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Prolog

Grau. Alles grau, denkt sich der kleine Junge, der gerade zum ersten Mal richtig aufsieht. Um ihn herum laufen viele Menschen herum. Männer, die Steine und Werkzeuge tragen. Frauen, die versuchen Gemüse und Obst zu verkaufen. Kinder, die durch Singen oder Theaterstücke Geld erbetteln. Doch der kleine Junge steht einfach da und sieht sich um. Er stellt fest, dass der Himmel wie auch jeden Tag nur grau ist. Aus einem Buch, das seine Mutter ihm mal vorgelesen hat, bevor er sich schlafen gelegt hat, wird erzählt, dass der Himmel früher violett gewesen sei. Er blickt nach oben und versucht sich einen violetten Himmel vorzustellen, doch er kann es nicht. Schließlich wandern seine Augen zu den Mauern, die die Menschen davon abhalten nach draußen zu gelangen. Sein Vater hat ihn oft genug ermahnt, bloß nicht über die Mauer zu steigen. Er sagte, wer erst über der Mauer klettert, würde niemals wieder zurückkommen können.

Erschöpft läuft der kleine Junge weiter und sucht sie. Seine kastanienbraunen Augen, die unter den dunklen Augenringen zu erkennen sind, durchsuchen die Menge nach ihr. Er fragt sich, wo sie ist. Wieso hat er sie allein gelassen? Hat er sie denn nicht mehr gern? Ist sie böse auf ihn? Seine Augen werden feucht und seine Schritte immer schneller. Das Laufen entwickelt sich zum Rennen und das Besorgte zum Panischen. Was, wenn sie nicht mehr zurückkommt?

Als er ein Kreischen und Wimmern hört, bleibt er abrupt stehen. Der Junge mit den braunen, schon etwas längeren Haaren und viel zu mageren Körper, hält den Atem an. Er hört mehrere Geräusche. Laute, die ihm eine Gänsehaut auf seinem ganzen Körper bereiten. Weinen, Kreischen, Wimmern, Gestöhne, Schreie. All der Lärm prallt auf ihn ab. Er kann das Ausholen einer Peitsche hören, mehrere Male. Zitternd tragen ihn seine Füße hinter einen abgetrockneten, fast abgestorbenen Baum. Er versteckt sich dahinter, wie vor einem Schutzschild. Schreckliche Angst fließt durch seine Ader.

Er sieht so vieles, so viele böse Dinge. Ein Mann liegt blutüberströmt auf dem Boden, neben ihm gleich weitere fünf. Eine Frau liegt auf ihren Beinen kniend vor einen der toten Männer. Sie kreischt und weint, er solle sie nicht verlassen, dabei wiegt sie sich bekümmert vor und zurück. Die Peitsche, die der Junge gehört hatte, wurde von einem Soldaten gehalten, der einen Helm trägt. Immer noch holt er aus und schlägt zu. Als er sieht, dass der Soldat auf einen etwas älteren Jungen schlägt, wird ihm sofort schlecht. Da er nichts gegessen hatte, würgt der Junge nur Luft. Ihm ist kalt und heiß zugleich. Gerade als er wieder zum Platz hinsieht, erkennt er einen Mann auf einem Stuhl auf einem höher angelegten Podest sitzen. Der Mann ist reichlich bekleidet, trägt eine Krone und sitzt gemächlich auf seinem Stuhl.

Das Gesicht des Mannes wird der Junge niemals vergessen. Sein Kinn ist kantig und er besitzt einen kleinen Bartansatz. Die Wangenknochen zeichnen sich besonders in seinem Gesicht aus und seine Lippen sind zu einem dünnen Lächeln verzogen. Doch der Grund, wieso der Junge seinen Blick nicht abwenden kann, sind die Augen des Mannes. Dunkel, fast schwarz blicken seine Augen auf das Schauspiel vor ihm herab. Er sieht gefährlich, Angst einflößend aus und seine Freude wegen des Spektakels, lässt ihn ein wenig verrückt aussehen.

Wieso der kleine Junge auf einmal so wütend wird, versteht er bislang nicht. Seine Hände ballen sich zu Fäusten, er vergisst die schrecklichen Wehklagen und blickt nur diesen Mann an. Er will auf ihn springen, ihn erwürgen. Doch er weiß, dass er keine Chance hätte. Plötzlich, als hätte der Mann auf dem Thron den Blick des Jungen gespürt, schaut er ihm genau in die Augen. Es vergehen mehrere Sekunden, bis der Junge merkt, dass er ihn wirklich ansieht, doch keiner der Beiden rührt sich. Als das Lächeln des Mannes eine Spur breiter wird, dreht sich der Junge um und läuft wieder zurück, als wäre nichts geschehen.

Genau in diesem Moment, entscheidet der Junge, dass er herausfinden würde, wer dieser Mann ist. Er schwört, er würde es diesem grausamen Mann heimzahlen die armen Männer und den Jungen gequält zu haben, sobald er älter werde. Erst nach ein paar Jahren erfährt der Junge, dessen Name Mehmet ist, dass der Mann der König des Landes ist.

 

 

 

Was würdest du tun, wenn vor dir etwas Unmögliches passiert, etwas, was gar nicht sein kann? Würdest du vor Angst davonrennen? Würdest du jemanden nach Rat fragen? Entscheidest du selbst und kehrst lieber zurück? Oder würdest du dich vor das Unmögliche stellen und ein Risiko eingehen? Es könnte kein Zurück mehr geben oder noch schlimmer, dein Tod. Also überlege es dir gut, denn ich habe mich schon entschieden.

 

 

 

Kapitel 1


Alles ist vorherbestimmt, Anfang wie Ende, durch Kräfte, über die wir keine Gewalt haben. Es ist vorherbestimmt für Insekt nicht anders wie für Stern. Die menschlichen Wesen, Pflanzen oder der Staub, wir alle tanzen nach einer geheimnisvollen Melodie, die ein unsichtbarer Spieler in den Fernen des Weltalls anstimmt.

Albert Einstein, Einstein sagt, Alice Calaprice (Hrsg.) 

SOLVEIG

 

Gedankenverloren blicke ich durch die Fensterscheibe und beobachte die Menschen, die unter mir wild umherlaufen. Manche halten ein Telefon in der einen und in der anderen Hand eine Aktentasche. Andere sind mit Freunden unterwegs und erzählen begeistert von irgendeinem Ereignis. Das Mädchen das gerade Hand in Hand mit ihrem Freund an der Boutique vorbeiläuft, in der ich sitze, strahlt regelrecht. Sie sieht so zufrieden mit ihrem Leben aus und hat einen besonderen Ausdruck in ihren Augen, fast schon ein Funkeln. Was ist mit mir? Bin ich glücklich?

Ich war früher mehr als nur mit meinem Leben zufrieden. Mein Leben war ein Paradies und ich habe in keinem Moment den Gedanken daran verschwendet, dass das alles kaputt gehen könnte. Ich war stark und nicht runter zu bringen. Keiner konnte mir widersprechen und niemand traute sich, sich mit mir anzulegen. Auf meiner Schule war ich berühmt, reich und wurde von jedem geliebt. Ich war das It-Girl der Schule, ohne es überhaupt erkämpft zu haben. Auch zu Hause wurde ich von meinen Eltern bedingungslos geliebt. Sie lernten mich nicht arrogant, hilfsbereit und empathisch zu sein. Auch wenn ich diese Eigenschaften selten gezeigt habe, liebten sie mich jede Sekunde. Damals habe ich ein anderes Leben geführt.

Ich hätte wissen müssen, dass ich solch ein perfektes Leben nicht auf Dauer leben konnte. Alles geht irgendwann den Bach runter. Niemand kann auf Dauer nur Glück haben. Eigentlich sollte sich jeder darauf einstellen, dass das Glück ein Ablaufdatum hat. Doch anstatt mich darauf vorzubereiten, war ich von der angenehmen Atmosphäre, sich über nichts Gedanken machen zu müssen gewöhnt. Dann kam der Zeitpunkt, indem ich ganz plötzlich alles verlor, was mir wichtig war. Auf den Reichtum hätte ich verzichten können, sogar auf meine Freunde. Aber der Tod meiner Eltern war unüberwindbar für mich.

Den Verlust sah man mir deutlich an. Meine einst strahlenden Augen wurden zu grauen Regentagen und meine Grübchen zu harten Knochen. Im Spiegel sah ich damals eine andere Person. Es kam mir vor, als ob die ganze Farbe aus mir verschwunden wäre und ich eine laufende Leiche gewesen wäre. Mein Onkel, der als Einziger noch in meiner Familie war, schickte mich für ein ganzes Jahr lang in eine Psychiatrie, in der Hoffnung ich würde wieder zu mir finden.

Zuerst war ich so wütend auf ihn und konnte nicht nachvollziehen, wieso er mich in eine Psychiatrie steckte. Als ich aber merkte, dass er gar nicht davon Wind bekam, dass ich so wütend auf ihn war, legte sich mein Zorn auf meinen Psychiater. „Wie fühlst du dich heute Solveig?“, „Über was hast du heute geträumt Solveig?“, „Wieso bist du so sauer Solveig?“, fragte er mich jeden Tag. Ich verstand nicht, wieso sie mich nicht alle in Ruhe lassen konnten! Irgendwann akzeptierte ich aber die ganzen Fragen und verbrachte die Zeit damit, aus dem Fenster zu blicken. Ich sah zu, wie die Blätter von den Ästen abflogen, wie es anfing zu schneien, wie die Blumen blühten und zuletzt wie die Temperaturen wieder anstiegen. Ich beruhigte mich zwar und das Feuer in meinem Körper verstummte, doch mein Ich ging verloren. Ich war nicht mehr das Mädchen, das ich einst war. Doch das war in Ordnung. Ich wollte im Grunde nicht mehr so sein wie früher. Die Erinnerung an mein vorheriges Ich schmerzte, da es mich an die einst wichtigsten Personen meines Lebens erinnerte. Also wurde ich zu einem neuen Menschen, zu einer neuen Solveig.

Die einst starke und selbstbewusste Solveig entwickelte sich zu einer stummen und unsicheren Person. Nach zwölf Monaten Psychiatrie war ich immer noch nicht bereit wieder in meine alte Rolle zu schlüpfen, also hatte ich vor, erst einmal einen Monat bei meinem Onkel zu leben. Er hatte nichts dagegen gehabt und ließ mich bei ihm wohnen. Doch aus einem Monat wurden gleich zwei und daraus wieder ein ganzes Jahr. Mein Onkel hatte mir einen Privatlehrer finanziert, sodass ich, wenn ich wieder bereit dafür wäre, wieder meine alte Schule besuchen konnte, ohne etwas verpasst zu haben. Aber ich war immer noch viel zu nervös meine Mitschüler wieder zu sehen. Der Gedanke, ihnen erzählen zu müssen, was ich die ganzen zwei Jahre getrieben hatte, hinterließ ein Beben von Angst in meinem Magen, auch wenn ich eine Stufe unter ihnen gewesen wäre und sie nicht oft hätte sehen müssen. Auf meiner Schule würde es auffallen, wenn das It-Girl, das ihre Eltern verloren hat, nach zwei Jahren wieder zurückkehrt, egal auf welcher Stufe ich wäre.

Doch mein Onkel konnte die jämmerliche Solveig nicht mehr sehen, also zwang er mich schlussendlich wieder zurückzukehren. Da ich das Geld meiner Eltern geerbt hatte, konnte ich meine eigene Wohnung finanzieren, genauso wie all die anderen Dinge, die ich zum Leben brauche. Eigentlich hätte ich auf eine andere Schule gehen können, doch dem entschloss ich mich letztendlich dagegen, da meine beste Freundin Dayana mit mir in den letzten Jahren immerzu im Kontakt blieb. Sie besuchte mich oft in der Psychiatrie, später zu Hause und überredete mich mithilfe meines Onkels wieder zurück in die Schule zu gehen. Da ich trotzdem ungern von den meisten Schülern erkannt werden wollte, färbte ich meine blonden Haare in einem fast schwarzen Farbton. Lange musste ich Dayana erklären, dass ich so wenig Aufmerksamkeit erhalten wollte, wie möglich. Schließlich erkannten mich tatsächlich nur sehr wenige Schüler wieder und diese hielten sich auch zurück mir Fragen in den Bauch zu löchern.

Nun ist wieder ein Jahr vergangen und ich bin gerade neunzehn Jahre alt geworden. Was für ein großartiges Alter. Vielleicht werde ich jetzt endlich von allen Leuten etwas erwachsener behandelt und muss meinen Onkel nicht jeden Tag anrufen, um ihm zu versichern, dass ich mich weder mit Tabletten noch mit einer Rasierklinge umbringen möchte.

„Alles ist vorherbestimmt, Anfang wie Ende, durch Kräfte, über die wir keine Gewalt haben“, erinnere ich mich an das Zitat von Albert Einstein und flüstere es vor mich hin.

Im Unterricht wurde heute kurz mit diesem Zitat von Einstein eingestiegen, wieso es mir seitdem im Kopf herumschwirrt. Also ist alles Schicksal? Und wer bitte entscheidet über mein Schicksal? Das hatte heute auch mein Deutschlehrer die Klasse gefragt. Die unnötigen Kommentare brauche ich nicht zu nennen, doch tatsächlich hatten viele den Namen „Gott“ genannt. Doch woher wollen sie das denn wissen? Ich bin nicht religiös, trotzdem möchte ich mich nicht mit den Menschen anlegen, die es sind. Ich meine nur, dass niemand Gott kennt und niemand weiß, dass er überhaupt existiert. Wie können sie dann also ihr ganzes Vertrauen einer wildfremden Person schenken, der sich „Gott“ nennt?

Sollte ich also dann Gott die Schuld geben, dass meine Eltern starben? Hatte Gott etwas damit zu tun, dass ein betrunkener Autofahrer nachts bei Rot über die Ampel fuhr und tragischer Weise gegen das Auto meine Eltern krachte? Und wieso hat er überlebt und sie nicht? Hat er es denn mehr verdient weiterzuleben als sie? Wer entscheidet darüber? Haben wir Menschen denn nicht unser eigenes Recht, unser Schicksal selbst bestimmen zu dürfen?

„Was meinst du Solveig?“, ertönt die schrille Stimme von Dayana.

Völlig irritiert fahre ich erschreckt hoch und blinzele meine Freundin an. Sie trägt gerade ein langes, rotes und trägerloses Abendkleid und betrachtet sich im Spiegel. Vom Äußeren her würde niemand auf die Idee kommen, dass Dayana und ich beste Freundinnen sind. Während ich wie ein Geist aussehe, ist Dayana das totale Gegenteil. Sie hat lange, blonde Haare, aufgespritzte Lippen, viel Make-Up und gemachte Brüste, welche sie damals zu ihrem sechzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hat. Von außen gleicht Dayana eher einem Pornostar und ich, wie ihre persönliche Dienerin. Aber ihr Charakter ist das, was sie besonders macht. Sie war die ganze Zeit für mich da, als es mir so schlecht ging. Sie ließ nie locker, ging mit mir durch dick und dünn und akzeptiert mich so, wie ich war und nun bin. Mittlerweile leben wir zwar zwei unterschiedliche Leben, doch das scheint sie nur wenig zu stören.

