Dann erinnert sie sich wieder an seine Frage.

 

„21 und du?“

                                      

Schnell wird ihr klar, was für eine dämliche Frage sie ihm eigentlich gestellt hat.

 

„Ich?“, fragt er nur und blickt sie verwundert an.

 

„Ja.. Nein.. Ups.. Ich meinte, wie alt bist du?“, fragt sie und könnte sich auf die Stirn schlagen.

 

Sie sieht genau, wie er sich sein Lachen unterdrücken muss, denn er blickt angestrengt auf einen Punkt und muss sich wohl zusammenreißen. Ihr Inneres Ich hat sich schon längst in das Häufchen Elend begraben.

 

„Ich bin 25 Jahre alt“, antwortet er ihr höflich lächelnd.

 

Wenigstens lacht er sie nicht öffentlich aus und kann sich noch beherrschen, denkt sie sich nur.

 

„Wie heißt du denn?“, fragt Cat etwas schüchtern.

 

„Ich heiße Joseph.“

 

Cat merkt wie aufgeregt sie wird, ihre Hände fangen nämlich an zu schwitzen.

 

„Und was machst du beruflich so, Joseph?“, fragt sie ihn.

 

Innerlich schwärmt sie für seinen Namen, irgendwie klingt er ziemlich sexy. Joseph. Joseph. Joseph. Der Name tanzt in ihrem Kopf förmlich mit dem Rhythmus der Musik.

 

„Ich bin Lehrer“, sagt er und fährt fort, „Ich unterrichte an einer Grundschule.“

 

Sie spürt, wie ihr Herz sich für ihn öffnet. Ein Grundschullehrer, ein Mann der Kinder liebt, ein Mann zum Verlieben, schwärmt sie.

 

„Und du?“, fragt er freundlich.

 

„Momentan habe ich einen Job in einem Fotostudio“, erklärt sie stolz.

 

„Das klingt wirklich interessant. Kann ich dir etwas zum Trinken spendieren?“, fragt er lächelnd.

 

Sie könnte gar nicht Nein sagen. Klar fragt sie sich immer noch, wieso er nur sie angesprochen hat. Aber in Wirklichkeit ist ihr Inneres Ich schon aus dem Häufchen hinausgeklettert und stolziert wie eine Diva auf dem Catwalk hin und her.

Während er ihr also ein Drink bestellt, schreibt sie schon Luise eine SMS: Du glaubst gar nicht, wen oder was ich hier geangelt habe. Falls wir uns heute nicht sehen, dann komm morgen sofort vorbei! Es wird viel zum erzählen geben höhöhö<3

 

„Hier bitte“, hört sie ihn sagen.

 

Sofort dreht sie sich um und nimmt den Drink an sich.

 

„Auf dich“, sagt er und zwinkert ihr zu.

 

Glücklich wie ein Honigkuchenpferd stoßt sie mit ihm an und trinkt große Schlucke aus dem Glas.

 

„Was fotografierst du denn?“, fragt er interessiert.

 

„Verschiedene Dinge wie zum Beispiel Pärchen, Babys und manchmal auch Haustiere.“

 

„Dann machst du doch auch sicherlich irgendwann ein Foto von mir, oder?“, fragt er und lächelt sie verschmitzt an.

 

Ich mache alles für dich, denkt sich Cat und ihr Blick wandert von seinem makellosen Gesicht zu seiner festen Brust und seinem Bizeps, das durch sein enges Sweatshirt zu sehen ist.

 

„Natürlich“, sagt sie und gönnt sich noch ein Schluck aus ihrem Cocktail.

 

„Ist es nicht anstrengend jeden Tag mit kleinen Kindern zu arbeiten?“, fragt sie ihn nun neugierig.

 

„Nein im Gegenteil, ich liebe Kinder, ich kann nicht genug von ihnen bekommen“, erklärt er und blickt lächelnd in sein Glas.

 

Das ist doch wirklich nicht zu fassen, denkt sich Cat. Da feiert sie ihren 21. Geburtstag und trifft auf einen gutaussehenden Mann, der Lehrer ist und Kinder liebt und das Unglaubliche kommt noch: Er scheint Interesse an ihr zu haben! Endlich könnte sich ihre Kindheitstraum erfüllen und sie trifft ihre wahre Liebe.

 

Plötzlich fängt es in Cathleens Kopf an zu drehen, die Schuld gibt sie dem Cocktail. Aus reiner Höflichkeit leert sie das Glas und blickt ihn fassungslos an, da ihr Kopf auf einmal auf stumm geschaltet ist.

 

„Du bist so scheiße heiß, ich will dich!“, lallt sie.

 

Er blickt sie kaum verwundernd an. Er weiß, dass der Cocktail und die paar Tropfen, die er ihr rein gemacht hat, sie noch mehr betrunken gemacht haben. Doch ohne es zu erwarten, zerrt Cathleen ihn am Shirt zu sich und küsst ihn. Er hat nicht damit gerechnet, dass sie ihn küsst. Trotzdem zieht er sie für die Außenstehenden näher zu sich und spielt siegessicher mit ihrer Zunge, bis sie ihr Bewusstsein durch die Tropfen verliert. Behutsam trägt er sie aus dem Club in sein Auto und fährt sie zu ihr nach Hause. Natürlich weiß Joseph, wo sie wohnt, das ist ja sein Job. Dort angekommen nimmt er sie in seine Arme, öffnet die Haustür und läuft hoch auf ihr Zimmer, um sie dort in ihr Bett zu legen. Das wird noch ziemlich witzig mit dem Mädchen, denkt sich Joseph Carter nur und sieht sich in ihrem Haus um.

 

 

Cathleens Kopf brummt gewaltig und sie ist sich sicher, dass wenn sie jetzt ihre Augen öffnet, sie sich übergeben muss. Aus diesem Grund bleibt sie lieber noch weiter in ihrem Bett liegen. Sie hat keine Ahnung, wie sie überhaupt nach Hause gekommen ist. Das Einzige, was sie noch weiß ist, dass sie einen freundlichen und dazu gutaussehenden Mann namens Joseph kennengelernt hat und er ihr ein Cocktail spendiert hat.

 

Plötzlich hört sie ein Knarren in ihrem Zimmer, das von ihrem Laminatboden kommen muss. Wer ist da? Noch bevor sie reagieren kann, wird ihr prompt die Decke weggezogen.

 

„Aufwachen Zuckerschneckchen.“

 

Wie erstarrt überlegt sie, wer das sein könnte. Die Stimme kommt ihr ein wenig bekannt vor. Sie bleibt weiterhin einfach so liegen, als würde sie schlafen und denkt fieberhaft nach, ob sie gestern noch einen Kerl mit nach Hause geschleppt hat.

 

„Ich hoffe du hast gut geschlafen, ich jedenfalls nicht. In der Nacht hast du laut gesprochen und dich wie verrückt gedreht, wie ein übergewichtetes Nilpferd. So wirst du nie einen Freund finden, meine Liebe.“

 

Verwirrt fragt sie sich, wieso dieser jemand so unhöflich zu ihr ist, was hat sie ihm denn getan? Sie ist schon längst hellwach, traut sich aber nicht ihre Augen zu öffnen. Was, wenn sie mit diesem Typen geschlafen hat und er eine totale Niete ist. Das würde sie im Leben nicht verkraften, denn es war ihre Geburtstagsnacht!

 

„Was für ein Glück du doch hast, dass ich diese undankbare und ungemütliche Sache von heute an übernehmen werde“, seufzt dieser jemand.

 

Nicht mehr aushaltend öffnet Cat böse ihre Augen und wirft das Kissen, auf das sie gerade noch lag, in die Richtung woher die Stimme kommt. Mit großen Augen sieht sie Joseph vor sich, der mit Leichtigkeit das Kissen auffängt und sie mit hochgezogenen Augenbrauen anschaut.

 

„Überraschung“, sagt er ironisch.

Geheimnis

Eine Studie hat bewiesen, dass Menschen die leicht verlegen werden, sehr vertrauenswürdig und großzügig sind

 

Es ist Samstag, elf Uhr morgens und der Regen fällt schwer vom Himmel. In einem kleinen Haus, am Rande einer Großstadt, liegt eine junge Frau namens Cathleen Havering in ihrem Bett und blickt geschockt in die Augen eines Mannes namens Joseph Carter. Dieser steht am Türrahmen und blickt ihr vergnügt und mit einem schiefen Lächeln entgegen.

 

Schnell wird Cathleen bewusst, dass sie wehrlos vor einem fremden, jungen Mann auf ihrem unschuldigen Bett liegt und kaum etwas am Körper trägt, außer ihr geliebtes „Who’s ur MOMMA?“ T-Shirt und ein Slip. Als sie auch noch der Situation geschuldet eine Gänsehaut verspürt und sich ihre Brustwarzen aufstellen, greift Cathleen beschämt zu Boden nach ihrer Decke und legt diese verlegen über ihren Körper. Räuspernd und mehrmals blinzelnd blickt sie dem fremden Mann am Türrahmen entgegen und überlegt fieberhaft, wann und wie sie hierhergekommen ist. Eins ist klar, das Kleid hat sie sich in ihrem betrunkenen Zustand unmöglich selbst ausziehen können.

 

Hat sie den Mann aus dem Club mit nach Hause genommen? Hat er mit ihr und bei ihr geschlafen? Doch wieso ist er ihr gegenüber dann so frech? Fragen über Fragen, mit keinen möchte sich Cathleen eigentlich auseinandersetzen, denn ihre Kopfschmerzen melden sich schneller, als sie gedacht hätte. Am liebsten möchte sie den Mann aus dem Haus schaffen und sich mit einer Kopfschmerztablette zurück auf ihr Kissen werfen. Sein aufmerksamer und eindringlicher Blick macht ihr aber Sorgen. Er sieht zwar zum Anbeißen aus, doch wenn man Luise glaubt, tun das Psychopathen oft. Sollte sie Angst vor ihm haben?  

 

„Joseph Carter?“, fragt sie nach ein paar Sekunden und versucht keine unsichere Stimme zu haben.

 

„Das ist mein Name“, antwortet er unbeeindruckt und mit einer geschmeidigen Stimme.

 

Er sieht ausgeschlafen und fit aus, hatte er gestern nicht mit ihr gemeinsam getrunken? Wieso gesellt sie sich gleich neben eine Kloschüssel und er sieht aus, als würde er auf dem Laufsteg von Calvin Klein mitlaufen?

 

Joseph Carter blickt der jungen Frau neugierig entgegen und versteht nicht, wieso sie ihn ansieht, als wüsste sie nicht, was er hier noch zu suchen hat. Als ihre Decke etwas herunterrutscht, gleiten seine Augen unwillkürlich auf ihr lächerliches T-Shirt. Ein Grinsen kann er sich nicht verkneifen, als er sich daran erinnert, wie sie ihn Mitten in der Nacht anflehte, ihr aus dem engen Kleid zu helfen. Sie hatte sich das Kleid zuerst selbst hochgezogen, stand mit den Armen hoch im dunklen Zimmer und wollte sich tänzelnd und unbeholfen aus dem Kleid befreien, doch ohne Erfolg. Da es so eng war, konnte sie es auch nicht mehr runterziehen. Fast wäre sie über ihre eigenen Beine gestolpert, weswegen er ihr geholfen hatte und ihr schließlich das Shirt rüberreichte.

 

Cathleen fragt sich kurz, wieso er so grinst und zieht sich mit gekräuselten Lippen die Decke wieder hoch.

 

„Sie haben also hier geschlafen?“, fragt Cat höflich, räuspert sich und versucht gelassen rüberzukommen.

 

Dabei streift sie sich eine störende Strähne hinter ihr Ohr. Als sie das Durcheinander auf ihrem Kopf betastet, weiten sich ihre Augen und sie seufzt innerlich auf. Mit gefasster Miene blickt sie den Mann entgegen und ignoriert den Gedanken, dass sie aussehen muss, wie das Mädchen aus „The Ring“.

 

„Belassen wir doch die formelle Höflichkeit“, schmunzelt er gut gelaunt und setzt sich zu ihr an die Bettkante.

 

Mit offenem Mund blickt sie ihn an und weiß einfach nicht, was sie tun soll. Sie dachte, er würde bald Anstalt machen zu gehen, doch nun sieht es eher danach aus, als würde er bleiben und ein Pläuschen führen wollen. Sie hatte zwei One-Night-Stands gehabt in ihrem Leben, in denen sie bei dem Mann übernachtet und am Morgen brav die Wohnung verlassen hatte. Wieso hält er sich nun nicht an die Regeln? Vielleicht hatten sie überhaupt kein Sex. Aber wieso ist er dann bei ihr?

 

„Haben wir…“, Cathleen schafft es gar nicht, den Satz zu Ende zu sprechen, da er sie gleich unterbricht.

 

„Keinesfalls“, entgegnet er ihr mit gerunzelter Stirn und fährt fort.

 

„Ich schlafe mit keinen Klienten. Und wenn es doch dazu gekommen wäre, hättest du es mit Sicherheit nicht vergessen“, zwinkert er ihr arrogant zu.

 

Eigentlich hätte Cathleen ihn am liebsten aufgrund seiner Hochnäsigkeit rausgeworfen, doch mit dem Wort „Klient“ hatte er sie vollkommen aus dem Konzept gebracht. Sie kann sich nicht erinnern, irgendeine Dienstleistung angenommen zu haben und zur Klientin geworden zu sein. Was könnte er damit meinen? Die Kopfschmerzen machen es Cathleen unerträglich eine Erklärung zu finden, weswegen sie angestrengt ihre Hände auf ihr Gesicht legt und tief seufzt.

 

„Was machst du dann hier, wenn wir nicht miteinander geschlafen haben? Und wieso sollte ich deine Klientin sein?“, platzt es verzweifelt aus Cathleen raus.

 

Joseph muss kurz die Stirn runzeln und fragt sich, ob die junge Frau nur ahnungslos tut oder wirklich nicht weiß, wieso sie seine Klientin ist. Sein Bauchgefühl befürchtet das Letztere, da sie sehr erschöpft aussieht.

 

„Hat dir dein Vater denn nichts gesagt?“, fragt Joseph sie nun vorsichtig.

 

„Mein Vater?“, stoßt Cathleen entgeistert aus.

 

Nun ist sie vollkommen verwirrt, sie hat das Gefühl ihr Kopf würde gegen eine Wand rennen. Was hat denn ihr Vater mit der ganzen Sache zu tun? Das alles kommt Cathleen surreal vor. Sie lernt einen jungen, attraktiven Mann kennen, der sie nach Hause begleitet, nicht mit ihr schläft, meint sie wäre seine Klientin und ihr Vater hätte mit dem Ganzen etwas zu tun. Irgendwas stinkt bei der Sache gewaltig.

 

„Ist das dein ernst?“, fragt er noch einmal schockiert.

 

Der ahnungslose Gesichtsausdruck von Cathleen beantwortet seine Frage, woraufhin er fluchend und verärgert aufsteht und das Zimmer verlässt. Er würde jetzt am liebsten ein Loch in die Wand schlagen, seine Unzufriedenheit und Wut irgendwo herauslassen. Wieso muss er diese unangenehme Sache erledigen? Es war fest vereinbart, dass Herr Havering seiner Tochter die Nachricht über seine Einstellung und Aufgaben informiert.

 

Cathleen bleibt mit gerunzelter Stirn auf dem Bett zurück und fragt sich, wieso er so verärgert ist. Wo geht er denn nun hin? Als sie nach einigen Minuten immer noch nicht hört, dass er aus der Wohnungstür raus ist, befreit sie sich kopfschüttelnd aus der Decke und steht auf. In Windeseile zieht sich Cathleen eine Leggings und ein BH unter ihrem Shirt an, um herauszufinden, was Joseph in ihrem Haus treibt. Gespannt läuft sie die Treppen runter und findet ihn in der Küche wieder. Ob er wohl immer noch verärgert ist? Die Hände ineinander verschränkt bleibt sie am Türrahmen der Küche stehen, er steht ihr dem Rücken zugewandt. Schmunzelnd resigniert Cathleen, dass Joseph ganz schön groß ist, breite Schultern besitzt und einen knackigen Po. Er sieht gut in ihrer Küche aus, doch sie schüttelt den Gedanken schnell weg und erinnert sich, dass er böse aus ihrem Zimmer geflüchtet ist. Es muss etwas damit zu tun haben, dass er irrtümlich denkt, sie wäre seine Klientin. Was ihr Vater in dem Chaos sucht, kann sie sich nicht erklären. Vielleicht hat ihr Vater ihn für etwas eingestellt, aber noch nicht bezahlt und er geht erst, wenn sie das Geld rausrückt?

 

„Gibt es etwas, das ich wissen müsste?“, fragt Cat ihn leise und vorsichtig.

 

Es ist mucksmäuschenstill in der Küche. Nur die Kuckucksuhr aus dem Wohnzimmer ist zu hören und der Regen von draußen, der gegen die Fensterscheibe prallt. Der Sommer ist weg und nun kommt der Herbst langsam angeschlichen.

 

„Jede Menge“, hört sie ihn seufzend gegen die Küchenwand sprechen.

 

Plötzlich dreht er sich zu ihr um und blickt sie mit schürzenden Lippen an. Wo soll er denn anfangen? Üblicherweise wissen seine Klienten immer, wozu er da ist. Doch sie hat niemand darüber aufgeklärt, woher soll er wissen, wie sie darauf reagieren wird? Kurz blickt er sie genauer an und merkt, dass sie nervös und unsicher ist. Ihre Hände sind fest ineinander verschränkt, als würde sie sich so Halt geben und gefasster sein. Während sie auf ihre Unterlippe kaut, blicken ihre blauen Augen aufmerksam in seine, als würde sie jede seiner Bewegung genau aufzeichnen, um herauszufinden, ob er eine Gefahr darstellt oder nicht. Joseph kann ihr Verhalten und ihre Sorge ihm gegenüber verstehen. Sie kennt ihn nicht und hat keine Ahnung, was er in ihrem Haus zu suchen hat. Doch der Gedanke ihr alles erklären zu müssen, lässt alles in ihm aufschreien. Joseph gehört nicht zu der Sorte Männer, die einfühlsam und verständnisvoll sind, jedenfalls wurde das bislang nicht oft von ihm verlangt. Er wird schnell genervt, wenn es nicht nach seinem Willen geht. Und bei Cathleen würde er seine Hand übers Feuer legen, dass sie mit der Entscheidung ihres Vaters nicht einverstanden sein wird und sie seine Vorangehensweise vermutlich boykottieren wird.

 

„Ich mache mir einen Kaffee, möchtest du auch einen?“, fragt die junge Frau ihn plötzlich und löst sich aus ihrer Starre.

 

Sie kann unmöglich eine weitere Ewigkeit darauf warten, dass Joseph mit der Wahrheit rausrückt. Ihr Kopf fühlt sich wie eine tickende Zeitbombe an, die jederzeit explodieren kann, wenn sie sich nicht schnellstmöglich eine Kopfschmerztablette einwirft.

 

„Nein, ich trinke keinen Kaffee“, lehnt Joseph ab und setzt sich an den Küchentisch, um der jungen Frau Platz am Tresen zu machen.

 

Fassungslos fragt sich Cat, wie Menschen keinen Kaffee trinken können. Während sie sich also Kaffee kocht, schnappt sie sich aus der Schublade eine Kopfschmerztablette und schluckt sie mit einem Glas Wasser schnell runter. Mit geschlossenen Augen ignoriert sie den aufmerksamen Blick von Joseph auf ihrem Rücken und hofft die Schmerzen ziehen schnell ab. Jedenfalls ist sie nun bereit sich von Joseph erzählen zu lassen, was das Ganze auf sich hat. Als der Kaffee fertig ist und sie sich die schwarze Flüssigkeit in eine Tasse füllt, spürt sie den Drang im Schrank nach einer Zigarette zu greifen. Eigentlich ist Cathleen eine klassische Gelegenheitsraucherin und raucht gerne, wenn sie Alkohol trinkt. Doch seit Neustem kann sie zu einer Zigarette nicht nein sagen, wenn sie etwas belastet oder sie wütend ist. Cathleens Gewissen sagt ihr, dass Wade ihr Verhalten nicht gutheißen würde. Also verzichtet sie auf die Zigarette und setzt sich mit der Tasse Kaffee zu Joseph an den Tisch.

 

„Also?“, fragt sie neugierig und zieht ihre perfekt gezupfte Augenbraue hoch.

 

Neugierig und aufmerksam blickt sie Joseph an und verlangt mit ihrem Blick, dass er mit der Sprache rausrückt.

                                                                                                                

„Das, was ich dir erzählen werde, wird dir vermutlich nicht gefallen“, beginnt Joseph und sieht unzufrieden aus. „Normalerweise überbringe ich solche Neuigkeiten auch nicht, das hätte dein Vater tun sollen.“

 

Cathleen runzelt die Stirn, da er wieder über ihren Vater spricht. Was hat ihr Vater wieder ausgeheckt? Sie merkt jedenfalls, dass es ihm unangenehm ist, ihr die Nachricht zu übermitteln. Was muss er ihr denn zu sagen haben, was ihr so missfallen könnte? Sie schürzt die Lippen, da es ihrem Vater ähnlich sieht, solche Neuigkeiten nicht selbst überliefern zu wollen. Er ruft Cathleen nur ungern an, das weiß sie ganz genau.

 

„Mein Job ist etwas kompliziert“, versucht er zu erklären und muss hilflos grinsen.

 

„Du bist doch Grundschullehrer“, unterbricht Cathleen ihn verwundert und fragt sich, was daran so kompliziert sein sollte.

 

„Nein“, sagt Joseph und lacht leise in sich hinein, als sie sich fast an ihrem Kaffee verschluckt.

 

Joseph Carter ist kein gewöhnlicher Mann. Sein Traum war es nie mit Kindern oder älteren Menschen zu arbeiten. Als er klein war, hatten seine Kindheitsfreunde unterschiedliche Berufsträume: Lokführer, Astronaut, Lehrer oder Pilot. Keine davon interessierte Joseph. Er hatte keinen Berufstraum und wusste auch in seiner Jugendzeit nicht, was er mit sich anfangen sollte. Aber über eine Sache war er sich immer sicher gewesen, er wollte jeden Tag seines Lebens genießen. Die Rolle eines Grundschullehrers versprach sein Wunsch jedoch nicht. Und nach einem Schicksalsschlag in seinem Leben fand er die passende Berufsrolle für sich.

 

„Aber du hast doch gestern gesagt, du arbeitest in einer Grundschule, da du es liebst mit Kindern zu arbeiten“, erklärt Cat aufgebracht.

 

„Du solltest nicht alles glauben, was dir fremde Menschen erzählen. Vor allem jetzt, wo du in Gefahr schwebst“, meint Joseph.

 

„In Gefahr?“, platzt es aus ihr heraus.

 

„Ja, hör zu“, versucht er ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. „Mein Job beinhaltet Menschen wie dich vor anderen Menschen, die draußen herumlaufen und dich töten wollen, zu beschützen.“

 

Mit großen Augen und sprachlos, offenem Mund blickt Cathleen den Mann vor sich an und fragt sich, aus welcher Irrenanstalt er geflohen sein muss. Noch nie hat sie so ein Mist gehört. Wird sie vielleicht gerade gefilmt, befindet sie sich in einer Show? Wieso sollte sie jemand töten wollen? Cathleen hat keiner Fliege etwas getan, außer dem Kater ihrer Nachbarin namens Max. Aber ihre Nachbarin würde sie deswegen doch nicht gleich tot sehen wollen, oder?


„Das klingt ja sehr spannend“, sagt Cathleen und beginnt amüsiert zu lächeln.

 

„Ach, du denkst ich scherze“, erkennt Joseph und lächelt süffisant.

 

„Ja klar!“, meint Cathleen aufgebracht und sieht ihrem Gegenüber unglaubwürdig an. „Wieso sollte man mich denn bitten umbringen wollen?“

 

„Das hätte dir dein Vater erklären sollen“, antwortet Joseph unzufrieden.

 

Wieder kommt er mit ihrem Vater, denkt sich Cathleen schlecht gelaunt und wird nun unsicher. Immerhin arbeitet ihr Vater als Waffenhändler, da könnte die Aussage von Joseph stückweit zutreffen. Doch woher soll Joseph wissen, dass ihr Vater diesen Job hat? Ihr Vater arbeitet verdeckt, niemand kennt die wahre Identität des größten Waffenhändlers der Großstadt. Außerdem leitet ihr Vater das Geschäft und nicht sie! Wieso sollte sie also in Gefahr sein?


„Nehmen wir mal an, ich bin wirklich in Gefahr“, beginnt Cathleen nachdenklich und blickt Joseph fragend an. „Dann wirst du von nun an mein Bodyguard spielen und aufpassen, dass keine Fremde in mein Haus kommen?“

 

„Nicht ganz, das wird etwas anders vonstattengehen“, verneint er ihre Annahme lächelnd und fährt fort. „Ich arbeite sozusagen verdeckt. Es weiß niemand, dass ich dafür eingestellt worden bin, dein Schütze zu sein. Um dein Schutz zu gewährleisten, werde ich von nun an vorgeben, dein Freund zu sein.“

 

Cathleen sieht Joseph kritisch, mit gerunzelter Stirn und verengten Augen an. Nun ist sich Cathleen sicher, dass das alles nur ein dummer Scherz ist. Am Anfang hätte es vielleicht noch witzig sein können und hätte er das früher aufgedeckt, hätte sie noch darüber lachen können. Doch er hat sein Witz so weit gespannt, dass sie wirklich kurz Angst hatte und dachte, sie wäre in Gefahr.

 

„Okay, ich gebe zu du hattest mich kurz“, lacht Cathleen auf und atmet erleichtert aus. „Doch bei deinem nächsten Versuch solltest du mehr Spannung in die Story aufbauen, damit sie wirklich glaubwürdig ist. Du bist jetzt lange geblieben und es war ganz nett, aber du solltest jetzt gehen.“

 

Fassungslos blickt Joseph die junge Frau vor sich an und kann es nicht fassen, dass sie denkt er würde immer noch Scherzen. Klang er denn wirklich nicht glaubwürdig? Seufzend legt er eine Hand auf seine Stirn und überlegt fieberhaft, wie er sie überzeugen kann.

 

„Hör zu“, beginnt er und blickt sie ernst an. „Ich mache keine Scherze, wenn es um ein geplantes Attentat geht.“

 

Cathleen muss zugeben, dass seine ernste Miene ihr eine leichte Gänsehaut hinterlässt. Wieso hört er denn nicht endlich auf, nachdem sie ihn erwischt hat?

 

„Du hörst also nicht auf“, nickt Cathleen erschöpft. „Na gut, wie soll das denn mit uns beiden aussehen? Draußen spielst du mein Freund und hier im Haus gehst du mir dann ab und zu an die Wäsche, um neben meinem Mörder auch die guten Geister von unserer Beziehung zu überzeugen?“

 

„Ich will dir nicht an die Wäsche gehen“, zischt Joseph ihr zu und merkt, dass er langsam die Geduld verliert. „Du schwebst in Lebensgefahr. Ein Mörder ist hinter dir her und will dich tot sehen. Er denkt noch, dass dein Vater seine Drohung nicht ernst nimmt, weswegen du noch eine leichte Beute für ihn bist und das soll er auch weiterhin denken. Wenn der Mörder weiß, dass dein Vater mich eingestellt hat, um dich zu beschützen, wird er andere Wege finden, um an dich ranzukommen und es wird komplizierter. Hegt er aber keinen Verdacht und spielen wir die Beziehung vor deinen Freunden und Kollegen glaubwürdig, kann ich ihn unauffällig ausfindig machen und ihn zuerst kriegen, bevor er dich zu fassen bekommt.“  

 

„Das ist doch Schwachsinn“, entgegnet Cathleen verärgert.

 

Ihr ist nicht mehr zu Scherzen, da seine Aussagen nun glaubwürdiger klingen als noch vor ein paar Minuten und das liegt nur an ihren Vater. Wäre Jospeh nicht mit ihrem Vater aus der Ecke gekommen, hätte sie ihn schon zu Beginn seiner Erzählung rausgeschmissen. Doch es lässt sie nicht in Ruhe, dass die Geschichte ein Stück Wahrheit beinhalten könnte. So unwahrscheinlich sieht es Cathleen nicht, dass ein Kunde ihres Vaters unzufrieden ist und anstatt ihn, seine Tochter umbringen möchte. Schließlich ist es ihrer Mutter vor dreizehn Jahren nicht anders ergangen.

 

„Wenn du mir immer noch nicht glaubst, dann ruf deinen Vater an“, entgegnet Joseph ihr und verdreht die Augen.

 

Besorgt blickt sie Joseph an und beginnt nachdenklich auf ihren Lippen zu kauen. Er legt es drauf an, dass sie ihren Vater anruft und fragt, ob die Geschichte wahr ist. Wenn er ihr die Option selbst vorschlägt, bedeutet es, dass er nichts zu verlieren hat. Cathleen ruft ihren Vater selten an, nur in Notfällen. Aber wenn sie sichergehen möchte, ob wirklich ein Mörder hinter ihr her ist, wird sie ihn anrufen müssen.

 

„Na schön“, sagt Cathleen und erhebt sich drohend vom Tisch.

 

Sie hatte gehofft, er würde sie aufhalten, doch er sitzt nur schulterzuckend da und zeichnet mit seinem Finger ungeduldig Kreise auf den Tisch. Joseph ärgert sich kurz, warum er den Vorschlag nicht schon von Vornherein gemacht hat. Mit pochendem Herzen verlässt Cathleen die Küche und nimmt im Wohnzimmer das Telefon in die Hand. Cathleen ist nicht sicher, weswegen sie aufgeregt ist. Entweder, weil sie das Gefühl hat, gleich eine unangenehme Nachricht zu erhalten, oder die Stimme ihres Vaters wiederzuhören. Auf die Schnelle fällt Cathleen auch nicht ein, wann sie das letzte Mal mit ihm gesprochen oder ihn gar gesehen hat. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie sich sehnlichst gewünscht, dass er Zeit mit ihr verbringt und sie gemeinsam trauern können. Doch er zog sich einfach zurück und ließ Cat im Stich. Sie wird ihm nie verzeihen können, dass er seine achtjährige Tochter allein gelassen und sie mit einer Nanny vertröstet hat. Es hat Jahre gebraucht, bis ihr Vater ihr gleichgültig wurde. Trotzdem fühlt sie ein Stich im Herzen beim Gedanken, ihn gleich zu hören. Wie in Trance geben ihre Finger die Nummer ihres Vaters im Telefon ein.

 

„Don Havering“, spricht er, nachdem er das Telefon abgehoben hat.

 

Kurz atmet Cathleen erschrocken auf, als sie seine Stimme hört. Cathleen dachte, die Stimme würde ihr nach der langen Zeit fremd sein. Doch enttäuscht stellt sie fest, dass sie den Klang selbst nach einer Ewigkeit sofort wiedererkennen würde. Die tiefe, strenge Stimme ihres Vaters lässt ihre Wut aus den letzten Jahren hochkommen, weswegen sie auf ein nettes Pläuschen verzichtet und gleich auf den Punkt kommt.

 

„Wieso sitzt ein fremder Mann in meiner Küche und gibt an, zu meinem Schutz hier zu sein?“, fragt sie zischend ins Telefon und starrt böse zu Boden.

 

„Cathleen?“, fragt ihr Vater unglaubwürdig und verwundert. „Bist du es wirklich?“

 

„Leider ja“, antwortet sie kurz. „Und jetzt beantworte mir meine Frage. Hast du etwas damit zu tun?“

 

Sie hofft, dass das alles ein schlechter Traum ist. Dass sie gestern zu viel getrunken hat und sich das nun alles einbildet. Cathleen wünscht sich, ihr Vater wüsste nichts davon, dass sie in Gefahr ist und hätte auch niemand zu ihrem Schutz engagiert. Und wenn er schon dabei ist, könnte er sich gleich für sein Verhalten in den letzten Jahren entschuldigen und versprechen, dass er sich ändern und das Verhältnis zu ihr wiederaufbauen möchte.

 

„Ich habe gestern versucht dich telefonisch zu erreichen und wollte es dir persönlich sagen“, bejaht er ihre Befürchtung und klingt, als würde er sich aus seiner Schuld rauswaschen wollen.

 

Cathleen braucht mehrere Sekunden, um seine Worte zu verinnerlichen und zu verstehen. Es stimmt also alles. Diese tollkühne Geschichte von Joseph war kein Schwindel. Nach dieser Erkenntnis kann Cathleen ein Aufschrei nicht verhindern. Am liebsten würde sie das Telefon gegen die Wand schmeißen. Doch zitternd vor Wut hält sie das Telefon weiter in der Hand, da sie noch nicht fertig mit ihrem Vater ist.

 

„Persönlich“, hängt sie sich an einem Wort ihres Vaters auf und muss empört auflachen. „Du wolltest mir so eine Nachricht über das Telefon weitergeben? Das nennst du persönlich?“

 

„Ich bin schwer beschäftigt“, verteidigt er sich und räuspert sich. „Außerdem wusste ich auch noch nicht solange davon. Es musste alles schnell gehen und ich konnte dich ja gestern nicht am Telefon erreichen.“

 

„Du stellst einen fremden Mann ein, der mir in Zukunft auf Schritt und Tritt folgen wird, um mich vor einem unglücklichen Kunden von dir zu beschützen?“, geht sie sicher und ringt nach Luft.

 

Der Gedanke, dass nun wieder ein Mann mit ihr zusammenleben soll, um auf sie aufzupassen, macht sie tierisch wütend. Wade war großartig, das will sie gar nicht abstreiten. Doch es war vereinbart, dass Cathleen ab dem 21. Lebensjahr eine freie Frau ist und um sich selbst sorgt. Nun stellt ihr Vater, ohne ihr Wissen, wieder ein Mann für sie ein, der auch noch sehr kreative Ideen hat, um sie zu schützen. Sie kann es nicht fassen. Wie sie es dreht und wendet, sie sieht nichts Positives darin und würde ihren Vater am liebsten auf den Mond schießen. Am besten mit dem unzufriedenen Kunden, damit dieser sein Frust nicht an ihr, sondern an dem Schuldigen rauslässt!

 

„Es blieb mir nichts anderes übrig“, wehrt sich Herr Havering.

 

„Wie kannst du es wagen“, haucht sie ins Telefon, ihre Stimme ist vor Wut ganz heiser geworden. „Ich bin 21 Jahre alt und kann auf mich selbst aufpassen. Du hättest das gefälligst mit mir absprechen müssen. Welches Recht nimmst du dir, das für mich zu entscheiden?“

 

Es bleibt einige Sekunden still auf der anderen Leitung, ehe Herr Havering sich mit zittriger Stimme meldet.

 

„Der Mörder deiner Mutter hat mir gedroht dich umzubringen“, seufzt er.

 

Sofort klappt sich Cathleens Mund zu und sie erstarrt zu Eis. Ihre Augen starren weit geöffnet nach draußen und ihr Kopf ist wie leergefegt. Sie sieht zwar, wie bewölkt es draußen ist und der Regen unwiderruflich gegen die Scheibe peitscht, doch das kommt nicht in ihrem Kopf an. Der Satz ihres Vaters wiederholt sich in ihrem Kopf, es schreit, es flüstert, es singt, es lacht. Sie kann an nichts anderes denken, sie hört ihn immer dasselbe sagen. Und zwar, dass der Mörder ihrer Mutter hinter ihr her ist. Cathleen weiß nicht, wie lange sie sprachlos dasteht. Irgendwann wiederholt die Stimme in ihrem Kopf so klar die Worte ihres Vaters, dass sie erschreckt aufwacht. Ihre Finger lassen unkontrolliert das Telefon fallen und fassen ihr sofort an den Hals. Cathleen hat das Gefühl nicht mehr atmen zu können, als hätte man ihr die Luftröhre zugeschnürt. Sie ringt panisch nach Atem, doch die Luft reicht ihr nicht aus. Ihr wird schwindelig, ihre Beine werden schwach und sie gleitet zu Boden.

 

Joseph saß während dem Gespräch zwischen Cathleen und ihrem Vater die ganze Zeit still in der Küche. Er war erleichtert, dass sie ihren Vater anrief und er sie nicht weiter überzeugen musste. Doch als er das Gespräch zwischen den Beiden mitbekam, bedauerte er es sogleich. Joseph hätte nicht gedacht, dass Cathleen so eine schlechte Beziehung zu ihrem Vater hat. Er hatte erwartet, dass sie „Daddy’s Princess“ ist und er ihr alle Wünsche von den Lippen ablesen kann. Doch das Gespräch zwischen ihnen hatte nichts Liebenswürdiges, sondern war kalt wie die Antarktis. Es lag so viel Wut in ihren Worten, dass er sich fragte, was zwischen ihnen vorgefallen musste, dass sie ihren Vater hasst. Joseph lernte Herrn Havering nur am Telefon kennen, als er ihn für den Job engagierte. In dem Telefonat klang Herr Havering zwar reserviert und kühl, doch er war nicht unhöflich. Da er den Auftrag sehr spontan erhielt, bekam er von Herrn Havering erst die nötigsten Details über den Mörder und minimale Informationen über Cathleen. Er hatte vor mit seinem Auftraggeber die nächsten Tage zu sprechen und mehr herauszufinden.

 

Als es im Haus plötzlich verdächtig leise ist und Joseph merkt, dass Cathleen schon lange nichts mehr gesagt hat, hört Joseph kritisch auf. Erst als er hört, dass ein Gegenstand zu Boden fliegt und kurz darauf ein dumpfer Aufprall ertönt, steht er in Windeseile auf. Wie befürchtet, findet er Cathleen auf dem Boden sitzen und panisch nach Luft ringen. Solch eine Panikattacke ist nicht neu für Joseph, das hatte er in der Army oft genug sehen müssen, weswegen er genau weiß, was zu tun ist.

 

„Cathleen, hey, hörst du mich?“, fragt Joseph mit ruhiger Stimme.

 

Joseph hat sich vor sie gesetzt und hält ihr Kopf zu ihm gedreht, damit sie ihn ungehindert ansehen muss. Sie sieht verloren aus, ihre Augen sind verzweifelt geweitet und er sieht die Angst förmlich auf ihrer Stirn geschrieben. Ihr Vater muss ihr irgendwas gesagt haben, dass sie dermaßen schockiert und Angst bereitet hat, dass sie ein Anfall erlitt.

 

„Es ist alles gut“, spricht Joseph zu ihr und sucht den Augenkontakt zu ihr.

 

„Dir wird es gleich wieder besser gehen, das verspreche ich dir, es wird alles gut“, versichert ihr Joseph, als sie ihm in die Augen blickt.

 

Seine Hände lassen ihre glühenden Wangen los und greifen nach ihren Händen. In jeder Hand hält er jeweils einen Unterarm, sodass er ihren Puls spüren kann, welcher in Lichtgeschwindigkeit rast.

 

„Ich will jetzt, dass du auf meine Atmung achtest und versuchst es mir nachzumachen“, erklärt ihr Joseph und seine Stimme klingt immer noch ruhig, verständnisvoll, aber auch drängend.

 

Sodann beginnt Joseph laut zu atmen und bricht den Augenkontakt zu ihr nicht ab. Es dauert einige Sekunden, bis Cathleen seine Anweisung folgt. Nach etwa zehn Minuten hat Cathleen es geschafft, ihre Atmung seiner anzupassen. Beide atmen weiterhin laut ein und aus und blicken sich ruhig an. Cathleen fühlt sich nun wieder ruhig, ihr Herz schmerzt nicht und sie hat nicht mehr das Gefühl, zu ersticken.

 

„Geht es dir wieder besser?“, fragt er sichergehend, auch wenn ihr Puls unter seinen Fingern wieder gleichmäßig und langsam verläuft.

 

Cathleen fehlen die Worte, ihr Hals fühlt sich noch trocken an um zu sprechen, weswegen sie ihm langsam zunickt. Sie ist unfassbar müde und wünscht sich neben einem Glas Wasser noch eine gute Portion Schlaf.

 

„Was dir dein Vater gesagt hat, muss dich verängstigt haben. Dir wird aber nichts passieren, solange ich bei dir bin, okay?“, fragt Joseph, um sich zu vergewissern, dass es ihr besser geht.

 

Cathleen kann nicht erklären, was auf einmal mit ihr los war. Die Erkenntnis, dass der Mörder ihrer Mutter da draußen herumläuft und nun nach ihr sucht, macht sie so wütend und ängstlich sogleich, dass sie mit diesen Gefühlen nicht mehr umgehen konnte. Sie hat Angst, sogar schreckliche Angst, aber sie würde auch im selben Moment nach draußen rennen und schreien „Wo bist du, du Feigling? Komm raus und zeig dich“, damit sie dem erbärmlichen Mann in die Augen sehen könnte. Das Gefühl ist ihr fremd und sie ist sich nicht sicher, ob die Gier nach Rache gut für ihre Seele ist. Den Tod ihrer Mutter hat sie verdaut, aber das hat viel zu viel Zeit beansprucht. Und nun kommt alles Stück für Stück qualvoll wieder zurück. Während Cathleen in die warmen, braunen Augen von Joseph sieht, erkennt sie in ihnen das erste Mal Vertrauen und Sicherheit. Er wirkt sicher in seinem Verhalten, hat eine starke Haltung und ist gleichzeitig einfühlsam. Zu seinem Vorteil muss Cathleen zugeben, dass er ihr gerade sehr geholfen hat und sie ihm wohl eine Chance geben muss.

 

„Okay, ich glaube dir nun“, murmelt sie und sieht ihn genauer an. „Dann kannst du dich ja nun richtig vorstellen.“

 

„Was meinst du?“, fragt Joseph und runzelt seine Stirn. „Ich habe mich doch schon vorgestellt.“

 

„Nun, ich möchte natürlich mehr wissen“, antwortet Cat und schüttelt verdattert den Kopf. „Wo kommst du her? Wo wurdest du geboren? Hast du Geschwister? Wie kam es dazu, dass du dich für so einen Job entschieden hast?“

 

Joseph zuckt auf ihre Fragen förmlich zusammen und weitet mit einem Mal den Abstand zu ihr, als könne er den Fragen somit ausweichen. Perplex sieht Cathleen ihm dabei zu, wie er sich vom Boden erhebt und hat natürlich sofort verstanden, dass er sich ihr zurückzieht. Könnte er ihre Fragen vielleicht falsch aufgefasst haben, fragt sich Cat.

 

„Ich frage das, weil es mir prinzipiell um Vertrauen geht“, erklärt Cathleen ehrlich und fasst sich ans Herz. „Es gehört schon mehr dazu einem fremden Mann vertrauen zu können, als nur seinen Namen zu kennen.“

 

Ganz gewiss ist das neu für Joseph. Seine Klienten hatten noch nie vom ihm verlangt, über sein Privatleben zu sprechen. Sie hielten einen großen Bogen um Josephs Leben und das fand er bislang auch gut. Das Private und die Arbeit sollten nicht miteinander vermischt werden. Immerhin ist sein Job lebensgefährlich und Cathleen könnte sterben, wenn Joe nicht all seine Aufmerksamkeit auf die Suche nach dem Mörder und Cat keine Mühe in das falsche Bild ihrer Beziehung stecken würden. Da bleibt keine Zeit sich über seine Herkunft zu unterhalten.