„Wie bitte?“, frage ich, da ich sie wohl überhört hatte.

Wir befinden uns gerade im „Benedettos Kleiderladen“ und suchen für Dayana ein Kleid für den Frühlingsball aus.

„Was meinst du? Das rote, oder doch lieber das blaue Kleid?“, fragt sie mich und hält das blaue Kleid neben sich, damit ich besser vergleichen kann.

„Das blaue“, murmele ich und blicke zur Verkäuferin, die hinter der Kasse steht.

Wenn sie nicht hinter der Kasse stehen würde, könnte man denken, dass sie eine Business Frau wäre. Mit einem falschen und übertrieben netten Lächeln blickt sie mich an, also schaue ich wieder weg. Das Besondere an diesem Laden ist wohl, dass man ohne seinen eigenen Namen zu nennen, hier nicht reinkommen kann. Die Inhaber des Ladens wissen genau, wer reich und wer es nicht ist und wenn sie die Kunden erst einmal reinlassen, dürfen sie es sich mit einem Kaffee auf den weißen Ledersitzen bequem machen. Die Kleider selbst sind hinter einer Tür versteckt, in der nur die Verkäuferinnen hineindürfen und wenn man etwas sucht, kann nur sie es holen und die Kunden so, meiner Meinung nach, mit den Preisen veräppeln.

„Ach Solveig, ich finde es so schade, dass du nicht mitkommen kannst! Der Abend wird so toll!“, schwärmt sie und verschwindet hinter der Umkleidekabine, um das andere Kleid noch einmal anzuprobieren.

Eigentlich bin ich froh darüber, dass ich nicht zum Ball gehen muss. Tanzen ist nicht mehr mein Ding, genauso wenig wie der ganze Stress! Mit wem gehe ich zum Ball? Was werde ich anziehen? Rot oder blau? Mit diesen ganzen Fragen will ich mich nicht befassen. Früher wäre ich bestimmt neben Dayana gestanden und hätte sie nach Rat gefragt, doch jetzt nicht mehr.

Jedes Jahr, an einem ganz bestimmten Tag, muss ich immer zu meinem Onkel fahren. Morgen ist nämlich der Todestag meiner Eltern. Bedeutet, dass ich zu meinem Onkel fahren und mit ihm zum Grab meiner Eltern gehen würde.

Laut seufze ich auf, da der Tag morgen sehr anstrengend sein wird. Den groben Ablauf kenne ich schon. Ich komme zu ihm, muss mich hübsch machen, um angemessen auszusehen. Dann fahren wir zur Grabstätte. Ich fange an zu heulen, mein Onkel fängt an zu heulen. Schließlich fahren wir wieder zurück und zum Schluss verkriecht sich jeder in seinem Zimmer.

Um nicht weiter an Morgen zu denken, konzentriere ich mich wieder auf das Leben draußen. Überall wohin man hinsieht, stehen Wolkenkratzer, gestresste Menschen und Autos, die die meiste Zeit sowieso stehen, wegen dem ständigen Stau. Meine kleine Wohnung liegt weiter weg von der Stadt und die Aussicht ist weitaus besser als in diesem teurem Kleiderladen. Das Einzige, was man aus dem Fenster sehen kann, sind die teuren Läden auf der anderen Straßenseite, wie Prada oder Gucci und nicht zu vergessen die schicken und teuren Sportwagen, die an der Ampel stehen und durch die laute Musik die Aufmerksamkeit der reichen Weibern bekommen. Doch zurück zum Laden, dieser ist einer der Schnick Schnack Läden der Stadt und da Dayanas Eltern zu viel Geld haben, können sie es sich auch leisten, sich eines der schönsten Kleider zu gönnen. Obwohl ich mich etwas unwohl im Laden fühle, als wäre ich fehl am Platz, habe ich sie trotzdem begleitet. Früher hätte ich mich hier pudelwohl und wie zu Hause gefühlt, da Kleider und shoppen ein Bestandteil meines Lebens war. Doch jetzt fühle ich mich einfach unwohl. Mir gefällt das falsche Lächeln der Verkäuferin nicht, die weiße Ledercouch und der kostenlose Kaffee ebenso wenig, es fühlt sich einfach nicht richtig an!

„Du hast recht, dass blaue sieht wirklich viel besser aus“, sagt Dayana, als sie aus der Kabine kommt.

Leicht lächele ich sie an und lege dann meine Hände um meine Beine.

„Ach Solveig! Ich bin so froh, dass mich Tommy gefragt hat, ob ich ihn zum Ball begleiten möchte. Glaubst du, ihm wird das Kleid gefallen?“, fragt sie mich und hat so ein breites Lächeln im Gesicht, dass ich gar nicht Nein sagen könnte.

„Er wird dich umwerfend finden“, versichere ich ihr.

Dann verschwindet sie wieder hinter der Kabine, um sich umzuziehen.

„Danke, dass du mich begleitet hast. Ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte. Wahrscheinlich wäre ich morgen dann nackt hingegangen!“, lacht sie laut.

Darauf sage ich nichts, da das bestimmt kein Scherz von ihr war. Hingegangen wäre sie nämlich sowieso, ob nun mit oder ohne Kleid.

„Und du fährst morgen früh schon los?“, fragt sie noch einmal nach.

„Ja“, sage ich nur.

Schließlich kommt sie angezogen aus der Kabine raus, in der Hand ihr blaues Kleid. Als sie dafür bezahlt und wir nach draußen laufen, wo uns das laute Gehupe von vielen Autos begrüßt, fragt sie mich noch, ob ich Lust hätte mit ihr essen zu gehen. Da ich aber noch mein Koffer für morgen packen muss, sage ich ab und fahre nach Hause.


MEHMET

 

„Nun hat der König sich entschieden. Mein treuer Freund, bring deine Frau und deine Kinder in Sicherheit. Der Krieg steht vor der Tür“, höre ich zwei Männer hinter mir energisch tuscheln.

Einen kurzen Blick nach hinten und ich weiß sofort, dass es sich um zwei Fürsten handelt. Nicht nur an deren Kleidungsstoff, sondern auch an der Art und Weise, wie sie miteinander sprechen, deutet alles auf Fürsten hin.

„Das hat er gesagt?“, fragt der andere Fürst ihn ungläubig.

„Leider ja, ich stand in der Nähe, als er davon sprach! Mein Freund, es kommt noch besser. Wir erbärmlichen Menschen tragen auch noch die Ehre, mit dem König an der Seite zu kämpfen“, sagt dieser nun niedergeschlagen.

„Will er unser Tod?“, jauchzt der andere Mann so laut, dass sich ein paar Köpfe zu ihnen drehen.

Mit einem Klaps an der Schulter deutet er dem Mann, still zu sein. Sie tuscheln weiter miteinander, nun aber leiser sodass ich sie nicht mehr hören kann. Die Gaststätte ist klein, nach einiger Zeit spüre ich neugierige Blicke auf meinem Rücken. Gerade will ich mein Krater, ein Gemisch von Kräutern, zu Ende trinken, als ich eine Hand auf meiner Schulter spüre. Sofort will ich mich schon umdrehen und mich wehren, werde aber von dem Gesicht meines Freundes Jorek aufgehalten.

„Jorek, was machst du hier?“, frage ich ihn leise.

Erstaunt und gleichzeitig verwundert blicke ich in das altbekannte Gesicht. Seine müden Augen schauen mich entschlossen an, während er nach Worten sucht.

„Nach dir suchen“, antwortet er müde.

Er stellt sich neben mich und lehnt sich genauso wie ich am Tresen an. Dann bestellt er sich ebenfalls das, was auch ich trinke, und dreht sich ganz zu mir um. Da ich schon eine kleine Vorahnung habe, was er von mir erwarten wird, schaue ich ihm mit Absicht nicht in die Augen und blicke stattdessen durch den Raum. Das kleine von Holz gebaute Haus ist voll von Männern. Die alte Frau, die die Männer bedient, sieht müde aus und massiert sich während des hin und her laufen andauernd ihren buckeligen Rücken. Es ist zwar warm und stickig hier. Doch dies ist der einzige Ort, in denen die Männer flüchten können. Auszeit von der Arbeit, Frieden von der Familie und anderer Probleme. Frauen sind in diesem Haus verboten, teils weil es sowieso schandhaft für sie wäre, in ein Haus voller Männer zu gehen und weil der Besitzer es ausdrücklich verboten hat.

Der Herr des Hauses ist ein hoch angesehener Mann und trägt die meisten Narben von der ganzen Stadt im Gesicht. Er hat sich von nichts ein Haus gebaut. Er hatte keine Münzen, keine Familie, nur ein einziges Ziel, und zwar diese Gaststätte. Jede Nacht stahl er sich, bewaffnet nur mit einem Schwert, aus dieser Stadt. Er kletterte über die Mauer, fällte Holz und kletterte wieder zurück. Das hin und her war eine anstrengende und zugleich gefährliche Angelegenheit. Er wäre entweder in den Händen der Soldaten gestorben, wenn man ihn entdeckt hätte, oder durch die Bestien, die im Wald herumschleichen. Man munkelt, er wäre oft mit den Fabeln ineinander geraten, wäre aber immer nur mit viel Glück davongekommen. Irgendwann besaß er so viel Holz, dass er dieses Haus bauen konnte und das Geschäft gründete. Es gibt nur genau drei solcher Gaststätte in dieser Stadt, aus diesem Grund verdient er einiges an Münzen.

„Du hast mich gefunden, was willst du?“, frage ich ihn mürrisch, vertieft in meinen Gedanken.

„Ich weiß, dass du von hier flüchten willst, also versuche ich dich aufzuhalten“, entgegnet er mir mit einem warmen und weichen Lächeln.

Jorek ist schon seit meiner Kinderzeit mein bester Freund. Wir sind wie Pech und Schwefel und sind uns so ähnlich und dennoch so unterschiedlich. Während Jorek nun eine Familie hat, bin ich Waffenschmied und besitze nicht mal eine Geliebte. Man könnte meinen ich wäre verzweifelt, doch eigentlich ist es gut, dass ich mich noch nicht verliebt habe, sonst müsste ich mir jetzt unnötige Gedanken und Sorgen machen.

„Nicht einmal du kannst mich daran hindern“, lache ich zur Antwort heiter.

Und dem entspricht die Wahrheit. Ich bin felsenfest davon überzeugt, von hier weg zu gehen, auch wenn das mein Tod bedeuten soll.

„Und wenn ich ehrlich bin, würde ich dir und deiner Familie auch vorschlagen zu flüchten“, fahre ich fort.

„Wie meinst du das Mehmet?“, fragt er mich mit gerunzelter Stirn.

„Zwei Fürsten hinter uns unterhielten sich gerade eben noch darüber, dass unser toller König sich für den Krieg entschieden hat und wir Menschen ihm folgen müssen. Das überlebt kein durchschnittlicher Bauer Jorek, also nimm alles, was du tragen kannst und verschwinde von hier“, sage ich finster.

„Aber draußen ist es nicht sicherer als hier. Wo sollen wir denn hin?“, fragt er, erschrocken über diese Nachricht.

„Ich weiß es nicht, aber wenn du hier bleibst, musst du und dein Sohn mit in den Krieg ziehen und deine Frau sowie deine Tochter hier bleiben“, sage ich nachdenklich.

Ich will wirklich nur das Beste für Jorek und seine Familie, doch ich sehe keine andere Möglichkeit, als zu fliehen. Entweder sie würden draußen oder im Krieg sterben. Vielleicht würden Jorek und sein wackerer Junge es für einige Zeit draußen schaffen zu überleben, aber Maya und deren Tochter nicht einmal einen ganzen Tag.

„Aber Elias ist doch noch ein Kind! Woher soll er denn wissen, wie man ein Schwert heben soll?“, fragt er entrüstet und skeptisch noch dazu.

„Der König wird auch noch jüngere Kinder mit sich nehmen Jorek“, sage ich zu ihm, um ihm klar zu machen, dass er noch ein wenig Funken Hoffnung haben sollte, Elias würde die Schlacht im Krieg überleben.

„Und wohin willst du?“, fragt er mich nach einer Minute Stille.

Tief atme ich ein und versuche furchtlos zu wirken.

„Mal sehen, wohin mich die Freiheit führt“, sage ich sehnsuchtsvoll.

Ja, die Freiheit. Wie lange ich mich schon danach gesehnt habe und nun ist sie nur noch ein paar Schritte entfernt. Auch wenn Freiheit gleich ums Überleben zu kämpfen heißt, so fühlt es sich besser an, als wie ein Vogel in einem Käfig zu sitzen. Zwar wird es nicht einfach sein von hier zu fliehen, ich muss aufpassen, dass die Soldaten mich nicht bemerken. Doch das wird vermutlich das kleinere Problem sein…

„Du überlebst es doch nicht einmal einen Tag da draußen!“, fährt Jorek mich an.

„Lieber sterbe ich als freier Mann, als wenn ich im Krieg kämpfe und dann auch noch für die gegnerische Seite!“, fahre ich ihn ebenfalls an.

„Du weißt, dass ich das nicht will! Und wenn du noch lauter redest, werden sie uns beide sofort erhängen“, flüstert er böse.

Schließlich trinke ich die letzten Tropfen Krater aus und hänge mir meine Tasche über die Schulter. In der Tasche sind nur die notwendigsten Dinge drin: Münzen, ein Laib Brot, eine Decke und mein Schwert.

„Mein Bruder, ich werde dich nie vergessen. Ich bete dafür, dass dir und deiner Familie nichts geschieht und hoffe, es wird alles gut!“, verabschiede ich mich von meinem besten Freund und umarme ihn.

Ich präge mir das Gesicht gut ein, das ich sicher vermissen werde und schaue ebenfalls noch ein letztes Mal durch den Raum.

„Bist du dir wirklich sicher, dass du gehen willst?“, fragt er mich ernst und blickt mir sorgenvoll in die Augen.

„Ich war mir noch nie so sicher“, sage ich ihm selbstbewusst.

„Dann pass bitte auf dich auf!“, sagt er, als er mich loslässt, und blickt mir streng in die Augen.

Also atme ich noch einmal tief durch, drehe mich um und gehe entschlossen aus dem Haus raus. Nun fängt das Abenteuer endlich an.


SOLVEIG

 

„Papa bist du da? Wie geht es Mama?“, flüstere ich ruhig und blicke in den Himmel.

Ein kühler Wind streift meine nackte Schulter und hinterlässt eine Gänsehaut auf meine Haut. Wie fast jede Nacht stehe ich auf meinem Balkon und blicke in den Himmel. Es gibt einen besonderen Grund, weshalb ich nicht direkt in der Stadt wohnen wollte. Hier, außerhalb von den ganzen Menschen, fühle ich mich frei und unabhängig. Niemand kann mir sagen, was ich machen muss. Keiner schreibt mir etwas vor. Hier bin ich für mich selbst. Unter dem Sternenhimmel fühle ich mich sicherer. Als ob man auf mich wachen würde und mich schützen wollte.

„Papa, kannst du mich hören?“, flüstere ich und am Ende des Satzes bricht meine Stimme ab.

Ich erwarte keine Antwort, ein leichter Wind würde mir als Zeichen schon genügen, dass ich nicht allein bin.

„Siehst du mich?“

Der Wind weht von der Seite auf mich zu und lässt meine Haare für einen kurzen Moment in der Luft schweben. Dann fallen sie wieder meiner Schulter hinab.

„Dann hast du mich also gefunden“, sage ich leise und akzeptiere den Wind als Antwort.

„Weißt du“, fange ich an zu reden und stelle mir vor, wie er vor mir stehen würde und mir aufmerksam zuhören würde.

„Wenn ich in diesen Himmel schaue, blicken mir Millionen von Sternen runter. Es kommt mir fast so vor, als wären sie Augen, die mich beschatten. Welche davon sind eure?“, frage ich ihn und suche in den Sternen nach einer Antwort.

Ich stelle mir vor, wie er neben mir stehen würde. Lächelnd würde er mir durch seine Brillengläser ansehen und sich gelassen am Balkongeländer anlehnen.

„Die Tage werden immer kürzer, die Nächte immer länger und kälter. Die Welt ist ohne euch soviel größer geworden“, sage ich verzweifelt und spüre, wie sich meine Hände am Geländer festkrallen.

„Wieso habt ihr mich nicht mitgenommen?“, frage ich ihn und spüre, wie sich Tränen in meinen Augen bilden. „Dann ginge es mir jetzt weitaus besser.“

Anstatt etwas zu sagen, legt er seine Hand behutsam auf sein Herz und blickt mich verzweifelt an.

„Ich erinnere mich an jedes Erlebnis, jede Auseinandersetzung, jedes Beisammensein. Wie du im Sommer mit mir den Fluss entlanggelaufen bist, wie wir uns im Tierheim einen Hamster zugelegt haben, wie du mir jeden Abend aus einem Buch vorgelesen hast“, zähle ich auf und kann nicht verhindern, dass mir Tränen die Wange hinunter laufen.

„Was bringen mir diese verdammten Bücher jetzt?“, frage ich meinen Vater und werde böse. „Keines hat mir geholfen zu verstehen, warum ihr weg seid und ich noch hier.“

„Erkläre es mir!“, sage ich verzweifelt, werde lauter und bettele um eine Begründung. „Sag mir, wieso ihr mich hiergelassen habt.“

Seine Augen werden glasig und ich sehe ihm an, wie sehr er auch leidet.

„Ich fühle mich so schwach, seitdem ihr mich verlassen habt“, sage ich und drehe mich so um, dass er mich nicht sieht. „Als wäre ich nur ein Geist, der eigentlich gar nicht mehr existiert.

Während mir heiße Tränen die Wangen herunterrollen, beruhige ich mich langsam und blicke stumm zu dem Sternenhimmel. Ich habe mein Frust jetzt rausgelassen, nun wird es Zeit wieder eine starke Fassade aufzubauen.

„Weißt du noch, wie wir früher den Sternenhimmel beobachtet haben?“, frage ich meinen Vater und blicke zum Mond.

„Ich könnte schwören, die Sterne sind nicht mehr so hell wie früher“, sage ich, der Folgesatz ist wie ein Flüstern und zieht mit dem Wind davon. „Als hätten sie ihr Licht verloren.“

„Papa“, sage ich sehnsuchtsvoll und suche ihn durch meinen leichten Tränenschleier.

„Ich vermisse deinen gute Nacht Kuss. Ich brauche eure Nähe, ich liebe euch doch“, sage ich sehnsuchtsvoll und drücke meine Augen gewaltsam zu, um weitere Tränen zu verbergen.

Und als ich sie wieder öffne, ist er weg. Mir wird allzu schnell klar, dass ich wieder allein bin. Mit bebenden Lippen und Tränen in den Augen lege ich meine Hand auf meine Brust und balle sie zu Fäusten. Dann entspanne ich sie wieder, küsse meine Handfläche und puste den Kuss in den Himmel, mit der Hoffnung es würde meinen Vater und meine Mutter erreichen.

 

ASHRAM

 

Unsere Welt ist voller Träume, Geschichten und Gerüchte. Jeder von uns, sei es Fabel oder Mensch, handelt nach dem Motto fressen oder gefressen werden. Das ist der falsche Ort, sich Freunde zu suchen. Du solltest weder jemandem vertrauen noch jemanden lieben. Selbst die Geliebten entpuppen sich letztendlich als Verräter. Einen falschen Schritt, ein falsches Wort und du existierst nicht mehr. Vor etwa Hundertzwanzig Jahren war unsere Welt noch in Ordnung. Die Fabeln blieben unter sich, sowie auch die Menschen. Doch irgendwann geriet alles aus dem Ruder. Angefangen hat es mit der irrsinnigen Idee der Menschen, jemanden aus ihrer Mitte auszuerwählen, denen sie folgen können. Sie wünschten sich eine Ordnung, jemand der sie leitet und ihnen den richtigen Weg weist. So entstand die Monarchie auf unserer Welt und gleichzeitig der Untergang. Da ich nun schon seit zweihundert Jahren auf dieser Welt lebe, musste ich diese Veränderung miterleben. Doch daran war ich eigentlich selbst schuld.

„Ashram, wir wären dann soweit“, höre ich die Stimme von Gillis hinter meiner Tür.

Ich muss mich zwingen, von meinem Bett aufzustehen. Tief einatmend blicke ich die hölzerne Tür an, von der gerade das Klopfen herkam. Mein Blick streift von der Tür zur steinernen Wand und ich spüre kurze Erleichterung, dass die kalte Jahreszeit erst einmal vorüber ist. In der Zeit, bis endlich das Feuer entfacht, hat man das Gefühl zu erfrieren. Das zweite Klopfen holt mich wieder aus meinen Gedanken. Das Gespräch, das wir jetzt führen werden, wird nicht leicht. Das Gerücht, dass der König den Krieg angekündigt, kam nun bis zu unserem Schloss. Wir müssen alle bereit sein und vor allem müssen wir alle auftrommeln. Doch der Gedanke an die ganze Mühe, die noch auf uns zukommen wird, vergrößert wieder die Sehnsucht nach meinem Bett, nach Ruhe. Als ich die Tür öffne, kurz durch den versteinerten Flur laufe und in den hell beleuchteten Saal eintrete, in denen alle meine Verbündeten sitzen, setze ich mich an die Spitze des großen steinernen Tisches. Durch das Fenster sieht man, wie die Sonne gerade unter dem Drachenberg untergeht. Kurz bleibt es still und niemand regt sich, bis ich anfange zu sprechen.

„Ich danke euch, dass ihr alle da seid.“

Das ist das Erste was ich sage, nun ist es so weit loszulegen. Jeden meiner Freunde blicke ich in die Augen. Ich versuche Furcht oder Misstrauen zu erkennen. Doch erleichtert stelle ich fest, dass mich jeder zuversichtlich ansieht.

„König Lennard ist auf der Hut. Hat jemand eine Ahnung, wovor er Angst hat?“, frage ich laut und blicke umher.

„Man munkelt, er hätte etwas verloren, etwas Wertvolles“, sagt Tjard und nun sind alle Blicke auf ihn gerichtet.

Ich nicke ihm zustimmend zu und schaue in die dunkelroten Augen von Bahar.

„Bahar, wärst du so gütig und erzählst uns, zur Erfrischung unserer Erinnerung, die Geschichte von dem stärksten Tier des Friedens?“, frage ich sie nett.

„Sicher, wenn du darauf bestehst“, sagt sie selbstverständlich und schließt die Augen.

„Vor mehr als tausend Jahren wurde unser Planet geboren. Mutter Univers hat sie gepflegt und sich um sie gekümmert. Sie wuchs und wurde von reichlichen Geschenken wie Erde, Wasser und Licht beschenkt. Irgendwann fühlte sich unsere Ána einsam und sie erschuf drei Lebewesen, die uns allen ähnlich sind. Es waren keine Menschen, keine Tiere und auch keine Fabel. Doch es waren zwei männliche und ein weibliches Wesen. Auch sie wuchsen und wurden uns immer ähnlicher. Ána schenkte ihnen Wissen, Stimme und Gefühle. Sie lernten immer mehr von der Natura kennen, sie fingen an untereinander zu kommunizieren, bis auch die Gefühle eintraten. Freude, Liebe und Eifersucht beherrschte sie. Gefühle von Balduin und Jenö entwickelten sich für Cyra, und beide liebten sie. Im Laufe der Zeit wurde Cyras Bauch immer größer und größer und Ána machte ihnen klar, dass sie schwanger sei. Das war eine äußerst neue Situation für Cyra, nie hätte sie gedacht, dass ein Wesen in ihrem Bauch heranwachsen könnte. In ihr hegten sich Gefühle von Liebe und Freude. Doch das verging schnell, als man Cyra fragte, von wem das Kind wäre, denn da meldeten sich beide Männer. Unsere Erde Ána wurde wütend, konnte es nicht fassen, dass ihre Kinder so schäbig waren. Das Kind raubte sie Cyra und als Strafe verfluchte sie alle drei. Nun leben Balduin, Jenö und Cyra als unsere drei Monde am Himmel weiter. Balduin, der Mond des Friedens. Jenö, der Mond des Todes und Cyra, der Mond des Wiederauferstehens“, erzählt sie.

„Was wurde aus dem Kind Bahar?“, frage ich sie etwas ungeduldig und sie blickt mich ratlos an, schnell meldet sich jemand anders für sie.

„Es heißt, Ána hätte das Baby in ein Ei versteckt, sodass niemand es brechen kann. Das Ei würde sich selbst öffnen, wenn der Zeitpunkt käme, dass jemand versuche Ána zu töten. Somit würde es das stärkste Wesen sein, dass es je gäbe und alle wieder zu Recht weisen“, spricht Indigo, auch ein Freund des Kreises.

Nun ist es still und niemand sagt etwas. Jeder ist in Gedanken versunken und malt sich die starke Gestalt des Wesens vor.  

„Jahre lang haben die Vorahnen von König Lennard dieses Ei gesucht“, beginne ich und trommele leicht mit den Fingern auf dem Tisch. „Er hatte es letztendlich sogar gefunden. Ob es das richtige Ei war, kann ich nicht sicher sagen. Es geht aber das Gerücht herum, dass das Ei sich weder zerbrechen noch verbrennen lassen hat, es sei unzerstörbar gewesen.“

„Wieso gewesen?“, fragt Bahar stirnrunzelnd.

„Weil er das Ei verloren hat“, antworte ich laut und muss mir ein Lachen verkneifen.  

Ich spüre die geschockten Blicke meiner Verbündeter. Tjard kichert leise in sich hinein, während Indigo seine Hand fremdschämend auf die Stirn hält.

„Etwas, das seit Jahren von ihm und sein Vorahnen gesucht wurde, hat König Lennard einfach verloren?“, fragt Kayla misstrauisch.

„Vielleicht ist es vor ihm geflohen“, scherzt Tjard mit einem Lächeln.

„Was hatte er denn mit dem Ei vor?“, meldet sich nun Gillis und er klingt besorgt.

Unzufrieden blicke ich aus dem Fenster, aus dem der Himmel bereits deutlich dunkel geworden ist. Dank der drei Monde wird genug Licht in der schwarzen Nacht gespendet.

„Was schon? Er will das Wesen auf seiner Seite haben und dann den Magier, sowie uns töten“, antworte ich selbstverständlich und zucke gleichgültig mit meinen Schultern.

Es ist nicht neu, dass der König versucht, die Macht an seine Seite zu holen. Ihm gehorchen nur die Menschen und das stinkt ihm gewaltig. Er will die Fabeln auf seiner Seite haben, doch der Magier hat ihm klar gesagt, dass er sich darauf keine Hoffnung machen sollte. Und nun kommt das Ei ins Spiel. Wenn er es wirklich schaffen sollte, das Ei zu öffnen und das Wesen auf seine Seite zu schaffen, dann sind wir alle verloren.

„Du willst, dass wir das Ei suchen“, stellt Bahar fest.

„Ja, und wenn ihr es gefunden habt, müssen wir es wieder verschwinden lassen. Wie die Sage sagt, wird sich das Ei schon von selbst öffnen, wenn wirklich die Zeit des Krieges kommen sollte“, erkläre ich ihnen.

 

SOLVEIG

 

Als ich noch ein pubertierender Teenager war, stritt ich mich fast jeden Tag mit meiner Mutter. Ich war respektlos und sprach mit ihr, als stände meine Freundin vor mir. Damals war das normal für mich, ich sah keinen Fehler bei mir selbst. Ich dachte immer, ich täte das Richtige. Stur ignorierte ich sie und lachte sie innerlich aus, wenn sie mich traurig und enttäuscht anblickte. Wie gesagt, ich gab immer ihr die Schuld. Abends, vor dem Schlafen gehen, kam sie schlussendlich immer zu mir, um sich bei mir zu entschuldigen. Obwohl doch ich diejenige war, die sich bei ihr entschuldigen musste. Doch sie kam jedes Mal, da sie ansonsten nicht einschlafen konnte. 

Am liebsten würde ich die Vergangenheit zurückdrehen und meinem früherem Ich erst mal eine überbraten. Doch das ist genauso unmöglich, wie die Zeit anzuhalten. Mein Herz krampft sich jedes Mal zusammen, wenn ich daran denken muss, dass es zu spät für Entschuldigungen ist. Nie wieder kann ich mich bei meiner Mutter entschuldigen, ihr sagen, wie dumm ich doch war und, dass ich doch in Wahrheit nicht ohne sie einschlafen konnte. Es ist zu spät. 

Ich fahre grade mit dem Koffer im Auto zu meinem Onkel. Schon heute früh wusste ich genau, dass ich den Weg unmöglich allein finden würde, aus diesem Grund hatte ich mein Navi angeschaltet. Gott sei Dank, denn hätte dieser mich grade nicht erinnert, dass ich nach rechts abbiegen muss, dann hätte ich es wohl erst nach zwanzig Kilometern gemerkt. Es ist nicht so, dass ich ein Kurzzeitgedächtnis habe oder dass ich vollkommen orientierungslos bin, aber ich bin jedes Mal so hibbelig und nervös, wenn ich zum Grab meiner Eltern fahren muss. Mein Verstand schaltet sich fast von selbst aus und bleibt auf Stand-by, während meine Gedanken in Erinnerungen zurückliegen.  

Das Navi zeigt nur noch fünf Kilometer an. Meine Finger umklammern das Lenkrad, während meine Augen starr auf die Straße blicken. Wie es wohl meinem Onkel geht? Was wohl Dayana gerade macht? Was hätte ich denn jetzt gerade gemacht, wenn meine Eltern noch da wären? Wahrscheinlich hätte ich mich gerade jetzt auch für den Ball vorbereitet. 

Nur noch drei Kilometer. Werde ich wieder in Tränen zusammenbrechen? So helft mir doch irgendjemand diesen Tag zu überstehen!

Zwei Kilometer. Ich darf auf keinen Fall weinen. Ich bin schon erwachsen, ich muss mich langsam zusammenreißen!

Ein Kilometer. Heilige Maria, ich fange jetzt schon an zu weinen.

„Sie haben das Ziel erreicht“, spricht die Stimme meines Navigationssystems.