 

„Mein Job beinhaltet es nicht, dir von meinem Privatleben zu erzählen“, beteuert er vorsichtig und fährt fort. „Alles, was du wissen musst, ist mein Name und dass ich dich beschützen werde.“

 

Um sie davon abzuhalten weiter auf das Thema herumzuhacken, greift Joseph ungezwungen nach ihren Händen und zieht sie mit einem festen Ruck auf ihre Beine.

 

„Du solltest jetzt etwas essen, deine Freundin wird bald kommen und bis dahin müssen wir noch über einige Dinge sprechen“, erklärt er, während er Cathleen in die Küche zieht.

 

Eigentlich hätte Cathleen weiter auf das Thema Vertrauen beharrt, wenn er nicht plötzlich Luise angesprochen hätte. Sie erinnert sich noch dunkel dran, dass sie Luise gestern Nacht geschrieben hatte, dass sie morgens vorbeikommen soll. Doch woher weiß Joseph davon?

 

„Ich habe keinen Hunger“, erklärt Cathleen, nachdem Joseph sie vor dem offenen Kühlschrank gestellt hat.

 

Der Blick auf das Gemüse und den Eiern im Kühlschrank, lässt ihr die Cocktails von gestern Nach fast hochkommen. Also schließt sie schnell den Kühlschrank und schenkt sich lieber ein Glas Wasser aus dem Leitungshahn ein.

 

„Du hast noch gar nichts gegessen“, meint Joseph ernst und setzt sich an den Küchentisch. „Gegen einen Kater hilft oftmals fettiges Essen.“

 

„Wenn du noch weiter über fettiges Essen sprichst, übergebe ich mich gleich hier auf der Stelle“, droht sie ihm zischend.

 

Sie weiß genau, was ihr jetzt helfen würde. Also öffnet sie den Küchenschrank an der Wand, stellt sich auf Zehenspitzen und greift nach der Zigarettenpackung, die zwischen Töpfen versteckt ist. Seufzend und gähnend läuft sie zum Küchenfenster und öffnet dieses. Als die frische Luft an ihr vorbeiweht, zündet Cathleen die Zigarette an, inhaliert den Rauch in ihre Lunge und schließt kurz friedlich ihre Augen. Nach dem ganzen Stress mit ihrem Vater und der grausamen Neuigkeit, hat sie sich die Zigarette verdient.

 

„Drück die Zigarette aus“, hört Cathleen Joseph plötzlich streng sagen.

 

Verwundert über die Bestimmtheit in seiner Stimme dreht sich Cathleen zu ihm. Joseph sitzt nach wie vor locker vor dem Küchentisch und lehnt sein Arm lässig an der Stuhllehne an. Wäre sein Mund nicht streng zu einem Strich gezogen, hätte sie glatt gedacht, er würde scherzen.

 

„Ich soll, was?“, fragt sie perplex über seinen Befehl und zieht gekonnt eine Augenbraue hoch.

 

Sofort kommt Cathleen wieder der Gedanke hoch, dass sie gestern ihren Leibwächter loswurde und heute wieder einen bekommen hat. Hört das Theater in ihrem Leben denn nie auf? Befehle hier, Regeln da, Grenzen überall. Sie war gestern todunglücklich, dass Wade gegangen ist, doch gleichzeitig fühlte sie sich auch frei mal das tun zu können, worauf sie Lust hatte. Ohne, dass ihr jemand es untersagt oder in ihr Gewissen einredet. Und nun sitzt ein Mister Neunmalklug vor ihr, bestellt von ihrem Versager von Vater, der beginnt ihr Befehle zu erteilen. Aber nicht mit Cathleen. Diese knirscht, bereit für ein Kampf mit ihren Zähnen und blickt Joseph herausfordernd an. Es scheint, als müsse sie ihm nun klar machen, wer hier die Hosen anhat.

 

„Du sollst deine Zigarette ausdrücken“, wiederholt er entschlossen mit einer ruhigen Stimme und blickt nicht von ihr weg.

 

„Und wieso sollte ich das tun?“, fragt Cathleen und blinzelt mehrmals.

 

„In meiner Gegenwart wird weder getrunken noch geraucht“, erklärt er und erhebt sich vom Stuhl.

 

Cathleen achtet auf jede seiner Bewegung und ist froh, dass er sich ihr nicht nähert. Er lehnt sich erwartungsvoll mit verschränkten Armen an der Tischkante an. Geduldig wartet Joseph darauf, dass die junge Frau ihre Zigarette ausdrückt. Doch schon nachdem er ihre gefährlich aufblitzenden Augen gesehen hatte, wusste er, dass dies wohl ein schwieriges Spiel sein wird. Ihm wird schneller als gedacht bewusst, dass Cathleen ihm nicht leicht gehorchen wird und er lange daran feilen werden muss.

 

„Das ist eine unrealistische Regel“, merkt Cathleen und lacht leise in sich hinein. „Was passiert, wenn ich mich nicht daranhalte?“

 

„Dann folgen unangenehme Konsequenzen“, antwortet Joseph, ohne zu zögern und neigt sein Kopf leicht zur Seite.

 

Als ob, denkt sich Cathleen nur und ist bereit dem Neuling eine Lektion zu erteilen. Die Zeiten der Befehle sind vorbei, niemand soll ihr jetzt noch etwas vorschreiben. Nun folgt eine neue Ära. Schmunzelnd löst sich vom Fenster und läuft mit leichten Schritten zu Joseph, die Zigarette immer noch zwischen den Fingern. Als nur noch eine Armlänge zwischen den Beiden liegt, bleibt Cathleen trotzig stehen und inhaliert einen kräftigen Zug. Joseph hebt gefährlich eine Augenbraue hoch und hat schon eine Ahnung, was sie vorhat.

 

„Das wagt du nicht“, knurrt er.

 

Doch dann ist es schon zu spät. Cat bläst den Rauch frech in sein Gesicht und blickt ihn provozierend an.

 

„Hier wohne immer noch ich, heißt ich stelle die Regeln auf“, sagt sie belehrend und grinst ihn dann überlegen an. „Wenn dich das stören sollte, kannst du ja gerne mein Daddy anrufen und es mit ihm klären.“

 

Fast hätte Cathleen gedacht, dass sie das Spiel gewonnen hat. Würde er sie doch nur nicht so selbstsicher ansehen.

 

„Ich bitte dich“, pfeift er und grinst sie ebenfalls an.  

 

Plötzlich liegt die Zigarette nicht mehr zwischen Cathleens Finger, sondern unter Josephs Schuhsohlen. Mit einer Leichtigkeit und Schnelligkeit hat er nach ihren Händen geschnappt, Cathleen gegen den Tisch gedrückt und danach ihre Arme hinter ihr Rücken gelegt. Für Cathleen geht alles so schnell, dass sie nur verwundert aufschnappt. Sprachlos und empört steht sie mit offenem Mund da und ärgert sich über den harten Griff um ihre Hände. Doch der Ärger verschwindet in Sekundenschnelle, als ihr bewusst wird, dass Joseph direkt hinter ihr steht und sie sein Atem in ihrem Nacken spürt.

 

„Ich bevorzuge es solche Dinge selbst zu klären, meine Liebe“, haucht Joseph ihr ins Ohr.

 

Cathleen könnte sich selbst eine Ohrfeige dafür verpassen, dass sie daraufhin ein erregendes Gefühl zwischen ihren Beinen spürt. Ihr Atem verläuft unregelmäßig und sie kann kaum nachvollziehen, wieso es ihr so gefällt, dass er sich ihr widersetzt.

 

„Es wird jetzt folgendermaßen ablaufen“, er spricht absichtlich langsam, um ihre Befangenheit in der Situation in die Länge zu ziehen. „Wenn ich dich loslasse, wirfst du die Schachtel ohne Widerrede in den Müll und du wirst es auch nicht wagen eine weitere zu kaufen. Haben wir uns in diesem Punkt verstanden?“

 

Diese unterdrückende Drohung in seiner Stimme macht Cathleen wahnsinnig. Klar, er sieht heiß aus und hält sie fest in seinen starken Händen. Dennoch hätte sie ihm schon längst gezeigt, wie der Hase läuft, wenn sie sich nicht in so einer verletzlichen Position befinden würde.

 

„Hmpf“, schnauft Cathleen minder beeindruckt.

 

„Oh, ich verstehe“, bestätigt er. „Du gehörst wohl zu der Sorte Menschen, die etwas mehr Zeit brauchen, um über gewisse Dinge nachzudenken.“

 

Mit einem Mal presst sich Joseph dicht an Cathleen ran, sodass sie seinen warmen Körper am Rücken spüren kann. Mit seinem Kopf wandert er von ihrem rechten Ohr zu ihrem linken und streift leicht seine Nasenspitze an ihren Hals. Ihr ganzer Körper beginnt daraufhin zu prickeln. Himmel, was macht der Kerl da, denkt Cat sich nur und muss sich zwingen ihr Atem unter Kontrolle zu halten.

 

„Wie Schade nur, dass ich so ungeduldig bin“, seufzt er gespielt und schon liegen seine weichen Lippen an ihrer Hauptschlagader.

 

In dem Moment schnappt Cathleen hörbar nach Luft und muss sich ein Seufzen unterdrücken. Er hat ihre intimste Stelle getroffen, als hätte er diese schon immer gekannt. Doch damit hört es nicht auf. Immer abwechselnd hinterlässt Joseph an ihrem Hals einen leichten Kuss oder beißt leicht rein. Gerade bei Letzterem dreht sie ihren Kopf hin und her vor Staunen, sie kann sich kaum halten. Während den Küssen am Hals fahren seine Finger langsam ihre Leggings entlang, bis er unten ankommt, genau an ihre Mitte. Er macht nicht viel mit seinen Fingern, das würde Cathleen sonst vollkommen fertig machen. Er fährt nur regelrecht ihre Leggings von oben bis unten entlang und verweilt in ihrer Mitte länger mit einem gewissen fordernden Druck.

 

Cathleen weiß nicht, was sie denken, noch was sie tun soll. Sie ist hin und hergerissen zwischen Joseph wegzuschieben und anzubrüllen, oder sich zu ihm zudrehen und mehr zu bekommen. Alle Gedanken von heute Morgen hat sie weit verdrängt, in ihr brennt nur das Verlangen nach mehr. Sie hat selbst vergessen, wie es zu dieser Situation gekommen ist. Joseph hingegen ist vollkommen bewusst, was er gerade tut und, dass er zu weit gegangen ist. Er weiß genau, dass es tabu ist mit seinen Klienten sexuell Kontakt zu haben. Doch er nickt das Verhalten weg, da er sie lediglich anzüglich berührt und das noch lange nicht heißt, dass sie Sex haben. Sein Gewissen rät ihm aufzuhören, doch es macht ihm Spaß der jungen Frau zuzusehen, wie sie sich anhand seiner Berührungen windet und mehr möchte. Als er spürt, dass sie kurz davor ist mehr zu wollen, erinnert er sich, warum er damit begonnen hat und zieht seine Hand mit einem Ruck von ihrem Bein weg. Stattdessen legt er seine Hände um ihre Hüfte, um sie entschlossen zu sich umzudrehen. Als sie sich Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, Cathleen mit geröteten Wangen, Joseph mit aufforderndem Blick, ist die erregende Atmosphäre dahin und beiden wird bewusst, was gerade vonstattengegangen ist.

 

„Also, was wirst du jetzt tun?“, fragt Joseph erwartungsvoll und lehnt seine Hände an der Tischkante an, sodass Cathleen wegen seinen Armen gefangen ist und nicht weggehen kann.

 

„Wegschmeißen“, haucht Cathleen immer noch sprachlos.

 

Zufrieden mit der Antwort tritt Joseph von beiseite und nickt ihr zustimmend zu. Cathleen ist von einer Sekunde zur nächste auf hundertachtzig. Ihr fehlen immer noch die Worte und sie würde ihm am liebsten an die Gurgel gehen. Doch sie läuft mit bestimmten Schritten zur Fensterbank, schnappt nach der Packung und schmeißt es im Anschluss volle Kanne in die Tonne.

 

„Arschloch“, mault sie böse hinterher und verlässt peinlich berührt die Küche, ohne ihn dabei anzusehen.

 

Cathleen fühlt sich so beschämt, dass ihre Wangen regelrecht glühen und sie das Blut durch ihre Ohren rauschen hören kann. Sie tappt so hastig auf die Treppen, dass sie auf einer Stufe fast ausgerutscht wäre, hätte sie sich nicht rechtzeitig am Geländer festgehalten. In einer Blitzgeschwindigkeit hat sie ihr Zimmer erreicht und knallt die Tür hinter ihr wütend zu. Völlig sprachlos setzt sie sich auf ihr Bett, zieht sich die Knie an den Bauch und versteckt ihren Kopf zwischen ihre Beine. Das hält höchstens zehn Sekunden, denn wird Cathleen hibbelig, kann nicht ruhig sitzen und erhebt sich wieder vom Bett. Sie läuft ganze fünf Minuten in ihrem Zimmer hin und her und denkt über das Geschehnis nach. Sie weiß ganz genau, was da gerade abgelaufen ist! Er hat ihre Schwäche ausgenutzt, um sein Wunsch zu bekommen und das Schlimmste ist, sie hat es nicht verhindern können. Bei dem Gedanken, wie weich und warm sich seine Lippen an ihrem Hals angefühlt haben, wird sie schlagartig rot. Und auch die Erinnerung an seine Hand, die ständig ihr Bein bis in ihre Mitte entlanggewandert ist, lässt sie sehnsuchtsvoll aufseufzen. Schnell schüttelt sie den Gedanken weg und zwickt sich widerspenstig in den Arm, um aus ihrer Träumerei aufzuwachen. Sie hätte sich wehren sollen. Jetzt weiß er nämlich, dass wenn er etwa erreichen will, sie nur unsittlich zu berühren braucht. Was er wohl über sie denken muss, fragt sich Cathleen und schlägt sich seufzend gegen die Stirn. Kaum steht ein attraktiver Mann vor ihr, ist sie einfach zu haben. Vorwurfsvoll stellt Cat sich vor den Spiegel, atmet tief ein und reckt ihr Kinn hoch. Bei seinem nächsten Versuch wird sie Joseph zeigen, aus welchem Holz sie geschnitzt ist. Doch nun wird es Zeit, sich mit dem richtigen Problem auseinanderzusetzen. Sie darf nicht vergessen, dass Joseph von ihrem Vater eingestellt wurde, um sie vor dem Mörder ihrer Mutter zu beschützen. Das sollte ihr durch den Kopf gehen und nicht seine Lippen auf ihrem Hals.

 

Nachdenklich setzt sie sich wieder auf ihr Bett und beginnt auf ihrer Lippe zu kauen. Sie hat sich beruhigen können und das Geschehnis in der Küche in ihren Gedanken an letzte Stelle platziert, denn darüber wird sie sich später wieder Gedanken machen. Sie konzentriert sich lieber auf das aktuelle Problem. Um dem Mörder ihrer Mutter einige Schritte zuvor zu sein, soll dieser glauben, dass Joseph ihr Freund ist. In dieser Position kann er ungehalten Ausschau nach dem Mörder halten und leichter auf Cathleen aufpassen. Dafür wurde Joseph von ihrem Vater eingestellt. Da es sich um den Mörder ihrer Mutter handelt, will sie es nicht riskieren, von ihm schneller gefasst zu werden als von der Polizei. Joseph würde verdeckt ermitteln und gleichzeitig für ihre Sicherheit sorgen. Alles, was Cathleen dafür beitragen muss, ist für Außenstehende eine glaubhafte Liebesbeziehung zu Joseph zu spielen. Also schluckt Cathleen den Ärger von vorhin herunter und beißt ihre Zähne zusammen. Sie beschließt sich nicht weiterhin, wie ein kleines Kind in ihrem Zimmer zu verstecken, sondern sich dem Drachen zu stellen. Also verlässt sie ihr Zimmer, läuft würdevoll die Treppen hinunter und bleibt mitten auf den Treppenstufen stehen, da sie Joseph in der Küche mit jemand sprechen hört.

 

„So war das nicht abgemacht“, zischt Joseph gereizt in das Telefon.

 

Gleich, nachdem Cathleen auf ihr Zimmer gerannt ist, hat er das Telefon in die Hand genommen und die Nummer von Herrn Havering gewählt. Seinem Arbeitgeber und Cathleens Vater sogleich. Joseph ist verärgert darüber, dass Herr Havering seine eigene Tochter nicht vorgewarnt hat, bevor Joseph Cat kennengelernt hat. Nun musste sie über ihn herausfinden, dass ein Mörder hinter ihr her ist. Natürlich war sie aufgebracht deswegen und hat ihm erst einmal kein Glauben geschenkt. Joseph kann sich nicht vorstellen, was Cathleen durch den Kopf gegangen ist, als ihr Vater die Nachricht über das Telefon überbracht hat. Die Panikattacke war für Joseph mehr als schlüssig.

 

„Hören Sie auf sich zu beschweren, die Welt ist schon nicht davon untergegangen, dass Sie ihr nun die Nachricht überbracht haben“, verteidigt Don grantig und ätzend.

 

„Sie haben keine Ahnung“, antwortet Joseph kühl und zuckt schließlich mit den Schultern.

 

Die Beziehung zwischen Vater und Tochter ist auf jeden Fall angespannt, davon konnte sich Joseph bereits ein Bild machen. Was der Grund dafür ist, weiß er nicht und er möchte es auch nicht wissen. Sein Job lautet Cathleen zu beschützen und den Mörder zu fassen.

 

„Ich melde mich“, verabschiedet sich Joseph kurz und legt auf, ehe Herr Haverings etwas sagen kann.

 

Ein Blick auf die Küchenuhr reicht für Joseph aus, um zu erkennen, dass Cathleens Freundin bald kommen müsste. Gestern Nacht lud Cathleen ihre Freundin Luise per SMS zu sich nach Hause ein. Luise hatte ihr heute Morgen, als Cathleen noch schlief, zurückgeschrieben, dass sie erst ausschlafen müsse, aber mittags vorbeikommen würde. Es ist bereits zwei Uhr Mittag und Luise müsste jederzeit an der Tür klingeln.  

 

Cathleen steht nach dem Telefonat immer noch auf der Treppe und weiß genau, dass Joseph mit ihrem Vater gesprochen hat. Sie schwört sich ihrem Vater noch mehr aus dem Weg zu gehen, als sie sonst schon tut. Hätte er ihr von vornherein erzählt, was vorgefallen war und, was er zu ihrem Schutz vorhatte, wäre das alles kein Problem für Cathleen gewesen. Doch er hat wieder mal bewiesen, dass Cathleen ihm nicht wichtig genug war den Aufwand zu tätigen, sie zu besuchen und mit ihr persönlich zu sprechen. Sie schluckt den Ärger und den Kloß im Hals herunter und läuft mit schweren Schritten in die Küche. Als sie dort auftaucht, blickt Joseph sofort vom Tisch auf und sieht sie überrascht an.

 

„Wage es nicht noch einmal“, sagt Cathleen kühl, ehe er zuerst das Wort fassen kann.

 

Joseph hätte nicht gedacht, dass Cathleen nach dem körperlichen Ereignis den Mumm hat, selbst wieder zurückzukommen. Er war stark davon überzeugt, dass er zu ihr hätte kommen und erst um Entschuldigung bitten müssen, bevor sie wieder mit ihm reden würde. Erstaunt über ihr starkes Auftreten hebt Joe seine Augenbrauen hoch.

 

„Hat es dir etwa nicht gefallen?“, fragt er amüsiert und grinst frech.

 

Als ihre Wangen daraufhin einen rötlichen Hauch auffangen, weiten sich Josephs Augen kurz erstaunt. Es gefällt ihm, wie sie beschämt seinem Blick ausweicht und seine Frage nicht verneint.

 

„Ich finde wir sollten uns jetzt eher darüber unterhalten, wie es weiter geht“, erklärt sie eindringlich und wechselt bemüht das Thema.

 

Beschämt setzt sich Cathleen zu Joseph an den Tisch und weicht weiterhin seinen Blicken aus. Liebend gerne hätte Joseph weiter auf das Thema herumgespielt, um zu sehen, wie sie peinlich berührt versucht ihre Aufregung zu kaschieren. Dennoch gibt er nach und gibt der jungen Frau recht. Sie sollten dringend über das weitere Vorgehen sprechen.

 

„Wenn die Lady das verlangt“, sagt Joseph und zwinkert ihr anzüglich zu, ehe er ernst wird.

 

„Wie ich bereits sagte, ist es enorm wichtig, dass wir vor allen Außenstehenden ein glaubhaftes Liebespärchen abgeben“, erklärt Joseph und blickt sie aufmerksam an. „Du musst mit mir umgehen, als wäre ich wirklich dein fester Freund und du wärst über alle Wolken in mich verliebt. Wenn man dich fragt, wie wir uns kennengelernt haben, erzählst du die Wahrheit. Wir lernten uns an deinem Geburtstag in einem Club kennen, kamen in ein fesselndes Gespräch und verbrachten die Nacht zusammen bei dir. Es war Liebe auf den ersten Blick und wir können seitdem die Finger nicht voneinander lassen.“

 

„Und du bleibst weiterhin der Grundschullehrer?“, fragt Cathleen und runzelt die Stirn.

 

„Richtig.“

 

„Aber du sagtest doch, dass du Schritt für Schritt immer an meiner Seite sein musst. Wenn ich jedoch im Fotostudio arbeite, was suchst dann du dort jeden Tag als Grundschullehrer?“, fragt Cathleen ihn interessiert.

 

„Es wäre viel zu auffällig, wenn ich auch noch mit dir arbeiten würde. Wir verbringen so oder so schon jede Sekunde miteinander, wenn wir das auf deiner Arbeit ebenfalls täten, würde der Mörder Verdacht schöpfen“, erklärt er. „Deswegen wirst du morgen im Studio viele neue Praktikanten kennenlernen, die so lange auf dich aufpassen werden, während ich nicht da bin.“

 

Über den Gedanken muss Cathleen kurz stutzen, da sie sich das nicht vorstellen kann. Ihre Chefin hatte noch nie Praktikanten eingestellt, wie hätte sie nun dazu überzeugt werden können? Den Gedanken verschiebt Cathleen aber auf morgen und konzentriert sich auf ein wichtigeres Thema.

 

„Was ist mit meiner besten Freundin?“, fragt Cathleen und ihre Augen werden erschreckend groß. „Ich konnte ihr noch nie etwas verheimlich, geschweige denn glaubhaft lügen.“

 

„Musst du aber, wenn du sie nicht in Gefahr bringen möchtest“, mein Joseph eindringlich.

 

Joseph ist bewusst, dass der Besuch von Luise der erste Testlauf mit Cathleen sein wird herauszufinden, ob Cathleen die Gefahr bewusst ist und glaubhaft mitspielen kann. Denn sie ist genauso für ihre Sicherheit verantwortlich, wie Joseph. Seufzend lehnt sich Cathleen zurück und fährt erschrocken hoch, als plötzlich die Klingel läutet.

 

„Du scheinst ja ein richtiger Angsthase zu sein“, sagt Joseph sichtlich amüsiert und erhebt sich vom Stuhl.

 

Gerade als Joseph an Cathleen vorbeiläuft, um die Haustür zu öffnen, hält sie ihn mit schnellem Herzschlag am Arm fest. Verwundert blickt er zu ihr herunter und erkennt Furcht in ihren Augen.

 

„Was, wenn es er ist?“, flüstert Cathleen mit angehaltenem Atem und meint den Mörder, der hinter ihr her ist.

 

„Das wäre schön, glaub mir“, seufzt Joseph. „Aber ich glaube eher, dass es deine Freundin ist, die ganz heiß auf deine Bettgeschichte mit mir ist.“

 

Allein bei dem Gedanken die Berührungen und Küsse von vorhin weiterlaufen zu lassen, lässt Cathleens Wangen wieder heiß werden. Deswegen lässt sie seinen Arm sofort los, als hätte sie sich daran verbrannt.

 

„Geh du nach oben und zieh dir was ordentliches an“, weist er sie an. „Ich rufe dich, wenn alles in Ordnung ist.“

 

Das lässt sich Cathleen nicht zweimal sagen und steht flott auf, um in ihr Zimmer zu laufen. Im Zimmer angekommen strengt sie sich an etwas zu verstehen, doch die Entfernung von ihrem Zimmer bis zur Haustür ist zu groß. Ihre Gedanken kreisen um den Besucher, weswegen sie gar nicht darauf achtet, was sie aus ihrem Kleiderschrank zieht, um sich umzuziehen. Ihr Herz klopft aufgeregt gegen ihre Brust und sie hofft, dass alles gut geht.

 

„Kitty Cat, deine Freundin ist da“, hört sie Joseph auf einmal rufen.

 

Wie hat er sie gerade genannt? Kitty Cat?

Der Tiger und der Fuchs

Es wurde herausgefunden, dass der Mittelfinger als erstes in Griechenland zum Einsatz kam, als ein Mann sich durch Anal Penetration befriedigt hat

 

Als man noch jung und unerfahren war, wollte man älter und Erwachsen werden. Nun ist es so, dass wenn man schon alt genug ist, lieber wieder ein kleines Kind sein möchte. Dieser Gedanke geht Cathleen nicht aus dem Kopf, als sie mit ihrer besten Freundin und ihrem neuen Freund gemeinsam an einem Tisch sitzt. All die Jahre hat Cat es nicht ausgehalten, wie ein kleines Kind behandelt zu werden und nun würde sie am liebsten in die Vergangenheit zurückspringen und ihrem alten Ich hysterisch zurufen, dass sie bloß nicht älter werden soll. Sie betrachtet ihre bisherige Zwicksituation, in der sie festsitzt, und kann es einfach nicht fassen, was sie so scharf am Erwachsenenleben fand. Mit den ganzen Problemen musste sie sich früher nie auseinandersetzen!

 

Stumm sitzen sich alle drei gegenüber und Cathleen schafft es einfach nicht ihren Mund zu öffnen. Das alles ist für sie neu. Sie hatte nicht einmal genug Zeit sich selbst darüber Gedanken zu machen, als dass sie jetzt schon dafür bereit wäre, die Liebesgeschichte mit Joseph glaubwürdig aufrechtzuerhalten. Immer wieder erklärt Cathleen sich selbst, dass ihr Vater Joseph eingestellt hat, um sie vor dem Mörder ihrer Mutter zu beschützen. Damit das alles glatt läuft und der Übeltäter ihnen nicht auf die Schliche kommt, muss Cathleen so tun, als wäre Joseph ihr Freund. Er wird in nächster Zeit bei ihr leben, ihr auf Schritt und Tritt folgen und sie darf keiner Menschenseele die Wahrheit hinter der Geschichte erzählen. Ein unglaubwürdiger und gruseliger Gedanke für die junge Cathleen. Und weil das Erwachsenenleben ja noch eins draufsetzen will, muss sie nun auch noch ihr schauspielerisches Talent in Anspruch nehmen, von dem sie nicht einmal weiß, ob es existiert. Cathleen fand das Talent von Schauspieler schon immer verblüffend. Sie war schon in Kindeszeit diejenige, die lieber singen als Schauspielen würde, da sie einfach kein Talent dafür besitzt. Wie sollte sie also vor Luise, die sie besser kennt als irgendjemand, so tun als wäre sie unbeschreiblich verliebt in Joseph? Geschweige denn, dass Luise sowieso mit geschlossenen Augen weiß, wann Cat lügt und wann nicht. Aus diesem Grund hat Cathleen beschlossen einfach den Mund zu halten, denn sie weiß, jedes falsche Wort oder Ausdruck im Gesicht könnte Luise zeigen, dass etwas falsch läuft.

 

Verstohlen beobachtet sie, wie ihre beste Freundin Joseph anblickt, der direkt vor ihr am anderen Tischenden sitzt. Obwohl sie Luise sehr gut kennt, kann Cat ihren aufmerksamen Blick nur schwer deuten. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass Cathleen von Kopf bis Fuß aufgeregt ist und ihr Herz fast aus der Brust springt. Luise bemustert Joseph schamlos und lässt keinen Winkel ungesehen. Was Cathleen wundert ist, dass das Joseph kein bisschen zu stören scheint. Er blickt Luise seelenruhig entgegen und wirkt interessiert. Denn Joseph hat nichts dagegen, dass Cathleens Freundin ihn neugierig mustert. Luise muss wohl oder übel prüfen, ob Joe ein Verrückter, ein Playboy oder ein netter Typ ist. Für Joseph ist das normal, beziehungsweise ist er solchen Blicken schon gewohnt. Cathleen ist nicht die Erste, die er beschützen und so tun sollte, als wäre er mit der Frau zusammen. Bisher hat das immer sehr gut funktioniert, ohne Komplikationen oder Peinlichkeiten. Das Einzige was ihm in diesem Fall Sorge bereitet ist Cathleen und er hofft, dass sie noch die Kurve kratzt. Denn aktuell wirkt sie hoch auffällig, ihre Wangen sind gerötet und ihr Fuß tippt aufgeregt auf den Laminatboden. Joe kann nur hoffen, dass Luises Aufmerksamkeit größtenteils auf ihn liegt.

 

Da Cathleen langsam der unangenehme Gedanken kommt, dass es viel auffälliger wäre nichts zu sagen, beschließt sie ins kalte Wasser zu springen.

 

„Alsooo“, sagt Cat leise und zieht das Wort gespannt lang.

 

Mit hochgezogenen Augenbrauen wendet Luise sich sofort an Cathleen und wartet gespannt auf ihre Erklärung.

 

„Das ist Joseph“, stellt Cathleen ihren Vorzeigefreund vor und versucht authentisch zu lächeln. „Ich habe ihn gestern auf der Party kennengelernt.“

 

„Und das ist Luise, meine beste Freundin“, wendet Cat sich schnell an Joseph und blickt ihn hilfesuchend an.

 

Als Joseph ihre panisch geweiteten Augen bemerkt, versteht er ihren Wink, dass sie keine Ahnung hat, wie sie mit der Situation umgehen soll. Ihr Blick ist ein reiner Hilfeschrei und er kann ihre hilflosen Gedanken durch stumme Blicke hören. Unzufrieden entscheidet Joseph dem Unschuldslamm zu helfen, bevor sie sich verplappert und alles zerstört.

 

„Schön dich kennenzulernen. Wie lange seid ihr denn schon befreundet?“, fragt Joseph Luise höflich, um sie somit in ein Gespräch zu verwickeln.

 

Erleichtert atmet Cathleen aus und blickt gespannt zu Luise. Cat fühlt sich wie ein gejagtes Wildschwein, das von zwei Jägern verfolgt wird, dem Tiger und dem Fuchs. In diesem Fall ist Joseph der flotte Tiger, der von ihr erwartet mit ihrer Schauspielkunst zu glänzen und Luise ist der schlaue Fuchs, die mit ihren scharfen Augen die kleinste Lüge aufdeckt. Ihr Puls verläuft so rasant, als würde sie wirklich vor etwas wegrennen. Eins ist sicher, am liebsten würde sie momentan mit keinen der Beiden hier sitzen. Sie braucht sich gar nicht die Frage zu stellen, wer von den Beiden die größere Gefahr darstellt, beide würden sie mit Haut und Haaren auffressen.

 

„Wir kennen uns schon seit wir klein sind. Unsere Eltern waren gut befreundet, weshalb wir auch immer viel Zeit zusammen verbracht haben“, erklärt Luise mit sanfter Stimme und einem leichten Lächeln auf den Lippen.

 

Langsam wird Cat immer heißer und heißer, als würde eine Sauna im Wohnzimmer entstehen. Wenn sie die Aufgabe vergeigt und Luise irgendwas merkt, wird sich Joseph wirklich auf sie stürzen und sie zerfetzen. Doch scheint es ihr unmöglich zu sein ihre beste Freundin anzulügen. So unmöglich, wie mit offenen Augen zu niesen.

 

„Ich habe Durst“, meldet sich Cathleen plötzlich atemlos. „Möchte jemand auch etwas trinken?“

 

Wie von einer Tarantel gestochen steht Cathleen so schnell auf, dass der Stuhl hinter ihr fast zu Boden fällt. Sie wartet die Antwort der Beiden gar nicht ab, sondern läuft schon mit weichen Beinen in die Küche. Ihre Hände zittern, als sie ein Glas aus dem Regal holt. Cathleen könnte sich für ihr Auftreten eine Backpfeife verpassen. Wieso nur hat sie solch eine Panik Luise anzulügen? Klar weiß sie, dass das noch nie funktioniert hat. Doch jetzt führt kein Weg daran vorbei. Sie muss sich zusammenreißen!

 

„Nein danke, aber ist alles in Ordnung mit dir?“, hört sie Luise rufen.

 

Nein, nichts ist in Ordnung, würde Cat am liebsten hysterisch rufen. Doch stattdessen atmet sie tief ein, läuft mit dem Glas Wasser wieder zurück an den Tisch und blickt Luise freundlich an. In ihrem Inneren schreit alles nach Erlösung, doch von außen ist sie zu Eis erstarrt, selbst ihr Lächeln fühlt sich verkrampft an.

 

„Aber klar doch, wie kommst du darauf?“, fragt sie und ihre Stimme wird am Ende des Satzes höher.

 

Ungläubig blickt Joseph Cathleen an und kann ein Augenzucken nicht unterdrücken. Noch nie im Leben hat er jemanden getroffen, der so schlecht lügt. Am liebsten würde er sie packen, sie ins Zimmer schleppen und dort für immer einsperren, bis er den Mörder gefunden hat. Seine Hand wandert zu seiner Stirn und er überlegt fieberhaft, wie er das Ganze noch retten kann.

 

„Cathleen, stimmt etwas nicht?“, fragt Luise nun eindringlich und sie runzelt ihre Stirn.

 

Wieder erscheint das Bild eines Fuchses in Cathleens Kopf. Der Fuchs leckt seine Zähne, hält seine Schultern gebeugt und seine Hinterbeine sind bereit auf sie loszuspringen.

 

„Ja Cathleen, geht es dir etwa nicht gut?“, fragt Joseph und blickt sie auffordernd an.

 

Cat kann seine Drohung genau heraushören, mitsamt dem Bild eines Tigers. Im Gegensatz zum Fuchs, sitzt der Tiger gebannt vor ihr und wartet darauf, dass sie einen falschen Schritt macht, um sie dann zu verspeisen. Die Situation wird brenzlich für Cathleen, sie muss sich zusammenreißen, bevor einer der beiden Fleischfresser sie erledigt.

 

„Ehrlich gesagt habe ich tierische Kopfschmerzen von gestern Nacht, habe mich wohl überschätzt“, antwortet sie kichernd und legt gestikulierend ihre Hand auf die Stirn.

 

„Wie bist du denn gestern nach Hause gekommen?“, fragt Cat Luise und versucht gelassen das Thema zu wechseln.

 

Luise wirkt nicht zufrieden mit ihrer Antwort, geht jedoch nicht weiter drauf ein. Gefasst wendet sie den Blick von Cathleen ab und fixiert einen Punkt auf dem Tisch.

 

„Sven war so nett und hat mich nach Hause gefahren“, antwortet Luise zögerlich.

 

In Sekundenschnelle vergisst Cathleen die befangene Situation, wird sprachlos und spürt eine Wut in ihr hochkommen. In ihrem Kopf spielt sich unweigerlich ein Szenario aus, indem sie ihr Stuhl zurückwirft, wie verrückt anfängt zu klatschen und hysterisch lacht. Sven hat Luise also nach Hause gefahren. Soso. Auch wenn sie ihre beste Freundin ist, hätte sie zu gerne gewusst, was um Himmelswillen in ihr gefahren ist, dass sie sich von Cathleens Exfreund heimfahren ließ. Tief im Inneren weiß Cathleen, dass Luise niemals etwas mit ihrem Ex anfangen würde, das ist die wichtigste Regel im Girls-Codex. Dennoch macht es sie tierisch wütend, dass sie mit ihm Zeit verbracht hat. Mit einer Person, der Cat bewusst aus dem Weg geht und das sollte ihre beste Freundin ebenfalls tun. Wenn Luise jemand nicht mag, verbringt Cathleen schließlich auch keine Zeit mit dieser Person!

 

„Ach, hat er das“, antwortet Cathleen, auch wenn sie am liebsten ganz anders reagiert hätte.

 

Cat versucht ruhig zu wirken und blickt ihre Freundin mit Absicht nicht an, damit ihr nicht doch noch ein frecher Spruch rauskommt. Joseph hat sofort gemerkt, dass sich die Stimmung im Raum geändert hat, als Luise von diesem Typen gesprochen hat.

 

„Wer ist Sven?“, meldet sich Joseph zu Wort und blickt auffordernd zu Cathleen.

 

„Ich wusste doch, dass etwas nicht stimmt! Melinda hat es dir bestimmt schon erzählt, bevor ich das machen konnte!“, sagt Luise verärgert. „Darum verhältst du dich schon die ganze Zeit so seltsam.“

 

Cathleen muss zugeben, dass Luises Offenbarung eine gute Sache mit sich bringt, denn dies kann Cat als perfekten Vorwand nutzen so zu tun, als wäre Sven das eigentliche Problem. So kann sich Cat wenigstens ehrlich aufregen und hat eine Erklärung dafür, dass sie Luise am Anfang kaum in die Augen sehen konnte.

 

„Sind denn auf einmal alle Taxifahrer ausgestorben oder hat die Metro gestreikt?“, fragt Cathleen kühl und zieht zickig eine Augenbraue hoch.

 

„Cat! Ich habe eine kostenlose Mitfahrergelegenheit bekommen und draußen war es ziemlich kalt“, versucht Luise ihr eindringlich zu erklären.

 

„Kitty Cat“, ertönt nun die drohende, aber für Luises Ohren freundliche Stimme. „Wärst du so freundlich mir zu erklären, wer denn dieser Sveni Boy ist?“

 

Als Cathleen sein scheinheiliges Lächeln sieht, weiß sie genau, dass dieses freundliche Gesicht nur eine Maske von ihm ist. Sie kann seine bedrohliche Aura ganz genau wahrnehmen und erinnert sich sofort wieder, weshalb er da ist. Cathleen muss Luise zeigen, dass sie das mit Sven nicht bedrückt und auf Wolke sieben mit Joseph schwebt. Währenddessen ärgert sich Joseph, dass er mit Cathleen noch nicht ihr Freundeskreis durchgehen konnte. Er muss unbedingt wissen mit wem sie verkehrt und ihre Freunde überprüfen. Nicht, dass einer ihrer Freunde am Ende etwas mit dem Mörder zu tun hat.

 

„Sven ist Cathleens Exfreund“, beantwortet Luise seine Frage seufzend.

 

„Es ist nicht so, dass Sven deine letzte Rettung gewesen wäre“, meldet sich Cathleen zu Wort und blickt ihre Freundin strafend an, ehe ihr Gesicht wieder weicher wird. „Aber das ist mir ehrlich gesagt sowieso gleichgültig, da ich gestern jene Menge Spaß hatte, nicht wahr Hasi?“

 

Cathleen blickt lächelnd zu Joseph und zwinkert ihm verliebt zu. Überrascht blickt Luise abwechseln von Joseph zu Cathleen. Cat wird klar, dass Luise nicht damit gerechnet hätte, dass sie etwas Ernstes mit Joseph hätte. Vermutlich dachte Luise, dass Joe nur ein One-Night-Stand gewesen sein muss. Das ist Cathleens Chance ihrer besten Freundin zu beweisen, dass es ihr ernst mit Joseph ist, indem sie Luise zeigt, dass ihr die Geschichte mit Sven egal ist. Ansonsten würde Luise nicht nachvollziehen können, wieso Joseph ab jetzt bei ihr leben wird.

 

„Joe Häschen, wärst du so lieb und machst mir und Luise einen Kaffee?“, fragt Cat und blickt ihn auffordernd an.

 

Es fällt Cathleen leichter Joseph wie ihren Freund zu behandeln, indem sie ihm einen kitschigen Kosenamen gibt. Immerhin hat er das bei ihr auch getan und so kann sie sich dafür bei ihm rächen. Joseph kaschiert seine Unzufriedenheit deswegen nicht und knirscht mit den Zähnen, als sich ihre Blicke treffen. Cat zuckt kurz mit den Augenbrauen, um ihm klar zu machen, dass er ihrer Anweisung folgen soll. Sie braucht kurz Zeit allein mit Luise, um ihr die unwiderstehliche Liebe zu Joseph zu beweisen. Es kümmert Cathleen kein Deut, dass Joseph damit eigentlich nicht einverstanden ist. Dennoch steht er schweigend auf und läuft in die Küche. Joseph betet, dass sie nichts Falsches sagt und versteht, wie ernst die ganze Sache ist. Wenn das schiefläuft, ist nicht nur Cathleen in Gefahr, sondern auch ihre Freundin Luise.

 

„Ich hoffe du bist mir nicht böse wegen Sven“, seufzt Luise, als Joe in der Küche verschwindet.

 

„Nein“, antwortet Cathleen behutsam, obwohl sie im Inneren fast zerbricht. „Wie gesagt, ich bin über Sven hinweg und habe endlich mal Glück mit einem Mann gehabt.“

 

„Das klingt bei dir so ernst“, erwidert Luise stutzend.

 

„Ich meine es auch ernst“, antwortet Cathleen und rückt näher an Luise heran. „Wir haben uns von der ersten Sekunde aus verstanden und sind auf einer Wellenlänge. Ich hätte nie gedacht, dass es sowas wie Liebe auf den ersten Blick gibt.“

 

Cathleen schließt verträumt ihre Augen und hofft, dass sie eine gute Show abgibt. Sie weiß genau, dass Joseph jedes einzelne Wort mit anhört und hofft, dass sie ihm beweisen kann, dass sie die Situation ernst nimmt. Vielleicht hat sie doch noch eine Chance auf einen Oscar.

 

„Du hast dich in ihn verliebt?“, fragt Luise und klingt perplex.

 

„Irgendwie schon“, antwortet Cathleen und ihre Wangen werden daraufhin etwas rot. „Wenn ich ihn ansehe, spüre ich Schmetterlinge in meinem Bauch, das hatte ich schon lange nicht mehr.“

 

Als Cathleen merkt, dass Luise ihr das noch nicht ganz abkauft, lenkt Cathleen in eine andere heimtückische Richtung.

 

„Ich weiß, dass das verrückt klingt und du das seltsam findest“, meint Cathleen aufgebracht und seufzt. „Aber ich weiß, was ich fühle und passe auf mich auf. Ich kann ihn nicht einfach gehen lassen, ich möchte dem Ganzen eine Chance geben. Kannst du das verstehen?“

 

Luise wirkt hin und hergerissen, doch Cathleen weiß, dass für sie das wichtigste ist, dass ihre beste Freundin glücklich ist. Cathleen weiß genau, dass sie Luise damit am Haken hat.

 

„Natürlich verstehe ich das“, antwortet Luise und legt lächelnd ihre Hand auf Cathleens. „Wenn es dich glücklich macht, macht es mich auch glücklich. Trotzdem werde ich ein Auge darauf haben und wehe der Kerl bricht dir das Herz.“

 

„Das klingt gut“, meint Cathleen und lächelt ihre Freundin dankbar an.

 

 „Alsooo“, zeiht Luise das Wort in die Länge. „Hattet ihr Sex?“

 

Am liebsten hätte Cathleen lauthals „Nein“ gerufen, doch sie weiß, dass es nicht mit der Liebesgeschichte zusammenpassen würde.  

 

„Aber hallo!“, jubelt Cat lautstark und fängt an zu lachen.

 

„Wie war es?“, fragt sie und ihre Augen beginnen neugierig zu leuchten.