Geschmeidig bremse ich und halte vor dem Haus meines Onkels. Den Motor schalte ich aus und hole den Schlüssel raus. Wütend schmeiße ich ihn auf den Nebensitz und sacke zusammen. Meine linke Hand auf der Fensterlehne, meine rechte auf meinem Gesicht und meine Füße zusammengezogen. Vorwurfsvoll beiße ich mir auf meine Lippe, während weitere Tränen meine Wange herunterlaufen.

Ich wollte stark sein, wollte nicht mehr weinen und jetzt tue ich es ja doch. Ich hasse mein schwaches Ich. Durch meinen Tränenschleier erkenne ich die Umrisse des Hauses. Also beiße ich meine Zähne zusammen, balle meine Hände zu Fäusten und wische mir die Tränen weg. Ich darf es mir jetzt nicht mehr gefallen lassen. Mein Körper darf nicht mehr Macht über mich haben als mein Verstand. Also öffne ich die Wagentür und steige aus.

So viele Erinnerungen prallen auf einmal auf mich ab. Wie ich fassungslos und verstört meinen Onkel anbrülle, dass es nicht wahr wäre, dass meine Eltern tot sind. Schließlich packten mich zwei wildfremde, starke Männer, versuchten mich zu beruhigen, doch ich schlug wie ein verzweifeltes Tier um mich. Irgendwann konnte ich einfach weder schreien noch weinen. Mein Atem überschlug sich, alles drehte sich und ich fiel in Ohnmacht. Dann wachte ich in meinem Psychiatriezimmer auf. Erneut eine Erinnerung, wie ich bleich vor dem Haus stehe, orientierungslos herumblicke und nicht weiß wohin mit mir. Bis mich schließlich mein Onkel ins Haus zog.

Und nun stehe ich wieder vor diesem Haus, dieses Mal nur nicht mehr so kaputt wie damals, glaube ich zumindest. Bin ich kaputt? Nein, ich lebe noch und dieses Mal bin ich um einiges stärker geworden. Oder? Ich meine es ist doch schon einmal ein Fortschritt, oder nicht? 

Seufzend öffne ich den Kofferraum und hole meinen Koffer heraus. Dann laufe ich mit langsamen Schritten auf das Haus zu. Vor der Tür bleibe ich stehen und hebe meine Hand unsicher vor der Klingel. Was wird mich wohl erwarten? Was wird heute alles auf mich zu kommen? Um mich nicht mit weiteren qualvollen Gedanken zu beschäftigen, klingele ich schnell und warte, dass die Tür endlich aufgeht. Und als sich die Tür öffnet, sehe ich ihn wieder vor mir. Es hat sich nichts geändert, das weiß ich sofort. Es ist noch alles wie früher. Das Einzige, das sich wirklich verändert hat, ist sein Alter. Er hat nun schon mehr graue Haare auf dem Kopf und unter seinen Augen bilden sich dunkle Augenringe.

„Solveig!“, sagt er aufgeregt und umarmt mich kräftig.

Als ich schon fast keine Luft mehr bekomme, tippe ich ihm vorsichtig auf die Schulter und er lässt lachend los.

„Freut mich auch dich zu sehen“, sage ich etwas schüchtern und überschlagen.

„Wie war die Fahrt? Bist du müde? Hast du Hunger? Oder möchtest du doch lieber erst ein kleines Nickerchen machen?“, fragt er ununterbrochen, hebt den Koffer hoch und trägt ihn in das Haus rein.

Vorsichtig und umherschauend laufe ich ihm hinterher und muss mich an alle seine Fragen erinnern.

„Gut, ja etwas, nein, nein“, antworte ich lächelnd und er seufzt.

„Ich habe wieder zu schnell geredet“, sagt er genervt von sich selbst und lässt den Koffer im Flur stehen.

Ich merke schnell, dass sich auch in der Wohnung nichts verändert hat. Im Flur hängen noch dieselben Bilder, wie damals. Bilder mit mir und meinem Onkel, oder nur welche, auf denen ich mit meinen Eltern zu sehen bin. Da mein Onkel keine Frau und auch keine Kinder hat, gibt es davon keine Bilder. Jedoch hängen welche von seiner Jugendzeit und meinen Großeltern, die leider verstorben sind, oder Bilder mit seinen Freunden.

„Schon okay.“

„Also möchtest du etwas essen?“, fragt er mich noch einmal liebevoll und blickt mich freundlich an.

„Ja gerne“, sage ich nach kurzem Überlegen.

Später werde ich sowieso nichts essen können, also lieber jetzt als gar nicht. Als wir in Richtung Küche den Flur entlanglaufen, knarrt der Boden bei jedem Schritt. Das ist das einzige, das mich bis dato noch nervt. Lächelnd stelle ich fest, dass sich bei der Küche auch nichts geändert hat. Sie ist immer noch unordentlich, Geschirr stapelt sich auf dem Waschbecken und auf der Herdplatte sind Ölflecken zu sehen. Auf dem Kühlschrank hängen immer noch Magnete aus verschiedenen Ländern, die mein Onkel bereist hat. Mir zur Liebe hat er auf dem Essenstisch eine saubere Küchendecke hingelegt.

„Wie läuft es in der Schule?“, fragt er mich, während er den Herd anschaltet.

Gemütlich setze ich mich auf einen Stuhl und blicke ihm entspannt dabei zu, wie er den Kochtopf erwärmt. Die Aufregung und Nervosität ist fürs erste weg, das erleichtert mich.

„Gut soweit, ich habe zwar immer noch in Französisch ein paar Probleme, aber wurde in Mathe besser“, antworte ich stolz.

„Gut gut! Mathe ist viel wichtiger als diese langweilige und sauschwere Sprache“, sagt er und ich lächele fröhlich.

Ganz im ernst? Ich hatte mir alles tausendmal schlimmer vorgestellt. Ich dachte ich würde die ganze Zeit weinen, aber zum Glück fühle ich mich hier wohl.

„So die Suppe ist jetzt warm. Du isst ja alles auf, dann ziehst du dich um und dann gehen wir“, sagt er und muss am Ende des Satzes schlucken.

„Danke.“

Als ich anfange die Suppe zu löffeln, verschwindet er mit meinem Koffer die Treppe hoch. Die Buchstabensuppe schmeckt super, auch wenn sie nur ganz einfach zu machen ist, wenigstens tut er etwas für mich. Fertig mit der Suppe lege ich das Geschirr ins Waschbecken und laufe die Treppen hoch in mein altes Zimmer. Der Koffer liegt auf meinem Bett und sonst hat sich in meinem Zimmer nichts geändert. Die Bettdecke wurde gewechselt, das Fenster steht offen, doch meine Bücher auf dem Regal und mein Kleiderschrank wurden nicht angefasst. Schließlich öffne ich meinen Koffer und hole das weiße Kleid heraus. Es ist kein übertriebenes oder aufreizendes Kleid. Es sieht schlicht aus und wenn ich es anziehe, hängt es leicht über meiner Schulter.

Doch bevor ich mich schon anziehe, steige ich zuerst unter die Dusche und genieße das lauwarme Wasser, das auf meinen Körper prasselt. Als ich wieder herauskomme, bemerke ich den fast zerbrochenen Spiegel vor mir. Daran war ich schuld. Ich war damals so unzufrieden, wütend und traurig gewesen, dass ich bei meinem Onkel wohnen musste. Es ist nicht so, dass ich meinen Onkel hasse, aber ich wusste damals schon ganz genau, dass er mich nur bei sich wohnen ließ, weil ich meiner Mutter, also seiner Schwester so ähnlich sah. Ansonsten wäre ich ihm egal gewesen. Eigentlich wünschte ich mir damals, dass ich meiner Mutter nicht ähnlich sah. Ich wollte allein gelassen werden. Ich wollte eine Bestätigung der Welt, dass ich keinem Menschen wichtig bin, sodass ich sterben konnte. Viele bezeichneten mich als suizidal, doch wollte ich es früher nicht wahrhaben und schmiedete andauernd Pläne, wie ich mich vor einen Zug schmeißen könnte. Ich wollte nicht wahrhaben, dass ich ein Problem hatte. Ich konnte niemanden recht geben, wenn man meinte, ich hätte ein Problem und bräuchte unbedingt Hilfe. 

Wie auch immer, ich wundere mich nur, dass mein Onkel den Spiegel nicht entfernt hat. Vielleicht hatte er es ja nicht bemerkt… Mit einem Handtuch stecke ich meine Haare in einen Turban und laufe schließlich mit Unterwäsche aus dem Bad. Schließlich ziehe ich mir das Kleid über und laufe wieder ins Bad, um ein Föhn herauszuholen. Dann stelle ich mich direkt vor den Spiegel und föhne mir meine Haare. Nach circa zehn Minuten sind sie trocken und fallen mir leicht über die Schulter. Da ich mich weigere, mich zu schminken, da mir das Zeug früher oder später sowieso das ganze Gesicht verschmieren wird, belasse ich es dabei. Zuletzt ziehe ich mir nur eine kleine Jacke über und laufe dann runter ins Wohnzimmer, indem mein Onkel geduldig in einem schwarzen Anorak wartet. 

„Schön siehst du aus“, kommentiert er und holt seine Autoschlüssel.

Mit einem kleinen Dankeschön folge ich ihm nach draußen und steige in sein Auto. Stumm fahren wir zum Friedhof. Ich fand es früher immer komisch, warum wir uns so hübsch machten, nur um zum Friedhof zu fahren. Da hat er mir jedes Mal gesagt, dass meine Eltern es nicht gut finden würden, wenn sie mich in Straßenkleidung und verheult sehen würden. Also zog ich mir immer ein hübsches Kleid an, mit der Hoffnung, sie würden sehe, wie groß ich geworden bin und wie sehr ich mich verändert habe. Nach einer viertel Stunde kommen wir schließlich am Friedhof an und steigen aus dem Auto aus. Ich wollte schon loslaufen, da holt er noch einen Blumenstrauß aus dem Kofferraum.

„Wann hast du den denn geschafft zu kaufen?“, frage ich neugierig.

„Heute früh, bevor du gekommen bist“, antwortet er.

Ein komisches Gefühl breitet sich in meinem Körper aus, als ich die vielen Grabstätten anschaue und wir an ihnen vorbeilaufen. Ich fühle mich schlagartig beobachtet, doch es fühlt sich nicht bedrängt, sondern sicher an. Mit Respekt nicke ich den wenigen Leuten zu, die an uns vorbeilaufen, und bleibe schließlich stehen, als wir vor dem Grab meiner Eltern sind.

„Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot, der ist nur fern. Tot ist nur, wer vergessen ist“, lese ich den Grabspruch meiner Eltern für mich vor.

Vorsichtig legt mein Onkel den Blumenstrauß auf dem Grab hin und faltet seine Hände zusammen. Stumm und mit geschlossenen Augen steht er da. Meine Kehle schnürt sich zusammen, mein Herz verkrampft sich und meine Augen fangen an, verdächtig zu jucken. Zitternd nehme ich eine Gießkanne und laufe zum Wasserspender. Ich lasse die Gießkanne volllaufen und konzentriere mich darauf. Irgendwann läuft das Wasser schon aus der Kanne raus und erschrocken fahre ich zusammen, als ich eine Stimme hinter mir höre.

„Alles in Ordnung mein Kind?“

Erschrocken drehe ich mich um und erblicke eine alte Frau mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht. Sofort drehe ich den Wasserhahn zu und lächele sie entschuldigt an.

„Ich wusste nicht, dass jemand hinter mir steht“, erkläre ich schnell meine Erschrockenheit.

„Kein Problem, geht es dir gut?“, fragt sie mich nett.

„Ja, danke der Nachfrage.“

Um nicht weiter mit ihr sprechen zu müssen, hebe ich die Gießkanne hoch und laufe mit schnellen Schritten zurück zum Grab. Ich sehe, wie die Stirn meines Onkels in Falten liegt und wie er mit den Tränen zu kämpfen hat. Beklommen sehe ich weg und gieße die Blumen. Es sind Tulpen, meine Mutter hatte sie früher geliebt. Sofort kommen noch mehr Erinnerungen von ihr in mein Gedächtnis. Wie wir zusammen, als ich noch klein war, gebadet haben. Der Urlaub am Meer, als die beiden mich im Sand begraben haben und nur noch mein grinsender Kopf herauslugte. Wie sie mir bei den Hausaufgaben geholfen hat, mich in den Schlaf gesungen hat, da ich einen Albtraum hatte und zuletzt ihr bleiches Gesicht im Sarg, bei der Beerdigung.

Plötzlich fällt mir die Gießkanne aus der Hand, meine Knie sacken zusammen und unglücklich vergrabe ich meine Hände in die Erde. Meine Augen brennen, während ich das Grab anstarre und schließlich anfange zu schluchzen. Verdammt, wie sehr ich sie vermisse! Wie sehr ich sie jetzt neben mir hätte, in ihren Armen liegen und in ihre warmen, braunen Augen blicken würde! Alles würde ich dafür geben, um noch einmal dieses Gefühl zu genießen. Das Gefühl der Geborgenheit und der Liebe. 

„Ich vermisse euch“, flüstere ich verzweifelt.

Dann spüre ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter, als ich hochblicke, sehe ich meinen Onkel mit einem warmen Lächeln im Gesicht.

„Ich auch“, lächelt er unglücklich.

Er zieht mich zu sich hoch und umarmt mich. Während er meine Haare nass heult, weine ich in seinen Anzug rein. Ich weiß nicht, wie lange wir so dastehen, irgendwann lösen wir uns voneinander und lächeln uns an.

„Du Heulsuse“, sage ich zu ihm und lache.

„Sagst gerade du.“

Es fühlt sich gut an, endlich wieder zu lachen. Zum Schluss wische ich mir noch einmal meine Tränen aus dem Gesicht und blicke das letzte Mal auf das Grab meiner Eltern hin. Dann kehren wir zurück zum Auto und steigen müde vom Weinen hinein, um zurück nach Hause zu fahren.

 

Kapitel 2


Das große Bild gibt sich nicht als Bild zu erkennen: es ist. Oder genauer: du befindest dich darin.

Antoine de Saint-Exupéry, Die Stadt in der Wüste - Gesammelte Schriften Band 2

 

MEHMET

 

Meine Füße schleichen durch das blutrote Gras, während meine Hände vorsichtig mein Schwert umklammern und meine Augen sich überall umsehen. Ich fühle mich jetzt zwar frei, doch nun bin ich vogelfrei. Zu Hause war ich der Jäger und hier draußen in der Wildnis bin ich das Opfer. Das Opfer, das jeden Moment angegriffen werden könnte. Doch fühlt sich das tausendmal besser an, als in einem Käfig eingesperrt zu sein. Lieber kämpfe und sterbe ich hier draußen in der Wildnis für meine Freiheit, statt in einem Krieg für einen König, für den ich nicht einmal einstehe.