 

Cathleen sind die Fragen äußerst unangenehm, vor allem da Joseph ungehindert zuhört. Dazu kommt, dass ihr die Hitze in den Kopf steigt, sobald sie über ein Sexszenario mit Joseph denkt.

 

„Es war fantastisch“, himmelt Cathleen den imaginären Sex an.

 

„Was hat er zu deinem Tattoo gesagt?“, fragt Luise und muss daraufhin kichern.

 

Nein. Nein! Wieso muss sie jetzt ausgerechnet mit dem Tattoo kommen? Luise hätte alles fragen können, wirklich alles, wieso musste es dieses blöde Tattoo sein? Cat würden tausend andere Fragen einfallen: Wie lange konnte er durchhalten? Hatte sie einen Orgasmus? Welche Stellungen haben sie ausprobiert? Die Fragen hätte sie mit Bravour gemeistert.

 

„Himmel Herr Gott, von was redest du da?“, fragt Cathleen und fängt an zu lachen.

 

Sie kann sich förmlich vorstellen, wie hellhörig Joseph darauf wurde und wie gespannt er auf die Antwort wartet.

 

„Ich weiß gar nicht, was du meinst“, fährt Cathleen fort und spürt, wie ihre Hände schwitzig werden.

 

Wenn dieser Perversling von ihrem Tattoo erfährt, dann wird er sie für immer und ewig damit aufziehen, denkt sich Cathleen. Es reicht ihr schon, dass ihre Freunde sich immerzu darüber lustig machen, da muss Joseph sicher nicht dran teilnehmen.

 

„Du weißt schon, dass ich dabei war, als dir das Tattoo gestochen wurde?“, fragt Luise belustigt und flüstert, da sie denkt Joseph könnte sie nicht hören. „Wenn ihr doch miteinander geschlafen habt, dann hätte er es doch bemerken müssen.“

 

Cathleen spricht ein Stoßgebet in den Himmel, dass Luise endlich aufhört, darüber zu sprechen und Joseph vielleicht wirklich nicht zuhört. Auf ihre Frage jedoch muss Cat schmunzeln und überlegt fieberhaft, wie sie darauf reagieren soll. Mit gepresstem Gesichtsausdruck und immer rötlicher werdenden Wangen sieht Cat Luise an und wünscht sich, sie hätte sich niemals dieses beschissene Tattoo gestochen.

 

„Ja, also… Ob er es gesehen hat… Haha… Ähm… Nein.“

 

„Was stellst du dich denn so an?“, fragt Luise und muss ihre Stirn runzeln. „Willst du es mit nicht erzählen, oder habt ihr doch nicht miteinander geschlafen?“

 

Cathleen merkt erst jetzt, dass sie sich mit ihrer Sturheit ihr eigenes Grab geschaufelt hat. Wie kommt sie denn da wieder heil raus, ohne dass Luise Verdacht schöpft?

 

„Er konnte es nicht sehen, weil ich mein Slip noch anhatte“, presst Cathleen mühevoll heraus und versucht zu flüstern.

 

„Aber wie habt ihr dann…?“

 

„Als wir hier ankamen, fielen wir einfach wild übereinander her“, unterbricht Cat ihre Freundin und zuckt mit den Schultern. „Da blieb keine Zeit mir den Slip auszuziehen, wir waren so ungeduldig.“

 

„Okay“, antwortet Luise nur und legt nachdenklich ein Finger auf ihre Lippen.

 

„Und wie war er?“, fragt sie Cat schließlich grinsend.

 

„So gut, dass ich ihn nicht laufen lassen darf.“

 

„Du meinst, er bleibt hier bei dir?“, fragt Luise etwas erstaunt.

 

„Ja, zumindest solange bis er mir auf die Nerven geht“, erklärt Cathleen selbstzufrieden.

 

„Na gut“, sagt Luise und lächelt ihre Freundin heiter an. „Dann musst du mich auf jeden Fall auf dem Laufenden halten.“

 

„Klar“, lächelt Cathleen und sie freut sich, dass Luise ihr Glauben schenkt und keine Zweifel hegt.

 

Es bleibt einige Sekunden still zwischen den zwei Freundinnen, da beide in Gedanken versunken sind. Cathleen ist erleichtert darüber, dass ihre Geschichte glaubhaft angekommen ist. Ihr Magen rumort vor Aufregung nicht mehr und es breitet sich ein warmes Gefühl in ihr aus, nachdem Luise sie glücklich angesehen hat. Cathleen weiß, dass Luise sich für sie freut und denkt, Cat hätte ihren Traummann gefunden. Einerseits fühlt sich der Gedanke schön an, jemand gefunden zu haben und mit ihm Zeit zu verbringen, so schön, dass ihre beste Freundin sich sogar für sie freut. Andererseits spürt sie eine kleine Nadel in ihr Herz stechen, da alles nur auf eine Lüge basiert. Zum ersten Mal bekommt Cathleen den Geschmack der Lüge zu spüren und den möglichen Folgen von Bedauern.

 

„Die Geschichte mit Sven tut mir wirklich leid“, flüstert Luise plötzlich bekümmert und entschuldigt sich. „Ich weiß, wie schwer das alles für dich war. Ich hatte nicht vor die alten Narben wieder aufzukratzen.“

 

Sofort erinnert Cat sich an die schmerzliche Trennung von Sven. Sie erinnert sich, wie er sie nach einer gewissen Zeit immer schlechter behandelt hatte, sie weder Wert geschätzt noch geliebt hat. Traurig ruft sie sich wieder ins Gedächtnis, wie sie die alten Nachrichten immer und immer wieder durchgelesen hat und einfach nicht darüber hinwegkam, er jedoch gleich nach ihr eine andere hatte. Sie hatte gehofft, er würde es bereuen. Immer wenn ihr Handy vibrierte, sehnte sie sich nach einem Anruf von ihm, indem er sich entschuldigt, was aber nie geschah. Cathleen weiß, dass Luise sie nicht mit Absicht verletzen wollte, trotzdem hat sie damit Recht, dass sie alte Narben wieder bluten lassen hat.

 

Als Joseph mit zwei Tassen Kaffee aus der Küche kommt und sich wieder zu den Mädels an den Tisch gesellt, atmetet Cathleen erleichtert auf. Zum ersten Mal ist sie dankbar, dass er hier ist und sie von den Erinnerungen an Sven ablenkt.

 

„Bitte sehr“, sagt er höflich und reicht beiden eine Tasse hin.

 

Joseph hat natürlich jedes einzelne Wort der zwei Damen mitbekommen. Am Anfang war es noch amüsant mitzuhören und Joseph wird nicht widerstehen können, Cathleen später ein paar Fragen zu stellen. Als sie am Ende jedoch wieder über Sveni Boy sprachen und Cathleen nichts erwiderte, spürte Joseph, dass er das Gespräch beenden musste. Irgendwas bekümmert sie wegen dem Typen, das konnte er bis in die Küche spüren. Vielleicht kann er sie fürs erste mit dem grässlichen Kaffee ablenken. Joseph hat noch nie Kaffee gekocht und hat keine Ahnung, ob es ihm gelungen ist.

 

„Also gut Joseph, hast du einen Job?“, fragt Luise neugierig und hält die warme Tasse zwischen ihren Händen.

 

Cat weiß, was jetzt auf ihn zukommt. Luise wird ihn so lange mit Fragen bombardieren, bis sie etwas findet, was ihr nicht an ihm gefällt und schon wird sie Cathleen so lange damit nerven, bis auch ihr das auffällt. So ist das zumindest mit allen ihren Exfreunden abgelaufen. Der eine musste manchmal, wenn er nervös war stottern. Der andere wippte vor und zurück, wenn er lachte und dann gab es auch einen, der grunzte, wenn er richtig lachen musste. Das alles war ihr nie aufgefallen, bis Luise sie darauf aufmerksam machte und es ihr irgendwann selbst auf die Nerven ging. Cathleen kann nur hoffen, dass Luise sie bei Joseph damit verschont.

 

„Ich bin Grundschullehrer“, antwortet Joseph lächelnd.

 

Ungläubig wandern ihre Augen zu seinen durchtrainierten Armen. Dann trinkt sie einen großen Schluck von ihrem Kaffee, verschluckt sich und muss kräftig husten. Erschrocken mustert Cathleen ihre beste Freundin und beschnuppert vorsichtig den Kaffee in ihrer Tasse. Mit gerunzelter Stirn blickt sie fragend zu Joseph, der nur schuldbewusst mit den Schultern zuckt. Leicht nickend stellt sie die Tasse auf den Tisch und hat nicht vor es ihrer Freundin nachzumachen.

 

„So so, Grundschullehrer. Interessant“, entgegnet Luise, nachdem der Husten vorbei ist und schiebt demonstrativ die Tasse Kaffee weit weg von sich. „Wie kam es denn zu dieser Entscheidung?“

 

„Nun ja. Zum einen die große Leidenschaft mit Kindern zu arbeiten und zum anderen der lang ersehnte Kindheitstraum“, erklärt er und lächelt.


Sein Lächeln erscheint Cathleen unauthentisch und ähnelt einer Zahnpasta Werbung. „Die Leidenschaft mit Kindern zu arbeiten“, Cat könnte laut lachen. Sie wettet, er hasst Kinder über alles und würde sie am liebsten erwürgen, sobald sie zu nerven beginnen.

 

„Kindheitstraum“, wiederholt Luise herzhaft und schwelgt in Erinnerung. „Ich weiß noch, wie Cat mir als wir noch klein waren, ständig in den Ohren lag, wie gern sie doch Kioskverkäuferin werden wollte.“

 

Lauthals fängt Luise an zu lachen und legt ihre Hände auf ihren Bauch, um sich zu beruhigen. Das ist wieder so ein Grund, weshalb Cathleen wohl single ist. Luise macht es nicht mit Absicht, doch sie lässt keine Situation entgehen, um eine lustige Geschichte über Cathleen zu erzählen. In Luises Augen hat es etwas fürsorgliches und liebesvolles, für Cat ist es einfach nur ätzend.

 

„Du solltest Luise nicht alles glauben, was sie erzählt“, beteuert Cat und versucht sich da rauszureden.

 

Joseph sitzt stumm und amüsiert am Tisch. Auch wenn Luise am Anfang ihm gegenüber noch sehr misstrauisch war, findet er sie immer sympathischer.

 

„Vor allem brauchst gerade du gar nicht so laut zu lachen. Wer von uns beiden hatte die glorreiche Idee Müllfahrerin zu werden, weil ihre Lieblingsfarbe orange war?“, wendet Cathleen sich an Luise und lächelt sie angriffslustig an.

 

Frech streckt Luise ihre Zunge heraus und blickt dann auf ihre Armbanduhr.

 

„Oh, ich muss gehen sonst komme ich zu spät.“

 

„Was hast du vor?“, fragt Cathleen verblüfft.

 

Liebend gern hätte Cathleen den Tag mit Luise verbracht. Es gibt so vieles, worüber sie mit ihr sprechen möchte. Doch sie weiß, dass sie das Bild aufrechterhalten muss, lieber Zeit mit Joseph verbringen zu wollen.

 

„Ich treffe mich mit meinem Arbeitskollegen“, lächelt sie und zwinkert Cathleen zu.

 

„Etwa Mister Lover?“, fragt Cathleen sofort und muss lachen. „Ich dachte du würdest nicht einmal in Millionen Jahren mit ihm ausgehen.“

 

Luise ist vom Beruf Architektin und hat es letztes Jahr geschafft, in einen der besten Firmen aufgenommen zu werden. Wie in vielen großen Firmen gib es auch dort ein hohes Tier, der Womanizer schlechthin und nun soll der mit ihrer besten Freundin ausgehen.

 

„Er hat mich ins Belle Air eingeladen“, antwortet Luise und zuckt mit den Schultern.

 

Das Belle Air ist eines der teuersten Restaurants in ihrer Stadt. Also sollte es wohl kein Wunder für Cathleen sein, dass Luise sofort zugestimmt hat.

 

„Wenn du das für richtig hältst. Vergiss nicht das Teuerste auf der Karte zu bestellen“, schmunzelt Cat.

 

„Das hatte ich vor“, lächelt Luise süffisant.

 

Anschließend steht Luise auf, Cat und Joe folgen ihr zum Flur, wo sie ihre Schuhe anzieht. Als Joseph Luise in die Jacke hilft, muss Cathleen sich ein Augenverdrehen unterdrücken. Luise findet diese Geste entzückend und blickt Cat daraufhin begeistert an. Zum Abschied fällt Cathleen ihrer besten Freundin in die Arme und drückt sie fest an sich.

 

„Viel Spaß heute, pass auf dich auf und erzähl mir morgen alles“, sagt Cathleen seufzend.

 

„Ich rufe dich morgen an“, verspricht Luise und löst sich dann von Cathleen, um sie prüfend anzusehen. „Pass du auch auf dich auf.“

 

„Das mache ich“, entgegnet Cathleen und meint jedes Wort ernst.

 

„Es hat mich gefreut dich kennenzulernen Joseph, vielleicht sehen wir uns ja noch einmal“, verabschiedet sich Luise schließlich von Joseph und reicht ihm lächelnd ihre Hand.

 

„Das hoffe ich ebenfalls!“

 

Nach dem Händeschütteln schlendert Joseph geschmeidig hinter Cathleen und legt seine Arme um sie. Für Cat ist es das erste Mal, dass Joseph sie in Augen vor Luise berührt, weswegen ihr im ersten Moment die Überraschung auf dem Gesicht zu lesen sein muss. Luise fasst ihr Gesichtsausdruck als Prüderie auf und lächelt ihre Freundin an, da sie sich freut, dass Cat nach Sven endlich jemand kennengelernt hat. Cathleen fällt schnell wieder ein, weswegen Joseph dies tut, sodass sie ihre Hände auf seine Arme legt und sich an ihm zurücklehnt.

 

„Tschüss“, verabschieden sie sich gegenseitig, bis die Tür ins Schloss fällt.

 

Nachdem nur noch die zwei zurückgeblieben sind, hat sich keiner aus der Umarmung gelöst. Es ist still zwischen ihnen, nur das Ticken der Kuckucksuhr aus dem Wohnzimmer ist zu hören. Es vergehen mehrere Sekunden, bis Cathleen beginnt räuspernd mit ihren Fingern auf Josephs Arm zu trommeln.

 

„Du kannst mich jetzt loslassen“, sagt Cathleen ungeduldig, da Joseph sich noch kein Zentimeter bewegt hat.

 

„Ist gerade sehr bequem“, entgegnet Joseph und drückt Cathleen noch fester an sich.

 

„Mach deine Pfoten gefälligst weg“, sagt Cat bissig und versucht sich aus seinen Fängen zu befreien.

 

Doch Joseph denkt gar nicht dran sie loszulassen, mit festen Armen hält er sie gefangen. Cathleen schafft es nicht einmal, ihn zu schubsen oder zu treten, da er ihr jedes Mal gekonnt ausweicht. Ursprünglich war seine Idee ihr zu zeigen, wie sie sich aus solch einer Position befreien kann, falls sie mal in Gefahr schweben sollte. Aber wieder mal gibt Cathleen ihm eine Anweisung, womit er nur schwer umgehen kann. Joseph fiel es schon in der Vergangenheit schwer sich untergraben zu lassen. Ihr Verhalten provoziert ihn und er kann nichts dafür, dass er daraufhin seine ursprünglichen Ideen vergisst.

 

„Du musst mir erst noch ein paar Fragen beantworten“, raunt er in ihr Ohr.

 

Cathleen kann nicht dafür verurteilt werden, dass sie daraufhin eine Gänsehaut verspürt. Sie muss ehrlich zugeben, dass Joseph zu den ansehnlichsten Männern gehört, die sie je zu Gesicht bekommen hat. Aber ihr Vater hätte doch lieber einen tropfhässlichen Mann auswählen sollen. Joseph bringt sie immer wieder durcheinander. So durcheinander, dass sie sich kaum konzentrieren kann und vergisst, was sie vor wenigen Minuten oder Sekunden noch wollte.

 

„Darauf kannst du lange warten“, schnauft Cathleen nur und versucht sich weiter aus der Umarmung zu befreien.

 

„Wir fangen auch mit ganz leichten Fragen an. Du hast ein Tattoo?“, fragt er erstaunt.

 

Cathleen schwört darauf, lieber die Schmerzen einer Tattoo Entfernung auf sich zu nehmen, als darüber zu sprechen. Wütend entkommt ihr ein Zischen von den Lippen, da es sie ärgert, dass er das Gespräch tatsächlich mitangehört hat.

 

„Nein, habe ich nicht“, lügt sie und wird immer wütender, da sie es einfach nicht schafft, seine Arme wegzustoßen.

 

Sie kommt sich wie ein kleines Kind vor, das sich nicht aus einer lächerlichen Situation befreien kann. Woraus bestehen denn bitte seine Arme? Aus Granit? Sein selbstbewusstes Auftreten macht die Sache auch nicht besser.

 

„Wenn ich richtig verstanden habe, muss es sich irgendwo da unten befinden.“

 

Ganz langsam wandern seine Finger von ihrer Taille zu ihrem Becken. Jedes Mal, wenn seine Finger ihren Körper berühren, schlägt ihr Herz eine Oktave höher. Einerseits würde sie ihm am liebsten die Finger dafür abbeißen, dass er sie wieder gegen ihren Willen berührt. Andererseits ist sie sich nicht sicher, ob es wirklich gegen ihren Willen ist und sie es vielleicht auch kaum erwarten kann, wie weit er dieses Mal gehen würde. Trotzdem weiß Cathleen, dass das so nicht geht und er sie nicht einfach berühren kann, wenn er Lust dazu hat.

 

„Willst du mir nicht sagen, was man dir gestochen hat? Oder soll ich einfach selbst nachsehen?“, fragt er.

 

Um Gottes Willen, bitte nicht! Schon allein der Gedanke, er würde ihr Slip beiseiteschieben und ihre nackte Haut berühren, lässt die Hitze in ihre Wangen schießen. Sie ist die leichteste Beute, die es auf der ganzen Welt gibt! Cathleen darf nicht den Eindruck erwecken, als würde es ihr gefallen, wenn er sie anfasst. Ansonsten wird er sie nie wieder ernst nehmen.

 

„Nein, nein, nein! Loslassen“, ruft sie hysterisch.

 

Die Panik in ihrer Stimme schreckt Joseph sofort zurück und er erwacht aus seiner Trance. Er ist zu weit gegangen, schon wieder. Was ist denn nur los mit ihm? Verärgert über sich selbst nimmt er seine Finger von ihrem Becken und legt den Arm wieder grob um sie.

 

„Beruhige dich erst einmal“, sagt Joseph streng.

 

Wie auf Kommando hört Cathleen auf sich zu wehren, da seine Stimme etwas Festes und eine nicht zu widersprechende Anweisung mit sich trägt. Sie hätte nicht gedacht, dass Joseph so streng klingen könnte.

 

„Wenn dich jemand so gefangen hält, hast du nur eine Möglichkeit aus dieser Stellung herauszukommen“, erklärt Joseph nun ruhig. „Das alles muss so schnell gehen, dass dein Gegner nicht weiß, was du vorhast. Ansonsten wird es wieder eine Leichtigkeit sein, dich in Gefangenschaft zu nehmen. Schnell drückst du dich gegen mich hoch, dann drehst du dich unter mir raus und wirfst mich um.“

 

Cathleen hat keine Ahnung, wieso er ihr das auf einmal erklärt. Doch sie weiß, dass wenn sie sich aus der Umarmung befreien möchte, seinen Anweisungen folgen sollte. Also drückt sie unsicher ihren Körper hoch, schnappt nach seinen Händen, windet sich durch dieses Hochheben aus der Gefangenschaft und steht ihm plötzlich gegenüber. Natürlich ging das nur so einfach, weil er sich nicht wehrte. Trotzdem konnte Cathleen etwas aus dieser Lektion lernen.

 

„Und wie soll ich dich umwerfen?“, fragt sie mit schnellem Atem.

 

„Das musst du geübt haben. Jedoch reicht auch in die Weichteile treten oder in die Augen fassen aus“, antwortet Joseph und blickt sie belehrend an.

 

Mit großen Augen sieht Cathleen zu ihm und weiß nicht, was sie ihm sagen soll. Noch vor wenigen Minuten hat er sie berührt, wie heute Morgen in der Küche und wenn sie ehrlich ist, wollte sie mehr davon. Trotzdem hat ihr gesunder Menschenverstand gesagt, dass das nicht gut ist und sie wurde hysterisch. Doch Joseph ließ Cathleen trotzdem nicht los, sondern erklärte ihr eine Befreiungskunst. Sie ist ratlos und kann nicht klar denken, sie merkt, dass der Tag heute lang war und sie sehr erschöpft ist.

 

„Danke“, sagt sie leise und streicht sich eine Strähne hinter ihr Ohr. „Aber wieso hast du mir das erklärt?“

 

„Ich bin da, um dich zu beschützen. Für den Fall der Fälle, wenn ich gerade mit jemand beschäftigt sein sollte und man dich angreift, solltest du wissen, wie du dich befreien und wegrennen kannst“, antwortet er ihr.

 

„Das klingt plausibel“, sagt Cat und nickt.

 

Dann läuft sie an Joseph vorbei, schnappt nach den Tassen auf dem Wohnzimmertisch und räumt sie in die Spülmaschine. Als sie zurückgeht, packt Joseph ein Laptop und Papierkram aus einem Rucksack auf dem Tisch aus. Mit verschränkten Armen sieht Cathleen ihm nachdenklich zu. Für Joseph wird es nun Zeit sich mehr in den Fall einzuarbeiten und zu recherchieren. Die erste Hürde ist geschafft, Cathleens beste Freundin glaubt der Fake Beziehung, nun muss er einen Weg finden den Mörder zu identifizieren. Doch Joseph ist bewusst, dass das die schwierigste Aufgabe von allen ist.

 

„Zockst du jetzt eine Runde Angry Birds?“, fragt Cathleen ironisch, als Joseph sein Laptop aufklappt.

 

„Wenn ich ja sage, spielst du dann mit?“, fragt er frech und grinst sie über den Tisch hinweg an.

 

„Später vielleicht“, meint Cathleen und weiß, dass Joe scherzt. „Ich geh hoch und mache ein Nickerchen, der Tag hat anstrengend begonnen, dafür dass ich mit einem Kater aufgewacht bin.“

 

„Ja“, stimmt er ihr zu. „Ein Schönheitsschlaf hast du wirklich nötig.“

 

Zur Antwort streckt Cathleen ihm nur ihr Mittelfinger entgegen und läuft dann ohne Worte die Treppen in ihr Zimmer hoch. Seufzend lässt sie sich in ihre Kissen fallen und erzittert kurz bei dem Gedanken, was sie heute alles herausgefunden hat und wie sich ihr Leben schlagartig geändert hat. Der Mörder ihrer Mutter ist hinter Cathleen her und sie hat eine neue Nanny. Es kreisen so viele Gedanken in Cathleens Kopf, wodurch sie in einen unruhigen Schlaf fällt.

 

Während Cathleen also schläft, blättert Joseph neugierig in seine Notizen. Bisher tappt Joseph sowohl über Cathleens Leben als auch über den Mörder im Dunkeln. Herr Havering gab an, er würde Joseph in den nächsten Tagen Unterlagen zukommen lassen. Das ist sehr unüblich und Joseph nimmt normalerweise keine Aufträge an, die schwammig und so wenig Informationen besitzen. Doch Herr Haverings Anruf war spontan und am Telefon klang er frustriert und ängstlich. Er konnte ihm kaum etwas über Cathleen am Telefon erzählen, nur wo sie wohnt und wo sie arbeitet. Doch er versprach ihm, für die Informationen zu sorgen, Joseph müsse sich nur gedulden. Über den Mörder wollte er am Telefon nicht sprechen. Herr Havering meinte nur, dass die Neuigkeit alte Narben aufreiße und es selbst erst erfahren hatte. Also muss Joseph sich mit Geduld üben und sich aufmerksam umblicken.

 

Es vergehen mehrere Stunden, in denen Joseph mit seinen Kollegen telefoniert und alles für den ersten Arbeitstag im Fotostudio plant. Er ist zuversichtlich, dass seine Kollegen Cathleen hervorragend schützen werden, während er den Eindruck erwecken wird, wirklich ein Grundschullehrer zu sein. Das ist nicht das erste Mal das Joseph so tut, als wäre er ein Lehrer. Es besteht eine gute, geheime Zusammenarbeit zwischen ihm und einem Mitarbeiter des Regierungspräsidiums in der Abteilung Schule und Bildung. Seit Joseph das Leben dessen Angehöriger gerettet hat, darf er auf Schulen im ganzen Land als Vertretungslehrer arbeiten. Immer wenn Joseph ein Auftrag irgendwo erhält, setzt dieser Mitarbeiter ihn in eine Schule im nächsten Umkreis ein. Mal unterrichtet Joseph Mathe, mal Sport und die Kinder finden ihn immer bezaubernd, da er viel Spaß und Abwechslung in den Unterricht bringt. So gesehen, hat Joseph nicht gelogen als er meinte, dass er gerne mit Kindern arbeitet. Klar, manchmal gehen sie ihm auf die Nerven, aber da sie noch unschuldig sind, kann er ihnen nie böse sein.

 

„Du bist ja immer noch am Spielen.“

 

Joseph hat Cathleen nicht bemerkt, als sie die Treppen heruntergelaufen ist, so sehr war er vertieft in seine Arbeit. Sie sieht verschlafen aus und ihre Augen strahlen noch mehr Müdigkeit aus, bevor sie zu Bett gegangen ist. Gähnend setzt sie sich auf das Sofa, greift nach einem Kissen und legt es sich auf den Bauch, dass sie schließlich umarmt.

 

„Ohne dich macht es keinen Spaß“, antwortet er ihr und grinst sie vom Tisch aus wieder frech an.

 

„Du würdest nur gegen mich verlieren, das würdest du mir nicht verzeihen“, kontert Cathleen.

 

„Das bezweifle ich, so müde wie du aussiehst“, meint Joseph und sein Lächeln verschwindet. „Hast du nicht gut geschlafen, Liebste?“

 

Cathleen muss sich erneut ein Gähnen unterdrücken und ignoriert seine Liebkosung, da sie zu erschöpft dafür ist, sich mit ihm anzulegen. Bekümmert lehnt sie ihren Kopf am Sofa an und starrt aus dem Fenster. Es ist bereits spät und somit dunkel draußen. Sie hat sehr schlecht geschlafen, trotzdem hätte sie vermutlich die Nacht durchgeschlafen, wenn sich ihr Magen vor Hunger nicht gemeldet hätte.

 

„Nein, ich hatte nur wirre Träume“, antwortet sie und seufzt. „Und einen Bärenhunger.“

 

Joseph klappt daraufhin sein Laptop zu und streift sich ebenfalls müde durch das Gesicht. Er hatte ganz vergessen zu essen, erst nachdem Cathleen das Thema angesprochen hat, verspürt auch er den Wunsch nach Essen.

 

„Wir sollten etwas bestellen“, meint Joseph, steht vom Tisch auf und setzt sich mit seinem Handy zu ihr auf das Sofa. „Worauf hast du Lust?“

 

„Pizza“, sagt Cathleen, ohne lange darüber nachdenken zu müssen.

 

„Welche Pizzeria empfiehlst du?“, fragt er und scrollt in seinem Handy.

 

Nachdem Cathleen ihm die Pizzeria nennt, braucht nur Joseph in der Speisekarte nachzusehen, was er möchte, da Cat es schon längst weiß.

 

„Gut, welche Pizza willst du?“, fragt Joseph, als er die Nummer der Pizzeria wählt.

 

„Pizza mit Ananas und Salami“, antwortet Cathleen.

 

Entgeistert blickt Joseph auf und bricht den Anruf ab. Er muss sie mehrmals blinzelnd ansehen, um zu verstehen, was sie ihm gerade gesagt hat.

 

„Meintest du gerade wirklich Pizza mit Ananas und Salami?“, wiederholt Joseph und verzieht angewidert sein Gesicht.

 

„Schau nicht so schockiert“, sagt Cat aufgebracht und streckt ihm die Zunge raus. „Es gibt viele Leute, die das mögen.“

 

„Du Pizza Luder, zerstörst das Bild einer klassischen Pizza“, sagt nun Joseph aufgebracht. „Wie absurd süß und salzig zu vermischen und das dann auch noch auf einer Pizza.“

 

Mit offenem Mund blickt Cathleen ihn an und fragt sich, ob er sie gerade wirklich als Pizza Luder betitelt hat.

 

„Wenn du fünf Minuten brauchst, um damit klarzukommen, dann gib mir das Handy“, meint Cathleen gleichgültig und streckt ihr Arm aus.

 

„Das kannst du vergessen“, entgegnet Joseph und muss lachen. „Das verkraftet der Pizza Bäcker niemals, wenn er deine Bestellung hört.“

 

„Jetzt bestell endlich, ich verhungere“, stöhnt Cathleen, ist aber zu müde, um selbst aufzustehen und nach dem Hörer zu greifen.

 

„Die fünf Minuten sind noch nicht vorbei“, provoziert Joseph sie.

 

Aus reinem Reflex wirft Cathleen verärgert und ungeduldig das Kissen in den Händen in Josephs Gesicht. Er hätte niemals damit gerechnet, dass sie ein Kissen auf ihn wirft und dann auch noch mit solch einem Karacho. Erstaunt blickt er das Kissen in seinen Händen an und muss laut loslachen.

 

„Gönn dir die fünf Minuten doch nach der Bestellung, Liebster“, sagt Cathleen keck, betont das letzte Wort und muss nun ebenfalls aufgrund seines aufgebrachten Gesichtes lachen.

 

Kopfschüttelnd beruhigt sich Joseph und wählt erneut die Nummer der Pizzeria. Als er seine und im Anschluss Cathleens Bestellung aufgibt, legt er beschämt seine Hand auf sein Gesicht. Cathleen kann ein Kichern nicht unterdrücken und glaubt wegen der Müdigkeit so heiter zu sein. Da sie mit der Kicherei nicht aufhört, nachdem Joseph das Telefonat beendet hat, wirft er aus Rache jedes einzelne Kissen um ihn herum auf Cathleen. Alle Kissen prallen an Cathleen ab, diese liegt mittlerweile ausgestreckt auf dem Sofa. Kopfschüttelnd lässt Joseph sie auf dem Sosa liegen und geht in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen.

 

Bis der Pizzalieferant kommt, scrollen Cat und Joe eine Filmliste im Fernseher durch und diskutieren, welchen Film sie ansehen wollen. Ihre Geschmäcker könnten nicht unterschiedlicher sein. Während Cathleen gerne die Genre Drama und Liebe gut findet, mag Joseph Action und Thriller. Die Entscheidung fällt letztendlich auf Harry Potter, da Joseph die Filme nie gesehen hat und Cathleen sich selbst als die Fernbedienungsbeauftragte ernannt. Joseph gibt augenverdrehend nach, da er keine Lust hat mit ihr zu diskutieren. Irgendwann werden schließlich auch die Pizzen geliefert, sodass sie genüsslich vor dem Fernseher essen können.

 

Als der Film endet, sind Cathleens Augen halb verschlossen und sie wirkt sehr müde. Wie ein Geist schlendert sie die Treppen hoch ins Bad, um sich bettfertig zu machen. Joseph weiß, dass er Cathleen gleich verklickern müsste, dass er von nun an bei ihr Zimmer schlafen würde. Doch er befürchtet eine heftige Auseinandersetzung und Protest. Da Cathleen heute zu viel erfahren und durchmachen musste, drückt Joseph ein Auge zu und entscheidet zu ihrem Wohl, die Rollläden im Erdgeschoss zu schließen und auf dem Sofa zu schlafen. Die erste Nacht wird er sowieso nicht gut schlafen können, ob nun in ihrem Zimmer oder im Wohnzimmer, heißt er wird sehr hellhörig sein und nach jedem Geräusch aufwachen. Dann macht es nichts, wenn er heute eine Ausnahme macht und sich morgen der Diskussion mit ihr stellt. Schließlich ist morgen noch nicht Montag und er hat den ganzen Sonntag Zeit mit ihr über die nächsten Arbeitstage und den Übernachtungen in ihrem Zimmer zu sprechen.

 

Cathleens Kopf ist wie leergefegt, sie fühlt sich ausgelaugt, ist aber froh darüber, dass in ihrem Kopf nicht viele Gedanken des heutigen Tages herumkreisen. Als sie geduscht und ihre Zähen geputzt hat, kramt sie in ihrem Kleiderschrank nach Bettlaken und Bettwäsche für Joseph und trägt diese hinunter ins Wohnzimmer. Cathleen hilft ihm noch dabei das Sofa auszuziehen und es zu beziehen, ehe sie sich mit einem kurzen „Gute Nacht“ zurückzieht und in ihr Zimmer geht. Es dauert keine zwei Minuten, da ist Cathleen bereits eingeschlafen.

Im Park

Eine Studie belegt, dass je gelber der Schnabel eines Stockentenweibchens ist, sie umso größere Eier legt

 

 

Das weiche, angenehme Summen von ihr lässt mich das gelegentliche Zucken an meiner Kopfhaut vergessen. Denn sie summt mein Lieblingslied und damit konnte sie mich schon immer beruhigen. Sei es, wenn ich einen Wutanfall bekam, weil etwas nicht nach meinem Kopf ging, oder weil ich mitten in der Nacht schreiend wegen eines Albtraums aufwachte. Sie ist immer da, stets an meiner Seite. Sie nimmt mich in ihre warmen Arme, drückt meinen Kopf an ihre Brust und lehnt ihre Wange an mich. Dann wiegt sie mich vor und zurück, und singt oder summt mein Lieblingslied. Höre ich dieses Lied, werde ich hellhörig und lege meine Schalter um. Dieses Lied stammt von ihr, aus ihrem klugen Kopf, dass sie aus Liebe für mich zusammengereimt hat.

 

Während meine Mama mir also die Haare bürstet und ab und zu ein Knoten sich nicht gleich lösen möchte, summt sie mein Lieblingslied, das mich ruhig hält und mich nur kurz zusammenzucken lässt.

 

„Deine Haare sind ganz schön lang geworden, Cathleen“, hört sie endlich auf und seufzt zufrieden.

 

„Dann werden sie bald so schön wie deine“, antworte ich Mama stolz.

 

„Du möchtest also auch lange Haare haben?“, fragt mich Mama und dreht mich auf ihrem Schoss zu ihr um.

 

Mit einem Lächeln auf den Lippen bemustere ich strahlend Mamas langen, blonden, lockigen Haare. Ihre Mähne ist wunderschön und ich wollte schon immer so aussehen, wie sie.

 

„Ich will auch so hübsch sein wie du“, erkläre ich.

 

„Ach Cathleen“, seufzt Mama leicht und berührt meine Wangen. „Du brauchst nicht so auszusehen wie ich, um schön zu sein. Bleib so wie du bist, denn du bist jetzt schon das schönste Mädchen, das diese Welt je gesehen hat.“

 

Ich glaube ihr nicht, bin ihr aber auch nicht böse. Mamas sagen sowas doch immer zu ihren Töchtern, oder etwa nicht? Mein Herz fühlt sich warm an und am liebsten würde ich Mama umarmen.

 

„Ich hab dich lieb Mami“, sage ich lächelnd.

 

„Ich liebe dich noch viel mehr, mein Herz.“

 

 

 

Als wäre ein dunkler Vorhang auf eine Bühne gefallen und hätte somit das Schauspiel beendet, öffnet Cathleen ihre mit Tränen gefüllten Augen. Ihr Atem ist ruhig und ihr Blick ist starr auf die Decke gerichtet. Es ist lange her, als sie das letzte Mal von ihrer Mutter geträumt hat. Sie hat sie vor sich gesehen, sah in ihre blauen Augen, ihre blonde Mähne und ihr liebevolles Lächeln. Sie hat ihr Bild immer noch vor Augen und wünscht sich, es nicht wieder so schnell zu vergessen. Cathleen war acht Jahre alt, als sie ihre Mutter verlor. Die Erinnerungen an sie verblassten in den Jahren immer mehr, sodass sie die Fotos ihrer Mutter immer vor Augen hielt, um sie nicht zu vergessen. An schlechten Tagen, an denen es Cathleen übel ging und sie ihre Mutter schrecklich vermisste, konnten selbst die Fotos ihr nicht helfen und sie konnte sich kaum an sie erinnern. Das Gesicht verschwand immer stärker und sie hasste sich dafür, dass ihre Mutter in Vergessenheit geriet. Doch heute hat Cathleen sie wiedergesehen, und zwar jedes Detail ihres Gesichtes.

 

Mit einem zuversichtlichen Lächeln setzt Cat sich auf und wischt sich die Tränen vom Gesicht. Die Sonne strahlt in ihr Fenster und in Cathleens Brust breitet sich ein gutes Gefühl aus. Heute wird ein guter Tag, sagt sie zu sich selbst und springt vom Bett. Als sie auf den Füßen steht, schwankt sie schockiert wieder zurück ins Bett, da ihr der gestrige Tag wieder einfällt. Ist das alles wahr, fragt sich Cathleen. Hat sie gestern tatsächlich erfahren, dass der Mörder ihrer Mutter hinter ihr her ist und sie nun einen persönlichen Schützen hat, der für die Außenwelt vorgibt, ihr fester Freund zu sein? Könnte das vielleicht alles ein Traum gewesen sein, fragt sie sich wieder und legt ihre Hand auf ihre Stirn. So sehr Cathleen sich ausmalt, den gestrigen Tag geträumt zu haben, so glaubt sie selbst nicht dran und entscheidet unten nachzusehen, ob Joseph auf dem Sofa liegt.

 

Nachdem sie sich eine Leggings und eine Jacke über ihr Shirt gezogen hat, verlässt sie auf Zehenspitzen ihr Zimmer und läuft die Treppen hinunter. Die Holztreppen sind schon alt und knarren an manchen Stellen, doch Cathleen kennt sie in und auswendig, weswegen sie genau weiß, wo sie hin tappen muss, ohne ein Geräusch zu erzeugen. Mitten auf der Treppe bleibt sie stocksteif stehen, da sie den Geruch von Spiegeleiern vernimmt. Es ist auf jeden Fall jemand da, die Chance, dass es sich dabei um Joseph handelt, ist groß. Als sie unten ankommt, bemerkt Cathleen, dass das Sofa eingeklappt ist und darauf die Bettwäsche sauber zusammengefaltet liegt. Nun ist sich Cathleen sicher, dass der gestrige Tag kein Traum gewesen ist.

 

Ein Blick in die Küche bestätigt ihren Verdacht, da sie dort Joseph wiederfindet. Er steht ihr den Rücken zugewandt an der Herdplatte. Cathleen hatte damit gerechnet, dass sie enttäuscht darüber sein würde, dass es Joseph wirklich gibt. Doch verwundert stellt sie fest, dass sie über sein Auftreten aufgeregt ist und eine Erleichterung verspürt. Cathleen redet sich die Gefühle damit gut, dass jemand sie schließlich vor den Mörder beschützen muss. Natürlich ist sie erleichtert, dass Joseph da ist und sie dem Mörder nicht schutzlos ausgeliefert ist, sagt sie zu sich. Mit verschränkten Armen lehnt sie sich am Eingang der Küche an und räuspert sich laut, um auf sich aufmerksam zu machen.

 

„Du kochst?“, fragt sie laut, als Joseph sich zu ihr umdreht.

 

Joseph ist schon längst wach und wollte Cathleen nicht aufwecken, nicht nach dem gestrigen, ereignisvollen Tag. Die Nacht verlief ruhig und er konnte nichts Ungewöhnliches ausmachen. Gegen zehn Uhr morgens entschloss er Spiegeleier vorzubereiten, um Cathleen nicht sofort mit einem ernsten und wichtigen Gespräch den Morgen zu verderben. Heute muss er mit Cathleen über die Arbeitstage und der Schlafsituation sprechen. Außerdem benötigt er noch einige Informationen über sie und er hofft, dass sie sich ihm nicht quer stellt.

 

„Ab und zu, wenn mir danach ist“, antwortet Joseph und lächelt leicht.

 

Er freut sich, dass Cathleen heute wieder Farbe im Gesicht hat und keinem Geist gleicht. Sie sieht energievoll aus und er glaubt, dass sie gut geschlafen hat. Das macht sein Vorhaben für die nächsten Schritte um einiges einfacher und erträglicher.

 

„Na, ich hoffe du kochst besser als Wade“, lacht Cathleen heiter und greift neben dem Herd nach der Kaffeedose.

 

„Wade?“, wiederholt Joseph.

 

Verwundert über seine Unkenntnis blickt Cathleen zu ihm hoch und erkennt seine gerunzelte Stirn. Das ist das erste Mal, dass Cathleen sich fragt, was der Mann neben ihr eigentlich über sie weiß. Sie hat angenommen, dass er immerhin weiß, dass Wade etwa elf Jahre auf sie aufgepasst hat. Stutzig legt sie den Löffel zurück in die Kaffeedose, da sie genug Pulver in den Filter geschüttet hat.

 

„Du weißt nicht, wer Wade ist?“, fragt Cathleen und muss nun ebenfalls die Stirn runzeln.

 

„Nein“, antwortet er zögerlich und nimmt die Spiegeleier aus der Pfanne, um sie auf zwei Teller zu verteilen.

 

Nachdem sie die Kaffeemaschine laufen lässt und heißes Wasser durch den Filter läuft, folgt sie Joseph an den Tisch. Da das Spiegelei zum Anbeißen aussieht, wartet Cathleen nicht allzu lang und beginnt mit Messer und Gabel in das Eigelb zu stochern. Sie entscheidet kein Geheimnis aus Wade zu machen und Joseph darüber zu erzählen, schließlich muss er das als ihr Vorzeigefreund wissen. Trotzdem fragt sie sich, wie es sein kann, dass ihr Vater nicht davon erzählt hat.

 

„Wade war etwa elf Jahre lang meine Nanny“, erklärt Cat und fährt schnell fort, da Joseph sie entgeistert ansieht. „Nach dem Tod meiner Mutter stellte mein Vater Wade ein, der ein angesehener Offizier in der Armee war und schließlich gut auf mich aufpassen konnte. Er war nicht nur körperlich fit, sondern auch erzieherisch ein toller Vaterersatz.“

 

Joseph ist sprachlos über die neuen Infos über Cathleen. Im Leben hätte er nicht gedacht, dass die junge Frau von einem Offizier erzogen wurde. Ihm stellen sich hunderte Fragen. Warum verstarb ihre Mutter? Wieso wurde Wade eingestellt? Aus welchem Grund hat sich ihr Vater durch Wade ersetzen lassen?

 

„Du siehst überrascht aus“, erkennt Cathleen und mustert Joseph aufmerksam. „Was hat dir denn mein Vater alles über mich erzählt?“

 

Joseph hätte sich fast am Essen verschluckt und muss auf die Frage hin stark husten, ehe er nach dem Wasserglas schnappt. Er fühlt sich plötzlich unbehaglich, da er mit der Wahrheit den Eindruck erwecken könnte, für den Fall nicht ausreichend vorbereitet zu sein. Was auch nicht weit hergeholt ist. Doch Joseph war noch nie jemand, der mit falschen Karten spielt, weswegen er sich der Wahrheit und ihrer Reaktion stellt.