Es ist Nacht und das Rascheln der Bäume macht mich nervös. Gestern hat es geregnet, aus diesem Grund sieht das Gras sogar im Dunkeln stechend rot aus. Doch es bleibt mir keine Zeit, die Natur zu bewundern, vor allem nicht, wenn ich mich beobachtet fühlt. Ich spüre die Anwesenheit der Fabeln. Ich fühle ihren Heißhunger auf mir. Was sie wohl mehr bevorzugen, mein Blut oder mein Fleisch? Leise lache ich in mich hinein und habe das Gefühl langsam verrückt zu werden. Ich merke, wie die roten Augen um mich herum immer mehr werden. Wann werden sie angreifen? Mit wem habe ich es zu tun? Wenn ich Glück habe, ist es nur ein hungriger Klushund, doch wenn mich das Unglück verfolgt, dann können es auch Werwölfe sein. Während Klushunde nur nervige Straßenköter sind, habe ich es mit einem Werwolf schwerer zu tun. Diese sind groß, haben ein freches Mundwerk und töten qualvoll.

Es kommt mir vor, als wären Stunden vergangen, doch angegriffen wurde ich immer noch nicht. Also stampfe ich weiter, durch das immer höher werdende rote Gras. Meine Augenlider werden immer schwerer. Mir wird klar, dass ich Schlaf brauche, da die Monde bereits zweimal vorbeigezogen sind, seitdem ich unterwegs bin. Glücklicherweise habe ich tagsüber saftige Beeren gefunden, die ich essen konnte, also leide ich nur unter Schlafmangel. Doch wo soll ich schlafen? Und wie? Bleibe ich stehen, werden sie mich fressen.

Ich werde immer langsamer. Zweifel überkommen mich, ob ich je an ein Ziel ankommen werde. Doch welches Ziel? Nicht einmal das habe ich! Naiv und ohne Plan bin ich weggelaufen, ohne darüber nachzudenken, was ich in solchen Situationen wie jetzt tun soll. Mein Hals ist trocken und meine Zunge fühlt sich wie Watte an. Ich brauche wenigstens eine Pause.
Also riskiere ich es einfach und bleibe stehen und prompt fängt das Spiel an. Während ich schnell aus meinem Beutel trinke, höre ich das Knurren um mich herum. Und schon kommt der Erste heraus.

Mich verfolgt wohl doch das Unglück, denn es steht ein Werwolf vor mir. Sofort schnappe ich mir mein Schwert und stelle mich angriffslustig vor ihn. Zähnefletschend und knurrend schaut es mir in die Augen. Sein dreckiges Fell ist zerzaust, seine Gestalt groß und sein Geruch zum Erbrechen schlecht. 

„Hungrig?“, frage ich ihn provokant.

Wäre es ein normaler Wolf, so würde mich dieser nicht verstehen. Doch Werwölfe gehören zu den Fabeln und somit kann er sich auch mit mir verständigen.

„Du legst es also auch noch drauf an?“, fragt es angriffslustig und ein Knurren ringt aus seiner Kehle.

Ich spüre schon das Adrenalin, das durch meinen Körper fließt und weiß, dass er jeden Moment aufspringen wird. Und da ist es so weit, er stützt sich schon auf seine beiden Hinterbeine ab. Doch bevor es abspringt, erscheint plötzlich ein helles Licht und erhellt alles um uns herum. Das Licht strahlt so hell, wie die Sonne. Erschrocken lege ich meine Hände auf meine Augen, um nicht zu erblinden. Von der Seite höre ich ein gequältes Quietschen und merke, dass der Werwolf geflüchtet ist.

Was kann das sein, dass sogar der Werwolf flüchtet? Noch nie habe ich von so etwas gehört! Ein Licht, das urplötzlich mitten im Wald erscheint? Ich bin mir unsicher, ob ich mich lieber umdrehen soll und auch weglaufen sollte, oder in das neue Abenteuer hineinstürzen soll. Und als das Licht immer mehr kleiner wird und schließlich erlischt, entscheide ich mich, dem kleinen Lichtlein zu nähern.

Hinter einem Baum halte ich mich versteckt und erkenne eine Gestalt auf dem Boden liegen. Es ist kein Tier und auch kein Fabel, das wird mir sofort klar. Erst beim vierten Mal hinsehen, erkenne ich die Gestalt einer Frau.

 

ASHRAM

 

Völlig verschwitzt und erschöpft kehre ich vom Training zurück in mein Zimmer. Gemütlich laufe ich ins Badezimmer und lasse Wasser in meine Wanne laufen. Ich will gerade den Brief, der auf meinem Holztisch liegt, öffnen, da bemerke ich auf der Fensterbank eine Vase, in der eine einzige Blume steht.

Wer hat sie mir gebracht? Ist sie gefährlich? Zurzeit kann man niemandem trauen. Aus einer Blume kann sich eine Todesblume entpuppen und auf der Stelle könnte ich umfallen. Normalerweise müsste ich sie testen lassen, doch da ich sowieso nicht sterben kann, laufe ich mit Falten auf der Stirn zur Fensterbank.

Solch eine Blume habe ich in meinen ganzen zweihundert Jahren noch nicht gesehen. Sie ist genauso blutrot, wie das Gras auf unserer Erde. Die grüne Stange, die den Kopf hebt, trägt ein paar spitze, schwarze Stacheln auf sich. Die Blüte ist fünfzählig und besitzt viele rote Staubblätter. Verblüfft von der Schönheit und des süßen, feinen Geruchs der Blume bemerke ich erst später, dass sie sich bewegt. Der Kopf der Blume wackelt und wird immer schneller. Sofort wird mir klar, wer die Finger im Spiel hat.

„Woher hast du die Blume, Bahar?“, frage ich laut in den Raum hinein.

Zur Antwort platzt sie tanzend in mein Zimmer und begrüßt mich mit einem strahlenden Lächeln.

„Ist sie nicht schön? Ich habe sie von weither gefunden, als ich nach dem Ei suchte“, erzählt sie aufgeregt und fährt fort. „Sie stand mit tausend anderen Blumen auf einer Wiese, doch es gab nur diese eine Sorte von ihr“, sagt sie traurig.

Anders wie ich, ist Bahar ein Vampirin und besitzt die Fähigkeit, ihren Geist von ihrem Körper zu trennen und dadurch Pflanzen zu beeinflussen.

„Hast du ihr einen Namen gegeben?“, frage ich sie neugierig und mustere sie.

Ihre Hände hält sie einige Zentimeter vor der Blume schützend hin. Besorgt blickt sie die Blume an und atmet schwer.

„Nein, noch nicht. Aber das muss ich schnellstens tun, bevor sie stirbt“, flüstert sie nachdenklich.

Sie wirkt daraufhin traurig und streift sich eine störende rotbraune Strähne hinters Ohr. Bahar ist eine aufgeweckte und immer gutgelaunte Freundin von mir. Von ihren Geschwistern ist sie nach Gillis, die emotionalste. Das erkennt man schon daran, dass sie der Tod einer Blume bekümmert.

„Es kann nicht sein, dass es nur eine Sorte von ihr gibt“, versuche ich sie aufzumuntern. „Irgendwo gibt es bestimmt eine volle Wiese von ihr.“

„Vielleicht hast du recht“, seufzt sie und starrt die Blume weiterhin an.

„Also“, sage ich ungeduldig und werde prompt ernst. „Gibt es etwas Neues von dem Ei?“

Schon den ganzen Tag lang habe ich mich nach neuen Nachrichten gesehnt. Ohne Ei kann ich noch nicht planen und ohne Plan, fühle ich mich fast so schwach, als hätte ich kein Schwert.

„Nein, leider nicht. Ich habe nichts gefunden und soweit ich weiß, die anderen auch nicht“, antwortet sie nachdenklich. „Ich frage mich, wo es sein könnte. Wenn König Lennard das Ei wieder zurückerlangt hätte, würde er schon längst seine ganze Armee aufstellen und davon hätten wir sicherlich Wind bekommen.“

Unzufrieden und mit brodelnder Wut laufe ich zurück zum Schreibtisch und versuche meine Sorgen nicht zu zeigen. Um mich abzulenken und kurz nicht über das EI nachdenken zu müssen, entscheide ich mich den Brief auf meinem Schreibtisch zu öffnen. Schon als ich den Umschlag geöffnet und die Schrift erblickt habe, wusste ich sofort von wem der Brief ist. Schnell überlese ich den Brief, knalle es auf den Tisch und stoße einen Wutschrei aus.

„Was ist los?“, fragt Bahar besorgt und zuckt leicht zusammen.

»Garun kommt“, zische ich und balle meine Hände zu Fäusten. „Er müsste sogar schon gleich da sein.“

Wütend über seine kurzfristige Nachricht hereinschneien zu wollen, zerknülle ich den Brief und werfe ihn in den Kamin.

„War ja klar, dass dieser Mistkerl den Brief kurz davor auf meinem Schreibtisch erscheinen lässt“, sage ich schlecht gelaunt und laufe ins Badezimmer, um mich fertig zu machen.

„Beheitere den alten Mann, bis ich komme“, rufe ich Bahar noch zu, ehe ich hinter der Badezimmertür verschwinde.

Ich wasche mich schnell und schneide meine Bartstoppel mit einer scharfen Messerklinge weg. Schließlich ziehe ich mir hastig etwas an und atme tief ein, bevor ich hinunter zum Essenssaal laufe. Wie erwartet, sitzt der Magier bereits am Tisch und vergnügt sich mit Leckereien, die Bahar ihm vermutlich hingestellt hat. Kurz mustere ich den alten Mann und merke, dass er sich vom Äußeren, selbst nach so vielen Jahren, kaum geändert hat.

„Du bist spät“, kommentiert Garun fromm, als ich mich an das andere Tischende des langen Essenstisch setze.

„Und du lebst noch“, stelle ich bitter fest.

„Was willst du?“, frage ich ihn schnell, bevor er zu Wort kommt.

Sofort hört er auf zu essen, lehnt sich an seinen Stuhl zurück und fasst sich an seinem langen, grauen Bart. Seufzend setzt er seine Brille gerade hin und stützt sich an dem Steintisch an. Sein Bart und seine grauen Haare sind länger geworden, stelle ich fest. Ansonsten trägt er weiterhin einen lockeren Umhang, heute in der Farbe Rot. Er hat noch dieselben, grauen, buschigen Augenbrauen, die er nun streng nach oben zieht, um seinen strengen Gesichtsausdruck zu verstärken.

„Ich bin mir sicher, dass du von dem Ei gehört hast“, beginnt er und streicht seinen Bart glatt.

„Selbstverständlich“, antworte ich ausdruckslos.

„Falls ihr danach sucht, wäre es klug zu wissen, dass das nicht weiter nötig ist“, überlegen blickt er mich dabei an.

Ich runzele meine Stirn und blicke den alten Magier verwirrt an. Wieso sagt er das? Was weiß er, was wir nicht wissen? Diese Eigenschaft hatte ich schon immer an ihm gehasst. Garun ist noch viel älter als ich und hat die Könige noch vor König Lennard gekannt. Er besitzt eine Menge an Wissen, doch rückt er damit nicht raus und wenn, dann nur mit einer gewissen Spannung, um die Aufmerksamkeit aller zu erhalten. Ich kenne Garun schon seitdem ich das bin, was ich heute bin. Früher waren wir befreundet, doch ein Streit hat uns zu Feinden gemacht. Wäre König Lennard momentan nicht mein größter Feind und würde ich Garun für König Lennards Tot nicht benötigen, hätte ich ihn schon längst umgebracht.

„Was willst du mir sagen?“, frage ich ihn ungeduldig, weil ich seine Anwesenheit nicht mehr aushalte.

„Du kennst doch das Gerücht des stärksten Tieres auf der ganzen Welt, oder?“

Nun lehnt sich Garun am Tisch an und faltet seine faltigen Hände ineinander.

„Wenn die Zeit des Krieges gekommen ist, erwacht das stärkste Tier und niemand wird es besiegen können. Es wird den Frieden herstellen und die Zeit der Angst wird verschwinden“, wiederhole ich müde.

„Das Gerücht ist nicht vollkommen“, meint Garun und hebt die Augenbrauen. „Da fehlt noch ein Teil.“

Mit gerunzelter Stirn blicke ich den Magier in die strengen und wachen Augen.

„Es heißt, wenn der kluge, mutige und selbstlose Krieger erwacht, an seiner Seite das stärkste Tier, dann erst entsteht der Frieden auf unserer Welt. Der Krieg zwischen den Fabelwesen wird gestillt, der König gestürzt und die Menschen müssen keine Angst mehr vor der Dunkelheit haben“, erzählt er.

„Woher kommt diese neue Sage? Von dir?“, frage ich ihn neugierig und klinge gleichzeitig belustigt.

„Nein, nicht von mir“, antwortet er ruhig. „Woher kommt die Alte?“

„Nun gut nehmen wir mal an, es stimmt was du sagst. Von welchem Krieger sprechen wir dann?“, frage ich ihn und blicke ihn spöttisch an.

„Das ist die Frage. Wir wissen nur, dass sobald der Krieger erscheint, sich das Ei erst dann öffnet“, erklärt er und hebt sein Zeigefinger hoch. „Also hole deine Soldaten wieder zurück, es gibt keinen Grund weiter zu suchen.“

„Was ich mit meinen Soldaten mache, ist immer noch meine Entscheidung. Sag mir lieber was passiert, wenn der König das Ei findet?“, zische ihn böse an und merke wieder, wie es in mir brodelt.

„Er wird es nicht finden, genauso wenig wie ihr“, sagt Garun und klingt ungeduldig.

Wieder blicke ich ihn fragend an und wünschte mir, er würde einfach mit der Antwort herausrücken und wieder gehen.

„Das Ei lässt sich nicht finden, nur von seinem ausgesuchten Krieger“, erklärt er.

„So ist das also. Und du? Hast du denn nichts Besseres zu tun? Zum Beispiel in deinen Zauberbüchern zu lesen und ein paar Sprüche auswendig zu lernen, anstatt zu mir zu kommen, obwohl du auch einfach einen Brief hättest schreiben können?«, frage ich.

Es muss einen Grund geben, wieso Garun hier ist. Er geht mir ebenso bedacht aus dem Weg, wie ich ihm. Also was gibt es noch, das er verschweigt?

„Das Ei wird sich schon bald öffnen Ashram“, sagt er ernst.

„Erst wenn Krieg herrscht“, sage ich und will schon aufstehen, da ich mich langsam nicht mehr beherrschen kann im selben Raum wie er zu sein.

„Siehst du das denn nicht?“, fragt er und wird immer lauter und aufgeregter.

„Es hat doch schon längst begonnen. König Lennard hat so viele böse Mächte an seiner Seite, er wird sich gegen uns stellen und es wird eine Menge an Blut gießen“, spricht Garun mit einem nervösen Gesichtsausdruck.

„Und wenn schon, wir sind stärker“, sage ich selbstsicher und drehe mich um.

„Ach sind wir das?“, fragt er und seine Stimme überschlägt sich, weswegen ich mich wieder zu ihm drehe. „Wir sind zu zweit, die Vampire, Elfen und Kobolde vielleicht noch, aber das wars! Siehst du denn nicht, wie ernst die Sache ist?“

„Erst wenn unser großartiger König uns die Nachricht übermittelt, dass er den Krieg gegen uns anzettelt, erst dann werde ich ernst“, sage ich böse und schlage meine Fäuste auf den Steintisch.

„Du willst jetzt also einfach abwarten?“, fragt er mich, nachdem der Tisch aufgehört hat zu vibrieren.

„Wenn er wirklich Krieg gegen uns führen will, dann kann ich auch mit Sicherheit andere auf unsere Seite holen“, erkläre ich.