 

„Ehrlich gesagt hat mir dein Vater nichts über dich erzählt“, meint Joseph und blickt sie gespannt an. „Er meinte, er würde die nächsten Tage Informationen über dich liefern.“

 

Daraufhin muss Cathleen schallendlaut lachen und steht heiter auf, um sich den fertigen Kaffee in eine Tasse einzuschenken. Joseph hat keine Ahnung, wie er ihre Reaktion deuten soll. Er hätte damit gerechnet, dass sie böse wird und verärgert darüber ist, dass ihr Vater wieder von ihr verlangt, selbst Infos herauszugeben. Schließlich hatte er es auch nicht für nötig gehalten, ihr über Josephs zukünftige Anwesenheit zu informieren. Das musste Cathleen auch selbst herausfinden und nachgehen.

 

„Entschuldige“, sagt Cat, als sie sich wieder an den Tisch setzt. „Es ist nur so, dass ich verwundert gewesen wäre, wenn mein Vater dir tatsächlich etwas über mich erzählen hätte können. Die Tatsache, dass er dich damit vertröstet diese nicht vorhandenen Informationen würden die nächsten Tage eintreffen, ist zum Totlachen.“

 

„Ich verstehe nicht“, schüttelt Joseph nichtsahnend den Kopf.

 

„Wie sollst du denn auch, er war schließlich auch zu feige dir seine Unkenntnis zu offenbaren.“

 

„Ich schnall es immer noch nicht“, meint Joseph und blickt sie nun fieberhaft an. „Seine Unkenntnis?“

 

„Mein Vater hat Wade nicht umsonst eingestellt“, erklärt Cathleen nun etwas aufgewühlt und nippt aus der Tasse. „Er konnte mir nach dem Tod meiner Mutter nicht mehr in die Augen sehen und verließ mich. Wade zog mich daraufhin auf.“

 

Joseph graut es plötzlich und er hat das Gefühl Cathleen in einem ganz anderen Licht gesehen zu haben. Sie wirkte am Anfang wie ein verwöhntes, zickiges Mädchen, dem man jeden Wunsch auf den Lippen erfüllte. Doch nun sieht sie verbittert aus und ihre Worte tragen eine Woge von Verachtung mit sich. Ihr Leben lief keinesfalls perfekt ab und sie hat eindeutig ein Päckchen mit sich zu tragen.

 

„Er konnte dir schlichtweg nichts über mich erzählen, weil er keine Ahnung hat, wer ich bin“, sagt Cathleen leise und blickt Joseph betrübt an. „Er weiß nicht, was ich am liebsten esse, welche Allergien ich habe, wer mir mein Herz zum ersten Mal gebrochen hat, oder wie meine Zukunftspläne aussehen. Aus diesem Grund konnte er dir keine Informationen über mich liefern und das wird auch in den nächsten Tagen nicht passieren.“

 

Er schluckt das Essen herunter, doch es fühlt sich fad an. Joseph ist verärgert, dass Herr Havering nicht einfach ehrlich gewesen ist. Hätte Joseph gewusst, dass er keinen Kontakt zu seiner Tochter hat und es nicht schafft, ihr von seinem Job und dem Mörder zu erzählen, hätte er Cathleen nicht in einem Club aufgegriffen. Er wäre früher auf sie zugegangen und hätte in Ruhe mit ihr gesprochen. Joseph ist davon ausgegangen, dass Cathleen Bescheid wusste und sie an ihrem Geburtstag im Club ihre Rolle gespielt hat.

 

„Du siehst verärgert aus“, meint Cathleen plötzlich und presst ihre Lippen schuldbewusst aufeinander.

 

„Ja, das bin ich auch“, antwortet Joseph ehrlich und seufzt. „Hätte ich das alles früher gewusst, hättest auch du von alldem nicht so erfahren müssen. Und jetzt wirst du genötigt mir alles über dich unfreiwillig erzählen zu müssen. Es wäre einfacher, wenn das dein Vater hätte tun können.“

 

„Das ist halb so wild“, zuckt Cathleen gleichgültig mit den Schultern und blickt Joseph aufmunternd an. „Schließlich habe ich auch was davon, wenn du alles über mich weißt und somit deine Rolle gut spielen kannst.“

 

Nickend und mit einem leichten Lächeln greift Joseph nach ihrem und seinem Teller und stellt sie in die Spülmaschine.

„Stell deine Fragen, ich versuche alle zu beantworten“, wendet sich Cathleen an ihn und folgt ihm mit ihren Augen, wie er wieder zurück an den Tisch kommt.

 

„Gut“, nickt Joseph dankbar und wird nachdenklich. „Vielleicht fangen wir mit einfachen Fragen an. Hast du irgendwelche Allergien?“

 

„Oh ja, ich bin gegen Nüsse allergisch“, antwortet Cathleen und stützt sich mit ihren Ellenbogen am Tisch ab. „War kein schöner 9. Geburtstag als ich wegen einer Nusstorte ins Krankenhaus geliefert werden musste.“

 

„Klingt nach einem aufregenden Tag. Dein Lieblingstier?“

 

„Schmetterlinge“, dabei muss Cathleen lächeln und unwillkürlich an ihre Mutter denken.

 

Das befreiende Lächeln von Cathleen entgeht Joseph nicht und er fragt sich kurz, was ihr bei dem Gedanken von Schmetterlingen wohl durch den Kopf geht.

 

„Was ist dir in einer Beziehung am wichtigsten?“

 

„Einfache Frage“, kommentiert Cathleen und grinst selbstbewusst. „Loyalität, Respekt und Ehrlichkeit.“

 

„Standard“, entgegnet Joseph und muss ebenfalls grinsen. „Was ist mit gutem Sex?“

 

Cathleen kommt nicht drum herum rot zu werden. Immer wenn Joseph über Sex spricht, wird sie rot wie ein zwölfjähriges Mädchen. Sonst ist das doch nie so, jammert Cathleen innerlich und versucht sich die Scham nicht anmerken zu lassen.

 

„Guter Sex ist wichtig, ja“, stimmt Cathleen ihm zu. „Aber ich bevorzuge es trotzdem, wenn mein Mann nur mit mir Sex hat. Er soll mich so behandeln, wie er behandelt werden möchte. Und er soll Mannsgenug sein mir die Wahrheit zu sagen, wenn er nicht mehr dasselbe für mich empfindet, wie ich für ihn.“

 

„Du scheinst wohl noch nie richtig guten Sex gehabt zu haben“, meint Joseph überheblich und grinst sie anzüglich an.

 

„Das geht dich nun wirklich nichts an“, giftet Cathleen ihn an und versucht das Thema zu wechseln. „An deiner Stelle würde ich mit den Fragen fortfahren, bevor ich es mir anders überlege.“

 

„Du musst aber auch immer so schnell deine Krallen ausfahren, Kitty Cat“, bemerkt Joseph und muss lachen, als ihre Augen daraufhin aber aufblitzen, folgt schnell seine nächste Frage. „Dein Hobby?“

 

„Fotografie“, antwortet sie abrupt und merkt, dass Joseph auf eine Ausweitung wartet. „Ich liebe es zu fotografieren, weswegen ich es mir auch als Beruf gemacht habe.“

 

„Verstehe“, nickt Joseph und blickt sie auf die nächste Frage vorsichtig und aufmerksam an. „Wie verstarb deine Mutter?“

 

Als Joseph erkennt, dass Cathleens Augen sich weiten und sie aufschreckt, bereut er es die Frage gestellt zu haben. Sie hat sich abrupt kerzengerade aufgesetzt und ihre Arme auf den Schoß gelegt. Ihre Augen wandern auf den Tisch und sie wirkt hochkonzentriert.

 

„Tut mir leid für die Reaktion“, entschuldigt sich Cathleen schnell und schüttelt den Kopf. „Ich wusste, dass du mir die Frage stellen wirst und dachte ich wäre darauf vorbereitet.“

 

„Nein, es tut mir leid“, entgegnet Joseph und legt seine Hand auf seine Stirn. „Du musst natürlich nicht darauf antworten.“

 

„Doch“, sagt sie schnell und sieht ihn sicher an. „Es fühlt sich nur so seltsam an, weil ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr über sie gesprochen habe.“

 

Cathleen braucht einige Sekunden, um sich zu fassen und ruhig zu atmen. Joseph lehnt sich auf seinen Stuhl zurück und legt seine Arme auf die Stuhllehne. Er gibt ihr so viel Zeit, wie sie braucht.

 

„Meine Mutter starb, als ich acht Jahre alt war“, beginnt Cathleen und blickt aus dem Fenster. „Ihr Tod war unvorhersehbar und niemand hätte gedacht, dass das passieren könnte. Mein Vater ist ein angesehener Waffenhändler hier in der Stadt, das weißt du bestimmt. Damals verkehrte er mit sehr Kriminellen, um den Umsatz zu erhöhen, damit wir uns dieses Haus leisten konnten. Eines Tages hatte er ein großes Ding mit einem Kunden am Laufen und mein Vater konnte jene Menge Waffen für viel Geld ins Ausland verkaufen. Der Kunde kümmerte sich um den Transport und mein Vater um die Ware. Die Polizei kam dem Ganzen auf die Schliche und sie machten meinem Vater das Angebot den Kunden zu verpfeifen, um nicht selbst ins Gefängnis zu kommen. Der Kunde war wohl noch viel krimineller als mein Vater, da er zu den Waffen meines Vaters regelmäßig Drogen verkaufte und transportierte. Mein Vater nahm das Angebot an und verriet seinen Kunden. Dieser kam der Polizei davon und rächte sich bei ihm, indem er meine Mutter ermordete.“

 

Sprachlos sitzt Joseph nach wie vor am Tisch und hat sich kein bisschen gerührt. Er hatte gedacht ihre Mutter wäre an einer Krankheit verstorben. Aber Mord? Auf einmal klingeln die Alarmglocken in seinem Kopf.

 

„Der Mörder deiner Mutter“, stockt Joseph nachdenklich und Cathleen blickt sofort in seine Augen.

 

„Ist derselbe Mann, der nun hinter mir her ist“, beendet sie seinen Satz.

 

Fassungslos blickt Joseph die junge Frau vor sich an. Ihr Blick hat sie wieder abgewendet und ihre Mundwinkel sind nach unten gezogen. Ihre Schultern hängen niedergeschlagen herunter und Joseph erkennt, wie eine Hand sich an dem anderen Arm festhält. Fast, als würde sie versuchen sich selbst Halt zu geben. Ihre Vergangenheit graut ihn und er wäre nie darauf gekommen, dass dieses vorlaute Mädchen, eine tragische Geschichte mit sich trägt. Sie verlor ihre Mutter, ihr Vater verließ sie, als sie ihn am dringendsten gebraucht hat und ein fremder Mann zog sie groß. Cathleen spricht ihre Gefühle und Gedanken nicht aus, doch Joseph hat das Gefühl sie in ihrer Mimik und Gestik ablesen zu können. Er hat das Gefühl, dass sie eine Umarmung benötigt, doch er kann sich nicht dazu aufbringen aufzustehen und sie in seine Arme zu nehmen. Ehrliche Zuneigung konnte Joseph noch nie aufbringen. Also macht er das beste was er kann, Mut machen.

 

„Dann ist es umso wichtiger diesen Dreckskerl zu fassen, damit er die Strafe bekommt, die er verdient“, spricht Joseph ernst und sieht sie zuversichtlich an.

 

„Ja“, haucht Cathleen und ringt sich zu einem wackeren Lächeln. „Das wäre toll.“

 

In der darauffolgenden Stille blicken sich die zwei jungen, fremden Menschen über den Tisch hinweg an und es bildet sich ein unausgesprochener Pakt. Cathleen schwört die Hilfe des selbstbewussten Mannes anzunehmen und alles zu tun was er verlangt, damit der Mörder gefasst werden kann. Joseph sieht in die verletzlichen, blauen Augen von Cathleen und schwört, auf sie Acht zu geben und den Mörder ihrer Mutter ausfindig zu machen. Auch wenn sie sich in dem Zeitpunkt kaum kennen, haben beide dasselbe Ziel und werden sich gegenseitig helfen.

 

Als plötzlich das Telefon im Wohnzimmer klingelt, schreckt Cathleen hoch und fasst sich an die Brust. Es war so still im Haus, dass das Klingeln Cathleen überrascht aus den Gedanken geweckt hat. Noch bevor Cathleen aufstehen kann, um ins Wohnzimmer zu laufen, hält Joseph sie mit ausgestreckter Hand auf.

 

„Ich gehe ran“, weist er sie ernst an.

 

In der Vergangenheit kam es öfters vor, dass seine Schützlinge von ihren Verfolgern angerufen und erpresst wurden. Aus diesem Grund geht er immer zuerst ans Telefon und gibt den Hörer dann weiter, wenn die Luft rein ist. Cathleen ist über die Aussage verwundert, nickt aber akzeptierend und bleibt auf dem Stuhl sitzen, als Joseph an ihr vorbei aus der Küche läuft. Sie kann sich nur wage vorstellen, warum er ans Telefon möchte, hat aber nichts daran einzuwenden, weil es wohl zu seiner Arbeit dazugehört.

 

„Ja, bitte?“, hört sie Joseph sprechen, nachdem das Klingeln aufgehört hat.

 

„Ah, Sie müssen Joseph sein“, hört Joe eine männliche Stimme auf der anderen Leitung. „Mein Name ist Wade Hole und ich würde gerne mit Cathleen sprechen.“

 

Joseph hat den Namen vorhin von Cathleen gehört und diese meinte, er sei ihre Nanny gewesen. Da er den Namen von Joseph kennt, muss Wade vermutlich bereits mit Herr Havering gesprochen haben. Innerhalb weniger Schritte steht er am Türrahmen der Küche und blickt zu Cathleen, welche ihm unsicher entgegenblickt. Der Gedanke, er gebe Cathleen das Telefon und es wäre nicht Wade sondern der Irrer, der sie töten möchte, lässt Joseph erschaudern. Sie hat gestern so viel erfahren müssen und hat in der Vergangenheit zu viel erleiden müssen, Joseph hat sich geschworen sie vor Schlimmeres zu bewahren. Also entscheidet er die Person auf der anderen Leitung erst zu testen, bevor er ihr das Telefon mit gutem Herzen weiterreichen kann.

 

„Selbstverständlich, sie sitzt gerade in der Küche und liest einen Artikel über ihr Lieblingstier“, erklärt Joseph und klingt belustigt, Cathleen runzelt daraufhin die Stirn. „Wie heißen die Tiere noch einmal? Es liegt mir auf der Zunge. Können Sie mir weiterhelfen?“

 

„Nicht schlecht, junger Mann“, lacht Wade auf der anderen Leitung, der seine Andeutung verstanden hat. „Ich bezweifle, dass Cathleen tatsächlich ein Artikel liest. Ich kann mich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal etwas gelesen hat, das mehr als 200 Worte beinhaltete. Wenn sie aber ein Tierartikel lesen würde, dann nur über Schmetterlinge, die liebt sie am meisten.“

 

„Punkt für Sie“, antwortet Joseph und kann sich ein Auflachen nicht unterdrücken. „Ich reiche Sie mal weiter.“

 

Sicher hält Joseph Cathleen das Telefon hin, welche sie mit fragendem Blick entgegennimmt. Wer könnte mit ihr sprechen wollen? Als das Telefon klingelte, hatte sie die Befürchtung, dass es wieder ihr Vater sein könnte. Doch den Gedanken schüttelte sie weg, da ihr Vater sie selten anrief und nach dem gestrigen Telefonat erst wieder Jahre vergehen müssen, bis er sich wieder melden kann. Wäre Luise am Telefon, hätte Joseph keine Testfrage gestellt. Könnte es also vielleicht ihr heißgeliebter Wade sein?

 

„Ja?“, fragt sie leise in den Hörer.

 

„Cathleen“, hört sie die seufzende Stimme von Wade.

 

Seine Stimme würde sie immer erkennen können, egal wie viele Jahre vergehen. Sofort muss sie lächeln und es breitet sich ein wohliges, warmes Gefühl in ihr aus. Wade hat sie nicht vergessen und möchte immer noch mit ihr sprechen, auch wenn er nicht mehr bei ihr lebt. Cathleen könnte vor Freude weinen, doch sie blickt mit feuchten Augen aus dem Fenster, wodurch gerade die Sonne scheint. Joseph kann ihr die Freude bis in ihre blonden Haarspitzen ansehen, weswegen er sich ins Wohnzimmer zurückzieht und sie allein lässt.    

 

„Wade“, nennt Cathleen seufzend seinen Namen und grinst über beide Ohren. „Wie geht’s dir und den Mädels?“

 

„Uns geht es wunderbar“, antwortet er kurz und klingt nun besorgt. „Aber viel wichtiger ist gerade, wie geht es dir?“

 

Cathleen erkennt anhand seiner besorgten Stimme, dass er Bescheid weiß. Wade muss herausgefunden haben, dass der Mörder ihrer Mutter hinter ihr her ist und sie Joseph als Schütze bekommen hat. Aber woher weiß er das? Und die wichtigere Frage, wie lange weiß er schon davon? Die Befürchtung, er könnte es bereits vor seiner Abreise gewusst haben, sitzt tief in ihren Knochen. Wade hätte sie doch niemals mit dem Wissen verlassen und sie einer Gefahr ausgesetzt. Sie will sich das gar nicht vorstellen, der kurze Gedanke setzt ihr Herz bereits in Erschütterung aus.

 

„Den Umständen entsprechend gut“, antwortet sie ruhig und ihr Herz pocht schnell gegen ihre Brust. „Hat mein Vater dich informiert?“

 

„Richtig“, spricht Wade unzufrieden. „Dein Vater rief mich gestern Abend an und erzählte mir von der Neuigkeit. Du kannst dir nicht vorstellen, wie wütend ich war. Als er mir dann auch noch erzählte, dass du erst gestern von deinem Schützen davon benachrichtigt wurdest, und nicht von deinem Vater selbst, bin ich ihn ganz schön angegangen.“

 

Das sieht Wade ähnlich, denkt sich Cathleen und sie lächelt erleichtert ins Telefon. Er hat sie immerzu beschützt und kein Blatt vor den Mund genommen, wenn er mit ihrem Vater gesprochen hat. Es freut sie, dass ihr Vater immerhin von Wade ein Einlauf kassiert hat. Sie wünschte, sie könnte ihm ihre Wut ebenfalls an den Kopf werfen, doch wenn Cathleen ehrlich ist, knickt sie sofort ein, wenn sie die Stimme ihres Vaters hört.  

 

„Das hat er verdient“, meint Cathleen. „Danke dir.“

 

„Und jetzt sag mal ehrlich, wie geht es dir?“, fragt Wade fordernd.

 

Ihr Magen zieht sich zusammen und sie ist sich unschlüssig, was sie antworten soll. Schließlich ist Wade nicht hier, sondern hunderte Kilometer von ihr entfernt. Es würde sein Herz brechen, wenn sie ihm ehrlich sagen würde, wie es ihr geht und er würde vermutlich sofort zu ihr fahren wollen. Doch damit würde sie nicht nur Wade, sondern vielleicht auch seine Kinder in Gefahr bringen. Niemand darf in diese Sachen hineingezogen werden, sagt sich Cathleen verbissen und schluckt den Kloß in ihrem Hals herunter.

 

„Mir geht es wirklich gut“, lügt Cathleen. „Joseph ist freundlich und wir beide kommen gut miteinander zurecht. Ich bin mir sicher, dass Joseph ihn bald ausfindig macht und ich nicht mehr in Gefahr schwebe.“

 

„Du klingst so gefasst“, meint Wade stutzend. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es dir so gut geht. Selbst mich hat es erschüttert, als dein Vater meinte, dass der Mörder deiner Mutter nun ein Auge auf dich geworfen hat.“

 

Nachdem nun auch Wade ausgesprochen hat, dass derselbe Mann, der Cathleens Mutter ermordet hat, sie als nächstes tot sehen möchte, wird Cathleen abrupt schlecht. Sie hat das Gefühl sich erbrechen zu müssen, doch wehrt sie sich mit geschlossenen Augen dagegen an. Wade darf nicht ahnen, wie groß ihre Angst tatsächlich ist, sagt sich Cathleen immer und immer wieder.

 

„Ja, am Anfang hat mich das natürlich völlig aus der Bahn geworfen“, versucht Cathleen authentisch zu klingen. „Aber ich bin ihm ja nicht schutzlos ausgeliefert. Verstehst du? Anstatt mich in meinem Zimmer voller Angst zu verstecken, lebe ich mein Leben weiter und vertraue Joseph, dass er sich um den Ekel kümmert.“

 

„Wow“, Wade klingt überrascht. „Wann bist du denn so erwachsen geworden?“

 

„Gestern Mittag um die Zeit“, antwortet Cathleen ironisch und lacht bitter ins Telefon.

 

„Ich bin stolz auf dich“, meint Wade und seufzt. „Jeder sollte sich eine Scheibe von dir abschneiden, so gelassen und wacker, wie du mit der Situation umgehst.“

 

Alles in Cathleen schreit und sie belügt nicht nur Wade, sondern auch sich selbst. Sie kann nur hoffen, dass niemand auf der Welt sich eine Scheibe von ihrer falschen Persönlichkeit abschneidet.

 

„Versprichst du mir, mich regelmäßig anzurufen?“, fragt Wade, da Cathleen verstummt ist.

 

„Natürlich“, antwortet Cathleen hastig.

 

„Dann pass bitte gut auf dich auf“, meint Wade noch, ehe Cat sich verabschiedet und er auflegt.

 

Während Cathleen in der Küche saß und telefonierte, hatte es sich Joseph auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem gemacht. Nachdenklich starrt er an die Decke und lässt das Gespräch mit Cathleen Revue passieren. Joseph wird bewusst, dass Cathleen gestern am Telefon von ihrem Vater, zu dem sie kaum Kontakt hat und von dem sie aufgrund der Vergangenheit enttäuscht ist, erfuhr, dass derselbe Mann sie töten möchte, der bereits ihre Mutter ermordet hatte. Nun ist auch klar, weswegen sie nach dem Telefonat eine Panikattacke hatte und Zeit gebraucht hat, um sich wieder zu beruhigen. Solch eine Nachricht hätte wohl jeden geschockt. Blinzelnd starrt Joseph die Lampe an der Decke an und vergleicht diesen Fall mit den anderen aus der Vergangenheit. Die meisten Klienten von Joseph wurden von irren Stalkern bedroht und nachgestellt. Ab und zu gab es auch Klienten, die aufgrund ihrer Arbeit mit dem Tod bedroht wurden, doch solch eine Geschichte wie bei Cathleen hatte er noch nie zuvor gehabt.

 

Als Joseph hört, wie im Gespräch zwischen Cathleen und Wade sein Name fällt, wird er hellhörig. Cathleen scheint Wade auftischen zu wollen, dass alles perfekt läuft und sie keine Angst hat. Daraufhin runzelt Joseph seine Stirn und erinnert sich, wie sie schon allein wegen der Türklingel gestern oder dem Klingeln des Telefons heute zusammengeschreckt ist und die Panik klar in ihren Augen zu lesen war. Sie scheint Wade wohl anzulügen, um seine Sorgen klein zu halten. Joseph wird sich da nicht einmischen, doch er hat ein ungutes Gefühl dabei, wie Cathleen mit ihren eigenen Gefühlen umgeht und sie klein redet. Da fällt Joseph auch ein, dass Cathleen noch gar nicht geweint hat. Bei dem Gedanken muss Joseph stutzen und findet es seltsam, dass Cathleen noch kein einziges Mal eine Träne vergossen hat. Wie oft haben die Frauen, die er in der Vergangenheit beschützt hat, sich an seinen Schultern ausgeweint, weil sie eine ungeheuerliche Angst vor ihren Verfolgern hatten? Ob Cathleen wohl noch Zeit braucht, bis sie emotional zusammenbricht?

 

Da aus der Küche kein Gespräch mehr zu hören ist, steht Joseph auf, um zu sehen, was Cathleen macht. Gerade möchte er sie fragen, wie das Gespräch lief, als er abrupt am Türrahmen stehenbleibt. Mit verschränkten Armen liegt ihr Kopf auf dem Tisch und sie blickt ausdrucklos aus dem Fenster. Sie schluckt schwer und wirkt erschöpft. Da merkt Joseph, dass Cathleen anders ist als die Frauen, die er sonst immer beschützt hatte. Es fällt ihr schwer ihre Gefühle freilaufen zu lassen und zu zeigen, dass sie verletzt ist. Vermutlich ist sie zu stolz um eine Schwäche zu zeigen, denkt sich Joseph und er befürchtet, dass sie ihre Angst solange in sich hineinfressen wird, bis sie zusammenbricht. Joseph hatte sich noch nie in der Position befunden, seine Klienten aufzuheitern oder gar aufzufordern über ihre Sorgen zu sprechen, weswegen er unschlüssig am Türrahmen steht. Dennoch spürt er den Drang ihr zu helfen und er kann sich nicht erklären, woher das kommt.

 

Um ihren Kummer zu besänftigen, fällt Joseph auf die Schnelle nur eine Möglichkeit ein. Also tappt er in die Küche und packt aus einer Box ein paar Brotscheiben heraus und legt sie schließlich in eine Tüte. Cathleen richtet sich auf, als sie das Geraschel einer Tüte hinter sich hört. Verwundert, was Joseph vorhaben könnte, blickt sie ihn fragend an.

 

„Zieh dich an“, fordert Joseph sie auf und läuft mit der Tüte in der Hand ins Wohnzimmer.

 

„Wo willst du hin?“, ruft sie ihm hinterher und steht mit verwirrtem Gesichtsausdruck auf, um ihm neugierig zu folgen.

 

Cathleen findet Joseph im Flur seine Schuhe anziehen und sieht ihm zögerlich zu. Sie hat keine Ahnung, was er vorhat und wohin er möchte. Doch die Idee nach draußen zu gehen, gefällt ihr, da es nicht mehr viele Tage geben wird, in denen die Sonne so schön strahlen wird. Als Joseph die Schuhe angezogen hat, blickt er sie auffordernd an, doch Cathleen rührt sich vor Verwunderung nicht.

 

„Wir machen einen kleinen Ausflug“, erklärt er und wirft Cathleen ihren roten Mantel zu, welchen sie perplex auffängt.

 

Schulterzuckend zieht Cat ihren Mantel über und freut sich frische Luft schnappen zu können. Nachdem sie ihre Schuhe anhat und den Hausschlüssel in ihre Jackentasche legt, blickt sie interessiert auf die Tüte in Josephs Hand.

 

„Wieso nimmst du Brot mit?“, fragt Cat neugierig.

 

Doch Joseph ignoriert die Frage und öffnet sodann die Haustür. Er läuft mit zügigen Schritten voraus und sieht sich bedacht um, doch ihm fällt nichts Auffälliges auf. Als Cathleen die Tür hinter sich zuzieht, möchte sie mit schnellen Schritten Joseph hinterhereilen. Doch aufgrund der unebenen Stufen und ihrer Hast, verliert sie auf der letzten Stufe den Halt und fällt zu Boden. Hätte Cathleen nicht genervt von sich selbst aufgestöhnt, hätte Joseph gar nicht mitbekommen, dass sie gestolpert ist. Als er sich zu ihr umdreht, findet er sie auf ihren Vieren auf den Boden liegen. Während er mit einem unterdrückenden Lachen über ihre Tollpatschigkeit zurückläuft, setzt sich Cathleen auf ihre Beine und streicht unglücklich den Schmutz an ihren Handflächen weg. Noch bevor Joseph ihr helfen kann aufzustehen, erhebt sie sich selbst und streift auch den Dreck an ihrer Leggings weg. Das ist nicht das erste Mal, dass Cathleen wegen der letzten Stufe gestolpert ist. Schon seit Jahren schwört sie sich, die Treppen zu ihrem Haus zu renovieren.

 

„Reich mir deine Hand“, sagt Joseph auffordernd und streckt ihr seine offene Hand entgegen.

 

Überrascht blickt Cathleen ihn an und wüsste nicht, warum sie das tun sollte. Joseph erkennt ihre Ahnungslosigkeit und verdreht kurz seine Augen, ehe er selbst nach ihrer Hand schnappt. Mit einem Ruck zieht er Cathleen zu sich und umfasst ihre Hand schon sanfter, bevor sie sich beschweren kann. Damit sie nicht noch einmal stolpert, reduziert er seine Laufgeschwindigkeit.

 

„Da wir nun draußen sind, bedeutet das, dass du vorgeben musst, meine Freundin zu sein“, flüstert er ihr ernst zu, lächelt sie aber für Außenstehende liebevoll an. „Vergiss nicht, dass wir ein Paar sind, sobald wir aus deiner Haustür sind oder dich irgendwelche Freunde besuchen.“

 

„Entschuldige“, flüstert sie zurück und könnte sich gegen die Stirn schlagen, dass sie es wieder vergessen hatte.

 

Auch Cathleen merkt, dass er für sie nun langsamer läuft und ihre Hand gar nicht so fest umfasst, wie sie es sich vorgestellt hätte. Natürlich ist seine Hand im Gegensatz zu ihrer größer und rauer, aber er zieht nicht an ihr, wie an einem Hund, sondern als wäre sie wirklich seine Freundin. Sie erinnert sich, dass sie schon lange nicht so an die Hand genommen wurde und wird prompt etwas rot. Joseph entgeht ihr schamhafter Gesichtsausdruck und die roten Wangen nicht und er fragt sich, wie sie wohl aussehen mag, wenn sie sich küssen. Ob sie wohl bereits damit rechnet oder schockiert sein wird, fragt sich Joseph.

 

„Wohin gehen wir denn nun?“, fragt Cathleen, als sie vor einer roten Ampel stehenbleiben.

 

Cathleen hat bereits die Vermutung, dass Joseph sie in den Park nehmen möchte. Denn genau vor ihnen liegt ein großer Park, welcher vor allem im Sommer von vielen Leuten genutzt wird. Doch sie findet keine Idee dazu, was er mit dem Brot in der Tüte vorhaben könnte.

 

„Dahin“, mit einem Kopfnicken zeigt er in Richtung des Parks und bestätigt ihren Verdacht.

 

Nachdem die Ampel auf grün wechselt und sie über die Straße laufen, fragt sich Cathleen, was er an einem Herbstnachmittag im Park machen möchte. Die Blätter werden langsam bunt und die Sonnenstrahlen fühlen sich warm auf Cathleens Wangen an. Viele Vögel fliegen im Schwarm umher, ehe sie in der Ferne hinter den Bäumen verschwinden. Gemütlich laufen die beiden Hand in Hand durch den Park, spazieren an ein paar Pärchen vorbei und lächeln sie freundlich an. Das Gefühl der Geborgenheit breitet sich in Cathleen aus, obwohl sie doch weiß, dass das alles nur Show ist. Ihr wird bewusst, dass sie lernen muss, mit diesem Gefühl umzugehen und es nicht wichtig werden zu lassen. Diese Gefühle könnten sich auf katastrophalerweise in Liebe verwandeln, obwohl das Verhalten von ihr und Joseph nur auf eine Lüge basiert. Also verdrängt sie diese warmen Gefühle und gibt dem schönen Wetter und den zwitschernden Vögeln die Schuld ihrer guten Laune.

 

Während dem Laufen blickt sich Joseph des Öfteren unauffällig um, stellt aber immer wieder zufrieden fest, dass er keine Anzeichen auf Verfolgung oder Beobachtung findet. Da er schon erfahren in seinem Job ist, weiß er, wann eine vorbeilaufende Frau, Mann oder Pärchen, nicht die sind, für die sie sich ausgeben. Trotzdem versucht er sich nicht zu viel umzusehen, da das ebenfalls auffällig wäre. Der Mörder soll schließlich denken, dass er mit Cathleen zusammen die Zeit als Pärchen im Park verbringen möchte, er soll keine Zweifel hegen. Als Joseph vor dem großen See stehenbleibt, blickt Cathleen ihn fragend an.

 

„Sag bloß du willst eine Runde schwimmen?“, fragt Cat belustigt.

 

Ohne darauf zu antworten, öffnet Joseph kopfschüttelnd die Tüte, greift nach einer Scheibe Brot und reißt kleine Stücke ab, um sie anschließend in den See zu werfen. Sofort fängt das Enten Gequake an und fasziniert blickt Cathleen auf das Wasser. Joseph reicht ihr ebenfalls ein Stück Brot und ohne miteinander zu sprechen, bricht Cathleen ein Stück ab und macht es Joseph nach. Mit einem Lächeln im Gesicht sieht sie zu, wie die Enten um das Stück Brot konkurrieren und sie gewinnt schnell Spaß daran. Natürlich fragt sie sich, wieso er sie hierhergeführt hat, aber irgendwie ist sie ihm dankbar. Cathleen hatte nie zuvor Enten gefüttert und freut sich, dass das bedrückende Gefühl in ihrem Herzen für kurze Zeit verschwindet. Innerhalb zwei Tagen kamen alte Gefühle in Cat hoch, die sie jahrelang gut verdrängt hat. Der Tod ihrer Mutter sowie die Ursache dafür. Das Interesse ihres Vaters bezüglich ihres Schutzes und die Trennung von Sven. Jedes Stück Brot, das sie ins Wasser wirft, erleichtert sie ein wenig mehr und sie vergisst all den Kummer.

 

Von der Seite sieht Joseph, wie vertieft Cathleen in ihrer Sache ist. Nun scheint sie zufrieden auszusehen, ausgelassener und nicht mehr so bedrückt. Er fragt sich, über was sie wohl nachdenkt. Und plötzlich ist er von seinen Gedanken schockiert und blickt von Cathleen weg. Noch nie kam er ins Grübeln, über was eine Frau wohl denkt oder, wie es ihr generell geht. Selbstverständlich brachten ihm seine Eltern bei, respektvoll und höflich mit Menschen und Frauen umzugehen. Jedoch war es eher so, dass er höflich mit ihnen redete, aber nie einen intensiveren Gedanken über ihre Gefühle verschwendete. Zu Hause war er der brave Sohn und in der Schule der freche Bengel. Viele Freunde hatte Joseph damals nicht, da er als Teenager viel zu arrogant wirkte, doch an Freundinnen mangelte es ihm nie. Schon mit 16 Jahren sah er unverschämt gut aus. Er wusste, wie man mit Frauen umgehen muss. Was man ihnen ins Ohr flüstern muss, sodass sie rot werden. Wie man sie küssen soll, damit sie das Gefühl bekommen, in Ohnmacht fallen zu können. Ja, Frauen waren sein Spezialgebiet. Doch ging es ihm immer nur um Spaß. Wenn eine Frau ihn nicht mehr unterhalten konnte, verließ er sie. Dass ein Mann tiefere Gefühle empfinden konnte, hatte er nur im Fernseher gesehen und fand es daher lächerlich. Schon allein der Gedanke, sein Leben für eine Frau aufzugeben, die man liebt, ist für ihn unverständlich. Die einzige Frau, die er verehrt hatte, war seine heiß geliebte Schwester. Aber diese Liebe verschwand, als sie starb.

 

Könnte es sein, dass Cathleen ihn an sich selbst erinnert, als er nach dem Tod seiner Schwester vor Kummer fast den Verstand verlor? Schließlich wurde Cat wieder an den Tod ihrer Mutter erinnert und wirkt heute sehr bedrückt, denkt sich Joe. Er befriedigt sich mit dem Gedanken, dass er mit Cathleen Mitleid hat und sie deswegen aufmuntern wollte, deswegen macht er sich so viele Gedanken um sie. Als das Brot ausgeht und die Enten satt aussehen, wirft Joseph die leere Tüte in den Müll und reicht ihr wieder seine Hand. Dieses Mal legt Cathleen ihre Hand in seine, ohne darüber nachzudenken und lächelt ihn freundlich an.

 

„Das war eine gute Idee“, sagt sie heiter und atmet erfreut aus. „Wie kamst du darauf?“

 

Viel eher würde sie wissen, wieso er das überhaupt tat. Es ist eine Sache draußen Hand in Hand rumzulaufen, aber was hat es damit auf sich, dass er sie überhaupt mit nach draußen mitnehmen wollte, fragt sich Cathleen.   

 

„Machen das nicht alle Verliebte?“, fragt Joseph verblüfft.

 

Die Frage lässt Cathleen stocken und darüber nachdenken. Was machen denn Verliebte, fragt sich Cathleen und runzelt ihre Stirn. Cathleen war im Leben oft verliebt, größtenteils basierte das jedoch auf eine einseitige Liebe. Aus der Ferne schmachtete sie ihren Schwärmen hinterher und gab sich mit der Vorstellung zufrieden, was sie mit ihnen tun würde, wenn sie zusammen wäre. Nachts konnte sie besser einschlafen, wenn sie sich Szenen auf einem Jahrmarkt oder auf einer Reise mit den Jungs ausdachte, in denen sie verliebt war. Sie hatte nie den Mut auf sie zuzugehen und wurde von ihnen auch nicht bemerkt, so fühlte sich Cathleen irgendwann unscheinbar und rollte gemeinsam mit Luise in die verrückten Haarerfindungen, um aufzufallen. Die erste Person, die Cathleen wahrnahm, war Sven. Doch auch das war eine einseitige Liebe, das aber erst zu spät ans Licht kam.

 

„Keine Ahnung“, antwortet sie unbehaglich und blickt zur Seite.

 

„Naja, was hast du und Sveni Boy denn immer so getrieben?“, fragt Joseph neugierig.

 

Plötzlich bleibt Cathleen wie angewurzelt stehen, sodass auch Joseph zurückgehalten wird und erstaunt zu ihr blickt. Cathleen hätte nicht damit gerechnet, dass er sie nun über Sven ausfragt. Wenn sie ehrlich ist, hatte sie niemals vorgehabt mit Joseph über Sven zu sprechen. Sie denkt ja selbst nicht gerne darüber nach und würde die Zeit am liebsten vergessen. Was bringt es denn schon, darüber zu sprechen, fragt sich Cathleen, totschweigen hat doch schon immer besser geholfen.

 

„Tut mir leid“, sagt er sofort, als er ihren geschockten Gesichtsausdruck bemerkt. „Ich wusste nicht, dass das ein Tabu Thema ist.“

 

Jetzt sollte Cathleen etwas Besänftigtes antworten, doch sie scheint ihre Zunge verschluckt zu haben, weswegen sie sprachlos auf ihre Lippe beißt. Sie wünscht sich, dass sie einfach wieder weiterlaufen und so tun, als hätte Joseph nicht die Frage aller Fragen gestellt.

 

„Du darfst mir das nicht übelnehmen“, erklärt Joseph nun seufzend, da sie ihm immer noch nicht antwortet und zieht sie an der Hand leicht zu sich. „Ich hätte eigentlich schon gestern alles über dich wissen müssen, alles über deine Arbeitskollegen, deine Freunde, deine Ex-Freunde, deine Feinde und deine Familie. Doch ich stehe im Dunkeln und ich befürchte, wenn du mir nicht freiwillig von ihnen erzählst, werde ich irgendwann in ein Fettnäpfchen tappen und unsere Fake Beziehung kommt ans Licht.“

 

Cathleen seufzt laut hörbar auf und beginnt mit schweren Schritten weiterzulaufen, an ihrer Hand immer noch die von Joseph, welchen sie schließlich mit sich zieht. Joseph folgt ihr aufmerksam und versucht aus ihrer Reaktion schlau zu werden. Es ist nicht das erste Mal, dass Cathleen auf ihren Ex-Freund so reagiert. Joseph ist sich sicher, dass sie gestern stinkwütend war, als Luise offenbart hatte, dass sie von Sven nach Hause gefahren wurde. Da konnte Joseph gut erkennen, dass sie nicht schauspielt, sondern ehrlich war. Und auch jetzt ist sie regelrecht sprachlos und findet keine Worte. Vermutlich ist die Geschichte zwischen Sveni Boy und Kitty Cat nicht gut ausgegangen, denkt sich Joseph argwöhnisch. Cathleen findet es schade, als sie das Ende des Parks erreicht haben. Denn nun hat sie das Gefühl, dass auch die Freude ein Ende hat und sie sich wieder mit der Realität auseinandersetzen muss. Denn sie muss Joseph unweigerlich Recht geben, wenn er nicht alles über sie weiß, könnte es mal brenzlich werden und ihr Schutz würde bröckeln.

 

„Also gut“, beginnt Cathleen zögerlich, als sie am Straßenrand auf dem Gehweg laufen. „Ich habe Sven vor zwei Jahren kennengelernt, da hatte er aber schon eine Freundin. Er ist mir sofort aufgefallen, nicht nur mit seinem Aussehen, sondern vor allem wegen seiner Art. Er war anders als die anderen. Sven war kein Junge mehr, sondern ein Mann und das hat ihn zu etwas Besonderes gemacht. Wenn ich über Sven nachdenke, dann erinnere ich mich, wie einzigartig sein Charakter war, wie anders er die Dinge betrachtet hat und wie interessant doch seine Meinung zu diesen Dingen war. Er hat seine Freundin damals geliebt, nicht wie ein Junge ein Mädchen liebt, weil er gerade keine andere hat. Sondern wie ein Mann, der keine andere Frau ansehen kann außer sie. Und ich erinnere mich, dass ich das auch wollte. Diese innige Liebe, diese Sehnsucht und vor allem diese Leidenschaft.“

 

Cathleen holt tief Luft, um weiterzuerzählen und blickt Joseph mit Absicht nicht an. Sie schämt sich für die Beziehung mit Sven, denn sie war blindverliebt und dumm.

 

„Irgendwann verließ seine Freundin ihn, das hat ihm das Herz gebrochen und er hat sich schlagartig verändert, was mir jedoch erst später auffiel. Ich weiß nicht genau wie, aber irgendwann fingen wir an uns zu treffen und durch mehrere Treffen kamen wir irgendwann zusammen. Doch war das nicht das Gleiche, wie mit seiner damaligen Freundin. Er war nicht der Sven von früher. Er war ein anderer Sven. Aus dem Mann entwickelte sich wieder ein pubertierender Jugendlicher und all seine tollen Eigenschaften von früher konnte ich nicht mehr in ihm wiederfinden. Doch ich sah darüber hinweg und dachte, dass er einfach etwas Zeit braucht, wieder zu sich zu finden. Erst im Laufe der Zeit bemerkte ich, dass er mich nicht so wertschätzte, wie er eigentlich sollte. Es gab keine Leidenschaft, genauso fehlte die Sehnsucht. Ich glaube, ich war nur ein Trostpreis für ihn.“

 

Cathleen merkt auf einmal, dass sie gar nicht mehr aufhören konnte zu erzählen und wird schlagartig rot. Sie hätte nicht gedacht, dass sie so ausgelassen über Sven sprechen konnte, vor allem mit Joseph. Doch Joseph unterbrach sie kein einziges Mal und schien ihr aufmerksam zuzuhören.

 

„Erzähl weiter“, fordert Joseph sie auf und Cathleen fühlt sich bestärkt weiterzureden.

 

„Ich trennte mich von ihm, weil er mich nicht respektierte und es ihm egal war, ob er nun mit mir zusammen war oder nicht. Er war noch nicht über sie hinweg und das konnte er auch nicht wahrhaben. Er ärgerte sich tierisch, als ich ihm das an den Kopf warf, was die Wahrheit nur deutlicher zeigte. Jedenfalls vergnügte er sich nach unserer Trennung gleich eine Woche danach mit einer anderen“, seufzt Cathleen wegwerfend, als würde das Erzählte ihr nichts mehr bedeuten.

 

„Hast du ihn sehr geliebt?“, fragt Joseph ernst.

 

Geduldig und aufmerksam hat Joseph zugehört, kann sich jedoch kaum vorstellen, dass Cat für solch einen Idioten etwas empfinden könnte. Da war es wieder, die lächerliche Sichtweise von ihm, dass ein Mensch kaum einen anderen richtig lieben könnte.

 

„Ich glaube schon“, denkt Cathleen laut. „Dafür, dass ich solange nur an ihn denken konnte und nur schwer über ihn hinwegkam, gehe ich stark davon aus, dass ich ihn geliebt habe. Aber was weiß ich schon über die Liebe. Warst du schon mal in einer Beziehung?“

 

Joseph war nicht darauf vorbereitet, dass sie ihm eine Gegenfrage stellt. Cathleen selbst hatte gar nicht vor ihn damit zu bedrängen, sondern war so verzweifelt über die Vorstellung der wahren Liebe, dass sie seine Erfahrung anhören wollte. Als Joseph nicht darauf antwortet, merkt Cathleen, dass sie mit ihrer Frage gegen eine Wand gestoßen ist. Sie erinnert sich wieder an gestern, als er ihr offenbart hatte, dass er auf der Arbeit nicht über Privates spricht. Also muss sie ihn gar nicht fragen, wieso er ihr nicht antwortet, da sie es bereits weiß.  

 

„Hast du Hunger?“, fragt Joseph, um Cat abzulenken.

 

Cathleen hat nicht drauf geachtet, wohin sie laufen, sondern sich während ihres Monologs über Sven führen lassen. Nun stehen sie vor einem Hotdog Wagen, zudem Cat hungrig aufblickt. Gentleman Like bestellt Joseph zwei Hotdogs und bezahlt auch. Als er ihr eines reicht, beißt sie genüsslich hinein und bedankt sich freundlich. Sie freut sich darüber, dass das Zusammensein mit Joseph auch eine gute Seite hat. Dennoch hat sie ihre Frage nicht vergessen und es wurmt sie, dass sie nichts über ihn weiß. Klar, er hatte ihr deutlich gemacht, dass er nichts über sich erzählen mag, doch ist das nicht fair. Cathleen soll ihre ganze Lebensgeschichte auspacken, jede traurige und peinliche Geschichte, und sie kennt nur seinen Namen. Was, wenn ihre Freunde sie über ihn ausfragen, fragt sich Cat und hat sich somit ein Argument für ihre Neugierde geliefert.

 

„Du hast meine Frage von vorhin nicht beantwortet“, wiederholt Cathleen und sie laufen mit den Hotdogs in den Händen weiter.

 

„Ich dachte keine Antwort ist auch eine Antwort“, erwidert Joseph hinterlistig.

 

„Schwachsinn“, entgegnet Cathleen ungeduldig. „Du weißt so viel über mich und ich packe jede Geschichte aus, die du von mir hören magst. Wieso kannst du fairerweise nicht auch auf meine Fragen eingehen?“

 

„Du brauchst nichts über mich zu wissen, außer meinen Namen“, erklärt Joseph und merkt, dass das eine längere Diskussion sein wird.

 

„Das macht keinen Sinn“, meint Cathleen aufgebracht und sieht ihn verärgert an. „Wenn dich meine Freunde etwas über mich fragen, wirst du alle Fragen ausgezeichnet beantworten können. Aber was mache ich denn, wenn sie etwas über dich wissen wollen? Soll ich auf jede Frage mit „Er heißt Joseph“ antworten?“

 

„Das wäre witzig“, antwortet Joseph lachend, sobald er aber ihren Gesichtsausdruck gesehen hat, wird er wieder ernst. „Üblicherweise erfinden meine Klienten eigene Geschichten für mich und ich passe mich ihnen an.“

 

Cathleen spürt, dass sie mit dem Argument den Kürzeren gezogen hat. Dann muss sie wohl zu härteren Mitteln greifen, denkt sie sich und schürzt ihre Lippen.

 

„Trotzdem fällt es mir schwer, mich bei jemandem sicher zu fühlen, wenn ich nicht einmal weiß, welche Ausbildung dieser hat, oder wie viele Klienten er bereits vor mir schützen musste.“

 

Damit hatte Cathleen ins Schwarze getroffen. Joseph muss daraufhin nämlich verletzt pfeifen und sich gespielt gekränkt an die Brust fassen. Wenn Joseph ehrlich ist, kränkt ihn der Gedanke etwas, dass sie sich bei ihm nicht sicher fühlen könnte. Außerdem findet er es lustig, wie viel Mühe sich Cathleen gibt, um mehr über ihn herauszufinden. Noch nie musste er so viele Diskussionen führen, weil er nichts über sich preisgeben wollte.

 

„Ich erzähle dir ein wenig von mir, wenn du mir sagst, was für ein Tattoo du hast“, schlägt Joseph grinsend vor.

 

Beinah hätte sich Cathleen an ihrem Hotdog verschluckt. Das war ja klar, dass er nicht lockerlassen wird, denkt sich Cat und verdreht ihre Augen.

 

„Du stellst aber hohe Ansprüche“, hustet sie.

 

„Deine Entscheidung“, meint Joseph schulterzuckend und grinst siegessicher.

 

Kurz wägt Cathleen seine Anforderung mit ihrem Interesse ab und stellt fest, dass das Interesse, woher Joe wohl kommt, wo er aufgewachsen ist und wie er zu solch einem Beruf gekommen ist, größer ist. Zum Teufel, denkt Cat sich und seufzt laut

 

„Einverstanden“, sagt Cathleen sicher und sieht von der Seite, wie Joseph blöd aus der Wäsche guckt.

 

Damit hätte Joseph nicht gerechnet. Sie hatte gestern mit allen Mitteln versucht ihr Tattoo zu verheimlichen und wollte es ihm partout nicht sagen. Und nun willigt sie dem Vorschlag ein, nur um mehr über ihn zu erfahren?

 

„Ich sage dir, was für ein Tattoo ich habe und du erzählst mir von deinem Job und woher du kommst“, fügt Cathleen hinzu, ehe Joseph sein Angebot zurückzieht.

 

Nachdenklich blickt Joseph die Autos an, die neben ihnen auf der Straße vorbeisausen. Er fragt sich, ob er wirklich so viel über sich preisgeben soll und möchte. Doch noch viel mehr fragt er sich, was der eigentliche Grund ihrer Neugierde über ihn ist, denn das Vertrauen wird es sicherlich nicht sein.

 

„Also gut, du fängst an“, beschließt er und blickt sie auffordernd von der Seite an.

 

Da Cathleen daraufhin schlagartig rot wird, muss Joseph bereits anfangen zu lachen. Himmel, was hat sie sich denn gestochen, dass es ihr so peinlich ist, fragt sich Joseph.

 

„Das ist nicht witzig!“, protestiert Cathleen im Vornherein und blickt ihn schmollend an. „Versprich mir, dass du versuchst, mich nicht auszulachen oder mich damit aufzuziehen!“

 

„Jetzt rück schon raus damit“, drängt Joseph und muss laut lachen.

 

„Ein Hello Kitty“, flüstert Cathleen, die Worte sind wegen der lauten Straße kaum zu hören.

 

Joseph meint verstanden zu haben, was sie gesagt hat, doch er kann es nicht glauben.

 

„Wie bitte?“, fragt er, um sicherzugehen, dass er sie richtig verstanden hat.

 

„Ein Hello Kitty!“, ruft sie aufgebracht und verschränkt beschämt ihre Arme.

 

Daraufhin muss Joseph so laut lachen, dass die Leute, die an ihnen vorbeilaufen, sich interessiert zu ihnen umdrehen. Cathleen wird so rot, dass sie sich am liebsten umdrehen und Joseph allein weiterlaufen lassen würde.

 

„Ja, ist gut jetzt“, versucht sie ihn zu beschwichtigen.

 

„Wo genau?“, fragt er neugierig, als er sich beruhig.

 

Cathleen braucht zwei Augenblinzeln, um zu verstehen, was er mit der Frage meint. Sie dachte, sie könnte sich nicht noch mehr schämen, doch falsch gedacht.

 

„Das geht dich nichts an“, zischt sie und blickt stur geradeaus.

 

Wie auf Kommando wandern seine Augen von ihrem Gesicht entlang ihrem Körper, bis sie unter ihrem Bauch verweilen. Auch wenn Cathleens Blick nach vorne gerichtet ist, spürt sie seinen aufdrängenden Blick auf sich. Plötzlich fühlt sie sich unter seinen Blicken nackt und sie hat das Gefühl, dass er sich ihr Tattoo an einer ganz bestimmten Stelle vorstellt.

 

„Du bist dran“, japst Cathleen.

 

„Ist ja gut Kitty Cat“, zwinkert er ihr besänftigend zu. „Was genau willst du wissen?“

 

„Wo bist du aufgewachsen?“, räuspert sich Cathleen und fragt neugierig.

 

„Im Süden“, antwortet Joseph kurzangebunden und wirkt nicht mehr so amüsiert, wie noch vor wenigen Sekunden.

 

Cathleen beißt sich schuldbewusst auf die Lippen, da sie merkt, wie sich die Stimmung schlagartig verändert hat. Er scheint nicht gerne über sich zu sprechen, doch Cathleen lässt nicht locker und sammelt Mut.

 

„Wie kamst du zu solch einem Job?“, fragt sie und sieht ihn von der Seite interessiert an.

 

„Du meinst, wie ich auf die dumme Idee kam, solche verplanten und unzurechnungsfähigen Frauen, wie dich zu beschützen?“, fragt er ironisch.

 

„Ha ha“, lacht Cathleen gekünstelt und fährt ihn sachte mit dem Ellenbogen in die Rippen.

 

„Im ernst! Es ist ja nicht so, dass der Berufsberater jeden zweiten Typen solch einen Job vorschlägt“, erklärt Cat.

 

Kurz scheint Joseph nachzudenken. Sagt er ihr, wie er zu dem Job kam, werden weitere Fragen folgen. Kann er mit den lästigen Fragen umgehen, fragt er sich.

 

„Ich kam genauso zu dem Job, wie auch dein Wade den Beruf einschlug, auf dich all die Jahre aufzupassen“, antwortet Joseph so kurz, wie möglich.

 

Cathleen weiß, dass Wade früher ein Offizier in der Armee gewesen ist. Ist Joseph also auch ein Offizier? Aber die beiden haben doch nicht denselben Job, denkt Cat kritisch. Während Wade einfach auf Cathleen aufgepasst hat, muss Joseph ihr Leben schützen. Es bildet sich eine Falte auf der klaren Stirn von Cathleen und sie fragt sich, warum er einfach nicht sagt, wie er dazu kam und sie ihm alles aus der Nase ziehen muss.

 

„Du warst also auch Offizier in der Armee?“, fragt Cathleen und bekommt ein Nicken zur Antwort. „Aber Wade hat bei mir nur die Nanny gespielt. Das heißt du kannst nicht nur ein normaler Offizier gewesen sein, sonst hätte Wade jetzt auch an deiner Stelle stehen können, doch fehlte ihm dazu eine gewisse Ausbildung, habe ich recht?“

 

„Und das Wissen stammt von einer Blondine?“, fragt Joseph erstaunt.

 

„Was soll das denn wieder heißen!“, zischt Cathleen empört und fährt fort. „Ich kenne viele intelligente Frauen mit blonden Haaren. Das ist doch nur ein Klischee. Außerdem ist das nicht meine Naturhaarfarbe.“

 

Interessiert blickt er Cathleen an und findet schon wieder eine Geschichte, die sich hinter ihr verbirgt. In ihrer Wohnung hat er schon längst die ganzen Bilder auf der Wand gesehen, wo sie fast auf jedem Foto eine andere Haarfarbe hatte. Doch Joseph beschließt sie das ein anderes Mal zu fragen, da die zwei wieder an ihrer Wohnung angekommen sind. Als sie vor der Haustür stehenbleiben, hält Joseph Cat auf, bevor sie den Schlüssel ins Schlüsselloch steckt.

 

„Du wirst dich dran gewöhnen müssen, dass ich in Zukunft die Tür öffne, zuerst reinlaufe und die Wohnung checken werde, während du im Flur geduldig wartest, bis du ein Okay von mir hörst“, erklärt er und hält ihr die offene Hand hin, damit sie ihm den Schlüssel gibt.

 

Schulterzuckend vergisst Cathleen ihre Fragen an Joseph, reicht ihm ihre Schlüssel und befolgt brav seine Anweisungen. Während er also die ganze Wohnung checkt und sie artig im Flur wartet, zieht sie ihre Schuhe und Jacke aus und betrachtet sich im Spiegel. Ihre blauen Augen bemustern ihre roten Wangen, woraufhin sie sich mit ihrer Hand durch ihr blondes Haar fährt. Währenddessen ist Joseph in jedes Zimmer gelaufen, hat hinter jede Tür gesehen, selbst den Kleiderschrank von Cathleen geöffnet und unter ihrem Bett nachgesehen. Niemand befindet sich in der Wohnung und es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass jemand hier war.

 

„Du kannst kommen“, ruft Joseph aus dem ersten Stock.

 

Daraufhin läuft Cathleen erleichtert ins Wohnzimmer und wirft sich sodann aufs Sofa. Müde verschränkt sie ihre Arme hinter ihren Kopf und blickt die Decke über sich an.

 

„Sag mal, was tust du, wenn du hier mal jemand findest?“, fragt Cathleen neugierig, als sie hört, wie Joseph die Treppen herunterläuft.

 

„Was glaubst du? Teekränzchen?“, fragt er ironisch und läuft in die Küche.

 

Cathleen verdreht ihre Augen und stellt fest, dass er sie mal wieder nicht ernst nimmt. Der Gedanke lässt sie aber nicht los, weswegen sie nicht lockerlassen kann, bis sie eine Antwort von ihm erhält.

 

„Du bist so witzig“, sagt Cathleen ebenfalls ironisch. „Sag schon.“

 

Ungeduldig dreht sie sich um und stützt sich auf ihre Knie auf, um ihn besser betrachten zu können. Joseph läuft gelassen mit einem Glas Wasser in der Hand zu ihr und setzt sich in den ihr gegenüberliegenden Sessel.

 

„Ich weiß mich zu wehren“, erklärt er ihr besänftigend und trinkt einen großen Schluck mit der Hoffnung, dass sie sich damit zufrieden gibt.

 

„Wie denn?“, fragt sie gespannt.

 

Müde blickt Joseph sie an und stellt fest, dass sie wirklich nerven kann. Was glaubt sie denn, was er tut? Er ist mit der Absicht hier, um sie zu beschützen. Dafür wurde er ausgebildet, also weiß er doch, was in solchen Fällen zu tun ist.

 

„Ich besitze eine umfangreiche Kampfausbildung und kann auch zur Not eine Waffe benutzen.“

 

Sofort bereut Joseph, dies gesagt zu haben. Völlig interessiert und mit einem gewissen Funken in den Augen fährt Cathleen auf und setzt sich gespannt in den Schneidersitz. Auch wenn Cathleen kein Fan von Waffen ist, fand sie Pistolen schon immer sehr interessant. Als sie klein war, verglich sie ihren Vater wie ein Spielzeugverkäufer. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass mit einer Pistole Unheil geschaffen werden kann. Sie verband mit Pistolen immer die Herausforderung Dinge aus weiter Entfernung zu treffen. Als sie irgendwann herausfand, dass oftmals Menschen davon betroffen sind, wurde der Spaß geringer.

 

„Du hast eine Knarre?“

 

Joseph atmet erleichtert aus, als das Handy von Cathleen klingelt. Als Anrufer wird ihre Freundin Luise angezeigt, weswegen Joseph kurz angibt, auf laut zu stellen, ehe Cat abnimmt. Cathleen folgt wieder mal gehörig seine Anweisung und begrüßt Luise auf Lautsprecher. Als Joseph ein paar Minuten das Gespräch zwischen den zwei Freundinnen anhört und davon überzeugt ist, dass es Luise ist, kann Cathleen den Lautsprecher wieder ausschalten. Cathleen läuft in ihr Zimmer und legt sich ins Bett, um schließlich etwa zwei Stunden zu telefonieren. Am Anfang erzählt Luise ihr von ihrem Date mit Mister Lover und, dass sie sich noch einmal treffen werden. Einzelheiten werden ausgetauscht und beide diskutieren jedes Gesprächsdetail aus. Am Ende reden sie noch über Joseph und Luise will wissen, was sie gestern und heute noch getrieben haben. Cathleen erzählt die Wahrheit und schmückt die Geschichte mit viel Sex und Knutscherei aus.

 

Nach dem Telefonat gesellt sich Cathleen zu Joseph ins Wohnzimmer, welcher lustlos im Fernseher die Kanäle abklappert. Die Fernseherbeauftragte entscheidet schließlich, den zweiten Harry Potter Film einzuschalten, dafür darf Joseph aussuchen, wo sie etwas zu Essen bestellen. Somit wiederholen die zwei den Abend von gestern. Joseph kritisiert immer mal wieder eine Verhaltensweise von Harry und Cathleen versucht diesen in Schutz nehmen. Von Hermine schwärmt er immer zu und findet sie klasse, dem kann Cat nur seufzend zustimmen. Gegen Ende des Films blickt Joseph auf die Uhr, die bereits neun Uhr Abend anzeigt. Schlagartig wird ihm bewusst, dass er gleich ein heikles Thema ansprechen muss, das auf viel Diskussion auslaufen wird. Doch wenn nicht jetzt, wann dann, fragt sich Joseph. Außerdem spricht er mit Cathleen lieber über die Schlafsituation als über sein Waffenlager.

 

„Wann musst du morgen zur Arbeit?“, fragt Joseph.

 

„Um acht Uhr früh“, antwortet Cathleen seufzend, da er sie daran erinnert morgen wieder arbeiten zu müssen.

 

„Dann sollten wir uns einen Wecker stellen“, meint Joseph nachdenklich.

 

„Ich habe schon einen Wecker in meinem Zimmer, aber ich habe noch einen zweiten, den kann ich dir leihen“, entgegnet Cathleen hilfsbereit.

 

Als Joseph sie daraufhin scheinheilig angrinst, lässt sie das Gespräch Revue passiere. Ihr fällt nichts besonderes ein, weswegen er sie nun so angrinst. Was geht ihm durch den Kopf, fragt sich Cathleen und runzelt ihre Stirn.

 

„Wozu? Einer reicht doch aus, findest du nicht? Ist doch unnötig, wenn zwei Wecker auf einmal klingeln“, erklärt Joseph und spannt sie auf die Folter.

 

„Es wäre praktischer, wenn du einen eigenen hast, dann muss ich dich nicht aufwecken“, meint sie und hat das Gefühl, dass er auf etwas anderes anspielt.

 

„Das wird nicht nötig sein, wir brauchen nur einen Wecker im Zimmer.“

 

Die Antwort schallt mehrmals in Cathleens Kopf. Sie versteht die Aussage nicht, bis ihr auf einmal ein Licht aufgeht. Aufgebracht erkennt sie, dass er vorhat, in ihrem Zimmer zu schlafen. Deswegen hat er so dämlich gegrinst und meint, sie bräuchten nur einen Wecker, denkt Cathleen.

 

„Das kommt auf keinem Fall infrage!“, sagt sie aufgelöst und springt vom Sofa auf.

 

Mit verschränkten Armen sprintet Cathleen die Treppen hoch und schließt sich im Badezimmer ein. Sie akzeptiert seine Aufforderung nicht und sie hat auch nicht vor darüber zu diskutieren. Nur weil sie vorgeben ein Paar zu sein, heißt das noch lange nicht, dass sie das Gespielte auch fortsetzen müssen, wenn keiner dabei zusieht. Mit einer schlechten Laune zieht sie ihre Klamotten aus und steigt in die Dusche. Während sie das Shampoo in den Haaren verteilt, sitzt Joseph immer noch im Sessel und überlegt, wie er ihr das ohne Zwang beibringen soll. Mit den anderen Klienten hat das immer funktioniert, sogar darum gebeten wurde er. Immer hat man ihn gefragt, ob er sich nachts nicht in dasselbe Bett legen könnte, weil sie Angst hätten und kein Risiko eingehen wollten, im Schlaf angegriffen zu werden. Einmal sogar kam der Angreifer in das Schlafzimmer seiner Klientin, ohne zu wissen, dass Joseph dort mit ihr lag. Nachts bietet sich die beste Möglichkeit zu morden. Doch bei Cathleen muss er da wohl oder übel anders vorgehen. Sie scheint noch nicht verstanden zu haben, dass sie wirklich in Gefahr ist, denkt Joe sich. Geschmeidig läuft er die Treppen hoch, bleibt vor der Badezimmertür stehen und klopft höflich an.

 

„Was willst du?“, ruft Cathleen sichtlich genervt.

 

„Du musst noch einmal darüber nachdenken“, fordert Joseph und lehnt sich gegen die Wand an.

 

„Auf keinem Fall“, sagt sie entschieden.

 

Der Gedanke, dass Joseph der erste Mann wäre, den sie abends, wenn sie die Augen schließt sieht und morgens, wenn sie sie öffnet anblickt, gefällt ihr nicht. Ihr Bett, der private Bereich, ist ihr eigenes Territorium und den möchte sie nicht mit einem Mann teilen, den sie weder kennt noch liebt.

 

„Ich mache dir einen Vorschlag“, sagt er seufzend und fährt fort. „Wie wäre es, ich schlafe im selben Zimmer, aber auf dem Boden?“


Joseph fragt sich, ob sie womöglich noch Jungfrau ist. Er findet keine andere Erklärung, wieso sie bei dem Thema so prüde reagiert und es schlimm findet, wenn er in ihrem Bett schläft.

 

„Wieso musst du unbedingt bei mir schlafen?“, fragt Cathleen stöhnend.

 

Sie steht immer noch unter der Dusche und ist froh, dass er sie gerade nicht sehen kann. Natürlich ist ihre Reaktion kindisch, das weiß sie, doch sie kann sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass er neben ihr im Bett schlafen wird.

 

„Alles zu deinem Schutz“, antwortet Joseph und zuckt mit den Schultern.

 

Als es im Badezimmer still wird und das Wasser eingestellt wird, ist Joseph sich sicher, dass Cathleen fertig ist und gerade herauskommt. Seufzend bindet sich Cat ein Handtuch jeweils um ihr nasses Haar und um ihren feuchten Körper. Dann öffnet sie zähneknirschend die Badezimmertür und blickt Joseph mit einer gehobenen Augenbraue an. Ein heißer, dichter Dampf dringt aus dem Bad und anstatt in ihre blauen Augen zu blicken, wandern seine Augen unwillkürlich ihren Körper entlang. Cathleen, die daraufhin etwas rot wird, fängt sofort an zu sprechen, ehe sie vor Scham vergisst, was sie zu sagen hat.

 

„Also gut, du schläfst auf den Boden. Unter einer Bedingung: Kein Körperkontakt!“, ermahnt sie ihn.

 

Nun ist Joseph derjenige, der sie mit einer gehobenen Augenbraue anblickt. Er tritt einen großen Schritt zu ihr, bleibt direkt vor ihr stehen und blickt zu ihr nach unten. Aufgrund des Duftes ihres Shampoos und ihrer feuchten Haut, kann Joseph nicht widerstehen, sie wieder zu ärgern.

 

„Wie kommst du darauf, dass ich dich berühren werde?“, fragt er neugierig und seine Stimme klingt wieder anzüglich.

 

Langsam lehnt er sich so weit zu ihr nach unten, dass er mit seinen Lippen ihre Schultern berührt. Er führt seine Lippen sachte ihren Hals entlang bis zu ihrem Ohrläppchen. Das hastige Aufschnappen nach Luft und die Gänsehaut auf ihrer Haut entgehen ihm nicht.

 

„Hast du Angst, ich könnte dich mitten in der Nacht anfallen?“, flüstert er ins Ohr.

 

Cathleen ringt nach Luft und ihre Hände verkrampfen sich auf das kurze Handtuch um ihren Körper. Ihr wird schwindelig wegen seiner Nähe. Gleich küsst er mich, denkt sich Cathleen, als seine Lippen nur noch wenige Zentimeter von ihren entfernt sind. Joseph kann ihre Gedanken in ihren Augen lesen und weiß, dass er alles mit ihr machen könnte. Doch so leicht wird er es ihr nicht machen. Seine Hände hält er die ganze Zeit bewusst zurück.

 

„Ich werde dich nicht berühren, bis du selbst darum betteln wirst“, raunt er ihr zu und lächelt sie süffisant an.

 

Joseph rechnet damit, dass Cathleen sofort klein beigibt und sich ihm um den Hals wirft. Doch ihre Augen werden daraufhin zu Schlitzen und sie zieht ihren Kopf von ihm weg.

 

„Darauf kannst du lange warten“, sagt sie etwas zu schnell, tritt ein paar Schritten zurück ins Bad und schließt die Tür hinter sich.

 

Verblüfft und ratlos bleibt Joseph vor der Tür stehen und wundert sich über ihre schwache Reaktion. Cathleen wird im Bad so schwindelig, dass sie zu Boden sinkt und die Nähe von seinen Lippen nicht vergessen kann. Dann wird ihr so heiß, dass sie kurz das Fenster öffnet, es aber sofort wieder schließt, da sie sonst krank werden könnte. Sie verdrängt das Geschehnis, schlüpft in ihre Schlafhose und ihr Shirt und föhnt ihre Haare. Nachdem sie trocken sind, putzt sie sich noch die Zähne und tritt nach einer halben Stunde aus dem Bad. In ihrem Zimmer trifft sie auf Joseph, der sich eine Matratze aufgeblasen und Bettbezug mitsamt Kissen und Decke vorbereitet hat. Seine Matratze liegt direkt neben ihrem Bett. Sie ignoriert ihn gekonnt und bereitet unbekümmert ihr eigenes Bett vor. Da ihr Wecker bereits zehn Uhr anzeigt, beschließt sie sich schlafen zu legen, da sie schon viel zu müde ist. Ohne Joseph eine gute Nacht zu wünschen, wickelt sie sich in ihre Decke ein und dreht ihm den Rücken zu, sodass er ihr Gesicht nicht sehen kann. Sie hört, wie er ebenfalls ins Bad verschwindet und hat vor, sich den Tag Revue passieren zu lassen. Doch die Müdigkeit übermannt sie und sie schläft gleich darauf ein.

Geheimnisse

Eine Studie hat bewiesen, dass der Durchschnitt, indem eine Frau ein Geheimnis für sich behalten kann, etwa siebenundvierzig Stunden und fünfzehn Minuten beträgt

 

 

„Bereust du es?“, höre ich seine gedämpfte Stimme neben mir.

 

„Du?“, frage ich, ohne selbst darauf zu antworten.

 

Es ist still im Raum, man könnte selbst eine Stecknadel auf den Boden fallen hören. Denn alle Männer schlafen seit Stunden auf ihren Betten. Außer Phil und ich. Ich kann die Frage nicht beantworten, das Risiko, dass doch jemand wach ist und uns zuhört, ist zu groß.

 

„Jeden einzelnen Tag“, sagt er nach einer Weile.

 

Ich blicke ihn rasch und ungläubig von der Seite an und versuche sein Gesicht in der Dunkelheit zu erkennen. Doch es ist zu dunkel und sein Bett liegt gut ein Meter von mir entfernt. Ich kann lediglich seine Konturen erkennen, aber nicht seine Gesichtszüge. Mich überkommt eine Welle von Neid und ich wünsche mir augenblicklich, so mutig wie Phil zu sein. Er kann seine Einstellung ohne Reue äußern, während ich mir zu viele Gedanken darüber mache, was andere darüber denken könnten.

 

„Wieso bist du dann hier?“, frage ich, statt zuzustimmen.

 

Er beginnt sich unruhig zu bewegen und ich spüre, wie er im Dunkeln meine Augen sucht. Nun bin ich froh, dass man nicht einmal die eigene Hand in der Finsternis erkennen kann. Somit merkt Phil wenigstens nicht, wie sehr ich mich für meine Feigheit schäme.

 

„Wahrscheinlich aus demselben Grund, wieso auch du hier bist.“

 

Mein Atem setzt aus, als mir der Grund meines Anwesens wieder in den Kopf steigt. Doch bevor ich in Gedanken zurück in die Vergangenheit kehren kann, gehen plötzlich die Alarmglocken los. Der Lärm ist ohrenbetäubend laut und Phils Worte sind sofort vergessen. Alle Männer im Raum wachen auf, ein unverständliches Gemurmel entsteht und ich setze mich mit klopfenden Herzen auf. Außerhalb des Zeltes sind schnelle Schritte zu hören. Aus den anderen Häusern höre ich die Offiziere rufen, dass alle nach ihren Gewehren zücken sollen. Mir wird bewusst, dass das Geübte nun Realität wird. Der Kampf um das Leben beginnt.

 

 

Es ist mitten in der Nacht, als Joseph Carter schweißgebadet aus einem Traum erwacht und schwer atmend aufblickt. Wie ein Puma, dass sich bedroht fühlt, stützt er sich auf seine Arme ab und spannt seine Muskeln an, als er sich in dem fremden Raum umsieht. Erst nach ein paar Minuten erinnert er sich, in wessen Zimmer er sich befindet. Nach dieser Erkenntnis seufzt er erschöpft und erleichtert auf, legt seine Hände auf sein schweißnasses Gesicht und fällt wieder zurück auf seine Matratze. Joseph bleibt eine Zeit lang mit offenen Augen liegen und horcht dem regelmäßigen Atem von Cathleen. Er wartet solange, bis sein Puls dem Atem von ihrem gleicht. Dann blickt er auf und schaut auf die Uhr.

 

Es ist bereits sechs Uhr früh, in einer Stunde muss Cathleen aufwachen, denkt Joe und steht auf. Da er sowieso nicht mehr einschlafen kann, tappt er geschmeidig und leise aus dem Zimmer, darauf bedacht Cat nicht zu wecken. Er läuft die Treppen hinunter und kommt nicht drumherum, die Fotos von Cathleen an der Wand zu ignorieren. Schon gestern hat er sich gefragt, was es mit den verschiedenen Frisuren auf sich hat. Mitten auf der Treppe verharrt Joseph, da ein Bild seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Auf dem Foto liegt Cathleen mit dunkelblonden Haaren und pinken Strähnchen auf einem Holzboden. Rücklings liegt sie da und lacht mit einem befreienden Ausdruck im Gesicht in die Kamera. Neben ihr liegt ihre Freundin Luise, mit blauen Strähnchen und sieht aus, als hätte sie gerade etwas so Witziges gesagt, weswegen Cathleen lachen musste. Er kommt nicht darauf, wieso gerade dieses Bild seine Aufmerksamkeit erregt. Vielleicht liegt es daran, dass beide aussehen, als wären sie betrunken. Möglicherweise kann er seine Augen aber auch nicht von dem Foto nehmen, da beide Mädels nur Unterwäsche tragen. Eventuell liegt es aber daran, dass Joseph nicht oft Menschen gesehen hat, die offenherzig und befreit lachten wie Cat und Luise.

 

Kopfschüttelnd läuft er die Treppen weiter runter und beschließt rauszugehen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Also zieht er sich seine Sporthose und ein Shirt an. Bevor er endgültig das Haus verlässt, überprüft er noch einmal jedes Zimmer und jedes Fenster auf die Gefahr von unerwünschten Eindringlingen. Dann schließt er die Haustür zweimal hinter sich ab und schaut sich auch noch einmal in der Nachbarschaft um. Joseph vertraut immer auf seine Intuition. Er hat ein Gespür dafür, wenn etwas faul ist oder, wenn jemand nicht die Wahrheit sagt. Joseph kann sich nicht erklären, woher das Talent kommt, doch es hat ihn bereits in jungen Jahren weitergeholfen. Sein Gespür hat ihn nie enttäuscht. Da er kein komisches Bauchgefühl hat und sich sicher ist, dass Cathleen nichts passiert, wenn er kurz weg ist, läuft er los. Zufrieden findet er sein richtiges Tempo und joggt mehrmals um den Block.

 

Das erste, woran Cathleen denken muss, als sie aufwacht, ist ob sie in der Nacht geschnarcht hat. Von Luise weiß sie bereits, dass Cat oft in der Nacht redet. Als würde ein Seelenklempner neben ihr liegen, meinte Luise mal aufgebracht. Dann fragt Cat sich, ob sie vielleicht irgendwelche peinliche Laute von sich gegeben hat. Sie muss sich ein lautes Aufstöhnen unterdrücken bei dem Gedanken, sie könnte in seiner Anwesenheit laut gepupst haben. Oder generell irgendwelche Laute, womit Joseph sie heute aufziehen könnte. Als das Stichwort Joseph in ihrem Kopf erscheint, dreht sie ihren Kopf ganz langsam, aber mit geschlossenen Augen in seine Richtung, als würde sie noch schlafen. Mit zugekniffenen Augen sucht sie ihn an auf den Boden, findet ihn jedoch nicht. Als sie die Augen ganz öffnet und ihn tatsächlich nicht dort liegen sieht, fragt sie sich, wo er wohl steckt. Bevor sie von ihrem Bett aufsteht, streckt sie sich in die Länge und gähnt laut in verschiedenen Oktaven.

 

Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, bemerkt Cat als sie die Vorhänge zur Seite zieht und das Fenster öffnet. Draußen ist es trotzdem schon hell und die Luft ist kühl, doch das macht Cathleen nichts aus. Sie liebt den Duft vom frischen Morgen, das macht sie schnell wach. Bevor sie aus ihrem Zimmer geht, zieht sie sich einen Morgenmantel über. Dann öffnet sie die Zimmertür und läuft die Treppen hinunter. Sie durchsucht alle Zimmer und braucht nicht lange, da das Haus nicht viele Räume besitzt. Im Erdgeschoss gibt es den großen Flur neben der Haustür, das große Wohnzimmer mit Couch und ihrem schönen, italienischen Holztisch, und schließlich die Küche. Im Untergeschoss ist ihr großer Keller zu finden, das als Waschraum dient und in welchem sich ein großer Chillout Bereich aus ihrer Jugendzeit befindet. Damals haben Cat und Luise viel Zeit im Keller verbracht, da dieser größer ist als ihr Zimmer, dort ein großer Billardtisch steht und sie laut Musik hören konnte. Mit der Treppe im Erdgeschoss kommt man in die obere Etage, worauf zwei Zimmer sich gegenüberstehen und in der Mitte sich das große Badezimmer befindet. Als Wade noch bei ihr lebte, schlief er im zweiten Zimmer. Früher, vor dem Tod ihrer Mutter, war Wades Zimmer ihr Kinderzimmer und ihre Eltern hatten ihr Schlafzimmer da, wo sich nun ihr Zimmer befindet. Das freie Zimmer ist spärlich geräumt, es besitzt lediglich ein Bett, Schrank und Tisch. Cat dachte das Zimmer vorübergehend als Gästezimmer zu nutzen, nun stehen Josephs Koffer darin. Irgendwann träumt Cat davon, das Zimmer zu einem Arbeitszimmer umzugestalten, in denen sie bei Bedarf ein Fotoshooting machen und auf einem großen Schreibtisch die Bilder bearbeiten kann. Doch nachdem Joseph erschienen ist, hat sich Cathleen den Traum erst einmal abgeschminkt.

 

Das Haus ist für eine Person viel zu groß und hätte ihr Vater dieses nicht schon längst ausbezahlt, würde sie dort womöglich nicht wohnen. Cathleens könnte sich niemals solch ein Haus am Rande einer Großstadt mit ihrem geringen Gehalt leisten, weswegen sie glücklich ist, dass ihr Vater immerhin das richtig gemacht hat. Es ist das einzige, wofür sie ihm dankbar ist. Schließlich ist der Weg zur Arbeit nicht weit und sie kann sich mit ihrem Gehalt ihr Lebensunterhalt sowie das Auto leisten. Tief im Inneren ist sich Cathleen sicher, dass ihr Vater das Haus abbezahlt hat und sie darin wohnen lässt, damit sie nicht vollständig aus seinem Leben verschwindet. Da ihr Vater sie so gut wie gar nicht besucht, beschloss Cat ohne Einwände darin zu leben. Schließlich verbindet sie auch viele schöne Erinnerungen mit dem Haus, da sie darin aufgewachsen ist und viel Zeit mit ihrer Mutter verbracht hatte.  

 

Als Cathleen ihren undercover Freund nirgends findet, läuft sie schulterzuckend in die Küche und beschließt zu warten, bis er wieder auftaucht. Ihr Magen hat ihr bereits deutlich gezeigt, dass sie großen Hunger hat. Also schlendert sie vor sich hin summend in der Küche hin und her, und überlegt, was sie essen soll. Sie schaltet das Radio auf dem Kühlschrank an, welches sogleich ein Lied spielt, das sie gut kennt und mag. Gut gelaunt tänzelt sie in der Küche herum, holt das Toastbrot aus dem Regal und ein Messer aus der Schublade.

 

„Ohja! Baby you light up my world like nobody else“, singt sie übertrieben schlecht mit, als sie den Kühlschrank öffnet.

 

Lallend nimmt sie die Butter heraus, schließt den Kühlschrank wieder mit einem Hüftschwung und wendet sich ihrem Toastbrot zu.

 

„The way that you flip your hair gets me overwhelmed“, flötet sie weiter und wirft demonstrativ ihre Haare zur Seite.

 

„But when you smile at the ground it ain’t hard to tell“, kichert sie und verteilt die Butter auf ihrem Brot.

 

“You don’t know oh, oh, you don’t know you’re beautiful”, trällert Cat und beißt dann in ihr Brot rein.

 

Und gerade als Cathleen sich umdreht, erschreckt sie sich so stark, dass ihr Brot aus der Hand fällt, sie sich an ihre Brust fasst und ihr Herz für Sekunden aufhört zu schlagen. Am Türrahmen steht Joseph verschwitzt, schwer ein und ausatmend da und blickt sie schockiert an.

 

„Was?“, sagt Cathleen nur nach Luft schnappend, da ihr nichts anderes einfällt.

 

Es ist kein Geheimnis, dass Cathleen der größte Angsthase auf der Welt ist. Wenn sie jemand fragt, ob sie Horror Filme mag, dann bejaht sie dies nur und lacht andere aus, wenn sie entgegnen sie hätten Angst. Doch wenn es ernst wird und sie wirklich ein Horror Film anschaut, ist sie die Erste von ihren Freunden, die sich in die Hose kackt.

 

„Ich hörte eine schräge, laute Stimme und dachte ein Tier stirbt irgendwo“, sagt Joseph ernst und verkneift sich ein Lachen. „Ich dachte es bräuchte Hilfe.“

 

Cathleen steht wie versteinert vor ihm und gibt sich Mühe ihm zu folgen. Ihr Herz pocht vor Schreck immer noch wild und es fällt ihr schwer, ihre Gedanken zu fassen zu bekommen. Nach mehreren verschlagenen Sekunden begreift sie Josephs Worte und erkennt, dass der Witz auf ihren Kosten liegt.

 

„Ein sterbendes Tier“, ruft Cat empört und wird rot um die Nase. „Ich habe nur ein bisschen vor mich hin gesummt!“

 

„Außerdem habe ich dich überall gesucht. Wo warst du?“, fragt sie nun böse, schaltet beleidigt das Radio leiser und versucht von sich abzulenken.

 

„Ich war joggen“, antwortet er, wie selbstverständlich und schaut auf sich herab.

 

Das hätte sich Cathleen auch selbst denken können. Bemusternd blickt sie auf seine Oberarme und sein Shirt, auf welchem seine Bauchmuskeln gut zum Vorschein treten. Als sie merkt, dass ihre Wangen daraufhin etwas warm werden, blickt sie sofort weg. Joseph scheint ihre Bemusterung nicht entgangen zu sein und sieht grinsend zu, wie sie ihr Brot aufhebt und die Butterreste auf dem Boden mit einem Waschlappen wegwischt. Als Joseph die Haustür aufgemacht hatte und Cathleen singen hörte, musste er sich dermaßen ein Lachen verkneifen. Noch nie hat er eine Frau kennengelernt, die unbekümmert laut singt und tanzt. Vermutlich hätte sie es nicht gemacht, wenn er danebengestanden hätte, doch der Anblick war unbezahlbar. Nun blickt er sie an und muss wieder mit sich selbst kämpfen, um sie nicht auszulachen. Sie ist lustig und hat ihren eigenen Charme, merkt Joseph und spürt eine Sympathiewelle ihr gegenüber aufkommen. Als der Fleck weg ist, bemerkt Cathleen sein dämliches Grinsen im Gesicht.

 

„Willst du mich gerade auslachen?“, fragt sie ihn drohend.

 

„Ich versuche es nicht zu tun“, antwortet er mit sich selbst ringend.

 

Doch als sich ihre Nasenflügel schließlich böse aufblähen, schafft er es nicht mehr zu unterdrücken und muss laut auflachen. Cathleen bekommt eine Gänsehaut, als sie sein Lachen hört. Nie hätte sie gedacht, dass ein Mensch, der so ein schönes Gesicht besitzt, auch noch so ein schönes Lachen haben könnte. Wie in Trance blickt sie zu ihm hoch und lehnt sich am Tisch an. Sie hält das Bild im Kopf fest und nimmt sich vor, es nie zu vergessen. Als Joseph endlich fertig ist und sich beruhigt, blicken die Beiden sich stumm in die Augen. Joseph fühlt sich erleichtert, als wäre eine Last von ihm abgefallen und er weiß nicht, worum es sich handeln könnte. Jedenfalls geht es ihm gut und ihr Anblick erfreut ihn, das kann er nicht leugnen. Mit einem Lächeln im Gesicht nähert er sich ihr vorsichtig, bleibt ein Schritt vor ihr stehen und lehnt sich mit seinen Händen am Tisch an, um ihr keinen Ausweg zu gewähren.

 

„Das war witzig“, sagt er glücklich.

 

Joseph ist ihr so nah, dass er im Tageslicht ihre Augenfarbe bemerkt. Blau, wie das karibische Meer mit einem goldenen Ring um die Pupille. Eine schöne Augenfarbe, sagt sich Joseph in Gedanken. Aus reinem Reflex möchten seine Finger ihre Wangen berühren, doch er kann sich gerade so noch aufhalten.  

 

„Schön, dass ich dir den Morgen versüßt habe“, meint Cathleen ironisch.

 

Sein fixierender Blick macht sie mulmig und sie blickt verstohlen zur Seite, da merkt sie, dass Josephs Arme ihr von beiden Seiten den Weg versperren. Mit einem Mal erinnert sie sich an den ersten Tag mit Joseph, an dem sie in derselben Position stand und Joseph ihr ebenfalls so nah war. Allein der Gedanke, zu was dieser Mann alles fähig wäre mit ihr anzustellen, lässt sie erzittern. In Gedanken verflucht Cathleen wieder ihren Vater dafür, dass er ausgerechnet Joseph für den Job eingestellt hat. Sie hat eine Schwäche für solche gefährliche, unberechenbare Typen. Diese typischen Herzensbrecher, die das Talent besitzen den Frauen große Versprechungen zu machen, ihnen ihr Hirn raus zu vögeln und dann schneller weg sind, als ein Gepard rennen kann. Bevor alles aus dem Ruder läuft, sollte Cat schnell das Thema wechseln.

 

„Gibt es ein Grund, warum du so früh am Morgen laufen gehst?“, fragt sie bemüht und versucht überall hinzusehen, nur nicht in sein Gesicht oder seine hervorstechenden Oberarmmuskeln.