„Wen meinst du damit?“, fragt er aufgebracht.

„Die Basilisken, Nixen, Vampire, Hippogreife, Elfen, Zentauren und Kobolde sind ganz bestimmt im Kampf auf unserer Seite“, zähle ich auf.

Ein großer Vorteil wären natürlich noch die Meerjungfrauen, Drachen, Baba Jaga und die Feen. Mit der Frage, wie genau ich sie auf unsere Seite bringe, werde ich befassen, wenn die Zeit gekommen ist.

„Trotzdem hat er die Werwölfe, die Riesen, ein paar andere und Baobhan- Sith“, sagt er düster, als er den letzten Namen nennt.

„Baobhan- Sith?“, frage ich ihn, als hätte ich etwas falsch verstanden.

Wie zum Teufel hat er es geschafft, dieses Miststück auf seine Seite zu bringen? Baobhan- Sith ist die weltbekannteste und am meisten gefürchtete Vampirin auf diesem Planeten. Ihre Schönheit lässt jeden die Gefahr von ihr aus vergessen, doch hat sie erst einen Menschen im Griff, trinkt sie aus ihm jedes letzte Tropfen Blut aus.

„Sie ist am gefährlichsten“, sagt Garun finster.

Das erste Mal, als ich Baobhan-Sith traf, fielen mir auch sofort ihre wunderschönen blonden Haare und ihr perfektes Gesicht auf. Trotzdem ließ es mich kalt. Da ich kein Interesse für sie hatte, war ich umso interessanter für sie. Sie wollte mein Blut, wusste aber nicht, dass ich noch unsterblicher war als sie es ist. Sie war gierig nach mir, aber ich nicht nach ihr und das ärgerte sie bis aufs Blut. Bis jetzt noch versucht sie mich um ihren Finger zu wickeln und kann es nie fassen, dass ich nicht auf ihre Spiele reinfalle. Trotzdem wundert es mich, dass sie sich ihre Finger schmutzig machen will für den König. Vielleicht hat er etwas gegen sie auf der Hand? Das Räuspern des alten Mannes lenkt mich wieder zu ihm, fragend blicke ich ihn an.

„Es freut mich, dass wir nach allem trotzdem im Krieg zusammen auf einer Seite kämpfen werden“, gibt er ehrlich zu.

„Ich kämpfe für mein Land. Dafür, dass die Monarchie endet. Wenn alles vorbei ist, bis du der Letzte, der durch mein Schwert sterben wird“, sage ich nach kurzem Überlegen kalt.

Dann drehe ihm den Rücken zu und verschwinde aus dem Saal, zurück in mein Gemach.

 

SOLVEIG

 

Wie ich schon vorhergesagt habe, verkriecht sich mein Onkel in seinen und ich mich in meinem Zimmer. Wir lecken unsere Wunden und versuchen uns zu beruhigen. Was er macht, weiß ich nicht. Womöglich liegt er im Bett und schaut fern oder schläft. Ich persönlich stehe, seitdem wir angekommen sind, vor dem angebrochenen Wandspiegel im Bad.

Das weiße Kleid habe ich nicht ausgezogen, genauso wenig wie meine Schuhe. Ich stehe einfach da und blicke meine angeschwollenen Wangen sowie meine graugrünen Augen an. Es ist still und ich habe mir vorgenommen, den Tod meiner Eltern endlich zu verdauen. Richtig zu verdauen. Ich habe es satt, jeden Tag dran denken zu müsse, wie das Leben mit ihnen jetzt wäre. Ich muss akzeptieren, was ist. Ich muss die Wahrheit akzeptieren, und zwar, dass sie nie wieder zurückkehren können. Langsam muss ich mir Gedanken um mich selbst machen. Ich muss mich auf mich selbst konzentrieren und ich muss mein Leben wieder richtig in den Griff bekommen.

Doch heute habe ich mir noch erlaubt zu trauern, nur heute an ihrem Todestag. Ab morgen muss ich mich endlich zusammenreißen und etwas an mir selbst ändern. Ich muss wieder zuversichtlich und stark werden. Ich weiß, dass es womöglich Jahre dauern kann, bis ich wieder die alte Solveig werde, aber das nehme ich auf mich. Mir ist heute erst aufgefallen, dass ich keine Zukunft vor mir sehe und ab diesem Moment wurde es mir zu gefährlich. Ein Mensch kann ohne ein Ziel nicht lange leben, ohne etwas für die Zukunft vor den Augen zu haben. Ich habe festgestellt, dass ich kein Ziel vor Augen habe, das ist schlecht. Ein Mensch muss auf etwas festhalten, sonst zerbricht er ohne einen Plan fürs Leben. Vielleicht gibt es auf der Welt Menschen, die doch keine Zukunft vor Augen haben und glücklich leben, aber ich brauche eine. Wenn ich kein Ziel sehe, dann habe ich auch nichts zum Kämpfen und habe ich nichts zum Kämpfen, dann breche ich zusammen.

Heute habe ich den Wunsch gehabt, wieder stark zu werden, als ich vor dem Grab meiner Eltern saß. Ich will wieder stark sein, nicht unterzubringen. Ich war früher voller Lebensfreude, jeder Tag war so wundervoll für mich. Klar gab es Tage, an denen es schwer war zu atmen war, an denen mich Zweifel an meine Stärke überkamen, wegen all dem Schmerz. Ich hatte Angst vor den Menschen. Ich wusste, ich war das It-Girl, doch trotzdem gab es grausame Menschen da draußen, die nur das Negative sehen. Sie kritisieren ihre Mitmenschen, sie betonen immer und immer wieder deren Schwäche und Fehler. Sie achten nur auf das, was ihnen nicht gefällt und lassen es jeden spüren. Es ist traurig und schrecklich zugleich, denn sie übersehen das Wichtigste, und zwar der Charakter, was in einem Menschen steckt. Sie übersehen das Gute. Doch das überwand ich jedes Mal, dank meinen Eltern und meinen Freunden. Sie gaben mir das Gefühl schön zu sein, sie waren der Grund, warum ich so stark wurde. Würde ich es dieses Mal auch ohne sie schaffen?

Plötzlich höre ich einen Krach, ein Knarren sogleich und Poltern. Diese Geräusche kommen direkt über mir, wo sich der Dachboden befindet. Neugierig verlasse ich mein Zimmer, laufe bis ans Ende des Flurs und strecke mich, um das Seil zu schnappen. Soll ich vielleicht zuerst meinen Onkel fragen, was das sein könnte? Ich mache mir viel zu viel Gedanken, das ist doch nur sein Dachboden, als ob er dort oben eine Leiche versteckt hält. Und auch wenn es nur eine Ratte gewesen ist, ich bin noch nie oben gewesen, also ziehe ich die Treppe runter. Interessiert steige ich hoch und bleibe erst einmal nur mit meinem Kopf oben, um mich umzusehen. Da weder eine Leiche noch ein Geist zu sehen ist, steige ich richtig hoch und bemerke die ganze Unordnung. Nirgends gibt es einen freien Platz, wo man sich hinsetzen könnte. Überall stehen entweder Bücher, Koffer, Pakete oder sonstige Dinge, die man nicht mehr gebrauchen kann, sowie ein Schlitten zum Beispiel. Zum Glück erhellt das Fenster den Dachboden, auch wenn es regnet, genug Licht gibt es.

Interessiert laufe ich umher und bleibe einfach vor einem Karton stehen. Ohne zu zögern, öffne ich es und werde von vielen Fotos überrascht, die darin liegen. Zuerst denke ich, es sind Fotos von meinem Onkel, doch dann stelle ich verwundert fest, dass es Bilder von meiner Familie sind. Ich greife rein und hole einen Stapel heraus. Verschiedene Bilder sind zu sehen, in denen ich mit meinem Vater posiere oder ich mit meiner Mutter, als ich noch klein war im Park spaziere. Eine ganze Weile schaue ich mir die vielen Bilder an, muss aber am Ende schließlich feststellen, dass es kein einziges Bild gibt, in dem ich mit meiner Mutter im Krankenhaus liege. Aber vielleicht haben sie ja nur keine gemacht, ist ja auch möglich.

Seufzend lege ich die Bilder wieder in den Karton und werde auf etwas ganz anderem aufmerksam. Ganz weit hinten liegt etwas in einem Tuch gewickelt. Was auch immer es ist, entweder es ist gefährlich zerbrechlich oder es hat meinem Onkel nicht gefallen. Da es eine Form von einem Rechteck hat, kann ich draus schließen, dass es sich nur um ein Bild handeln kann.

Neugierig hole ich den Rahmen heraus und ziehe das Tuch ab. Während die Staubwolke an mir vorbeizieht, sehe ich das Bild an und kann meine Augen nicht davon abwenden. Es gibt keinen Bildmittelpunkt, keinen Menschen oder gar ein Tier drauf, es ist nur ein Wald zu sehen. Doch es ist kein gewöhnlicher Wald, das Gras ist ungewöhnlich blutrot, die Bäume sind nicht zu sehen, nur deren dicke, braune Baumstämme. Es ist keine Unterschrift eines Malers zu sehen, nur die Pinselstriche jedes einzelnen Grashalmes. Fein und säuberlich wurde das Bild gemalt und die saftige Farbe sprüht nur daraus.

Das Gemälde habe ich auf den Boden gelegt, sodass ich es von oben beobachten kann. Es ist schwer die Augen davon wegzunehmen, sie haften sich sozusagen auf das Bild. Doch nicht nur das lässt mich nicht wegblicken, das Bild umgibt eine gefährliche und gleichzeitig eine spannende Atmosphäre. Es fühlt sich an, als würde sich eine Geschichte hinter dem Bild verstecken. Ohne lange darüber nachzudenken, fassen meine Finger das rote Gras an. Erschreckt fahre ich zurück, als ich einen kleinen Stromschlag bekomme. Verwirrt fasse ich es noch einmal an, dieses Mal mit dem Wissen, nicht zurückzuschrecken.

Ganz leicht spüre ich, wie sich ein Druck löst und meine Finger in das Bild reingleiten. Völlig perplex stelle ich fest, dass schon mein ganzer Arm weg ist. Träume ich? Habe ich den Verstand verloren? Vor Angst ziehe ich meinen Arm wieder raus und lege es auf meine Brust. Voller Fragen schaue ich das geheimnisvolle Bild an.

Das kann nicht sein! Das ist nicht möglich! Wahrscheinlich habe ich mir das nur vorgemacht. Aber nein verdammt, mein ganzer Arm hat dringesteckt. Was soll ich tun? Meinen Onkel davon erzählen? Der würde mich doch wieder für verrückt abstempeln. Mist! Mit zitternden Beinen stehe ich auf, drehe mich um und beschließe lieber zu gehen. Doch plötzlich bleibe ich stehen.

In fünfzig Jahren werde ich es womöglich bereuen, nicht in das Bild gegangen zu sein. Wenn man rein kann, kann man bestimmt auch wieder zurück. Ich könnte sterben, höre ich eine kleine Stimme in meinem Kopf. Aber es ist ein Abenteuer, es ist etwas Neues. Vielleicht ist es gefährlich, aber wenn ich jetzt einfach gehe, werde ich es mir nie verzeihen können. Schon als kleines Kind habe ich mir gewünscht, ein Abenteuer zu erleben, erinnere ich mich. Jetzt liegt eins genau vor mir, und ich habe Angst?

Also drehe ich mich wieder um und blicke das Bild ganz vorsichtig an. Ja, es kann gefährlich werden, aber vielleicht wird es auch schön. Woher soll ich denn wissen, was passieren wird? Und ich werde es erst recht nicht erfahren, wenn ich es nicht ausprobieren werde. Meine Entscheidung ist waghalsig, aber was hält mich hier schon? Mein Onkel? Dayana? Natürlich liebe ich alle beide, aber ich kann das Bild nicht einfach ignorieren!

Also knie ich mich wieder runter, atme noch einmal laut ein und drücke mein Arm wieder rein. Es ist unglaublich! Mein Herz donnert wie verrückt, also drücke ich erst ein Bein rein und dann das andere. Ich zittere und ich habe Angst, aber ich bin gleichzeitig aufgeregt, auf das, was kommen wird. Ich zähle auf drei, dann springe ich ganz rein.

„Eins.“

Ich werde es nicht bereuen.

„Zwei.“

Ich werde es nicht bereuen!!

„Drei!“

Kapitel 3


Alles, was irgend zur Welt gehört und gehören kann, ist unausweichbar mit diesem Bedingtsein durch das Subjekt behaftet und ist nur für das Subjekt da. Die Welt ist Vorstellung.

Arthur Schopenhauer, Hauptwerke Band I - Die Welt als Wille und Vorstellung

 

MEHMET

 

Die Blätter an den Ästen rascheln. Von Weitem höre ich das Geheul eines Wolfes. Auch wenn die Bäume so hoch sind, scheint das Mondlicht der drei Monde am Himmel durch die Blätter durch. Der Wind huscht leise an mir vorbei und hinterlässt eine Gänsehaut auf meinem ganzen Körper. Doch gilt diese Gänsehaut der Frische oder dem Geschöpf, das im hohen roten Gras liegt?

Unsicher denke ich nach, was es sein könnte. Ein Fabel? Aber welches? Noch nie habe ich von solch einer Rasse gehört. Das Geschöpf ähnelt einem Menschen, einer Frau. Anhand ihres Äußeren stelle ich fest, dass es sich wirklich um eine Frau handeln muss. Sie trägt ein weißes Kleid und von der Ferne sieht ihre Haut blass aus, welche durch ihre langen schwarzen Haare umso mehr betont wird.  

Ich gehe das Risiko ein und nähere mich ihr vorsichtig. Zuerst geduckt schleiche ich mich auf sie zu und halte dabei wachsam meine Hand auf dem Schwert, sodass ich es jeden Moment herausziehen kann. Doch weder sehe ich sie sich bewegen noch, dass eine Gefahr von ihr ausgeht. Sie scheint bewusstlos zu sein. Da ich nun genau neben ihr stehe, stütze ich mich auf meine Knie runter und betrachte sie vorsichtig und gleichzeitig gespannt. Sie sieht aus wie alle anderen Menschen, doch muss das nicht gleich heißen, dass sie auch einer ist.

Ich frage mich, was das mit dem Licht auf sich hatte und wie sie überhaupt hierhergekommen ist. Ist sie gefährlich? Sollte ich lieber umkehren und fliehen? Seufzend, da ich mich nicht entscheiden kann, streiche ich ihre Haare aus dem Gesicht, sodass ich sie besser ansehen kann. Ihre langen, schwarzen Wimpern sind das erste, worauf ich aufmerksam werde. Die Augenbrauen sind leicht geschwungen und ihre Lippen sind rot. Sie hat eine dünne Nase und ihre aristokratischen Züge sowie ihre hohen Wangenknochen betonen ihre Schönheit umso mehr.

Doch sofort verschwinden meine Gedanken, als sich ihre Stirn in Falten legt und sie sich regt. Sie scheint aufzuwachen. Sofort stehe ich auf, bleibe jedoch nahe bei ihr stehen. Langsam öffnen sich ihre Augen und zu sehen ist eine stechend graugrüne Farbe. Blinzelnd setzt sie sich hektisch auf und blickt umher. Ihr panischer Blick lässt mich verstehen, dass sie nicht weiß, wo sie sich befindet. Als sich unsere Blicke treffen, blickt sie mich ängstlich an und rückt von mir weg, bis sie gegen einen Baum stößt.