 

„Ich muss fit bleiben.“

 

Joseph merkt, wie nervös sie wird. Aber er erinnert sich noch an seine Andeutung von gestern. Er wird sie wirklich nicht anfassen, auf keinem Fall. Aber niemand hat gesagt, dass er sie nicht ein bisschen ärgern darf. Mit einem frechen Grinsen wickelt er eine blonde Strähne um seinen Finger.

 

„Findest du es nicht riskant?“, stottert sie und versucht sein Tun zu ignorieren.

 

Sie kennt diesen Mann nun seit zwei Tagen und schon bringt er sie vollkommen aus dem Konzept. Verdammt, das kann doch nicht wahr sein, flucht Cat. Er hat nur eine Strähne zwischen seinen Fingern, beruhigt sie sich und kommt nicht drum herum sich vorzustellen, was er mit diesen Fingern noch anstellen könnte.

 

„Was?“, fragt Joe und hört auf mit ihrer Strähne zu spielen, um sie aufmerksam zu mustern.

 

„Du sagtest doch selbst, dass man mich genau beobachtet. Während du joggst, könnte doch kinderleicht jemand reinkommen und mich umbringen“, erklärt sie und versucht ihm ernst in die Augen zu schauen.

 

„Kritisierst du etwa meine Herangehensweise?“, fragt er ebenso ernst und zieht leicht ermahnend an ihrer Strähne.

 

Auch wenn Cathleen weiß, dass es eigentlich klüger wäre, wenn sie sagen würde, dass sie nichts zu bemängeln hätte, gibt es eine Stimme in ihrem Kopf, die herumbrüllt sie solle bloß nicht den Mund halten und ihm die Meinung sagen. Vielleicht würde sie ihn so loskriegen und könnte wieder klar denken.

 

„Ja, das tue ich“, antwortet sie selbstsicher.

 

Dies überrascht Joseph, denn noch nie hat sich jemand in seiner Anwesenheit nicht sicher gefühlt. Er spürt, wie die Aussage von Cathleen an seinem Ego kratzt. Es ist sein Job, seine Klienten zu beschützen und, dass sie sich sicher fühlen. Die Tatsache, dass das Sicherheitsgefühl bei Cathleen nicht ankommt, macht ihm zu schaffen. Dabei hat er noch nie einen Fehler in seinem Job gemacht. Gekränkt und unsicher, was er als Nächstes sagen soll, lässt er ihre Strähne los, stützt sich vom Tresen ab und blickt Cathleen fragend an.

 

„Hast du Angst?“, fragt Joseph, Cat kann deutlich den Zweifel heraushören.

 

Cathleen hat sofort nach ihrer Andeutung gemerkt, dass sie eine Schwachstelle bei Joe getroffen hat. Sein Gesicht und die Atmosphäre hat sich von einer zur anderen Sekunde schlagartig verändert. Der zuerst grinsende und sichere Ausdruck verwandelte sich in ein erschrockenes und unsicheres Gesicht. Die Tatsache, dass er sich kurz darauf von ihr entfernte, verdeutlicht nur, dass Cat ihn getroffen hat. Sie versteht, dass sie schuld daran ist, dass sie womöglich irgendwelche Gefühle von ihm verletzt hat. Doch damit hat sie es immerhin schaffen können, dass er von ihr ablässt. Egal, wie angenehm sie seine Berührung oder Annährung findet, sie muss sich selbst schützen und sich von ihm fernhalten.

 

„Vielleicht“, antwortet sie trocken und läuft aus der Küche.

 

Cathleen hat sich bisher keine Gedanken darüber gemacht, ob sie Angst vor ihrem Verfolger hat, schlecht beschützt oder gar sterben könnte. Sie weiß, dass es unfair ist, Joseph solch eine Antwort ins Gesicht zu klatschen und dann einfach zu gehen. Doch in der Situation war es aus ihrer Sicht die einzige Möglichkeit, fliehen zu können. Vermutlich wird sie es noch bereuen und sie kämpft jetzt schon mit Gewissensbissen, doch sie redet sich gekonnt ein, dass es richtig war. Ihrer Meinung nach soll Joseph sich lieber mit dem Gedanken beschäftigen, Cat nicht ordentlich beschützen zu können, als sie mit seinen Berührungen aus der Fassung zu bringen. Während Cat sich also in ihrem Zimmer ankleidet und sich für die Arbeit richtet, steht Joseph immer noch wie versteinert in der Küche. Es ist als höre er immer wieder das Echo ihres Wortes „Vielleicht“. Wieso fühlt sie sich nicht sicher bei ihm? Denkt sie, er wäre nicht stark und aufmerksam genug sie zu beschützen, fragt er sich immerzu.

 

Es vergehen zehn Minuten, als Cathleen schließlich verlegen ihre Haare vor dem Spiegel bürstet und sich fragt, ob sie nicht doch ein Schritt zu weit gegangen ist. Sie kann seinen bestürzten Blick nicht vergessen und ihr Herz hört wegen den Gewissensbissen auch nicht auf zu schmerzen. Da Joseph danach nicht reagiert hat und ihr auch nicht hinterhergeilt ist, ist sich Cathleen nun sicher, dass sie ihn mehr getroffen hat, als sie beabsichtigt hatte. Eigentlich ist Cathleen ein Gutherzmensch und hält einen Streit nicht lange aus. Sie entschuldigt sich lieber selbst, als länger mit dem Streitgefühl zu leben, auch wenn sie nicht die Schuldige ist. In der Vergangenheit haben sich einige Freunde oftmals ein Vorteil daraus verschafft und Cat wollte immer etwas daran ändern. Doch nach all den Jahren hat sie lediglich die Zeitdauer bis zu ihrem Einknicken verlängern können. Aus diesem Grund würde sie nun am liebsten runter zu Joseph gehen und sich für ihre Worte entschuldigen. Doch Cathleen bleibt hin und hergerissen vor ihrem Kleiderschrank stehen, beißt sich unentwegt auf die Lippen und kann sich zu dem Schritt nicht durchringen. Denn die Befürchtung, Joseph habe ihre Worte gar nicht bestürzt und sie würde sich mit ihrer Entschuldigung zum Affen machen, sind zu groß. Als sie fertig gekleidet die Treppen herunterläuft ist sie tierisch nervös und blickt aufmerksam umher, ehe sie ihn sitzend im Flur wiederfindet.

 

In der Zwischenzeit, als Cathleen in ihr Zimmer verschwand, konnte sich Joseph wieder fangen, schüttelte den Gedanken beiseite und sagte sich immerzu, dass er dem jungen Fräulein schon beweisen wird, wie sicher sie sich bei ihm fühlen kann. Joseph beanspruchte viel weniger Zeit sich zu duschen und für die Arbeit anzuziehen als Cathleen. Weswegen er sich in den letzten Minuten im Flur auf dem Schuhregal gesetzt hat und gelangweilt auf seinem Handy Nachrichten beantwortet.

 

„Wie läuft das denn jetzt ab?“, fragt Cat neugierig, als sie sich zu ihm in den Flur gesellt.

 

Cathleen traut sich nicht, auf das Gespräch in der Küche einzugehen und Joseph hat es schon längst vergessen. Er war so vertieft in sein Handy, dass er sie gar nicht die Treppen herunterkommen hörte. Als er zu ihr aufsieht, bemustert er kurz ihre Kleiderwahl und muss sich ein schelmisches Grinsen verkneifen. Ihre hautenge, blaue Jeans betont ihre schlanken Beine und ihre dunkle Bluse zeigt einen kleinen Ausschnitt. Joe muss zugeben, dass sie gut aussieht und sie zum ersten Mal so adrett sieht. Die letzten Tage trug sie immerzu ihre Leggings und einen Schlabberpulli, nichts im Vergleich zu jetzt.

 

„Was genau meinst du?“, fragt Joseph fahl und blickt sie fragend an.

 

„Fährst du mich jetzt zur Arbeit und holst mich nachmittags wieder ab?“

 

Zur Antwort nickt Joseph leicht und greift in dem Schuhregal unter ihm nach ihren Sneakers, um sie ihr dann rüberzureichen.

 

„Nicht die“, meint Cathleen und schüttelt den Kopf. „Die schwarzen Lederschuhe daneben.“

 

„Aber hallo“, lacht er kurz verwundert auf und schnappt nach den schwarzen Lackschuhen. „Schicker Aufzug, Kitty Cat.“

 

„Nenn mich nicht so“, spricht Cathleen leise und blickt schamvoll umher.

 

Das wollte Cathleen schon die letzten Tage sagen und ist froh, es endlich hinter sich gebracht zu haben. Immer wenn er sie so nennt, klingt es wie ein Kosewort und bindet sie immer stärker an ihn. Die Art und Weise wie er den Namen ausspricht und der Blick dabei, lässt sogar ihre Nackenhaare vor Verlegenheit aufsteigen. Cathleen befürchtet, dass sie sich daran gewöhnen könnte und hat Angst, zu viel in diese falsche Liebkosung rein zu interpretieren.

 

„Wieso?“, fragt er mit leicht gerunzelter Stirn und weigert sich ihr die Schuhe weiterzureichen.

 

„Ich mag es nicht so genannt zu werden“, lügt sie seufzend und spürt die Wärme auf ihren Wangen.

 

Joseph hat bereits an ihrer Nasenspitze erkannt, dass sie lügt. Was der Grund ihrer Lüge ist, weiß er jedoch nicht und er ist sich sicher, dass sie damit nicht rausrücken wird.

 

„Das ist Quatsch“, meint Joseph und blickt sie herausfordernd an. „Ehe du mir nicht den wahren Grund nennst, werde ich nicht aufhören dich so zu nennen.“  

 

Perplex und mit offenem Mund blickt Cathleen zu Joseph herunter. Dieser wartet geduldig auf eine Antwort, doch Cathleen denkt nicht dran, ihn in ihre peinlichen Gedanken einzuladen. Er würde sie doch nur auslachen, wenn er wüsste, dass Cathleen befürchtet, zu viele Gefühle in seine Worte stecken zu können.

 

„Wenn das so ist“, sagt Cathleen und verdreht genervt die Augen. „Ich habe noch nie einen besseren Spitznamen gehabt.“

 

Lachend und den Kopf schüttelnd greift Joseph nach Cathleens linken Fuß und zieht sie mit festem Griff näher zu sich. Ehe sich Cathleen versehen kann, zieht er ihr den Schuh an und schnürt sie zu. Cathleen ist sprachlos zu Eis erstarrt und wehrt sich nicht dagegen. Noch nie hat ihr ein Mann die Schuhe angezogen. Daraufhin wird sie rot wie eine Tomate und hofft, dass er nicht zu ihr aufsieht. Nachdem er ihr auch den rechten Schuh angezogen hat und zu ihr aufsieht, muss Cat sich erst räuspern, um ein Wort herauszubekommen.

 

„Danke“, flüstert sie. „Das wäre nicht nötig gewesen.“

 

Joseph versteht nicht, wieso sie errötete, nur weil er ihr die Schuhe angezogen hat. Er kann darin keine tieferen Gefühle oder Absichten erkennen, weswegen er Cat nur schulterzuckend anlächelt und sich freut, Pluspunkte gesammelt zu haben. Denn je enger sie zueinander finden und je mehr Cathleen es schafft ihm zu vertrauen, desto besser kann er sie schützen.

 

„Für meine Kitty Cat immer“, antwortet er selbstbewusst und lächelt sie mit einem Engelsgesicht an.

 

Auch wenn Joseph die Worte nur halbherzig meint, bringt es Cathleens Herz dazu, schneller zu schlagen. Das Wort „meine“ echot in ihrem Kopf und sie wechselt panisch das Thema, um es vergessen zu können.

 

„Das heißt also, ich kann heute normal arbeiten?“, fragt sie hastig, dreht sich blitzschnell um und schnappt nach ihrem Mantel. „Als wüsste ich nicht, dass ein Mörder hinter mir her ist? Und das allerbeste, dich sehe ich erst in circa neun Stunden?“

 

„So leicht mache ich es dir dann doch nicht“, antwortet Joseph schadenfroh und zieht sich ebenfalls Schuhe und Jacke an.

 

Ungeduldig verlässt Cathleen bereits das Haus und läuft voran, während Joseph hinter ihr die Haustür zuzieht und abschließt.

 

„Dachte ich mir schon“, antwortet sie und blickt während dem Laufen mit einem Seitenblick zu ihm zurück.

 

Als hätte Cathleen sich das nicht selbst denken können, stolpert sie wieder mal über dieselbe letzte Stufe, jault wie ein geschlagener Hund und fällt zu Boden. Sie erinnert sich, dass sie gestern auf dieselbe Position gefallen ist und ärgert sich über sich selbst. Hätte sie lieber mal nach vorne geschaut, rügt sie sich und hofft, dass ihre Jeans kein Riss bekommen hat. Sie blendet den Gedanken aus, was Joseph nur über sie denken muss.

 

„Ich habe noch nie solch einen Tollpatsch wie dich kennengelernt“, hört sie Joseph hinter ihr sagen.

 

Gerade will sie sich verärgert zu ihm umdrehen, als sie merkt, dass er bereits neben ihr steht und sich zu ihr runter kniet. Ihr stockt der Atem, als sie sich auf ihre Hinterbeine setzt und Joe nach ihren Händen schnappt, um ihre Handflächen zu begutachten.

 

„Hast du dir wehgetan?“, fragt er Cathleen zärtlich.

 

Joseph ist sich im Moment zu hundert Prozent sicher, dass sie beobachtet werden. Sein Bauchgefühl hat ihn noch nie getäuscht. Cathleen hingegen kommt gar nicht auf die Idee, dass jemand sie belauern könnte. Ihre Aufmerksamkeit liegt ganz auf Joseph und sie kann ihren Blick nicht mehr von ihm lösen. Ihr fällt auf, dass Joseph eine gute Partie als Freund wäre. Jedenfalls sieht er nicht nur außerordentlich gut aus, sondern hat auch charmante, sympathische und zärtliche Seiten an sich. Wäre das alles doch nur nicht gespielt, schmunzelt sie und seufzt innerlich auf.

 

„Nein, geht schon“, versichert sie ihm und versucht ihre Hände aus seinen zu ziehen.

 

Doch Joseph hat ganz andere Pläne. Mit festem Griff zieht er Cathleen mit sich hoch, sodass sie wieder auf ihren Beinen steht. Dann zieht er sie geschickt näher zu sich und küsst die kleinen Verletzungen auf ihrer Handfläche weg, die durch das Fallen auf den Gehweg entstanden sind. Cathleen weiß gar nicht wohin mit ihr und ihr Mund steht sprachlos offen. In ihrem Bauch fängt es an wie verrückt zu kribbeln und ihr Herz pocht unregelmäßig. Joseph entgeht kein bisschen, dass sie das wohl etwas verlegen macht. Doch das bringt ihn noch lange nicht zum Aufhören. Denn nun ist ihre Chance gekommen, die beste Show zu präsentieren und Cathleens Verfolger zu beweisen, dass die Beiden ein Paar sind.

 

„Verhalte dich jetzt normal, Kitty Cat“, murmelt Joe warnend in ihre Handfläche.

 

Cathleen hat keine Zeit darüber nachzudenken, was er mit der Warnung meint, da ihre Gedanken erneut um den Kosenamen kreisen. Joseph lässt schließlich geschwind ihre Hände los, eine Hand legt er daraufhin auf ihre Taille, die andere an ihr Kinn und schon liegen seine Lippen auf ihre. Es scheint, als wäre Cathleens Körper mit einem Mal vollkommen schwerelos, während seine weichen Lippen sich auf ihre drücken. Seine Hand an ihrer Taille drückt sie näher an seinen Körper, wodurch die Wärme zwischen ihnen hochstockt. Die andere Hand auf ihrem Kinn wandert zu ihren Haaren, sein Daumen streichelt zart ihre Wange. Cathleens Kopf ist wie leergefegt und das Kribbeln in ihrem Bauch wandert bis zu ihren Zehenspitzen. Der Kuss verzaubert sie, lässt sie alles vergessen und nach mehr gieren. Gerade noch so kann sie sich ein Seufzen verkneifen, bevor der Kuss beendet wird. Hätte Joseph sie nicht an die Hand genommen und mit sich zum Auto gezogen, wäre sie wohl für eine Weile an derselben Stelle, wie eine Statur stehengeblieben. Während Cathleen wie benebelt den Kuss verdaut, blickt Joseph sich unauffällig um. Er kann zwar niemand in der Nähe sehen, doch er spürt, dass sie immer noch beobachtet werden. Amüsiert stellt er fest, dass das Spiel begonnen hat. Als sie an ihrem Auto ankommen, das am Straßenrand parkt, macht Joe ihr die Tür auf und fordert Cat mit einem Nicken auf, einzusteigen. Cathleen ist immer noch perplex, weswegen sie ohne Widerrede einsteigt und sich anschnallt.

 

„Du hast mich geküsst“, sagt sie, als er ebenfalls angeschnallt vor dem Lenkrad sitzt und den Motor anschaltet.

 

Sie ist selbst verwundert, wie sie so leicht nach Worte fassen konnte. Doch der Schock des Kusses sitzt tief und sie kann nicht so tun, als wäre nichts passiert, oder als wäre der Kuss normal. Es war verdammt noch einmal ihr erster Kuss mit Joseph, schreit Cathleen im Kopf. Während sie aussieht, als hätte sie ein Geist gesehen, verhält sich Joseph normal, als wäre das eben keine große Sache gewesen. Sofort kommt ihr der Gedanke, dass es vermutlich auch keine große Sache für ihn war, da sie nicht seine erste Klientin ist. Die Erkenntnis verursacht ein Stich in ihrem Herzen und ihr wird speiübel.

 

„Sicher, dass du nicht geträumt hast?“, fragt Joseph belustigt und fährt los.

 

Nein, Cathleen hat sich das sicher nicht vorgestellt. Sie erinnert sich noch genau daran, wie seine schmalen und fordernden Lippen auf ihren lagen.

 

„Ja, ganz sicher“, antwortet sie bitterernst und kein Anflug eines Lächelns liegt auf ihrem Gesicht.

 

Mit einer unangenehmen Vorahnung blickt Joseph kurz zu seiner Beifahrerin und befürchtet, dass sie den Kuss schlechter aufgenommen hat, als er hoffte. Für ihn war das ein einfacher Kuss mit viel Körpernähe, damit es auch echt aussieht. Joseph ist sich sicher, dass Cathleens Verfolger die Beziehung zwischen ihnen abgekauft hat. Zwar wird er sie Beide weiterhin im Auge behalten, doch den ersten Eindruck müssten sie hervorragend gemeistert haben.

 

„Das ist doch okay für dich, oder?“, fragt Joseph mit gerunzelter Stirn, sein Gesicht ist ernst auf die Straße gerichtet. „Es war dir doch hoffentlich klar, dass das passiert und noch mehrmals passieren wird? Wäre doch unglaubwürdig, dass ein Paar das sich liebt sich nicht küsst.“

 

Nein, nein und nein, denkt sich Cathleen und könnte sich für ihre Dummheit auf die Stirn schlagen. Sie fühlt sich überrumpelt mit der Tatsache, dass sie das hätte wissen müssen. Ein Teil von ihr würde am liebsten ihre Arme überkreuzen und ihm laut entgegnen, dass er ihr das hätte früher sagen sollen. Doch ein anderer Teil von ihr weiß ganz genau, dass sie damit hätte rechnen müssen, denn Joseph hat mit seiner Aussage recht. Also beißt sich Cathleen beschämt auf die Lippen und versteckt ihr Gesicht vor Joseph, indem sie aus dem Fenster blickt. Während sie sich mit dem Auto durch den Verkehr schlagen, fragt sich Cathleen willkürlich, welchen Grund Joseph hätte haben können sie zu küssen, wenn nicht für die Fake Beziehung? Also was hatte sie denn im Moment des Kusses gedacht, warum er das tat? Darauf wird sie rot, schämt sich noch mehr und sinkt tiefer in ihr Sitz. In Gedanken ermahnt Cathleen sich, dass ihr nun bewusst werden muss, dass Joseph nur eingestellt wurde, um ihr Leben zu bewahren. All die Liebe, die er ihr in der Öffentlichkeit schenkt, wird gespielt sein. Alles ist nur ein Spiel, das auf ihre Kosten geht und wodurch sie gleichzeitig am Leben bleibt.

 

„Ja, ich werde damit zurechtkommen“, antwortet sie etwas verspätet, aber selbstsicher und ist überrascht von ihrer festen Stimme.

 

Mit einem weiteren Seitenblick schaut Joseph zu ihr rüber und sieht ihr gleich an, dass sie mit dem Kuss nicht gerechnet hat. Sie sieht sehr nachdenklich aus, schluckt dauernd schwer und zerquetscht jeden einzelnen Finger hintereinander. Schuldbewusst blickt Joseph wieder auf die Straße. Mit einem Mal befürchtet Joseph, dass Cathleen die Fake Beziehung zu ernst nehmen könnte auf Dauer, also sollte er sie wohl zurechtweisen.  

 

„Tut mir leid, ich wollte dich nicht bedrängen und habe vergessen dir von Anfang an Bescheid zu geben“, meint Joseph ehrlich.

 

„Du brauchst dich dafür nicht zu entschuldigen. Es war nur ein Kuss“, sagt Cathleen sicher und lächelt leicht.

 

Zerknirscht entscheidet Joseph, den verletzlichen Ton in ihrer Stimme überhört zu haben. Denn er bringt es nicht übers Herz sie zu verletzen oder zu blamieren, er nimmt sich vor das Thema ein anderes Mal anzusprechen. Auch Cathleen merkt, dass sie viel empfindsamer geklungen hat wie beabsichtigt. Sauer auf sich selbst blickt sie aus dem Fenster und denkt nach, wie sie ihm beweisen kann, dass ihr der Kuss wirklich nichts ausgemacht hat.

 

„Weißt du denn, wohin du fahren musst?“, fragt sie plötzlich und ist froh, das Thema zu wechseln.

 

„Natürlich“, antwortet Joseph spöttisch, woraufhin sie ihre Augen verdreht.

 

„Und in welcher Schule wirst du arbeiten?“, fragt sie neugierig.

 

„Fünf Blocks weiter gibt es eine Grundschule, in welche ich als Vertretung arbeiten darf.“

 

Bestätigend nickt Cathleen und wird daraufhin stumm. Genau fünf Minuten vor Arbeitsbeginn hält Joseph vor ihrem Gebäude, indem Cathleen arbeitet. Das Fotostudio liegt in der Nähe des Zentrums der Großstadt. Es ist ein angesagtes Viertel, mit vielen jungen Studenten und jungen Eltern. Das Fotostudio selbst befindet sich im Erdgeschoss eines großen Hauses, daneben gibt es viele kleine Boutiquen, Bäckereien und Restaurants. Erleichtert, dass sie endlich angekommen sind, schnallt sie sich ab und greift nach ihrer Tasche, um schnell auszusteigen.

 

„Ganz langsam, meine Liebe“, hält Joseph sie auf, woraufhin sie ihn fragend anblickt.

 

„Du erinnerst dich daran, dass du drinnen neue Arbeitskollegen kennenlernen wirst? Das sind meine Partner, die auf dich achtgeben werden. Nirgends wirst du hingehen, auch in der Mittagspause nicht. Du bleibst dort drinnen und verlässt das Studio auf keinen Fall. Genau jede Stunde schreibst du mir eine SMS. Und wenn ich sage jede Stunde dann meine ich, dass du nach abgelaufenen drei Minuten richtig Stress mit mir bekommst. Wenn etwas Ungewöhnliches geschehen sollte, wendest du dich entweder an Kaya, oder rufst mich an und ich bin sofort da.“

 

Mit schockierten, weit geöffneten Augen blickt Cathleen den Mann vor dem Lenkrad ihres Autos an und wartet ein paar Sekunden darauf, dass er sagt, dass er ein Scherz gemacht hat. Da er aber nichts mehr erwidert und es sehr ernst damit meint, muss Cathleen stutzen. Ein Kontrollfreak, schreit es hysterisch in ihrem Kopf. Seine Forderung ist für Cathleens Ohren unrealistisch und lächerlich, sodass sie es nur schwer ernst nehmen kann.

 

„Was passiert denn, wenn ich auf die Stunde genau verhindert bin, nicht an mein Handy kann und es nicht schaffe in 180 Sekunden zurückzuschreiben?“, fragt sie ihn provozierend und muss sich ein Grinsen verkneifen.

 

„Dann folgen Konsequenzen“, droht er mit gehobener Augenbraue und fährt fort, da ihn Cathleen unwissend ansieht. „Konsequenzen, wie am ersten Tag unseres Kennenlernens, als du dich geweigert hast die Zigarette loszuwerden.“

 

Mit hochrotem Kopf erinnert sich Cat an seine Reaktion, als sie seinem Verlangen ihre Zigarette auszumachen, nicht folgte und er ihr körperlich viel zu nah kam. Unbeabsichtigt schießen ihr die Erinnerungen in den Kopf, sowie das erregende Gefühl. Schnell wirft Cat ihm einen giftigen Blick zu, als ihre Hand zum Türhebel greift. Nichts wie weg von hier, schreit es in ihrem Kopf. Doch geschwind hält Joseph sie auf, indem er ihren Arm festhält.

 

„Hast du nicht was vergessen, Liebling?“, fragt er mit einem schiefen Lächeln.

 

Mit gerunzelter Stirn blickt sie ihn an und weiß nicht, worauf er hinauswill. Geschmeidig legt er seinen Arm auf die Armlehne und kommt ihr somit näher. Joseph merkt, dass sie wirklich nicht weiß, was er von ihr will und muss wegen ihrer Naivität schmunzeln.

 

„Ein Kuss für deinen Freund“, haucht er nur und merkt, dass ihre Wangen sich daraufhin wieder rot verfärben.

 

Cathleen hasst es, dass er es so offensichtlich machen muss. Doch am meisten hasst sie es, dass ihr Körper zeigt, dass sie wegen eines harmlosen Kusses rot wird und dies ihn nur umso mehr verstärkt, sie damit ärgern zu können. Allein die Vorstellung wieder seine Lippen zu berühren, breitet eine Gänsehaut bei ihr aus. Also rückt sie schnell zu ihm, drückt ihre Lippen auf seine Wange und ist schon aus dem Wagen raus, bevor er sich beschweren kann. Verwirrt bleibt Joseph im Wagen zurück und schaut zu, wie sie in das Gebäude läuft und hinter eine Tür verschwindet. Seufzend startet er erneut den Motor und entscheidet heute darüber hinwegzusehen. Vermutlich muss sie den Kuss von vorhin noch verdauen und sich an den Gedanken gewöhnen.

 

Mit schnellem Atem schließt Cathleen die Tür hinter sich und muss erst stehenbleiben, um ihren Puls runterzuschrauben. Sie hat es einfach nicht hinter sich gebracht, ihn auf die Lippen zu küssen. Cat hofft, dass er sie damit nicht aufziehen wird, denn sie braucht Zeit so locker damit umgehen zu können, wie Joseph. Als sie sich wieder beruhigt hat, läuft sie selbstsicher in den Gemeinschaftsraum und verwahrt dort ihre Tasche und Jacke.

 

„Guten Morgen, Cathleen“, begrüßt sie Linda.

 

Mit wachem Blick dreht sich Cathleen zum Türrahmen und findet dort ihre Chefin. Mit einem warmherzigen Lächeln lehnt sich Linda an der Tür an und blickt sie friedvoll an. Ihr dickes, hellbraunes Haar ist in einem lockeren Zopf zusammengeflochten, welcher auf ihrer rechten Schulter liegt. Linda ist etwa zwanzig Jahre älter als Cathleen, feine Lachfalten bilden sich unter ihren Augen und ihre braunen Augen blicken ihr herzlich entgegen.

 

„Morgen“, grüßt Cathleen lächelnd zurück.

 

„Ich habe Neuigkeiten, magst du mit mir zum Eingang kommen? Sid wartet bereits dort.“

 

„Sicher“, sagt Cathleen sofort und begleitet Linda raus aus den Gemeinschaftsraum.

 

Cathleen lernte Linda vor ein paar Jahren zufällig auf einer Wandertour kennen. Als Cat bemüht ihre neue Kamera auf einem Stativ platzierte und Luise posierend auf einem Felsen saß, trat Linda hilfsbereit zu ihr und erklärte mit Freude die Einstellung der Kamera. Sie unterhielten sich lange über Fotografie und Linda lud Cat in ihr Fotostudio ein. Cathleen besuchte Linda dort, sie freundeten sich an und Cat durfte ihr Schulpraktika im Studio machen. Nach ihrem Abschluss bot Linda ihr an bei ihr zu arbeiten, da sie ihr vieles beigebracht hatte und Cathleen gut in ihrer Arbeit war. So beschlossen beide, dass Cathleen im Studio arbeitet und ihr Geld für ein Fotografie Studium spart. Seitdem sind etwa zwei Jahre vergangen, Cathleen hat zwar genug Geld gespart, muss sich jedoch noch für ein Studium bewerben. Die nächstliegende Stadt, die solch ein Studium anbietet, ist mehr als vierhundert Kilometer entfernt. Bisher hat Cathleen es nicht geschafft sich zu bewerben, da sie es nicht übers Herz bringt Linda, ihre Freunde und die Stadt zu verlassen.

 

Als Linda und Cathleen am Eingang ankommen, finden sie neben Sid noch vier weitere fremde Personen stehen. Cathleen zählt eins und eins zusammen und ist sich sicher, dass es sich bei den vier Personen um Josephs Mitarbeiter handeln muss. Diese Menschen sollen sie also vor dem Mörder beschützen, während Joseph nicht da ist, resigniert Cathleen.

 

„Das sind Carlos, Bianca, Thomas und Kaya“, stellt Linda die vier neuen Gesichter vor. „Sie werden für ein paar Wochen ein Praktikum bei uns machen und ihr Wissen der Fotografie erweitern. Es wäre toll, wenn ihr sie anweisen und eure Arbeit vorstellen könnt.“

 

Schnell speichert Cat sich die Namen ein: Carlos der Spanier, Bianca die Blonde, Thomas der extreme Bodybuilder und Kaya die Indianerin. Für Cathleen ist zwar klar, dass die neuen Praktikanten keine professionellen Fotografen sind, sondern nur zu ihrem Schutz da sind. Ob Linda und Sid das auch wissen, fragt sich Cat.

 

„Schön euch kennenzulernen, ich bin Cathleen“, macht sich sie freundlich vor allen bekannt.

 

„Sid“, stellt sich ihr schüchterner Kollege wortkarg vor.

 

„Sid, du kannst Bianca und Thomas ja schon mal zeigen, wie man die Computer bedienen muss“, sagt Linda zu Sid, ehe sie sich an Cat widmet. „Cathleen, Carlos und Kaya werden dir während dem Kinderfotoshooting bei der Beleuchtung und den Aufzügen helfen. Wenn ihr noch Fragen habt, ich bin im Büro.“

Linda lächelt Cathleen noch vertrauensvoll an und zwinkert ihr zu, ehe sie sich umdreht und in ihr Büro läuft. Cat weiß, dass sie jene Menge Termine organisieren und Rechnungen vorbereiten muss, weswegen Linda wohl keine Zeit hat, sich mit den Neuen auseinanderzusetzen. Da Cathleen bewusst ist, dass die Vier sowieso keine echten Praktikanten sind, spürt sie keinen Druck dahingegen ihnen wirklich etwas beibringen zu müssen. Als Sid mit der Blonden und dem Bodybuilder weg ist, bleibt Cathleen unsicher vor dem Spanier und der Indianerin stehen.

 

„Wir helfen dir gerne aus“, beginnt Kaya und sieht Cathleen freundlich und höflich an. „Wo stehen denn die Geräte?“

 

Überrascht von der festen Stimme, da ihr kleiner Körper so zierlich und zerbrechlich wirkt, weiß Cathleen erst einmal nicht, was sie sagen soll. Kaya besitzt eine schön gebräunte Haut und lange schwarze Haare, die sie nach hinten zusammengeflochten hat. Schnell erhascht Cathleen ein Blick auf ihr Tattoo, als Kaya sich eine Strähne hinter ihr Ohr streicht. Eine Sonne ist auf ihrem Unterarm abgebildet.

 

„Mir hinterher“, versucht Cat motiviert zu klingen und läuft ins Studio.

 

Dort angekommen erklärt Cathleen den Beiden, wo man was finden kann, wie man was aufbaut und wie alles funktioniert. Ihr fällt auf, dass Kaya höchst interessiert aussieht, während Carlos noch kein Wort gesagt hat und auch nicht danach wirkt, als würde er ihr zuhören. Cat kann nur hoffen, dass er nichts kaputt macht, wenn er schon nicht aufpasst. Als es nichts mehr zu erklären gibt, zeigt sie den Beiden zum Schluss noch das Rotlichtzimmer, Gemeinschaftszimmer und die Toilette. Cat fragt sich, wie sie nun mit den neuen Kollegen zusammenarbeiten wird, und würde sich gerne mehr mit Kaya unterhalten. Außerdem findet Cat es seltsam, dass sie bisher noch kein Wort über ihren wahren Auftrag gesprochen haben. Etwas verlegen räuspert Cat sich und zwingt sich dann die nächsten Worte herauszupressen.

 

„Ihr seid Kollegen von Joseph?“, flüstert Cathleen geheimnisvoll.

 

Beide blicken sie sofort überrascht über die Frage und dem Flüstern an. Cat weiß nicht, wieso sie leise gesprochen hat, für sie beinhaltet ein Geheimnis eine gedämpfte Stimme.

 

„Ja, hat er dir das etwa nicht gesagt?“, fragt Carlos überrascht und runzelt die Stirn.

 

Das ist das erste Mal, dass Carlos mit ihr spricht. Cat merkt, dass er wohl nur den Mund aufbekommt, wenn es um seine wahre Arbeit geht. Mehrmals blinzelnd blickt sie zu ihm hoch und könnte sich für die dumme Frage gegen die Stirn schlagen. Neugierig wandern ihre Augen auf seine schön gebräunte Haut, kurzen schwarze Haare und muskulösen Arme. Noch bevor Cathleen es realisiert, hat sie festgestellt, dass Joseph um einiges besser aussieht. Während die Muskeln des Spaniers gerade vor Trotz herausstechen, fast unnatürlich aussehen, besitzt Joseph die wahre Mannfigur. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Außerdem ist Joe größer als er. Sofort ärgert Cathleen sich wegen ihren Gedanken und redet sich ein, dass das nur ihre objektive Meinung ist.

 

„Doch hat er, ich wusste nur nicht, wie ich das Thema ansprechen soll“, gibt Cathleen peinlich zu.

 

Carlos scheint sich ein Lachen verkneifen zu wollen und wirkt jedenfalls viel lockerer als zuvor.

 

„Alles gut, die Situation ist ja auch wirklich ungewöhnlich“, antwortet er ihr freundlich.

 

Danach verlaufen die Gespräche zwischen den Dreien viel entspannter. Cathleen erklärt ihnen für das folgende Shooting die wichtigsten Dinge, worauf sie achten sollen, und schon machen sie sich an ihre Arbeit. Noch bevor die Kunden für das Fotoshooting kommen, schreibt Cat Joseph eine kurze SMS, dass sie am Leben ist. Joseph hat wahrlich gespannt auf ihre erste Nachricht gewartet. Es ärgert ihn, nicht bei ihr sein und sie aus nächster Nähe beschützen zu können, falls etwas passieren sollte. Er sieht ihre Arbeit als offenes Fenster für ihren Verfolger, an sie leichter rankommen zu können. Doch dieses Risiko muss er eingehen und seine Rolle als Grundschullehrer spielen, um keinen Verdacht zu schöpfen. Außerdem ist sie nicht ungeschützt im Studio, seine Kollegen weichen nicht von ihrer Seite. Während Joseph also in der Sporthalle steht und die Kinder um ihn wild herumrennen, lässt er sein Handy wieder in seine Sporthose verschwinden und versucht sich mit den Schülern abzulenken.

 

Cathleen hält sich artig an die Forderung von Joseph und schreibt ihm jede Stunde eine SMS als Art Lebenszeichen. Lieber geht sie den Aufwand ein jede Stunde eine Nachricht abzuschicken, als sich mit Joseph zu streiten und eine seiner „Konsequenzen“ erleiden zu müssen. Wenn Cat ehrlich ist, hat sie den Tag über öfters schmunzelnd über seine Konsequenzen nachgedacht, doch sie schnell weggeschüttelt. Soweit darf sie es nicht ausarten lassen, ermahnt sie sich. Also lenkt sie sich mit der Arbeit ab und den Gesprächen mit Kaya. Die aus Cathleens Augen neugefundene Freundin gefällt ihr sehr und sie kommen wunderbar miteinander aus. Kaya hat eine ruhige, geduldige Art an sich und hört ihr aufmerksam und interessiert zu, wenn es um Fotografie geht. Ab und zu schweifen sie zu Alltagsthemen, wie Essen, Urlaubsorte oder Klatsch aus und unterhalten sich amüsiert darüber. Cathleen fällt auf, wie gut es ihr tut ausgelassen mit jemand sprechen zu können, die ihre Hintergründe kennt. Mehrmals ertappt sie sich dabei, über Joseph und ihrer unglücklichen Situation sprechen zu wollen. Doch dann erinnert sie sich, dass auch Kaya für ihre Anwesenheit und den guten Umgang mit ihr bezahlt wird. Also hält sie sich zurück und verdrängt die Gedanken und ihren Kummer.

 

Als ihr Arbeitstag vorbei ist, verabschiedet sie sich mit ihrer Tasche in der Hand bei Linda, Sid und ihren neuen Arbeitskollegen und läuft aus der Tür. Wie erwartet, findet sie auf der anderen Straßenseite Joseph lässig an ihrem Auto angelehnt auf sie warten. Er sieht umwerfend aus, wie er dasteht und sie unverschämt freudig anlächelt, Cat könnte glatt seufzen. Als er sie aus dem Studio laufen sieht, lächelt er ihr ehrlich entgegen und spürt eine Erleichterung darüber, dass es ihr gut geht. Um ihr zu zeigen, wieder in ihre Rolle als Freundin zu schlüpfen, breitet er seine Arme aus und blickt ihr lächelnd aber auch fordernd entgegen. Cathleen versteht seinen Wink und lässt sich ohne Widerrede in seine Arme fallen. Seine Arme umschlingen sie fest und sein Kinn ruht auf ihrem Kopf. Cathleen drückt ihre Wange an seine linke Brust und spürt das regelmäßige Schlagen seines Herzens. Sie bleiben länger in der Umarmung verweilen, als erwartet und ein Außensteher könnte bei ihrer Zweisamkeit nie auf die Idee kommen, dass sie nur so tun, als würden sie sich mögen.

 

Irgendwann hebt Joseph seinen Kopf, um zu ihr herunterzusehen, und seine Hände wandern von ihrem Rücken entlang zu ihrer Hüfte. Cathleen weiß, was gleich auf sie zukommt, sie hat sich den ganzen Tag darauf vorbereitet. Als sie den Kopf hebt und in seine wachen Augen blickt, erkennt sie, dass er auf ihr Go wartet. Dankbar darüber, dass er sie nicht überfordert oder unter Druck setzt, stellt sie sich auf ihre Zehenspitze, schließt die Augen und legt mutig ihre Lippen leicht und flüchtig auf seine. Es ist ein kurzer Kuss, doch Joseph ist zufrieden damit, da es von ihr ausging. Sie ist die erste, die sich nach dem Kuss von ihm entfernt und um das Auto herumläuft, um auf der Beifahrerseite einzusteigen. Joseph macht es ihr schließlich gleich und steigt ebenfalls ein, um den Heimweg einzuschlagen.

 

„Wie war dein Tag?“, fragt Joseph neugierig und beendet die Stille.

 

„Gut“, antwortet sie erst zögerlich und entscheidet sich schließlich von dem Kindershooting und dem Bearbeiten der Bilder zu erzählen.

 

„Klingt, als wäre die Arbeit sehr trocken“, überlegt er laut und fährt fort, als er merkt, dass sie ihm nicht folgen kann. „Du schießt Bilder von fremden Menschen und verbringst den Tag dann dabei die Fotos zu bearbeiten. Wird das auf die Dauer nicht langweilig?“

 

„Das ist ja nicht alles“, meint Cathleen und muss sich ein Lachen verkneifen. „Wir haben sehr oft Aufträge auf Hochzeiten, Geburtstagsfeiern, Arbeitstreffen von Firmen, oder wir gehen generell nach draußen, um die Shootings dort zu machen. Draußen sind die Menschen oftmals lockerer und die Bilder sehen authentischer aus. Klar, danach müssen wir die Fotos aussortieren und bearbeiten, aber oft werden wir auch gebeten, Fotoalben oder Diashows zu erstellen. Die Arbeit sieht jeden Tag also anders aus und macht es gleichzeitig spannender.“

 

„Du blühst ja regelrecht auf, wenn du über deine Arbeit sprichst“, bemerkt Joseph und muss leicht lächeln, sein Blick ist stets auf die Straße gerichtet.

 

„Ist das bei dir etwa nicht so?“, fragt Cathleen schulterzuckend. „Klar, dein Job ist adrenalinfreudig und lebensgefährlich im Gegensatz zu meinem, aber das scheint dir ja Spaß zu machen, sonst würdest du nicht bei mir sein, oder?“

 

„Ich mache das nicht, weil es mir Spaß macht“, antwortet Joseph ernst und runzelt die Stirn. „Sondern weil ich sehr gut darin bin und man mich braucht.“

 

Überrascht blickt Cathleen zu ihm herüber und wundert sich über die Antwort von Joseph. Sie hätte nicht gedacht, dass er ihr die Frage ehrlich beantworten würde, doch er tat es. Seine Antwort klingt bekümmert, fast als würde er es bedauern, oder bildet sie sich das nur ein? Schlagartig fragt sie sich, wie es dazugekommen ist, dass Joseph sich für diesen gefährlichen Berufsweg entschieden hat. Geheimnisse über Geheimnisse…

 

„Was würdest du denn stattdessen machen wollen, was würde dir Spaß machen?“, fragt Cathleen ernst und gespannt, ob er tatsächlich darauf antworten wird.

 

„Unbeschwert Sex haben“, antwortet er grinsend und muss wegen Cathleens Seufzen lachen.

 

„Vergiss es einfach wieder“, sagt Cathleen wegwerfend und sieht beleidigt aus dem Fenster.

 

Ihr hätte klar sein müssen, dass er mit keinen offenen Karten spielen und nichts über sich preisgeben möchte, und trotzdem hat sie es wieder versucht. Vermutlich macht er sich über ihre Neugierde lustig über sie, denkt sich Cat und verdreht ihre Augen.

 

„Segeln“, sagt Joseph plötzlich leise.

 

Cathleen dreht ihr Kopf sofort zu ihm und sieht ihn mit verwunderten Augen an. Hat er gerade etwas gesagt, fragt sie sich, oder hat sie sich das nur eingebildet?

 

„Wie bitte?“, fragt sie und spürt, wie ihr Herz pocht.

 

„Ich würde stattdessen vermutlich segeln“, antwortet Joseph und blickt weiterhin stets auf die Straße.

 

Sie kann nicht fassen, dass er doch noch auf ihre Frage geantwortet hat. Sie freut sich tierisch mehr über ihn erfahren zu haben, auch wenn es nur eine kleine Information ist. Cat ist sich sicher, dass sie in Zukunft noch mehr aus ihm herauskritzeln kann. Joseph selbst weiß nicht, wieso er das getan hat. Doch es tat ihm leid zu sehen, wie sie enttäuscht über seine Verschwiegenheit weggesehen hatte, als wäre sie von ihm enttäuscht. Er weiß, dass er nicht viel von sich erzählt, und er hat vor dies auch weiter so beizubehalten, doch das kleine Geheimnis konnte er ihr erzählen. Diese Ausnahme machte er für sie.

 

„Ich hätte nicht gedacht, dass du ein Wassermensch bist“, meint Cathleen und lächelt erleichtert.

 

„Scheine wohl für Überraschungen gut zu sein“, entgegnet er grinsend und freut sich, die Wogen geglättet zu haben.

 

Nach weiteren neugierigen Fragen seitens Cat über Josephs Arbeitstag, erzählt er ihr augenverdrehend, wie aufgedreht die Kinder im Sportunterricht waren, die Jungs ständig Fußball und die Mädels Völkerball spielen wollten. Joe hat einen festen Plan des eigentlichen Lehrers erhalten mit Angaben darüber, dass Basketball an der Reihe war. Er konnte die Kids also nur mit Mühe davon überzeugen jeweils ein Basketball in die Hand zu nehmen. Cathleen ist amüsiert und bekommt während seiner Erzählung ihr Lachen nicht aus dem Gesicht, selbst Joseph findet seine Verzweiflung nach einiger Zeit witzig.

 

Der Rest des Abends vergeht in einer Windeseile und auf dieselbe Weise, wie schon an den Vortagen. Sie bestellen sich wieder mal etwas zu Essen und schwören beide am nächsten Tag etwas Gesundes zu kochen. Dann schauen sie einen Film, Cathleen macht sich bettfertig und liegt schlussendlich nachdenklich eingewickelt in ihrer Decke. Während Joseph im Badezimmer ist, seufzt Cathleen mehrmals in ihr Kissen und spürt den Kummer tief im Herzen sitzen. In den letzten Tagen ist so vieles passiert, worüber sie am liebsten mit Luise sprechen würde. Der Wegzug von Wade, der Mörder ihrer Mutter, Joseph, die Fake Beziehung, die neuen Mitarbeiter…Ihr fällt es schwer so viele Geheimnisse auf einmal alleine ausbaden zu müssen und ertappt sich mehrmals dabei, nach ihrem Handy zu greifen und Luises Nummer zu wählen. Cat ist überzeugt davon, dass es ihr besser gehen würde, wenn sie mit Luise darüber spricht. Doch das geht nicht, schüttelt Cathleen kräftig mit dem Kopf und schließt ihre Augen. Luise ist ihr Ein und Alles, sie wird sie nicht in Gefahr bringen, nur damit Cat ihr Kummer bereinigen kann. Also zählt sie im Kopf bis hundert, bis sie tatsächlich einschläft.

Schuhgröße

Es gibt eine Studie, die aufzeigt, dass verurteilte Straftäter im Durchschnitt größere Schuhgrößen tragen als der jeweilige Landesdurchschnitt  

 

 

Seit etwa einem Monat ist der Mörder von Helen Havering auf freiem Fuß. Zähneknirschend, seine Hände in seiner Jackentasche vergraben und die Baseballkappe tief nach unten gezogen, blickt er das Haus auf der anderen Straßenseite an. Es ist eine ruhige Gegend, die Häuser stehen aneinandergereiht an der Straße und sehen fast alle gleich aus. Geringschätzend schnieft der Mann tief und spuckt auf den Boden. Jahrelang hat er sich überlegt, wie er sich bei Don rächen kann. Denn der Mord seiner Frau hat dem Sträfling noch lange nicht gereicht. Don hat ihn hintergangen, auf hinterhältigsterweise. Niemals hätte er gedacht, dass sein einst bester Freund ihn dermaßen betrügen könnte. Er hat Don vertraut, sie waren früher ein unzertrennlich gutes Team und haben eine Menge Geld verdient. Doch dann hat Don ihn leichtfällig bei der Polizei verpfiffen, um sich selbst zu retten. Glücklicherweise konnte er sich damals noch bei ihm rächen, indem er Helen ermordete, bevor er in den Knast einwandern musste. Doch in den letzten Jahren ist sein Groll nicht verschwunden, sondern gewachsen. Helen als Opfer reicht ihm nicht, er wünscht sich, Don noch mehr wehzutun. Also entschied er sich, Don alles zu nehmen, sobald er entlassen wird.

 

Es ist sieben Uhr früh und Helens Mörder steht vor Dons Haus, um den Tagesablauf seiner Tochter kennenzulernen. Zu Beginn hat es ihn verwundert, dass Don nicht mehr in dem Haus lebt. Doch er erkannte schnell, dass es umso einfacher sein wird, sie umzubringen. Hätte er nur schneller zugeschlagen, ärgert er sich erneut. Denn nun hat sie einen Freund um sich, der wie eine Klette an ihr hängt. Am Anfang dachte der Verfolger, Don hätte herausgefunden, dass er entlassen wurde und womöglich hinter ihm oder seiner Tochter her wäre, weswegen er einen Aufpasser für sie engagiert hatte. Doch nach längerer Betrachtung kommen die zwei sich immer näher und sehen glücklich miteinander aus. Der Verfolger hat nicht das Gefühl, dass das gespielt ist. Selbst wenn der Kerl nun bei ihr wohnt, wird es ihn nicht daran hindern, eine Gelegenheit zu finden und sie umzubringen. Er hat sich unzählige Möglichkeiten ausgedacht Dons Tochter zu töten, doch mit keine davon war er vollsten zufrieden. Also entschied er sich mit Cathleen zu spielen, sie zu ängstigen und zu quälen, bevor er sie umbringt. Heute wird er das erste Mal zuschlagen und ihr ein Geschmack von Angst verpassen, denkt er sich und lächelt in sich hinein.

 

Zur selben Zeit steht Cathleen unter der Dusche und muss plötzlich niesen. Jemand denkt an mich, denkt Cathleen sich und zuckt munter mit den Schultern. Joseph ist heute nicht Laufen gegangen, sondern bereitet Cathleen ein Frühstück vor. Gestern war er schuld daran, dass Cat zeitlich nicht mehr frühstücken konnte, weswegen er ihr heute zuvorkommt. Als sie aus der Dusche kommt, sich in ihrem Zimmer umzieht, riecht sie bereits den Duft von Spiegeleiern aus der Küche. Überrascht läuft sie angezogen die Treppen herunter und sieht Joseph dabei zu, wie er das Spiegelei auf einen Teller schiebt.

 

„Wie kannst du so früh am Morgen Laufen gehen oder Frühstück zubereiten?“, fragt sie neidisch.

 

„Die Einstellung zählt“, dreht er sich zu ihr um, um den Teller auf den Tisch zu stellen und zwinkert ihr galant zu.

 

„Du bist unglaublich“, schüttelt Cat ungläubig mit dem Kopf.

 

„Ich weiß“, lächelt Joe selbstgefällig und rückt den Stuhl vom Tisch. „Lass es dir schmecken.“

 

„Wie? Das hast du für mich gemacht?“, fragt sie verwundert. „Hast du denn keinen Hunger?“

 

„Im Lehrerzimmer gibt es morgens immer Snacks“, beachtet Joe sie nicht weiter und stellt die Pfanne in den Spülbecken. „Außerdem muss ich mich auch noch fertig machen.“

 

Da Cathleen immer noch wie versteinert am Türrahmen steht und skeptisch dreinschaut, zieht Joseph sie mit einem Ruck zum Stuhl und drückt sie herunter, damit sie sich hinsetzt.

 

„Schau nicht so argwöhnisch“, nörgelt Joseph belustigt und verwuschelt ihr blondes Haar. „Iss.“

 

Dann geht er schnurstracks aus der Küche und lässt Cathleen mit einer Tasse Kaffee und Spiegelei am Tisch zurück. Cathleen ist sich nicht sicher, was sie darüber denken soll. Ihre Brust fühlt sich wohlig warm an, da sie es nett findet, dass Joseph an sie gedacht hat. Er hat ihr ein Frühstück zubereitet, ohne jemand Außenstehendem etwas zu beweisen. Entweder wollte er sich bei ihr einschleimen, oder er wurde einfach gut erzogen. Schulterzuckend verwirft sie die Gedanken und isst genüsslich das Spiegelei.

 

Nach dem Essen ist Cathleen schneller als Joseph, steht bereits angezogen vor der Haustür und wartet auf ihn. Cathleen hat sich für heute vorgenommen ihre Küsse ihm gegenüber einzusparen. Ihr ist klar, dass sie nicht drumherum kommen wird, ihn küssen zu müssen. Doch möchte sie wenigstens versuchen nicht in die Bredouille zu kommen und draußen einfach etwas Abstand von ihm zu halten. Außerdem befürchtet Cathleen, dass Joseph bisher ein Auge zugedrückt hat und sie leicht auf die Lippen geküsst hat. Cat kann sich gut vorstellen, dass die Küsse gesteigert werden und ihr Herz hämmert bereits aufgeregt gegen ihre Brust bei dem Gedanken, dass sie sich tatsächlich mit Zunge küssen werden. Ihr Masterplan, um ein Zungenkuss zu verhindern, beinhaltet ein Kaugummi. Leise lacht Cathleen hinterhältig in sich hinein und kaut, begeistert von der Idee, auf dem Kaugummi rum. Als Joseph Cathleen bereits fertig angezogen vor der Haustür anfindet und sie ein entschlossenes Gesicht aufhat, spürt er schon, dass sie dabei ist, etwas auszuhecken. Während er sich seine Schuhe anzieht, mustert er sie unauffällig von der Seite. Für ihn wirkt Cathleen danach, als würde sie einen bestimmten Zeitpunkt abwarten. Er fragt sich, was sie vorhat und lässt sie nicht aus den Augen.

 

„Ich geh schon mal zum Auto“, ruft sie aufgeregt, als Joseph sich erhebt und nach seiner Jacke greift.

 

„Warte“, ruft Joseph hastig hinterher und spürt eine Panik hochkommen, doch Cat ist bereits aus der Tür.

 

Mit einem Schreck fängt Joseph Cathleen vor der Treppe auf, die zur Straße hinuntergeht. Seine Arme umschlingen sie von hinten wie Stahlketten und drücken ihren Körper gegen seinen. Josephs Augen sind weit aufgerissen und er spürt, wie sein Herz vor Schock in seine Hose gesunken ist. Seine Alarmglocken im Kopf sind nicht erloschen und er würde Cathleen am liebsten sofort zurück ins Haus zerren, um sie für immer in ein Zimmer zu sperren. Gerade will er sie barsch ansprechen, als seine Hand an ihrer Brust jedoch ihren schnellen Herzschlag spürt, schluckt er den Ärger hinunter. Sie wusste es nicht besser, ermahnt sich Joseph ruhig zu werden.

 

„Dass du auch so ein leichtes Spiel für ihn sein musst“, seufzt Joseph leise und vergräbt sein Gesicht in ihren Haaren.

 

Cathleen blickt starr geradeaus und hat sich durch sein Rufen und seinem Griff so erschrocken, dass sie fast den Kaugummi verschluckt hätte. Sie hat keine Ahnung, was sie falsch gemacht hat. Doch sie steht immer noch wie versteinert da und rührt sich nicht, davon abgesehen, dass sie sowieso nicht weg kann, da Joseph sie fest umschlungen hält. Als ihr seine Nähe bewusst wird, ist sie froh, dass er hinter ihr steht und nicht ihr Gesicht sehen kann.

 

„Was habe ich getan?“, flüstert Cathleen in einem Atem.

 

„Ich sagte doch, ich laufe immer vor und überprüfe, ob du mir nachkommen kannst. Egal, ob wir aus oder in das Haus gehen“, rügt er sie und haucht den Duft ihres Shampoos ein, um sich zu beruhigen. „Er hätte dir kinderleicht etwas antun können.“

 

Cathleen kommt nicht umhin, dass sich auf ihrem ganzen Körper eine Gänsehaut bildet. Der Gedanke, sie hätte die Haustür geöffnet und ein maskierter Mann mit Pistole hätte vor ihr gestanden, lässt sie kurz aufkeuchen. Wie dumm von ihr, ärgert sie sich. Sie hatte viel zu viel Zeit in Anspruch genommen, darüber nachzudenken, wie sie Joseph entwischen könnte, als sich über ihre Sicherheit zu vergewissern. Auch Joseph spürt ihre Gänsehaut, da sich selbst ihre Nackenhaare aufgestellt haben. Das nimmt er als Zeichen, dass seine Worte bewirkt haben, dass sie endlich Furcht zeigt und aus ihren Fehlern lernt.

 

Während seine linke Hand immer noch auf ihrem Oberkörper liegt, wandert seine rechte Hand an ihr Hals. Fasziniert sieht er dabei zu, wie seine Finger leicht die Erhebung ihrer Haut am Hals berühren. In den Moment zuckt Cathleen kurz zusammen und ihr Kopf schnellt zu seiner Seite, um ihn zu rügen. Bevor Cathleen aber etwas sagen kann, liegen Josephs Lippen bereits auf ihren. Cats Atem wird sofort flach und sie ist froh, dass sie eigentlich in Josephs Armen liegt und es nicht groß auffällt, wenn ihre Beine weich werden und sie sich weiter an ihn anlehnen kann. Eigentlich hatte sie vor ihr Kopf sofort zurückzuziehen, doch seine Lippen sind so weich und sie fühlt sich geborgen in seiner Mitte. Dennoch fühlt sie sich zwiegespalten und kann nicht loslassen, weswegen sie jeden Moment bereit ist, den Kuss zu unterbrechen. Als sie spürt, wie sich seine Lippen öffnen und seine Zunge leicht Zugang gewähren will, bekommt Cathleen Panik und schreckt zurück.

 

„Sorry“, keucht sie sofort aufgebracht und schnappt nach Luft, als sie seinen verwunderten Gesichtsausdruck vor sich sieht. „Kaugummi.“

 

„Was?“, fragt er und runzelt die Stirn.

 

Cathleen würde sich zu gern gegen die Stirn schlagen, doch selbst dazu ist sie nicht mehr in der Lage. Eigentlich hatte sie sich das anders vorgestellt, nun fühlt sie sich aber kindisch und schämt sich. In Gedanken redet sie es sich aber gut, denn sie kann es nicht zulassen, dass sie sich in der Öffentlichkeit immer näher und näher kommen. Normale Küsse reichen doch vollkommen aus, verteidigt Cathleen ihre Begründung. Da sie sprachlos ist, zeigt sie einfach den Kaugummi zwischen ihren Zähnen als Antwort. Verwundert gleiten Josephs Augen auf den Kaugummi und er beginnt schallendlaut zu lachen. Nun ist Joseph derjenige, der sich auf Cathleens Schultern anhängt und von ihr gehalten wird. Er dachte sich schon, dass sie was gegen den Zungenkuss haben würde. Aber er hätte nicht damit gerechnet, dass sie sich mit einem Kaugummi zur Wehr setzen würde. Als er sich beruhigt, blickt er heiter zu ihr herunter. Cathleen sieht ihn argwöhnisch an und kaut demonstrativ auf dem Kaugummi im Mund.

 

„Das hat dich vielleicht jetzt gerettet“, meint Joseph grinsend und lässt Cathleen los. „Das nächste Mal wird mich das aber nicht hindern, dich richtig zu küssen.“

 

Augenverdrehend dreht sich Cathleen um und läuft zum Treppenabsatz. Bevor sie die Stufen jedoch heruntersteigt, bleibt sie stehen, dreht sich erneut zu Joe um und streckt seufzend ihre Hand aus. Sie entscheidet sich lieber ihre Hand auszustrecken, statt erneut von ihm aufgehalten und geküsst zu werden. Außerdem sollen sie in der Öffentlichkeit ihre Beziehung wahren, rügt Cathleen sich in Gedanken. Nickend und zufrieden ergreift Josephs Hand ihre und läuft mit Cat zum Auto. Während der Autofahrt blickt Cathleen nachdenklich aus dem Fenster. Ihre Gedanken kreisen immer noch um den Kuss herum und sie spürt den Druck, eine Frage noch mit Joseph zu klären, bevor sie mit der Arbeit beginnt. Also nimmt sie all ihren Mut zusammen, atmet tief durch und blickt zu ihm hinüber. Dieser hat bereits gespürt, dass Cathleen das Thema noch nicht beendet und etwas zu sagen hat, weswegen er geduldig darauf wartet, dass sie sich meldet.

 

„Wieso kann ein gewöhnlicher Kuss auf die Lippen kein richtiger Kuss sein?“

 

Da die Ampel vor ihnen gerade auf Rot schaltet, bremst Joseph geschmeidig und sieht sie schließlich mit zuckender Lippe an. Am liebsten hätte er auf diese Frage ein Witz gerissen, doch er hält sich noch rechtzeitig zurück, als er merkt, dass sie die Frage ernst meint. Ihre Stirn ist gerunzelt und ihre Finger reiben sich wieder nervös aneinander. Ihre Frage klingt plötzlich bedeutungsvoll und sie selbst wirkt zerbrechlich und frustriert.

 

„Ein leichter Kuss auf die Lippen kann sicher ein echter Kuss sein. Doch das kannst du jedem geben und es ist zu simpel“, versucht Joseph sachlich zu erklären. „Für Jemand, der dich die ganze Zeit beobachtet oder jemand beauftragt es zu tun, kann ein leichter Kuss auf die Lippen auf Dauer gespielt wirken. Ein Zungenkuss hingegen ist sehr intim und gefühlvoller als eine einfache Berührung der Lippen. Und genau das müssen wir verkaufen, eine intime Beziehung.“

 

Die Ampel hat während seiner Erklärung wieder auf Grün geschaltet, weswegen Joseph den Gesichtsausdruck von Cathleen nicht sieht. Diese wiederum ist froh, dass er sie nicht direkt ansehen kann. Nachdenklich beißt sie sich auf ihre Unterlippe und gibt sich seiner argumentativen Erklärung geschlagen. Vor allem mit dem letzten Satz hat Joe mal wieder recht. Sie müssen eine wahre Liebesbeziehung nach Außen hin verkaufen, nur so haben sie die Chance, dass Joseph sie verdeckt beschützen und den Mörder ihrer Mutter ausfindig machen kann. Also darf sie sich heute den ganzen Arbeitstag seelisch darauf vorbereiten, dass in Zukunft Zungenkusse in der Öffentlichkeit an der Reihe stehen werden.

 

„Hat dir Sveni Boy so denn nie seine Zuneigung gezeigt?“, fragt Joseph plötzlich interessiert mit dem Hintergedanken, dass sie dann versteht, weswegen ihm die Kusssteigerung wichtig ist.

 

Von der Seite erkennt er, dass Cathleen leicht lächelt, dieses jedoch nicht ihre Augen erreicht. Ihr Lächeln sieht nicht glücklich, sondern betrübt und nachdenklich aus. Auf einmal wirkt sie zart und fragil in seinen Augen und er befürchtet, die Last, der Druck und die Anspannung von Allem könnte sie eines Tages erdrücken.  

 

„Sven kommt eher aus einer Nehmer Kultur“, erklärt Cathleen und schluckt den beschämenden Kloß im Hals herunter. „Er hat sich gedanken- und rücksichtlos alles von jedem genommen, was er benötigt hat. Wenn er es nicht bekommen hat, war es ihm schließlich auch egal. Und ich war zu leichtgläubig und habe alles gegeben, was er wollte und nie das bekommen, nach was ich mich hin und wieder gesehnt habe. Eine Beziehung in der Außenwelt gab es nicht, sie wurde aufgrund seines Wunsches dort nicht ausgelebt, alles war geheim. Also nein, er hat mir so nie seine Zuneigung gezeigt, vielleicht weil sie einfach von seiner Seite aus nicht vorhanden war.“

 

Joseph plustert daraufhin seine Wangen auf und hat das Gefühl, in ein volles Fettnäpfchen getreten zu sein. Hätte er geahnt, dass Sveni Boy wirklich so schlimm war, hätte er die Frage niemals gestellt. Fieberhaft überlegt Joseph sich, wie er das wieder gut machen oder Cat aufheitern kann, doch in sowas ist er nicht gut. Immerhin weint sie nicht, stellt er erleichtert fest und sieht noch einmal zu ihr hinüber. Ihr Augen blicken verträumt aus der Windschutzscheibe, sonst sitzt sie regungslos in ihrem Sitz.

 

„Das tut mir leid“, entscheidet sich Joseph für diese tröstende Worte.

 

„Das muss es nicht“, sagt sie sofort und wird wieder hellwach. „Es war dumm, aber vermutlich musste ich diese Erfahrung machen. Ich habe viel daraus gelernt und blicke jetzt nur noch nach vorne.“

 

„Wenn du es aber wieder gut machen willst, kannst du mir erzählen, für welches Liebesdrama du dich schämst“, bringt sie plötzlich mit einem neugierigem Lächeln rein und sieht interessiert zu ihm rüber.

 

„Sagtest du nicht gerade, es muss mir nicht leidtun? Somit schulde ich dir praktisch nichts“, sagt Joseph belustigt.

 

„Ach, komm schon“, ruft Cathleen augenverdrehend aus. „Meine Story mit Sven ist mehr als nur peinlich. Dafür, dass du mich so oft ausfragst und mich immer wieder in das Licht der einfältigen und treudoofen Freundin stellst, wäre es schön mal zu hören, ob es dir immerhin ähnlich ergangen ist.“

 

„Du hast recht“, lacht Joseph kurz. „Wenn wir über deinen Ex sprechen, trete ich immer in irgendwelche Fettnäpfchen. Also werde ich dir den Gefallen tun und antworten.“

 

Erstaunt und gespannt blickt Cathleen unablässig zu Joseph und wartet, bis er mit der Sprache rausrückt. Sie kann es nicht fassen, dass er auf die Frage reagieren und wieder etwas aus seinem Privatleben erzählen wird. Erst als Joseph mit dem Auto anhält und den Motor ausschaltet, merkt sie, dass sie schon am Fotostudio angekommen sind. Mit gelassener Miene lehnt sich Joseph zurück und dreht seinen Kopf zu Cathleen.

 

„Ich habe so etwas, was dir passiert ist, nicht einmal im Geringsten Maß erlebt“, antwortet er ehrlich. „Wir sind jetzt angekommen, vergiss unsere Abmachung nicht und mach nichts Unüberlegtes. Wie sehen uns in etwa acht Stunden wieder.“

 

Als er sich an der Lehne zu ihr nach vorne lehnt, öffnet Cathleen empört den Mund und verschränkt ihre Arme.

 

„Du lügst“, meint sie entrüstet, doch noch bevor Cat weiterreden kann, unterbricht Joseph sie kühl.

 

„Unterstell mir nie zu lügen“, ermahnt er sie ernst. „Ich spiele immer mit offenen Karten und würde dich nie betrügen.“

 

Seine ernste Miene lässt Cathleen stocken und sie fährt mit ihrer Aufregung zurück. Dieses Spiel hat sie verloren, das erkennt sie sofort. Sie würde nun nichts aus Joseph herausbekommen, da er seine Mauer um sich wieder aufgebaut hat. Joseph umgibt immer etwas Geheimnisvolles und er gibt nichts von sich preis. Nur in manchen Momenten, erfährt Cat mehr von ihm. Entweder, weil ihm aus Versehen eine Info rausrutscht, aber selbst da versucht er nicht lange darüber zu sprechen. Oder, weil seine Mauer in manchen Momenten im Umgang mit Cathleen bröckelt und er in ihrem Interesse nachgibt und ein Auge zudrückt. Sie hatte diesen zweiten Moment gerade wieder, doch mit der Unterstellung der Lüge, scheint Cathleen seine Mauer noch höher gestapelt zu haben, weswegen sie zurückrudert und sich vornimmt, das Thema ein anders Mal wieder anzusprechen. Im Hinterkopf fügt Cathleen in ihrer Liste an Infos über Joseph hinzu, dass er auf Beschuldigungen zu lügen nicht gut reagiert.  

 

„Entschuldige“, sagt Cathleen leise nickend und gesteht sich ihre vorschnelle Reaktion als Fehler ein.

 

„Also, wie gesagt, vergiss nicht, mir jede Stunde zu schreiben“, räuspert sich Joseph, überrascht über ihre rasche Entschuldigung.

 

Als er sich schließlich erneut mit seinem Arm an der Lehne zu ihr vorlehnt, versteht Cathleen den Wink schnell und geht davon aus, dass es erneut Zeit für ein Kuss ist. Seufzend stützt er sein Kinn auf seine Faust auf, schließt seine Augen und wartet darauf, dass Cathleen ihn küsst. Da sie im Auto sitzen, möchte er sich nicht wie ein Tier auf sie stürzen, um sie zu küssen und wartet lieber geduldig, bis sie sich gefasst hat. Doch Cathleen wird puterrot bei dem Gedanken wieder seine Lippen zu berühren, gar einen Zungenkuss zu erleben. Das hält ihr schwaches Herz auf keinen Fall aus. Da Joseph seine Augen geschlossen hält, sieht Cathleen dies als Chance schnell davonzukommen. Also greift sie nach ihrer Tasche zwischen den Beinen, küsst Joseph flüchtig auf die Wange und ist schneller aus dem Auto, als er die Augen wieder öffnen kann.

 

Blinzelnd, immer noch sein Kopf auf seiner Faust gestützt, sieht Joseph der Blondine hinterher. Wieso hat sie ihn nur auf die Wange geküsst, fragt Joseph sich. Nun haben sie gefühlt hundertmal über das Thema gesprochen und immer noch schafft Cathleen es nicht, ihn auf die Lippen zu küssen. Dabei hat er sie nicht einmal zu sich gezogen oder sie unter Druck gesetzt, denkt Joseph verzweifelt. Misstrauisch muss er darüber grübeln, ob es vielleicht an ihm liegt. Eigentlich hat sich noch nie jemand über seine Küsse beschwert. Im Gegenteil, in der Schule hat er es geschafft, nur mit einem Kuss ein Mädchen wild auf ihn zu machen. Es ärgert den jungen Mann, dass Cathleen es schafft, dass er sich viel zu viele Gedanken über alles macht. Wenn er ehrlich zu sich selbst ist, hatte er sich eigentlich auf einen Kuss von ihr gefreut. Er hat Gefallen dafür gefunden, sie aus der Bahn zu werfen. Außerdem kann er an Cathleen hervorragend sehen, welche Wirkung er als Mann hat. Wie schnell Cat rot wird allein bei einer Unterhaltung über Küsse, schmunzelt Joseph innerlich.

 

Nachdem Cathleen mit hochrotem Kopf in das große Gebäude tritt, läuft sie geradewegs in das Gemeinschaftszimmer und legt dort ihre Tasche und Jacke hin. Was hat sie sich dabei nur gedacht, fragt sie sich und versteht nicht, wieso sie ihn wieder nur auf die Wange geküsst hat. Da niemand anderes im Zimmer ist, lässt Cathleen kurz ein Wutschrei raus und trampelt mit ihren Füßen verärgert auf den Boden, während ihre Hände ihre Haare raufen. Sie hätte ihn einfach auf den Mund küssen sollen, was ist schon so schlimm daran, ärgert sie sich. Tief ein und ausatmend beruhigt sie sich und läuft schließlich in das Fotostudio, wo sie auf Linda trifft.

 

„Hey, alles klar Cathleen? Bist du hier hergerannt oder warum bist du so rot?“, fragt Linda sie neckend und neugierig.

 

„Guten Morgen“, begrüßt sie Linda und wünscht sich das Thema wechseln zu können, weswegen sie ein munteres Lächeln aufsetzt. „Nein, alles in Ordnung. Was steht heute an?“

 

„Sid hat später ein großes Shooting draußen, zur selben Zeit möchte sich ein Pärchen von uns beraten lassen. Ich dachte mir also, dass zwei Praktikanten zu Übungszwecken Sid begleiten und du die Beratung durchführst und die anderen zwei Praktikanten dran teilnehmen lässt. Was hältst du davon?“, fragt sie und lehnt sich an mein Bürotisch an.

 

Das Fotostudio ist riesengroß und beinhaltet inmitten des Raumes ein durch wahlweise schwarz oder weiße Vorhänge abgetrennten Raum für die Fotoshootings. Dieser Raum wird umringt von drei großen Bürotischen, für Sid, mich und eines zur Beratung mit den Kunden, eine Ecke voller Requisiten und Schminkspiegel, eine Sitzecke für die Kunden mit gemütlichem Sitzkissen und eine Wand mit den Fotos unserer Shootings. Ansonsten führen Türen jeweils in den Gemeinschaftsraum, die Toilette, das Badezimmer, die Dunkelkammer und Lindas Büro.

 

„Klingt gut“, antworte ich zufrieden. „Wen nimmt Sid mit?“

 

„Diese Entscheidung überlasse ich dir“, meint Linda und zuckt gleichgültig mit den Schultern.

 

„Dann würde ich einfach mal weiter mit Carlos und Kaya arbeiten, die konnte ich gestern gut kennenlernen“, antworte ich erleichtert.

 

„Super, ich gebe Sid und den Praktikanten Bescheid.“

 

Die Praktikanten sind bereits alle da und sitzen verteilt im Fotostudio herum. Kaya tut so als würde sie die Requisiten aufräumen, Carlos blickt mal zur Fotowand und mal auf sein Handy, Bianca befindet sich im Gemeinschaftsraum und kocht Kaffee für alle und Thomas sieht sich die Fotos in der Dunkelkammer an. Alle tun beschäftigt, blicken aber ständig auf ihre Handys oder nach draußen, wenn sie nicht beobachtet werden, bemerkt Cathleen aufmerksam. Die junge Frau findet es erstaunlich, dass Linda und Sid bisher nichts aufgefallen ist und die vier Neuen ihre Rolle als Praktikanten wahren. Als Sid weniger Minuten später auftaucht, informiert Linda ihn über den Tagesablauf und nach kurzer Zeit ist er schon mit Bianca und Thomas weg, um das Shooting draußen frühzeitig vorbereiten zu können. Cathleen ist sich sicher, dass es Joseph vermutlich gewaltig stinkt, dass er zwei Schützen aufgeben muss, doch wenn sie ständig nur an ihr kleben würden, wäre das sehr auffällig. Immerhin sind zwei Schützen noch bei ihr, dass sollte auch ausreichen, denkt sie sich Kopfschüttelnd.

 

In der Stunde nach ihrer Ankunft hängt Cathleen am Computer, checkt Mails und Anrufe. Sie ist erleichtert darüber, dass Carlos und Kaya nicht ständig direkt neben ihr sitzen und ihr etwas Freiraum lassen. Da Linda größtenteils in ihrem Büro sitzt, bekommt sie gar nicht mit, wie Carlos ab und zu telefoniert und Kaya in ihrem selbst mitgebrachten Laptop die Kunden stalked, die später kommen werden. Als es kurz vor neun ist, weiß Cathleen, dass es wieder Zeit ist Joseph zu schreiben. Also schleicht sie sich in den Gemeinschaftszimmer und gräbt ihr Handy aus der Tasche. Mit Absicht liegt ihr Handy nicht auf ihrem Bürotisch, da dieses sie viel zu sehr von der Arbeit abhalten würde. Als sie das Display anschaltet, sieht sie sofort, dass sie eine neue Nachricht von Joseph hat. Etwas aufgeregt tippt sie ihr Kennwort ein und öffnet die Message.

 

Wieso hast du mich auf die Wange geküsst?

 

Cathleens Finger fangen an zu zittern, da sie nicht mit so einer Frage von ihm gerechnet hätte. Was soll sie denn bitte darauf antworten, fragt sie sich frustriert. Sie kann ihm unmöglich sagen, dass es ihr zu angenehm war ihn auf die Lippen zu küssen, dass sie schon allein bei dem Gedanken ganz schwach wird. Er würde sie doch nur auslachen und sagen sie soll sich nichts darauf einbilden. Joseph hat die Nachricht wohl kurz nachdem sie aus dem Auto geflohen ist geschrieben, das sagt jedenfalls die Uhrzeit. Am liebsten hätte sie so getan als hätte sie nichts bekommen, aber das wäre kindisch. Sie ist eine Erwachsene Frau, rügt sie sich in Gedanken. Sie sollte sich mit solchen Dingen problemlos befassen können! Mutig atmet Cathleen ein und tippt eine ehrliche Antwort.

 

Ich bin eben keine gute Schauspielerin.

 

Als sie die Antwort abgeschickt hat, bleibt sie noch eine Weile wie versteinert stehen. Fast fällt ihr das Handy aus der Hand, als dieses wegen einer Nachricht wie wild vibriert. Verwundert sieht sie, dass Joseph ihr wieder geantwortet hat.

 

Faule Ausrede.

 

Nun sieht Cathleen Rot für ihn. Sie entscheidet sich also ehrlich zu sein und ihm zu offenbaren, wie sie mit der ganzen Situation umgeht und er glaubt es ihr nicht. Finster überlegt sie, was sie zurückschreiben kann und reibt sich in Gedanken diabolisch die Hände, als sie eine Idee hat.

 

Vielleicht lüge ich, um dir die Wahrheit zu ersparen.

 

Sie weiß, dass er ihr wieder antworten wird, weil er viel zu neugierig ist, was sie damit meint. Keine zehn Sekunden später vibriert ihr Handy wieder.

 

Was meinst du?

 

Cathleen muss lächeln, als sie die Frage liest. Darauf hat sie nämlich gewartet.

 

Es gibt welche, die es gut können und andere, die es lieber lassen sollten.

 

Total zufrieden mit sich selbst legt sie das Handy wieder in ihre Tasche und geht motiviert an ihre Arbeit. Während Cathleen also die erwarteten Kunden willkommen heißt und berät, sitzt Joseph in der Schule und liest nun schon zum fünften Mal ungläubig ihre Nachricht. Er kann es nicht fassen, entsetzt gräbt sich seine Hand in seine Haare. Will sie damit wirklich andeuten, er wäre ein schlechter Küsser, fragt er sich. Sie blufft doch nur, denkt er sich, schafft es aber nicht die Nachricht zu vergessen. Für Joseph ist klar, dass Cathleen zwei Gesichter hat. Mal ist sie ein Miezekätzchen, schüchtern, zärtlich, süß und handsam. Ein anderes Mal entpuppt sie sich als Wildkatze und kann einem bildlich gesehen so schnell mit ihren Krallen das Gesicht zerfetzen, wie einen sprachlos und verloren fühlen lassen. Sicher ist, Cathleen ist eine toughe Frau. Doch Joseph hat bereit im Kindesalter mit toughen Frauen zutun gehabt, weswegen er gespannt ist, wie lange sie die Haltung bewahren kann. Er wird ihr schon noch zeigen, aus welchem Holz er geschnitzt ist. Noch nie hat sich eine Frau wegen seiner Küsse beschwert, eher nach mehr gebeten. Sie wird es noch bereuen ihn so provoziert zu haben.

 

Das werden wir noch sehen.

 

Gelangweilt stemmt er seine Beine auf den Tisch, als er die Nachricht abgeschickt hat, und drückt sich vor dem Papierkram. Auch wenn er kein echter Lehrer ist, muss er für den Übergang dieselben Aufgaben erledigen. Da er lediglich Sport unterrichtet, hat er Glück keine Arbeiten korrigieren zu müssen. Trotzdem muss er den Unterricht vorbereiten und dokumentieren. Sobald Joseph nämlich Cathleens Verfolger ausfindig gemacht hat, kann er seine Rolle als Sportlehrer schmeißen und die Kinder bekommen ihren ursprünglichen Lehrer wieder zurück. Dieser möchte schließlich ausreichend Informationen über die Kinder und dem vollbrachten Unterrichtsstoff erhalten. Sobald Joseph am Arbeitstag den Schulkram erledigt, setzt er sich an die Verfolgung des Mörders. Er recherchiert, schreibt mit seinen Mitarbeitern, die auf Cathleen im Fotostudio aufpassen, und versucht Informationen über die ganze Haverings Familie sowie Cathleens Freunde herauszufinden. In einem Nachrichtenwechsel mit Herrn Havering versicherte dieser Joseph, dass morgen die Mappe über den Mörder seiner Frau ankommen würde. So vergehen die Stunden für Joseph wie im Nu.

 

Da das Gespräch von Cathleen mit den Kunden eine ganze Stunde gedauert hat, verabschiedet sie sich recht schnell von ihnen und rennt schließlich, wie von einer Tarantel gestochen in den Gemeinschaftsraum. Schon als sie den Raum betritt, hört sie ein lautes Vibrieren aus ihrer Tasche. Panisch holt sie das Handy heraus und sieht, dass es Joseph ist, der sie anruft. Doch sie ist eine Sekunde zu spät, kann nicht mehr abheben und der Anruf ist beendet. Kurz lässt Cathleen ein genervtes und aufgebrachtes Zischen sausen, ehe sie die Nummer von Joseph wählt. Es sind tatsächlich drei Minuten nach der vollen Stunde vergangen, bemerkt Cathleen nachdenklich und beißt sich auf die Lippen. Was, wenn er seine Drohung ernst gemeint hat, fragt sie sich. Es tutet etwa fünf Mal, doch Joseph nimmt nicht ab.

 

„Was? Bist du in den drei Sekunden etwa verreckt?“, zischt Cathleen sauer ihrem Handy zu und meint Joseph damit.

 

Sie beendet den Anruf und lehnt sich genervt an die Tischkante an. Als er sie wenige Sekunden später erneut anruft, kann sich Cathleen gerade so ein Augenverdrehen unterdrücken.

 

„Was ist?“, ruft sie barsch ins Telefon, nachdem sie auf die grüne Taste gedrückt hat.

 

„Wieso hast du nicht abgenommen?“, fragt Joseph auf der anderen Leitung skeptisch.

 

„Dasselbe könnte ich dich fragen“, sagt sie und schnalzt mit der Zunge.

 

„Antworte schon“, drängt er.

 

„Ich war noch im Gespräch.“

 

„Mit wem?“

 

„Mit mir selbst“, antwortet sie sarkastisch schneller, als sie denken kann.

 

„Hör zu, Kitty Cat. Langsam müsstest du doch wissen, wie das Spiel geht. Ich frage, du antwortest“, sagt er und klingt als würde er mit einem Kind reden.

 

„Die Info scheint an mir vorbeigegangen zu sein“, antwortet Cathleen in derselben Tonlage, wie Joseph zuvor. „Soweit ich weiß, läuft das Spiel anders. Du fragst und ich antworte dir, wenn es mir passt.“

 

„Du willst lernen richtig zu spielen?“, fragt er herausfordernd und Cathleen spürt sein süffisantes Lächeln durch das Handy hindurch. „Dann spielen wir.“

 

Sprachlos und verdattert hört sie das Telefon tuten und braucht ein paar Sekunden, um zu verstehen, dass Joseph aufgelegt hat. Sein letzter Satz und seine Stimme dabei klangen überhaupt nicht gut. Vielleicht hätte Cathleen sich nicht so weit aus dem Fenster lehnen sollen. Als sie das Telefon in der Hand hält, erkennt sie, dass sie noch eine ungeöffnete Nachricht von Joseph hat. „Das werden wir noch sehen.“ Es bildet sich eine Gänsehaut auf Cathleens ganzem Körper, denn nun ist sie sich sicher, dass Joseph sie heute gewaltig aufs Ohr legen und sich rächen wird. Doch beinhaltet seine Rache Cathleens Demütigung und Sticheleien. Man sollte meinen, Cathleen sollte Angst vor dem Mörder haben, der hinter ihr her ist. Dass ich nicht lache, denkt sich Cathleen irrwitzig. Cat hat mehr Angst davor, welche Qualen Joseph für sie aushecken wird. Und sie ist sich sicher, dass er sich was Gutes überlegen wird. Schon allein der Gedanke, dass er ihr wieder näherkommen wird, bereitet eine Gänsehaut auf ihrem Körper. Wie in Trance verstaut sie ihr Handy zurück und geht wieder ihrer Arbeit nach. Dieses Mal wird sie nichts daran hindern Joseph jede volle Stunde pünktlich zu schreiben, nicht, dass sie es sich noch mehr bei ihm verscherzt.

 

Die Zeit bis zur Mittagspause vergeht für Cathleen wie im Flug. Die meiste Zeit verbringt sie mit Kaya und sie tauschen sich über Fotografie aus. Kaya erzählt ihr, dass ihr das Fotografieren in der Freizeit ebenfalls Spaß macht und, welche Länder sie in der Vergangenheit bereist hat und Chancen hatte zu fotografieren. Cathleen versteht sich blendend mit ihr und freut sich, wie Kaya bereit ist aus ihrem Privatleben zu erzählen, im Gegensatz zu Joseph.

 

„Was hat dich dazu bewegt, diese Jobrichtung einzuschlagen?“, fragt Cathleen neugierig und sieht in ihre schwarzen Augen.

 

Ihr Gespräch mit Kaya hatte eine lockere und ehrliche Atmosphäre eingenommen, weswegen sich Cathleen traut, privatere Dinge zu erfragen. Kurz, als Kaya ihre Augenbrauen überrascht hochzieht, beißt sich Cathleen verlegen auf die Lippe und befürchtet, dass Kaya sowie Joseph zurückrudert und ihr ein Korb gibt. Doch ihre Stirn glättet sich schnell und sie blickt Cathleen mit warmem und verständnisvollem Blick an.

 

„Ich stamme ursprünglich aus einem indigenen Volk ab. Meine Familie hat viel Unterdrückung und Ausschluss aus der Gesellschaft erfahren müssen. Das hat sich eines Tages so weit hochgespitzt, dass einige Familienmitglieder und Bekannten verfolgt, beleidigt, bedroht und sogar in Lebensgefahr kamen. Irgendwann beschloss ich dem ein Ende setzen und meine Familie sowie mein Volk beschützen zu wollen. Die Ausbildung verhilft mir in höhere Positionen zu gelangen und ich erhoffe mir so irgendwie Frieden herstellen zu können“, erklärt sie nachdenklich und streicht sich beruhigend in ihr langes, schwarzes, glänzendes Haar.

 

„Deine Familie muss stolz auf dich sein“, meint Cathleen bewundernd und kann ihren Blick nicht von Kaya nehmen.

 

„Das werden sie, wenn sie mich irgendwann wiedersehen und davon erfahren werden“, merkt sie seufzend an.

 

„Sie wissen nichts von deinem Job?“, fragt Cathleen verwundert und mit gerunzelter Stirn.

 

„Nein, das dürfen sie nicht, es wäre viel zu gefährlich“, antwortet sie energisch. „Ich habe schon seit etwa zwei Jahren keinen Kontakt zu meiner Familie, sie denken ich halte mich irgendwo im Ausland auf.“

 

Cathleen muss sehr verwundert aussehen, weswegen Kaya gleich weiterausholt, um es ihr besser erklären zu können.

 

„Wir üben einen Personenschutz aus, nicht nur unsere Klienten sind in Gefahr, sondern auch wir. Da dürfen wir es uns nicht leisten, dass man herausfindet, wer wir sind und somit eventuell unserer eigenen Familien etwas zustößt. Wir arbeiten unter einem Decknamen und Außenstehende können keine Informationen über uns ausmachen, da wir laut der Datenbank gar nicht mehr existieren“, erklärt Kaya mit leiser Stimme.

 

„Das heißt, dein richtiger Name lautet gar nicht Kaya?“, fragt Cathleen verblüfft.  