„Wer bist du?“, stottert sie panisch.

Eine weiche, angenehme Stimme besitzt sie, die gleichzeitig Stärke und Mut in sich trägt.

„Mehmet ist mein Name und wer bist du?“, frage ich ruhig und versuche sie somit beruhigen zu können.

Normalerweise würde ich nicht jeden so nett ansprechen, doch dieses Mädchen strahlt so viel Vertrauen und gleichzeitig Verletzbarkeit aus, dass ich gar nicht anders mit ihr umgehen kann. Sie scheint nachzudenken, ihre Augen huschen umher und ihre Finger krallen sich in die Erde. Als sie sich endlich etwas beruhigt und langsam ein und ausatmet, nennt sie mir ihren Namen.

„Solveig.“


SOLVEIG

 

Meine Füße tragen mich irgendwohin. Aber wohin? Alles um mich herum ist schwarz. Meine Augen scheinen blind zu sein, es gibt keinen Unterschied, wenn ich die Augen geschlossen halte oder wenn sie geöffnet sind. Die Dunkelheit macht mir zu schaffen. Ich mag es nicht, wenn ich nicht weiß, wohin ich laufe. Angestrengt versuche ich etwas zu erkennen, doch es ist vergeblich. Ich sehe, höre und rieche nichts. Bin ich tot? Ist das der Gang, der mich zum Tod führt?

Seitdem ich in das Bild gesprungen bin, laufe ich nun in dieser Dunkelheit herum. Das Laufen kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Die Angst, immer weiter laufen zu müssen, ohne jemals an ein Ziel anzukommen, wächst. Doch was bleibt mir anderes übrig? Stehen bleiben? Nein, also laufe ich weiter, hoffend, dass mich nichts von der Seite anspringt, da ich ja nicht weiß, wo genau ich bin.

Doch als ich plötzlich ein kleines Licht in der Ferne erkenne, beginnen meine Füße schneller zu laufen. Das Laufen entwickelt sich zum Joggen und das Joggen zum Rennen. Immer größer wird das Licht, und als ich plötzlich zwei Menschen dastehen sehe, bleibe ich stehen. Mein Atem verläuft unregelmäßig wegen dem Rennen. Mein Herz fühlt sich an, als würde es mir aus der Brust springen. Der Anblick der Menschen, die ich dort stehen sehe, lässt mich staunen und gleichzeitig im Unglauben zurück.

„Was macht ihr hier?“, frage ich und höre, wie meine Stimme am Ende der Frage zum Quietschen wird.

Niemand sonst als meine Eltern stehen da. Das weiße Licht hat sich als eine Tür herausgestellt. Sie stehen umschlungen da und lächeln mich an. Neben ihrer Tür gibt es noch eine weitere Tür, welche jedoch verschlossen ist. Darauf achte ich jedoch nicht, meine Augen haften an meine Eltern. Ich traue mich schon gar nicht zu blinzeln, da ich Angst habe, sie könnten im nächsten Moment verschwinden. Sie sehen noch haargenau aus, wie in meinen Erinnerungen. Meine Mutter hat immer noch dieselben blonden, schulterlangen, gewellte Haare und meine Augenfarbe. Ihre Stirn breit, die Nase dünn und Lippen schön geschwungen. Mein Vater hat ebenfalls noch seine kurzen, schwarzen Haare, seine Brille auf der Nase und seine deutlich hervorgehobenen Wangenknochen. So stehen sie vor mir, mein Vater, eineinhalb Köpfe größer als meine Mutter, hat seinen rechten Arm um ihre Schulter geschwungen und blicken mich gutmütig an.

„Es ist schön dich zu sehen“, sagt meine Mutter mit ihrer weichen Stimme und ihre Stirn legt sich sogleich in Falten.

Immer wenn sie kurz davor ist zu weinen, legt sich ihre Stirn in Falten. Glücklich sie zu sehen, will ich auf sie zulaufen und sie umarmen, doch mein Vater hält mich auf, indem er sofort seine flache Hand in die Höhe hebt und mich ernst ansieht.

„Wenn du eintrittst, gibt es kein Zurück mehr“, sagt er nur kurz, damit die Warnung auch bei mir ankommt.

Ich bleibe also am selben Fleck stehen wie zuvor, und blicke sie entgeistert an. Was soll das heißen?

„Mein Schatz, dies ist das Totenreich. Denk bitte darüber nach, ob du wirklich kommen möchtest“, sagt sie traurig und runzelt ihre Stirn.

„Bin ich denn tot?“, flüstere ich und ich spüre, wie sich mein Magen zusammenzieht.

„Nicht richtig. Du befindest dich aber gerade in der Welt, der verschiedenen Türen“, erklärt mein Vater und fährt fort, als er meinen fragenden Blick sieht. „Es gibt verschiedene Türen, in die du eintreten, aber nicht wieder herauskommen kannst. Aus dieser Tür zum Beispiel kannst du nicht wieder rauskommen.“

Dabei zeigt mein Vater auf den Türrahmen, in denen sie sich befinden. Als ich in das Bild gesprungen bin, bin ich hier her geraten. Kann ich denn je wieder zurück? Zurück zu den Lebenden? Zurück zu meinem Onkel? Ist das alles wahr? Oder träume ich gerade?

„Wie bist du überhaupt hierhergekommen?“, fragt mich meine Mutter besorgt.

„Ich habe ein Bild bei Onkel gefunden, dann bin ich irgendwie da reingeraten“, erkläre ich kurz und schätze die nächste Entscheidung ab.

Wenn ich zu meinen Eltern gehe, bin ich tot, aber endlich bei ihnen. War das nicht das, was ich immer wollte? Bei ihnen sein? Habe ich mich nicht fast ein ganzes Jahr gequält und die Welt mit Fragen bombardiert, warum ich nicht mit ihnen gestorben bin? Und jetzt habe ich eine Chance, wieder zu ihnen zu kommen. Ich könnte sie wiedersehen, wieder mit ihnen reden und vor allem könnte ich bei ihnen bleiben! Das war doch mein sehnlichster Wunsch!

„Solveig, siehst du hier noch eine Tür?“, fragt mich mein Vater und unterbricht mich in meinen Gedanken.

„Ja“, sage ich sofort, runzele die Stirn und zeige auf die Tür, die links neben ihnen steht. „Hier könnt ihr doch eine sehen.“

„Wir können sie nicht sehen“, sagt meine Mutter und blickt bekümmert zu Boden.

„Wir sind tot, wir können in keine Türen mehr rein. Außerdem bist vielleicht auch du nur die Einzige, die diese Tür sehen kann. Diese Welt hat sich wohl entschieden, nur dich rein zulassen“, erklärt mein Vater und seufzt besorgt.

Nur mich? Aber warum sollte sie mich denn rein lassen wollen? Was gibt es darin zu sehen? Interessiert blicke ich zur verschlossenen Tür und frage mich, ob es was mit dem Bild mit dem roten Gras auf dem Dachboden zu tun haben könnte.

„Gibt es mehrere Türen?“, frage ich meinen Vater, der mich durch seine Brillengläser neugierig anblickt.

„Hast du denn gedacht, dass wir die einzigen Lebewesen in diesem Universum wären?“, fragt mein Vater und kichert leise in sich hinein.

Dieses Kichern habe ich vermisst. Generell habe ich es tierisch vermisst, sie zu sehen. Die kleinen Falten meiner Mutter, wenn sie lächelt. Die Brille, die meinem Vater immer die Nase runterrutscht, wenn er lachen muss. Das alles habe ich vermisst. Ich will sie umarmen, sie küssen und zeigen, wie schwer es für mich gewesen ist, ohne sie auszukommen. Meine Füße tragen mich langsam vor. Ich blende die verschlossene Tür aus und habe nur noch Augen für meine Eltern. Mit Tränen in den Augen bin ich Schritt für Schritt meinen Eltern näher.

„Ich will nicht, dass du hierherkommst“, erwidert meine Mutter plötzlich, als sie merkt, dass ich fast schon vor ihnen stehe.

Sie blickt mir streng und sicher in die Augen. Es ist eine große Versuchung nicht einfach hineinzutreten. Kurz werde ich etwas böse, das sie mir das so ins Gesicht sagt. Weiß sie denn nicht, wie sehr ich gelitten habe? Hat sie mich denn nicht auch vermisst? Verzweifelt blicke ich zu meinem Vater, mit der Hoffnung, er wäre anderer Meinung. Aber nein, er sieht mich ebenfalls konsequent an. Die Wut verraucht und es überkommen mich Selbstzweifel. Wollen sie mich etwa nicht? Habe ich sie durch mein Verhalten in dem vergangenen Jahr enttäuscht?

„Du bist noch so jung, meine Solveig“, spricht meine Mutter und blickt mich nun liebevoll an, als hätte sie gespürt, dass ich an mir selbst zweifle. „Erlebe noch etwas, bevor du zu uns kommst. Wir wissen, wie sehr du gelitten hast. Wie schwer es war, ohne uns auszukommen. Es tut uns so schrecklich leid, dass wir dich allein gelassen haben. Aber du kannst nicht zu uns kommen! Wenn du hier bist, kannst du nie wieder zurückkehren und das können wir nicht zulassen. Wir wären viel zu egoistische Eltern, wenn wir dich jetzt hier zu uns lassen würden.“

Sie sieht aus, als müsse sie mit sich kämpfen nicht in Tränen auszubrechen. Mir rennt eine Träne die Wange hinab und ich stelle fest, dass ich sehr nach meiner Mutter komme. Im Gegensatz zu mir hat sie jedoch ihre Emotionen im Griff und souverän.

„Öffne diese Tür und erlebe ein Abenteuer. Schau, was die Welt zu bieten hat. Verliebe dich und lerne die Liebe kennen. Wir wollen, dass du glücklich wirst. Wir wollen, dass du am Ende, wenn du sterben musst, alles erlebt hast, dass du nichts bereust und, dass du glücklich gewesen bist. Also mache uns diesen Gefallen und lebe, bevor du stirbst“, sagt meine Mutter und kann nun nicht mehr gegen ihre Tränen ankämpfen.

Ihr entkommt noch ein kräftiger Schluchzer, während sie sich an die Brust meines Vaters anlehnt und bitter weint. Mein Vater sieht nicht anders aus, seine Augen sind glasig unter seinen Brillengläsern und er sieht auch ganz danach aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen.

„Ich habe euch so schrecklich lieb“, sage ich laut und lege meine Arme um meinen Bauch und spüre hundert Nadelstiche gegen mein Herz drücken.

Meine Augen werden feucht und die Versuchung, einfach in diese Tür reinzugehen, um sie zu umarmen, ist sehr groß. Doch ich reiße mich zusammen, da sie recht haben. Wenn es stimmt, und dass alles nicht irgendein dummer Traum von mir ist, dann könnte ich womöglich wirklich sterben. Also atme ich tief ein, schließe meine Augen und wende mich von ihnen ab. Ich stelle mich vor die verschlossene Tür und blicke auf die Klinke. Zum letzten Mal drehe ich mich zu meinen Eltern um und präge mir das Bild genau ein.

„Wir sehen uns“, sage ich entschlossen.

Ich bemühe mich um ein starkes Lächeln, drücke die Klinke runter und werde durch das helle, weiße Licht blind. Kurz danach verliere ich das Bewusstsein.

 

Mir scheint, als würde ich schlafen. Als würde mein Körper schlafen, mein Verstand aber ist hellwach. Meine Augen kann ich nicht öffnen, doch meine anderen Sinne funktionieren hervorragend. Sofort weiß ich, dass ich im Freien bin, da die Luft sehr frisch und süß riecht. Da das Rascheln von Blättern zu hören ist, kann ich mir denken, dass ich mich in einem Wald befinde, oder so etwas in der Art. Unter meinen Fingern spüre ich frisches, nasses Gras. Die Erde fühlt sich noch feucht an, bedeutet, dass es geregnet haben muss.

Plötzlich spüre ich, dass sich ein Druck von mir löst. Ich kann meine Zehen bewegen, genauso wie meine Finger. Schließlich öffne ich meine Augen und setze mich vor Schreck auf. Das Gras, worauf ich liege, ist blutrot. Die Bäume sind so hoch, dass ich den Himmel nicht sehen kann! Als ich um mich herumblicke, sehe ich wenige Meter von mir entfernt einen Mann. Angst steigt in mir hoch. Er ist groß, sieht stark aus und hält ein Schwert in der Hand. Schnell krabbele ich weg von ihm, bis ich einen Baumstamm an meinem Rücken spüre.

Wird er mir etwas tun? Ist er gefährlich? Was soll ich machen? Aufstehen und wegrennen? Was, wenn es noch mehr von seiner Sorte gibt? Als ich merke, dass er mich neugierig mustert und sich immer noch nicht bewegt hat, nehme ich all meinen Mut zusammen und versuche so tapfer wie möglich zu klingen.

„Wer bist du?“, frage ich panisch und kann das Stottern nicht abstellen.

Mein ganzer Körper zittert, mag es wegen der Kälte sein, da ich nur ein Kleid trage, oder wegen der Angst vor dem Mann.

„Mehmet ist mein Name und wer bist du?“, fragt er mich, blickt mich neugierig an.

Seine Stimme ist zwar tief, dennoch beruhigend zu hören. Sein Name klingt komisch, so einen habe ich noch nie in meinem Umfeld gehört. Er hat kastanienbraune Augen, buschige Augenbrauen und dunkelblonde, etwas längere Haare. Seine Backen sind unrasiert und sein Blick deutet nicht darauf hin, dass er vorhat mich umzulegen. Soll ich ihm trauen? Meinen Namen verraten? Ich bin unsicher, was ich tun soll. Wegrennen kann ich so oder so nicht. Ich weiß erstens nicht, wo ich bin. Zweitens wüsste ich nicht einmal, wohin ich rennen sollte und drittens würde dieser Mann namens Mehmet mich bestimmt schnell einholen!

„Solveig“, nenne ich ihm schließlich meinen Namen.

Er scheint kurz nachzudenken. Als er sich mir nähern will, zucke ich zurück. Sofort bleibt er stehen und entschuldigt sich, dann sehe ich ihm zu, wie er sich auf den Boden setzt. Sein Verhalten beruhigt mich sehr. Wenn er sitzt, kann er mir nicht viel antun.

„Woher kommst du Solveig?“, fragt er mich ruhig im Schneidersitz.

Ich ziehe meine Knie an meinen Körper und stütze meinen Kopf darauf, da mir der kalte Wind eine Gänsehaut am Nacken hinterlässt. Ich nenne ihm meine Stadt, doch er zieht seine Augenbrauen zusammen und blickt mich fragend an. Also muss ich wohl ganz woanders sein, so wie ich auch schon vermutet habe. Am liebsten frage ich ihn erst gar nicht, woher er kommt. Die Gegend würde ich sowieso nicht kennen.

„Wie hast du das vorhin mit dem Licht gemacht?“, fragte er mich und sieht aus, als hätte er lange auf diese Antwort gewartet.

Welches Licht meint er? Ich blicke ihn ebenfalls fragend an.