 

Kaya schüttelt leicht den Kopf und hofft, dass Cathleen die Info nicht zu stark mitnimmt. Cathleen hingegen ist

nicht darüber bestürzt, dass Kaya ihre Familie aufgeben musste für den Job. Irgendwie hat sich Cathleen das schon gedacht, denn sei es Kaya oder Carlos, sie alle sind genauso in Gefahr wie sie selbst. Das, was Cathleen tatsächlich bestürzt und, was ihr Herz kurz stillstehen lässt, ist die Erkenntnis, dass Joseph gar nicht Joseph ist. Es ist, als würde ein Vorhang vor ihren Augen zu Boden fallen. Sie kennt den Mann nicht, der sie 24 Stunden am Tag beschützt. Die Tatsache, dass nicht nur die Beziehung, die er ihr und der Außenwelt vorgaukelt, sondern auch sein Name, den sie sich in den Kopf gebrannt hat und in ihrem Leben nie vergessen wird, gar nicht sein echter Name ist, erschlägt sie. Sie wusste bereits, dass alles gelogen ist, aber das ist das erste Mal, dass sie es auch wirklich versteht.

 

„Entschuldige, aber darauf brauche ich erst einmal ein Glas Wasser“, sagt Cathleen atemlos und steht auf.

 

Ihr ist speiübel und sie hat das Gefühl sich gleich übergeben zu müssen. Als Kaya sich ebenfalls von ihrem Stuhl erhebt und Anlass macht ihr zu folgen, hebt Cathleen mit Mühe ihre Hand und zaubert ein falsches Lächeln auf ihre Lippen.

 

„Alles gut, mach dir bitte keine Sorgen“, hält Cathleen sie mit ruhiger Stimme auf. „Ich gehe nur etwas trinken und brauche zwei, drei Minuten, um die Infos zu verdauen.“

 

„Bist du dir sicher, dass es dir gut geht?“, fragt Kaya mit großen Augen. „Du bist bleich, wie ein Geist.“

 

„Glaub mir, alles gut“, lacht Cathleen und lässt Kaya schließlich hinter sich, als sie in den Gemeinschaftsraum läuft.

 

Als sie dort ankommt, läuft sie direkt zum Waschbecken, um sich ein Glas Wasser einzuschenken. Sie rügt ihre Gedanken und verlangt, dass sie sich wieder beruhigt. Warum schockiert sie das denn alles, fragt sie sich seufzend. Mit dem Glas in der Hand blickt sie nachdenklich aus dem Fenster. Ihre Augen blicken zwar nach draußen, doch in Wirklichkeit sieht sie nichts, ihr Blick ist verschwommen und sie ist in Gedanken vertieft. Das, was Cathleen versucht zu unterdrücken und nicht aufpoppen lassen möchte, ist, dass sie der Gedanke schmerzt, sich in jemand verlieben zu können, der nicht der ist, für den er sich ausgibt, oder gar dasselbe empfinden könnte. Joseph schenkt ihr eine Aufmerksamkeit, die sie so noch nie erhalten hat und das beängstigt sie. Cathleen möchte nicht noch einmal getäuscht werden. Das Problem an der Sache ist, dass Joseph ehrlich ist und keine Spielchen mit ihr spielt. Die Einzige, die nicht ehrlich zu sich ist und Dinge ignoriert oder mehr zu schreibt, ist Cathleen selbst. Sie hat also keine Angst vor Joseph, sondern davor, was sie sich in dem Ganzen einbilden und, wie verletzt sie aus der Situation ausgehen könnte.

 

„Hey“, hört Cathleen eine männliche Stimme und dreht sich abrupt um. „Alles gut bei dir?“

 

Es ist Sid, der den Gemeinschaftsraum betreten hat. Zuerst sieht er noch glücklich aus und hat ein Lächeln im Gesicht. Sobald sich Cathleen jedoch umgedreht hat, zuckt Sid erschrocken zurück.

 

„Ja“, räuspert sich Cathleen, da ihre Lunge trocken ist. „Ihr seid wieder zurück?“

 

Sid steht wie versteinet an der Tür und wirkt hin und hergerissen. Er ist ein typischer Nerd, der in sozialen Angelegenheiten weit zurückliegt. An sich spürt Sid, dass es Cathleen nicht gut geht, doch er weiß nicht, wie er damit umgehen soll. Also tippelt er mit seinen langen Beinen aufgewühlt am Boden und sieht abwechselnd zu Cathleen und zu Boden. Cathleen kennt Sid nun schon seitdem sie im Fotostudio arbeitet und kennt diese Seite an ihm. Immer, wenn es Kindershootings gibt und die Kinder weinen, greift Cathleen ein, nicht Sid. Er ist eher der Denkertyp und gibt nicht viel auf Gefühle, jedenfalls kann er diese nur schlecht einschätzen und auf dieser Grundlage nicht agieren. Darum erwartet Cathleen nun auch nicht, dass Sid erkennen, gar verstehen könnte, was in ihr vorgeht, selbst wenn sie es ihm erklären würde.

 

„Ja, wir sind gerade eben wieder zurückgekommen“, antwortet er verunsichert und schiebt seine Brille den Nasenrücken hoch. „Wie ist es euch hier ergangen? Ist etwas passiert?“

 

Dabei blickt er Cathleen länger in die Augen, als er sonst immer tut. Cathleen fällt dies gar nicht auf, da sie in der Zwischenzeit versucht ihre Gedanken zu ordnen und wieder auf den Boden der Realität zu kommen. Sie konzentriert sich auf seine Frage und setzt ein aufmunterndes Lächeln auf.

 

„Super, wir hatten ein tolles Beratungsgespräch und danach haben Kaya und ich angefangen über die bevorstehende Hochzeit zu sprechen, bei der wir bald fotografieren dürfen“, erzählt Cathleen und stellt nebenher lässig das Glas in die Spüle.

 

„Klingt gut“, gibt Sid seiner Neugierde nach und belässt das Thema, da Cathleen wieder gelassen wirkt. „Ich freue mich übrigens auf die Hochzeit, wir werden sicher viel Spaß haben.“

 

Mit einem dicken Grinsen verlässt Sid schnurstracks den Raum und lässt Cathleen zurück. Irgendwas an seinem Grinsen fühlt sich für Cathleen plötzlich anders an als sonst. Sie hätte schwören können, dass seine Wangen etwas gerötet waren, bevor er ging. Cathleen hat schon seit Langem das Gespür, dass Sid mehr für sie empfinden könnte als sie für ihn. Für Cathleen ist Sid nämlich ein guter Freund und Arbeitskollege, mehr ist zwischen ihnen nie passiert. Doch seit mehreren Monaten hat Cathleen bemerkt, wie Sid sie manchmal unauffällig von der Seite beobachtete, oder sie Öfters besorgt nach ihrem Ergehen fragt, als sonst. Cathleen kann sich nicht erinnern, was der Auslöser für seine Gefühle sein könnte. Sie legt die Gedanken jedoch beiseite, da sie sich das alles vielleicht auch einfach einbildet. Wenn Sid mehr für sie empfinden sollte, würde er sie vermutlich irgendwann darauf ansprechen.

 

Gerade, als sie den Gemeinschaftsraum ebenfalls verlassen möchte, hört sie ein einmaliges Vibrieren aus ihrer Tasche. Der erste Gedanke gilt Joseph und Cathleen greift neugierig nach ihrem Handy in der Tasche, um zu sehen, was er ihr geschrieben hat. In den letzten Stunden hatte sie ihm stündlich geschrieben, doch er hatte nicht mehr darauf geantwortet. Als sie sieht, dass die Nachricht von Luise ist, entkommt ihr ein kleines sehnsuchtsvolles Seufzen.

 

„Hey, Liebes. Wir haben uns nach meinem Date mit Mister Lover nicht mehr gesprochen, ich vermisse dich. Ich vermute, du hast dich nicht gemeldet, weil du mit deinem neuen Freund beschäftigt warst. Ein wenig eifersüchtig bin ich schon. Was hältst du von einem Doppeldate diesen Samstag?“

 

Cathleen überkommt ein schlechtes Gewissen, weil sie sich tatsächlich seit dem letzten Wiedersehen nicht mehr bei ihrer besten Freundin gemeldet hat. Sie hat oft an Luise gedacht, doch die vielen neuen Geheimnissen machen es ihr schwer, mit ihrer Freundin zu reden oder sie zu treffen. Cat befürchtet nämlich immer noch, dass Luise ihrer Lügenfassade auf die Schliche, das Geheimnis zu Licht kommt und Luise schließlich in Gefahr sein wird. Lieber kreisen Cathleens Gedanken einsam in ihrem eigenen Kopf und der Kummer frisst sie auf, statt Luise ebenfalls ins Kreuzfeuer zu ziehen, denkt sich Cathleen entschlossen. Doch es wäre genauso auffällig, Luise nun aus dem Weg zu gehen. Denn Luise würde nicht lange warten und schließlich vor Cathleens Haustür stehen und versuchen, die Wahrheit aus ihrem Mund zu pressen. Also bleibt Cat nichts anderes übrig, als zuzusagen und an ihrer Schauspielkunst zu feilen. Seufzend tippt sie entschlossen eine Nachricht an Luise zurück.

 

„Tut mir leid, dass ich mich nicht mehr gemeldet habe. Tatsächlich vergingen die letzten Tage mit Joseph, wie im Flug. Ein Doppeldate klingt interessant, ich werde Joseph mal fragen, ob er Lust darauf hat. Dein Date wäre dann Mister Lover?“

 

Cathleen lehnt sich an den Tisch an und wartet auf eine Antwort von Luise. Nebenher schreibt sie Joseph wieder mal eine Nachricht, dass sie noch am Leben ist. Sie nimmt sich vor Joseph später persönlich zu fragen, was er davon hält, statt über ihr Handy.

 

„Super, dann gib Bescheid, wie er zu der Idee steht. Und ja, ich habe vor Mister Lover mitzubringen.“

 

Seufzend legt Cathleen schließlich ihr Handy in ihre Tasche und gesellt sich wieder zurück zu Kaya. Sie muss Kaya ungefähr dreimal davon überzeugen, dass es ihr wieder gut geht und sie wirklich nur ein Schluck Wasser gebraucht hat. Kaya gibt irgendwann nach, doch Cat spürt im Laufe des Tages weiterhin einen aufmerksamen Blick von ihr, wenn sie nicht hinsieht. Gegen Ende des Arbeitstages kommt Cathleen auch mal Carlos näher, da Kaya Linda bei etwas aushelfen soll. Während die anderen Sid bei der Fotoauswahl vom Shooting helfen, befindet sich Carlos mit Cathleen im Raum, wo immer die Shootings stattfinden. Sie räumen gelassen die Kissen in der Ecke zurecht, sammeln die Spielzeuge zusammen und reden über belanglose Dinge, wie Spiele aus der Kindheit oder Dekorationsmöglichkeiten.

 

„Ehrlich, was habt ihr Frauen bloß mit den IKEA Schnickschnacks?“, fragt Carlos lachend, da Cathleen soeben darüber geschwärmt hat.

 

„Der Satz ist typisch für euch Männer“, grinst Cathleen. „Warst du jemals im IKEA?“

 

„Einmal“, antwortet er und weitet seine Augen schockiert. „Es war die Hölle los und es gab viel zu viele Dinge jeder Sorte. Wo liegt der Spaß dabei?“

 

„Na, bei der Auswahl natürlich“, entgegnet Cathleen amüsiert.

 

„Ich brauche das wirklich nicht und hätte gar keine Kraft, mich damit auseinanderzusetzen, welche Deko am besten zu meinem Möbelstück passt.“

 

„Hast du denn eine Freundin, die das für dich tun kann?“, fragt Cathleen beiläufig.

 

Ihr ist nicht einmal aufgefallen, dass Carlos daraufhin in seinem Handeln stoppt und sie mit bedachtem Blick ansieht. Erst, als sie merkt, dass keine Antwort folgt, blickt sie fragend zu Carlos. Nach seinem Blick wird ihr sofort klar, dass sie wieder eine Grenze überschritten hat und bekommt Gewissensbisse.

 

„Tut mir leid“, sagt Cathleen schnell, da er seine Lippen eingezogen hat und sie besonnen ansieht. „Ich vergesse immer, warum ihr hier seid und, dass ich solche Fragen vermutlich nicht stellen sollte.“

 

„Nein, mir tut es leid“, entgegnet Carlos schuldbewusst. „Ich bin seit Langem so vertieft in meiner Arbeit, dass ich vergessen habe, wie eine normale, entspannte Konversation verläuft. Wir sind immer auf der Hut auf das, was wir von uns preisgeben, weswegen ich gerade so stocken musste. Deine Frage ist nicht zu persönlich, doch ich hatte das Gefühl, zuerst darüber nachdenken zu müssen.“

 

„Welche Fragen darf ich denn nicht stellen?“, fragt Cathleen mit gerunzelter Stirn und ehrlichem Interesse, die vorherige Frage hat sie schon vergessen.

 

Nachdenklich stemmt Carlos seine Hände auf seine Hüfte und kräuselt seine Lippen. Vielleicht würde die Antwort Cathleen in der Zukunft helfen, Joseph nicht immer auf den Schlips zu treten.

 

„Fragen, die explizit unsere Arbeit betreffen, unsere Vergangenheit oder Familien“, antwortet er nickend und sieht Cathleen dann neugierig an. „Wieso fragst du?“

 

Unsicher und seufzend blickt Cathleen auf und fragt sich, ob sie mit Carlos darüber sprechen darf. Sie sitzt gerade auf dem Boden und hat ein Kissen auf ihrem Schoß, dessen Reißverschluss sie ständig auf und zuzieht.

 

„Ich habe Joseph manche Dinge aus reiner Neugierde und zum Vertrauensaufbau gefragt, doch er reagierte reserviert und möchte auf keine antworten“, gibt Cathleen schulterzuckend und betrübt zu.

 

„Was genau hast du ihn denn gefragt?“, fragt Carlos nun und kniet sich zu Cathleen runter, um ihren Blick besser einfangen zu können.

 

„Neben den Fragen, die ich wohl nicht hätte stellen dürfen, habe ich zum Beispiel auch mal gefragt, ob er jemals in einer Beziehung gewesen ist. Doch bei solchen Fragen blockt er ab und verschließt sich sofort“, beschwert sich Cathleen.

 

„Und das hat dich interessiert, weil?“, fragt er und muss leicht grinsen.


„Er weiß alles über mich“, antwortet Cathleen ernst und sieht Carlos direkt in die Augen. „Wie soll ich ihm vertrauen können, wenn er nichts über sich preisgeben mag? Ich habe keine Ahnung, wer er ist.“

 

„Mach dir nichts draus, Joseph redet auch nicht mit uns über sowas“, meint Carlos aufmunternd und grinst sie frech an.

 

Cathleen hätte gern noch weiterausgeholt, da sie mit Carlos gerade richtig in Fahrt kam ein gutes Gespräch zu führen, wäre nicht plötzlich ein lautes Räuspern zu hören gewesen. Carlos und Cathleens Köpfe drehen sich gleichzeitig blitzartig zum Türrahmen und beiden ist die Überraschung im Gesicht abzulesen. Am Eingang des Raumes steht Joseph mit einem Strauch Rosen in der Hand. Cathleen ist so baff über sein plötzliches Erscheinen, dass sie den Strauch erst nach mehreren Sekunden wahrnimmt. Sie spürt, wie warm ihre Wangen werden und sie hat das Gefühl, dass jemand die Heizung auf 100 Grad gestellt hat. Seine Geste berührt Cathleen sehr, denn sie hat noch nie von irgendjemand Blumen geschenkt bekommen. Zwar hat sie sich immer gewünscht, mal mit welchen überrascht zu werden, aber sicher nicht von Joseph. Denn ihr wird schnell bewusst, dass diese Geste wieder mal nur für die Außenstehenden zählt und er nur mit halben Herzen dabei ist. Dieser Gedanke versetzt Cathleen ein Stich im Herzen, weswegen sie sich ihr Leben damit erleichtert sich einzureden, dass sie sowieso keine Rosen mag.

 

„Schau mal, wen ich draußen vor unserem Studio auf dich warten sehen habe“, hört Cat die Stimme von Linda, die auf einmal neben Joseph erscheint. „Du hast ihn mir noch gar nicht vorgestellt.“

 

Immer noch sprachlos erhebt sich Cathleen vom Boden, streicht ihre Hose glatt, legt ihre Haare brav zusammen und läuft schließlich mit langsamen Schritten auf Joseph zu. Als sie bei ihm ankommt und die beiden sich gegenüberstehen, blicken sie sich stumm in die Augen und für ein kurzen Moment scheint die Zeit stehenzubleiben. Neben all den Ärger, den Joseph verspürt, freut er sich dennoch sie wiederzusehen und zu wissen, dass es ihr gut geht. Seine Augen haften sich in ihre blauen Augen und er vergisst, wo er sich befindet. Cathleen geht es ähnlich, denn der Stich im Herzen wurde mit jedem Schritt, den sie auf ihn zugeht, geringer. Den Blick auf ihn gerichtet, spürt sie eine Wärme und Ruhe in ihrer Brust ausbreiten.

 

„Ich habe dich vermisst“, sagt Joseph leise.

 

Als ihm seine laut ausgesprochenen Worte bewusst werden, erinnert er sich an die Rosen in seinen Händen und reicht ihr diese. Nachdem sie den Strauch in die Hände nimmt, bückt Joe sich zu Cat herunter und küsst sie sanft auf ihre Wange. Cathleen schließt kurz ihre Augen, als sie seine Lippen spürt und haucht unauffällig seinen Duft ein.

 

„Nicht so sehr, wie ich dich“, meint Cat mit gebrochener Stimme, als er sich wieder von ihr entfernt.

 

Schnell wendet sich Cathleen an Linda, bevor ihre Konversation zu rührselig für Außenstehende wird.

 

„Ich hatte vor ihn dir noch vorzustellen, doch du kamst mir wieder mal zuvor“, verteidigt sich Cathleen mit einem schuldbewussten Lächeln. „Das ist mein Freund Joseph.“

 

„Schön zu wissen, dass Cat endlich einen so aufmerksamen und gutaussehenden Mann an ihrer Seite hat“, lobt Linda ihn und reicht freundlich ihre Hand. „Ich bin Linda.“

 

„Danke, nett Sie kennenzulernen“, entgegnet Joseph wie ein Gentleman.

 

„Es wird Zeit, dass wir alle Feierabend machen. Genug gearbeitet heute“, meint Linda mit lauter Stimme, sodass alle im Studio dies zu hören bekommen. „Wir sehen uns morgen.“

 

Nickend möchte Cathleen es Linda gleich machen und in den Gemeinschaftsraum gehen, um ihre Siebensachen zusammenzupacken. Doch gerade, als Cathleen an Joseph vorbeiläuft, hält dieser sie auf, indem er von hinten seine Arme um sie liegt und seinen Kopf auf ihre Schulter niederlässt.

 

„Du redest hinter meinem Rücken über mich? Wie taktlos“, flüstert er ihr ins Ohr, während die Menge im Studio aufgeregt schnattert.

 

Hätte Cathleen nicht die ironische Tonlage in seiner Stimme gehört, hätte sie glatt gedacht er wäre sauer auf sie.

 

„Ich…“, möchte sie sich rechtfertigen, doch er unterbricht sie, indem er einen Finger sachte auf ihre Lippen legt.

 

„Später“, sagt er nun ernst.

 

Cat ist verwirrt und weiß nicht, ob er nun wütend auf sie ist oder nicht. In seiner Umarmung fällt es ihr schwer, sich an das Gespräch mit Carlos zurückzuerinnern. Sie wäre schon froh, wenn sie wie ein normaler Mensch atmen könnte.

 

„Hol deine Tasche“, befiehlt Joe und drückt sie in Richtung des Gemeinschaftsraumes.

 

Auf den Weg grübelt sie seufzend über das Gespräch mit Carlos und fragt sich, wegen welchem Teil der Konversation Joseph verärgert sein könnte. Bevor sie nach ihrer Tasche und Jacke greift, legt sie die Rosen in eine mit Wasser befüllte Vase. Kurz beugt sie sich zu ihnen runter, haucht den Duft sehnsuchtsvoll ein und kann ein leichtes, zufriedenes Lächeln nicht unterdrücken.

 

Als sie zurückkommt, befinden sich Joseph und Carlos vor der Eingangstür. Joseph redet eindringlich auf ihn ein, jedoch so leise, dass Cathleen nichts hören kann. Wegen Josephs strengen, gefühlslosen Gesichtsausdrucks läuft es Cat eiskalt den Rücken runter und sie bleibt wie angewurzelt, mehrere Meter von ihnen entfernt, stehen. Dieses Gesicht ist Cathleen neu und sie findet es furchteinflößend. Völlig unerwartet taucht Cathleen die Frage auf, ob er mit diesem Gesicht jemals jemand umgebracht hat. Denn könnte sein Job das nicht eventuell beinhalten? Sie entscheidet sich die Frage beiseitezuschieben, denn darüber möchte sie nicht nachdenken. Stocksteif verweilt sie immer noch auf der Stelle und ist nicht fähig sich zu rühren. Als Joseph Cathleen am Türrahmen erblickt, entspannt sich sein Gesichtsausdruck ruckartig und wird wieder weicher. Erleichtert atmet Cathleen auf und erhofft sich, ihn so nicht wiedersehen zu müssen.

 

„Komm“, ruft Joseph mit einem Lächeln auf seinem Gesicht und streckt sein Arm in Cathleens Richtung aus.

 

Ihre Schritte fühlen sich erst schwer an, dann sammelt sie aber ihren Mut zusammen und läuft schließlich sicher auf ihn zu. Joseph senkt keine Sekunde sein Arm und seine Hand ist flach ausgebreitet, sodass Cathleen ihre ohne zu zögern in seine legt, als sie bei den Zwei ankommt. Ihre Augen liegen unentwegt auf Joseph, beinahe hat sie vergessen, dass Carlos noch neben ihm steht.

 

Bevor Cathleen zurückgekommen ist, hatte sich Joseph ernsthaft mit Carlos unterhalten. Denn im Shootingraum hatte er vorhin die zwei dabei ertappt, wie sie über ihn sprachen und das gefiel ihm ganz und gar nicht. Ihr Gespräch wirkte persönlich, fast als wären sie vertraut miteinander. Als er dann auch noch hörte, wie Carlos zu ihr meinte, dass Joe auch nicht mit ihnen über Privates spricht, sah er nur noch rot. Carlos ist noch in der Ausbildung und hat keine Ahnung, wer Joseph ist. Wenn es nach Joseph ginge, hätte Carlos seinen Namen nicht einmal in den Mund nehmen dürfen. Also blieb Joe nichts anderes übrig als Carlos zurechtzuweisen, als Cathleen kurz weg war, um ihre Tasche zu holen. Er drohte dem Neuling von dem Fall zu entlassen, wenn er noch einmal mit Cathleen über ihn sprechen sollte. Außerdem erteilte Joe ihm die Aufgabe sich noch einmal damit auseinanderzusetzen, welche Informationen sie mit Klienten austauschen dürfen, und welche nicht. Am wütendsten war Joseph jedoch auf Cathleen, darauf, dass sie Carlos schamlos ausnutzte, um Informationen über Joseph herauszufinden. Es ärgerte ihn, dass sie nicht von seinem Privatleben ablassen kann. Als er sie jedoch wiedersah, in ihre blauen Augen blickte, war der Ärger weg und er fragte sich, weswegen er eigentlich sauer auf sie gewesen ist. Auch nach der Zurechtweisung von Carlos, vergaß er alles um sich herum, als Cathleen plötzlich in seinem Sichtfeld erschien. Wie aus dem Nichts hat sich das Gespräch zwischen Carlos und ihm aufgelöst und er konnte nur noch auf Cathleen achten.

 

„Bis Morgen“; verabschiedet sich Cathleen von Carlos, als Joseph die Eingangstür des Studios öffnet.

 

Erst jetzt gleitet ihr Blick zu Carlos und ihr fällt wieder auf, wie blass er plötzlich wirkt. Carlos hat eher eine sonnengebräunte Haut, weswegen es sie wundert, dass er im Gesicht aschfahl wirkt. Sie zählt eins und eins zusammen und weiß, dass Joseph ihn soeben wegen ihrem Gespräch rundgemacht hat. Joseph hat eine übergeordnete Stellung und muss wohl ziemlich auf Carlos eingedroschen haben, sonst hätte der große Bär nicht so geguckt, denkt Cathleen. Sofort tut es Cathleen leid, dass Carlos für ihre Neugier den Ärger abbekommen hat. Dann findet sie jedoch, dass es keinen Grund gibt, weswegen Joseph verärgert sein sollte. Als er die Tür hinter sich schließt, plustert Cathleen aufgebracht ihre Backen und entzieht ihre Hand aus Josephs.

 

„Was fällt dir ein, Carlos zusammenzufahren!“, ruft sie aus und stemmt ihre Hände empört auf ihre Hüfte.

 

Das ist das Stichwort für Joseph, seine Verärgerung frei laufen zu lassen. Denn aus seiner Sicht hat Cathleen kein Recht sauer zu sein und seine Vorgehensweise mit seinen Mitarbeitern zu kritisieren. Als sie dann auch noch diesen Namen nennt, wirft sich eine kleine Spur Eifersucht auf Carlos in seine Verärgerung mit rein. Joseph schnauft böse und knackst geduldlos mit seinem Kiefer, ehe er Cathleen packt, sie am Hintern hochhebt und sie ruckartig gegen die Wand drückt. Noch bevor sie beginnen kann, ihn wüst zu beschimpfen, liegen Josephs Lippen bereits auf ihre. Er drückt sich schwer gegen sie und schafft es mit einer Leichtigkeit ihre Lippen zu öffnen und seine Zunge hindurchzuschieben. Cathleens Hände liegen immer noch, wie versteinert auf seiner Brust, da sie zu Beginn versucht hat ihn wegzudrücken. Nun scheint nicht nur ihr ganzer Körper vor Hitze zu brennen, sondern auch ihre Fingerspitzen, mit denen sie sich schließlich in seine harte Brust einkrallt. Ihre Mitte pulsiert so stark, dass sie sich sicher ist, dass er es spüren muss. Neben der Hitze bemerkt Cathleen, dass Joseph wütend ist, denn der Kuss ist alles, nur nicht zärtlich. Als er seine Lippen abrupt von ihren löst, an ihren Hals runterwandert und eine besonders empfindliche Stelle küsst, kann Cathleen ein leises Stöhnen nicht mehr unterdrücken.

 

„Keine Wangenküsse mehr“, lässt er von ihrem Hals ab und haucht die Worte in ihr Ohr.

 

Cat fühlt sich wie in Watte bepackt, ein Ton bekommt sie nicht raus und das Blut rauscht regelrecht durch ihre Ohren, sodass sie die Worte kaum hört.

 

„Kein Geschwätz mehr mit Carlos“, sagt er mit fester Stimme und blickt ihr auf einmal, wie ein aufmerksames Raubtier, in die Augen. „Wenn du Fragen über mich hast, dann fragst du nur mich.“

 

Wieder liegen seine Lippen auf ihre, doch dieses Mal sanfter und sie könnte schwören, ein Lächeln zu spüren.  

 

„Und mehr Küsse in der Öffentlichkeit schaden nicht“, sagt er noch, bevor er von ihr ablässt und sie sachte zurück auf den Boden setzt.

 

Cathleen fühlt sich wie ausgelaugt. Sie hat Mühe auf ihre eigenen Beine zu stehen. Joseph hingegen dreht sich um und läuft mit lässigen Schritten zum Auto, als wäre soeben nichts passiert. Als hätte der Kuss nur Cathleen aus den Wäschen gehauen. In Wirklichkeit grinst Joseph dämlich vor sich hin, doch das kann Cathleen nicht sehen. Cathleen steht vor Fassungslosigkeit der Mund offen und sie muss sich stark konzentrieren, um ihm hinterherlaufen zu können, ohne umzuknicken. Joseph findet es grandios, wie er die Blondine verführt hat. Zwar war das so nicht geplant, doch es hat sicher nicht geschadet. Zum einen hat sie ihn wegen Carlos provoziert und zum anderen hatte sie in ihrer Nachricht Andeutung darauf gegeben, dass er nicht gut küssen könnte. Dass ich nicht lache, denkt sich Joseph selbstgefällig und ist stolz auf sich. Gleichzeitig fasst er sich an seine Lippen und muss zugeben, dass Cathleen sich in seinen Händen gut und richtig anfühlt, im Vergleich seiner vorherigen Klienten. Doch er verwirft diesen Gedanken, als er am Auto ankommt und auf Cathleen wartet.

 

Als Cathleen auf der Beifahrertür sitzt, entscheidet sie sauer auf Joseph zu sein und ihn zu ignorieren. Schmollend versucht sie seinen Kuss zu vergessen und schämt sich prompt dafür, dass es ihr so gefallen hat. Noch nie hatte sie ein Kuss erlebt, bei dem sie sich Mühe geben musste, sich zurückzuhalten und ihrem Verlangen nicht nachzugeben. Noch viel schlimmer findet sie jedoch, dass Joseph genau weiß, dass es ihr gefallen hat. Sie befürchtet, dass sie beim nächsten Mal vielleicht die Kontrolle verlieren könnte und möchte sich nicht vorstellen, ob Joseph entweder mit Ablehnung oder Zustimmung reagieren würde. Also sitzt sie vor sich hin brummend da und sagt kein Wort. Joseph respektiert die Stille und spürt, dass sie sauer ist, weswegen er entscheidet sie in Ruhe zu lassen.

 

Auch als sie zu Hause ankommen, wechseln sie kaum Worte miteinander. Während Cathleen etwas zum Essen vorbereitet, tätigt Joseph weitere Telefonate und arbeitet an seinem Laptop. Zum Essen setzen sie sich an den Wohnzimmertisch und blicken stumm zum Fernseher. Zu Beginn gab es noch Streit, welcher Sender angeschaltet wird, aber Cathleen konnte sich erneut wacker durchsetzen. Ungefähr um neun Uhr Abend entscheidet sich Joseph als Erstes duschen zu gehen. Nickend liegt Cathleen auf dem Sofa, sieht sich eine banale Serie an und wartet, bis Joe fertig ist, sodass sie rein kann. Als er es sich schließlich mit nassem Haar neben ihr gemütlich macht, ist dass das Stichwort für Cathleen nun ins Bad zu gehen. Dort öffnet sie zuerst das Fenster, da es viel zu heiß ist und lässt sich schon mal ein Schaumbad laufen. Währenddessen geht sie in die Küche und bereitet sich ein Obstsalat zum Dessert vor. Nach dem Schnippeln geht sie mit der Schale Obstsalat wieder ins Badezimmer. Die Schale legt sie sich gemütlich neben die Wanne, damit sie jederzeit danach greifen kann und schließt wieder das Fenster. Sie befreit sich aus ihrer Kleidung, steigt in die Wanne und fügt noch heißeres Wasser hinzu.

 

Während Cathleen sich gelassen und seufzend den Obstsalat in den Mund schiebt, lässt sie sich den Tag partout durch den Kopf gehen. Ihre Wangen werden wieder heiß, als sie sich daran erinnert, wie Joseph sie hochgehoben hat, seine Hände ihren Hintern berührt haben und, wie intensiv sein Kuss war. Vielleicht werden ihr die Küsse mit Joseph nun leichter fallen, nach dem Überfall von Joseph. Völlig gedankenlos dehnt sie ihren Nacken, um sich besser entspannen zu können, bis ihr plötzlich etwas von der Seite auffällt. Cathleen erstarrt sofort, ihr Atem fällt aus und das Wasser fühlt sich für sie auf einmal eiskalt an. Ihre Augen starren auf den Spiegel über dem Waschbecken.

 

Riechst du die Angst?

 

Diese Worte stehen auf dem Spiegel geschrieben. Nachdem Cathleen sich vergewissert hat, dass sie nicht träumt und keine Halluzination wegen der Hitze im Bad hat, wird ihr speiübel und sie springt aus der Wanne. Cat versucht ruhig zu bleiben, doch der Satz hat sich schon längst in ihr Gedächtnis eingebrannt. Wer auch immer das war, muss das geschrieben haben, bevor sie ins Bad gegangen ist. Erst durch das Erhitzen des Zimmers, beschlägt der Spiegel und es wird möglich, den Satz zu erkennen. Wer könnte das gewesen sein, fragt sie sich und hat sofort eine Antwort parat.

 

Erstens war Joseph kurz vor ihr im Badezimmer. Zweitens hat er sie gestern noch gefragt, ob sie Angst in seiner Gegenwart hätte. Da sie es bejahte, muss dies wohl seine Konsequenz sein. Cathleen hat viel zu große Angst, um in Erwägung zu setzen, dass dies jemand anderes als Joseph sein konnte. Aus diesem Grund greift sie wütend nach einem Handtuch und deckt somit ihr Körper ab, bevor sie aus dem Bad sprintet und ins Wohnzimmer rennt.

 

„Findest du das lustig?“, schreit Cathleen Joe an, als sie am Sofa ankommt.       

 

Nichts ahnend blickt Joseph Cathleen an. Es entgeht ihm nicht, dass sie nur ein Handtuch um ihren nassen Körper trägt. Aus diesem Grund wird er hellhörig, runzelt seine Stirn und wird besorgt. Cathleen atmet schwer ein und aus, ihre Wangen sind gerötet und die Panik steht ihr buchstäblich im Gesicht geschrieben.

 

„Was meinst du?“, fragt er verwirrt und ruhig.

 

Doch Cat scheint Joe gar nicht zu hören, sondern stürzt sich regelrecht auf ihn. Überrascht von ihrer Aktion fängt Joseph sie leicht auf, hält sie an der Hüfte fest und drückt sie eine Armlänge von sich weg. Das scheint Cathleens Wut jedoch nicht zu versiegeln, weswegen sie mit ihren Händen wild um sich schlägt und ihn mit den kreativsten Schimpfwörtern beleidigt, die er je gehört hat. Da Joseph langsam die Geduld verliert und immer noch nicht versteht, was mit ihr los ist, drückt er sie zurück auf den Boden, sodass sie sich gegenüberstehen. Dann greift er gewaltsam nach ihren beiden Handgelenken und hält sie eisern fest, sodass sie ihn nicht weiter gegen die Brust schlagen kann.

 

„Was redest du da?“, fragt er sie zischend und blickt in ihre blauen Augen.

 

„Du…“, zischt sie zurück, im selben Moment fällt ihr Handtuch zu Boden und sie steht völlig nackt vor ihm.

 

Schockiert blicken sich die beide in die Augen. Joseph wagt nicht einmal daran zu denken jetzt nach unten zu schauen. Wie auf Kommando lässt er ihre Handgelenke los, doch Cathleen bewegt sich kein bisschen.

 

„Willst du dir das Handtuch nicht wieder überziehen?“, fragt er unsicher und blickt ihr eisern in die Augen, um bloß nicht den Blick zu verrutschen.

 

Cathleen schluckt hörbar, kann ihre Arme jedoch immer noch nicht dazu bringen, nach dem Handtuch auf dem Boden zu greifen.

 

„Ich kann mich nicht bewegen“, flüstert sie weinerlich. „Viel zu peinlich.“

 

„Cat, zieh gefälligst das Handtuch wieder über“, zischt Joe nun geduldlos.

 

Lange kann er sich nicht mehr zwingen einfach so beherrscht wegzusehen. Schon als er sie die Treppen runter rasen sah, wie sie nass unter dem Handtuch war, brachte ihn zu schmunzeln. Jetzt steht sie völlig nackt vor ihr!

 

„Geht nicht“, verteidigt sie sich mit heiserer Stimme.

 

Sie kann es nicht erklären, aber die Situation ist ihr dermaßen peinlich, dass sie sich nicht dazu zwingen kann, sich zu bewegen. Cat fasst es nicht, sie steht vollkommen nackt vor ihm, das Wissen lähmt sie.

 

„Kitty Cat“, knurrt Joseph heiser.

 

Seufzend und entschieden bückt Joseph sich nach unten, ohne den Blickkontakt zu Cathleen zu verlieren, und greift nach dem Handtuch. Ihre zarte Röte im Gesicht macht es ihm nicht leichter. Kontrolliert blickt er ihr immer noch in die blauen Augen und wickelt das Handtuch vorsichtig um sie. Er ist nicht drum rumgekommen, ihre Haut nicht zu berühren. Der Hautkontakt löst einen kleinen Stromschlag aus und Joseph muss gestehen, dass dies das erste Mal ist, wo er sich so schwer kontrollieren kann. Cathleen ist Joseph unheimlich dankbar, dass er das Handtuch um sie wickelt und kein einziges Mal ihren nackten Körper begutachtet. Auch sie hatte den Stromschlag gespürt und musste schwer nach Atem ringen, vor allem da Joseph ihr so nah war. Doch nicht nur den Stromschlag hat sie gemerkt, sie könnte auch schwören flüchtig eine Beule in seiner Hose gespürt zu haben. Die Minuten kamen beide wie eine Ewigkeit vor und als sie wieder angezogen voreinander stehen, seufzen beide müde auf.

 

„Also, jetzt noch einmal. Was ist passiert?“, fragt er ernst und streicht sich erschöpft durch das Gesicht.

 

Unsicher hält Cathleen das Handtuch mit ihren Händen fest, nicht dass das Gleiche noch einmal passiert. Wegen der Nachricht im Badezimmer ist sie nun aber unsicher geworden und zweifelt daran, ob Joe es tatsächlich war.

 

„Das im Bad warst doch du, oder?“, flüstert sie und traut sich nicht, ihm in die Augen zu blicken.

 

Joseph antwortet gar nicht darauf, sondern rennt schockiert an ihr vorbei nach oben ins Bad. Ihr wird klar, dass er sein Verhalten eingeräumt hätte, heißt, dass jemand anderes vor ihr im Bad war. Diese Erkenntnis lässt sie erschwindeln, weswegen sie sich mit wackeligen Beinen auf das Sofa setzt. Ihr Herz schlägt wie wild gegen die Brust und das Atmen fällt ihr schwer. Sie spürt ein beklemmendes Gefühl und die Angst sitzt ihr nun im Nacken. Das ist das erste Mal, dass ihr wirklich bewusst wird, dass ein Mörder hinter ihr her ist. Er war Minuten vor ihr im Badezimmer. Da, wo sie kurze Zeit später entspannt ein Bad nahm und genüsslich ein Obstsalat verspeiste. Er hätte dort auf sie warten und sie ermorden können, stattdessen hat er ihr eine Nachricht hinterlassen.

 

Während Cathleens Gedanken weiterspinnen, starrt Joseph die Frage auf dem Spiegel an. Er kann es nicht fassen, dass Cathleens Verfolger kurze Zeit nach ihm hier drinnen war. Joseph wird unglaublich wütend und fragt sich, wie der Kerl überhaupt hier reingekommen ist. Da ihm aber nur eine Idee einfällt, blickt er misstrauisch zum Fenster. Seine Augen wandern die vermutete Strecke des Mörders entlang. Zuerst liegt sein Blick auf den großen Baum vor dem Fenster, die Äste sind so dick, dass er sich bestimmt so den Zutritt gewähren können. Dann blickt Joseph auf die Außenseite des Fensters, kann aber keine Kratzer oder ein gewalttätiges Eindringen erkennen. Das Fenster muss offen gewesen sein, denkt Joseph nickend und sieht zu Boden. Gerade möchte er erneut auf die Nachricht auf dem Spiegel sehen, als ihm auf dem Boden etwas auffällt. Langsam kniet sich Joseph herunter und begutachtet einen braunen Umriss eines Schuhabdrucks auf dem weißen Vinylboden. Der Schuh muss ein oder zwei Größen größer sein als Joseph, auf alle Fälle handelt es sich hier um einen Mann, erkennt Joe bestimmt. Verärgert verlässt er das Badezimmer und begibt sich zurück zu Cathleen, welche nachdenklich auf dem Sofa sitzt.

 

„Hattest du das Fenster offen?“, fragt er sie mit dunkler Stimme.

 

Zuerst erschreckt sich Cathleen, da sie ihn nicht runterkommen hören hat. Als sie auch noch seine wütende Tonlage erkennt, weiß sie, dass sie schuld daran ist, dass der Mörder reinkommen konnte.

 

„Ganz kurz vielleicht“, antwortet sie leise, doch er hat es ganz genau hören können.

 

„Bist du von allen guten Geistern verlassen worden?“, brüllt er sie an, woraufhin Cat wie ein geschlagener Welpe zurückzuckt.

 

„Es war stickig und ich dachte ich lasse ein wenig frische Luft hinein!“, versucht sie sich zu verteidigen.

 

Doch Cathleen braucht gar nicht weiter zu diskutieren, sie weiß, dass sie verloren hat und Schuld ist.  

 

„Ein Mörder ist hinter dir her, du Hirn! Ein offenes Fenster ist für ihn wie eine offene Tür!“

 

„Ich weiß, ich weiß! Es tut mir auch leid, daran habe ich in dem Moment nicht gedacht“, versucht sie sich zu entschuldigen.

 

Die Entschuldigung scheint jedoch kaum zu wirken. Im Gegenteil, Joseph scheint noch wütender zu werden, kämpft aber mit sich, um sie nicht zur Sau zu machen. Hauptsächlich ist Joseph auf Cathleen wütend, da er nun weiß, dass sie nichts ohne ihm machen kann. Denn wie es scheint, ist sie lebensmüde, naiv und hat immer noch nicht verstanden, in welcher Gefahr sie schwebt. Eine kleine Rest Wut gilt ihm selbst, denn er hätte das Badezimmer mit ihr betreten, sie stärker im Auge behalten sollen.

 

„Es ist doch alles noch gut gegangen“, redet Cathleen versöhnlich weiter.

 

„Gut gegangen? Dir ist doch klar, dass du für ihn jetzt aussiehst wie eine leichte Beute?“, fragt er sie und hat das Gefühl, gleich die Fassung vor Wut zu verlieren.  

 

Nun ist Cathleen still und blickt schuldbewusst zu Boden. Sie weiß nicht, was sie noch sagen soll. Alles, was Joseph ihr an den Kopf wirft, stimmt. Nur mit Mühe kann sie ihre Tränen zurückhalten, doch wenn sie jetzt noch vor ihm zu Weinen beginnt, wird er sie endgültig abschreiben.

 

„Du brauchst gar nicht so zu gucken, als hätte ich dich hier fertiggemacht“, zischt er, seufzt und beruhigt sich. „Weißt du, was er alles mit dir hätte anstellen können?“, fragt er sie nun etwas zärtlicher.

 

Nun sieht Cathleen zu ihm auf und wirkt plötzlich viel verletzlicher als sonst. Sein letzter Satz ist ihr sehr klar und der Gedanke dabei macht sie unglücklich. Sie zwingt sich, den Kloß im Hals runterzuschlucken, doch ihre Lippen beben bereits verdächtig. Müde seufzt Joseph, kommt ihr näher und nimmt sie in seine Arme. Daraufhin spürt Cathleen wie ihre Tränen ihren freien Lauf nehmen. Beruhigend tätschelt Joe ihren Rücken.

 

„Schon okay, Kitty Cat. Das nächste Mal passen wir mehr auf und denken bei Allem was wir tun nach, ja?“

 

Cathleen schafft es nur vehement zu nicken und schnieft traurig in sein Shirt. Die Nachricht hat ihr ein Schrecken eingejagt, doch nun hat sie ein Geschmack von der Angst erhalten und weiß, dass nicht nur Joseph, sondern auch sie selbst auf sich aufpassen muss.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.09.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich einer ganz bestimmten Person, die immer für mich da ist und mehr an mich glaubt, als ich selbst.

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