„Wie bist du hierhergekommen?“, fragt er weiter und wirkt langsam ungeduldig.

Wieder blicke ich ihn stumm an. Ich beschließe die Geschichte mit dem Bild nicht preiszugeben, sonst würde er noch denken, ich wäre eine Verrückte. Verwirrt blickt er auf den Boden und scheint nachzudenken.

„Willst du mir sagen, wohin du gehst?“, fragt er mich und sieht verzweifelt aus.

Vielleicht will er mir tatsächlich helfen. Und wenn er mich jetzt allein lässt, werde ich hier nicht lange überleben. Also muss ich ihm wohl oder übel vertrauen, in der Hoffnung, dass er ein netter Mensch ist.

„Ich weiß weder, wie ich es hierhergeschafft habe, noch wohin mein Weg führt“, antworte ich ehrlich.

Lange blickt er mich nachdenklich an. Ich kann nur hoffen, dass dieser Mann mich nicht im Stich lässt. Laut seufzend steht er auf und zieht sich seinen schwarzen Umhang aus. Als er ihn mir zuwirft und ich ihn perplex auffange, blickt er mich ernst an.

„Ich habe einen Weg, den ich gehen möchte. Ich kann dich so lange mitnehmen, wie möglich. Bringst du mich in irgendwelche Schwierigkeiten, werden sich unsere Wege sehr schnell trennen“, erklärt er mir und blickt mich ernst an.

In welche Schwierigkeiten könnte ich ihn denn schon bringen? Außer, dass ich mich hier nicht auskenne und keine Ahnung habe, wohin mit mir.

„Zieh den Umhang an, ich kann deine Zähne bis zu mir klappern hören“, befiehlt er mir, als er sich umdreht und im Wald verschwindet.

Seine Aufforderung klang ein wenig grob, stelle ich fest. Trotzdem bin ich ihm dankbar für den Umhang. Er scheint an sich nicht gefährlich zu sein und es ist freundlich von ihm, mich mitzunehmen, obwohl er mich nicht kennt.  Ganz bestimmt kämpft er mit Zweifel über mich, da ich keine befriedigende Antwort auf irgendeine Frage von ihm geben konnte. Genauso wie ich mir den Kopf zerbreche, ob ich diesem fremden Mann trauen kann, denkt er vermutlich auch nach, ob er mir sein Vertrauen schenken kann.

Als ich mehr als fünf Minuten auf ihn warte, da er im Wald verschwunden ist, mache ich mir langsam Sorgen. Sorgen, dass er mich womöglich doch allein gelassen hat, oder dass er nur darauf wartet, dass ich es mit der Angst zu tun bekomme. Vielleicht steht er irgendwo zwischen den Bäumen und beobachtet mich, vielleicht testet er mich aus. Kann gut sein, dass er sehen will, ob ich plötzlich zu einem Monster mutiere oder irgendwelche Zaubersprüche von mir gebe. Ich hätte wahrscheinlich dasselbe getan. Doch als er schließlich mit Ästen in den Armen zurückkehrt, beiße ich mir beschämt auf die Zunge.

Vorsichtig legt er alle Äste auf einen Haufen, nimmt zwei Steine in die Hand und macht somit Feuer. Eins ist klar, ich befinde mich in einer Zeit, in der es keine Streichhölzer gibt. Vermutlich auch keine Autos, Fernseher, Handys und vieles mehr, aber damit komme ich gut zurecht. Früher wäre ich ohne mein Handy gestorben, ohne mein Facebook oder Instagram. Aber nach dem Tod meiner Eltern habe ich alles weggeworfen. Ich habe den ganzen Kontakt mit der Außenwelt abgebrochen. Meine Eltern… War das davor ein Traum? Oder war das vielleicht der Weg vom Bild zu dieser Welt? Und wenn das kein Traum gewesen ist, dann habe ich tatsächlich meine Eltern wiedergesehen. Traum oder nicht Traum, mir ist schon, seitdem ich aufgewacht bin, ganz warm im Magen. Ich habe sie gesehen, ich habe eine Bestätigung bekommen, dass es ihnen gut geht, dass sie mich immer noch lieben und mich nicht vergessen haben. Ich muss zugeben, dass ich schon sehr lange nicht mehr so zufrieden gewesen bin, wie jetzt gerade.

„Willst du noch lange dort sitzen und krank werden oder hast du Angst ich könnte mich auf dich werfen?“, höre ich und sehe auf.

Ich bin ganz in Gedanken versunken, dass ich ihn schon fast vergessen habe.

„Ich glaube, dass Zweite liegt näher an meiner Befürchtung“, sage ich leise zu mir selbst und laufe zu ihn ans Feuer, er hatte mein Kommentar nicht gehört.

Ich setze mich vorsichtig, seinen wachen Augen nicht verlierend, ihm gegenüber. Falls er auf falsche Ideen kommt und mich angreifen möchte, ist immer noch das Feuer zwischen uns. Als er sich nach einiger Zeit hinlegt und die Augen schließt, bewundere ich ihn für seinen Mut. Wie kann er so gelassen schlafen, während ich noch wach bin? Hat er denn keine Angst, dass ich ihn anfallen könnte? Also vertraut er mir wohl, oder er hofft einfach darauf, dass ich ein guter Mensch bin. Vielleicht sollte ich genau dasselbe tun, wenn er mir vertraut, sollte ich ihm auch vertrauen, oder etwa nicht? Was bleibt mir denn anderes übrig? Ich kann doch nicht die ganze Nacht wach bleiben, vor allem, weil ich so müde bin. Die Wärme des Feuers ist angenehm, also beschließe ich mich einfach hinzulegen, aber die Augen trotzdem noch offen zu lassen.

Was erwartet mich hier? Wird es gefährlich? Habe ich denn noch eine Chance, wieder zurückzukehren? Ich verdränge den Zweifel, ob ich falsch gehandelt habe, als ich mich entschieden habe, in das Bild zu steigen. Aus Zweifel entsteht Sorge und das kann ich gerade nicht ertragen, also beschließe ich doch, zu schlafen. Und schon nach wenigen Minuten bin ich im Land der Träume gefangen.

 

ASHRAM

 

Vor genau zweihundert Jahren sah diese Welt anders aus. Die Menschen waren der Natur dankbar, waren aber trotzdem vom Aussterben bedroht. Es gab mehr Fabel und Tiere auf der Welt als Menschen. Ich weiß noch genau, wie gefährlich es war, als Mensch in dieser Zeit zu leben. Sehr selten und wenn doch, dann mit Mühe und viel Glück, lebte ein Mensch, bis er ein weißes Haar auf seinem Kopf entdeckte. Ich bin gerade erwachsen geworden, als der Mensch in mir starb.

Ich hatte eine Familie, sechs Geschwister, von denen drei schon bei der Geburt starben. Ich war der älteste Sohn der Familie und trug somit die Verantwortung für meine jüngeren Geschwister. Wir lebten in einem kleinen Dorf, jeden Tag mit der Angst, von einem Fabel angegriffen zu werden. Natürlich wussten wir uns zu schützen, doch wir waren nun mal schwächer als diese magischen Wesen. Sie sind groß, viel zu stark und furchteinflößend, zumindest waren sie das früher für mich.

Das Dorf besaß um die zweihundert Menschen, große Familien und einige Schlachttiere. Jeder kannte jeden und wir halfen uns allen gegenseitig aus. Ab und an schlossen sich uns fremde, kleine Gruppen an Menschen an, dabei handelte es sich um Überlebende, deren Dörfer von den Fabeln angegriffen wurden. Sie bauten sich ihre Strohhütten oder Steinhäuser und lernten unsere Sitten und Traditionen. In unserem Dorf war es zum Beispiel Tradition, dass der Mann, als Zeichen des Erwachsenenseins und der Reife, ein Tier erledigt.

Ich erinnere mich noch genau, wie stolz meine Mutter auf mich war, als ich im Dorf endlich an der Reihe war, die Tradition zu vollführen. An einem trüben, feuchten Tag zog ich bewaffnet mit einem Speer los, verließ das Dorf und lief durch unseren Wald. Ich lief lange, bis ich das Ende des Waldes erreichte und am Strand ankam. Der Strand war verlassen, der Sand wild und die Wellen des Ozeans groß. Als ich merkte, dass sich im Wald hinter mir etwas regte, erkannte ich, dass es sich um meinen jüngeren Bruder handelte. Ich erinnere mich, wie wütend ich in diesem Moment auf ihn war und ihn nur anschrie. Dauernd warf ich ihm Fragen an den Kopf, wie er mir das nur antun könne, mir an solch einem wichtigen Tag in die Quere zu kommen. Ich schrie, er würde meine Beute verjagen und er würde mir den Test verderben. Als ich mich beruhigte, wägte ich die Situation aus. Er könnte den ganzen Weg zurück zum Dorf unmöglich allein gehen, das war zu gefährlich, davon abgesehen, dass er den Weg vermutlich nicht finden würde. Ich konnte ihn auch nicht mehr zurückbringen, dafür langte die Zeit nicht mehr aus gleichzeitig ein Tier zu erlegen. Wenn er bei mir bleiben würde, könnte ich wenigstens versuchen die Tradition eine Ehre zu machen. Ohne Tier würde ich nicht zum Dorf zurückkehren, das hatte ich mir damals geschworen.

An sein weinendes und verzweifeltes Gesicht erinnere ich mich bis heute noch. Also entschied ich mich ihn mitzunehmen und erklärte ihm ungeduldig, was er alles beachten müsse. Im Anschluss liefen wir an der Küste entlang und ich überlegte eifrig, wie ich ihn irgendwo stehenlassen konnte, sodass ich in Ruhe jagen durfte. Als er mich plötzlich erregt antippte und auf einem aus dem Wasser emporragendem schwarzen Felsen zeigte, blieb mein Herz beinahe stehen. Eine Meerjungfrau saß auf dem Steinfelsen, uns den Rücken zugewandt.

Meerjungfrauen sind abscheulich hässliche Geschöpfe, doch deren Augen und Stimmen darf man keinen Glauben schenken, diese sind nämlich in der Lage zu hypnotisieren. Ihre Flossen sind etwa zwei Meter lang und gehen bis zum Bauchnabel. Schließlich besitzen sie grüne Schuppen, die ihnen noch den Hals entlang reichen. Und dann kommt das Gesicht. Kalte, Schlitzen artige Augen, keine Nase, nur zwei Löcher, spitze Ohren wie die einer Elfe, blaue Lippen und spitze, lange Zähne. Ich hatte noch nie eine Meerjungfrau gesehen, nur Gerüchte über sie gehört, wie sie deren Opfer mit schönen Worten anhimmeln. Egal ob männlich oder weiblich, sie fixieren ihre Opfer, ziehen sie bis an den Meeresuntergrund, sodass sie nicht fliehen können und dann verschlingen sie ihre Seelen. Es heißt, dass sie mit ihren Zungen bis an das Gehirn des Opfers kommen und sie somit in weniger, als zwei Sekunden töten.

Es wäre eine der besten Beuten, die es je in unserem Dorf gab. Mit einem Handzeichen befahl ich meinem Bruder still zu sein und lief bis ans Wasserrand. Ich hob mein Speer hoch und zielte es auf die Meerjungfrau. Im Dorf war ich der beste Jäger, meine Treffsicherheit mit dem Speer war hoch und ich konnte kleine Vögel in einer Entfernung von 90 Meter erreichen. Der Steinfels, worauf die Meerjungfrau saß, war nur etwa vierzig Meter entfernt und somit eine Leichtigkeit für mich. Ohne groß darüber nachzudenken, schoss ich mein Speer ab und dieser durchdrang die Meerjungfrau durch ihren Oberkörper in ihr Herz. Vor Schreck zuckte die Meerjungfrau zusammen und suchte in der Luft nach Halt, bis sie schließlich zusammensackte, ihr Bewusstsein verlor und auf die Seite kippte. Schnell rannte ich in das eiskalte Wasser, tauchte in die nächstgrößte Welle ein und schwamm zum Steinfels. Ich hatte Glück, dass das Wetter an dem Tag nicht ganz so wild war, wie sonst. Die Wellen waren zwar groß, jedoch nicht lebensbedrohlich. Am Felsen angekommen überprüfte ich zuerst mit forschendem Blick, ob die Meerjungfrau tatsächlich tot war. Da ihre Augen geschlossen waren, ihr Körper keine Regung zeigte und aus ihrem Mund grüner Schleim entrann, beschloss ich nach ihr zu greifen und sie über meine Schulter zu werfen. Glücklicherweise war sie tatsächlich tot, da sie auch im Wasser keine Regung zeigte, als ich sie mit ans Land schwamm.

Ich zitterte am ganzen Körper, als ich mit der Meerjungfrau im Arm aus dem Wasser stieg und klapperte wie wild mit den Zähnen. Mein Bruder hatte wohl bereits vorausschauend Holz eingesammelt und war dabei, ein Feuer am Strand zu entfachen. Nach einiger Zeit konnte ich mich am Feuer aufwärmen und mit interessierten Blicken sahen wir zur toten Meerjungfrau. Ich war so stolz auf mich selbst und stellte mir schon vor, wie ich mit ihr im Dorf prahlen könnte. Mein kleiner Bruder war ebenfalls stolz auf mich und bewunderte mich gleichzeitig. Als wir ungeheuren Hunger bekamen, fragten wir uns automatisch, wie wohl ihr Fleisch schmecken würde. Was sollte schon groß passiere? Sie ist ein Tier, wie jedes andere auch. Kurzum beschlossen wir ein Stück Fleisch von ihrer Flosse zu entnehmen, die Schuppen zu entfernen und sie über das Feuer anzubraten. Freudig und aufgeregt bissen wir in das angebratene Fleisch und spuckten es sogleich nach zwei Bissen wieder aus. Das Fleisch schmeckte verdorben, sauer und fahl, mir wurde sofort schlecht von dem Geschmack im Mund. Noch heute kann ich mich genau an dem Geschmack erinnern und mir überkommt sofort wieder eine Gänsehaut.

Mich packte abermals die Wut und diese übertrug ich auf meinen Bruder. Er hätte diese dumme Idee gehabt, er brachte mich dazu sie erlegen, er hätte meine ganze Jagd verdorben. Was würde mir die Meerjungfrau im Dorf bringen, wenn das Fleisch nicht genießbar war. Ich würde nicht zum Mann werden und daran wäre mein Bruder schuld gewesen. Er hörte sich mein Monolog an, schluckte meine Wut herunter und nahm die Schuld auf sich. Bekümmert sah er auf den Sand und Tränen liefen ihm die Wange hinab. Er entschuldigte sich abermals bei mir, ging irgendwann sogar auf die Knie. Doch dann fing er an verdächtig zu husten. Das Husten fand kein Ende, schließlich spuckte er Blut und rang nach Luft. Er fing an zu hyperventilieren, grub seine Finger verzweifelt in den Sand und holte abermals Luft, doch es half ihm wohl nichts. Kurzatmig fiel er rücklings in den Sand und verkrampfte seine Hand auf seine Brust, direkt an die Stelle, an der sich sein Herz befand. Starr und mit großen Augen blickte er in den bewölkten Himmel, sein Mund war sperlenbreit offen, bis sein Atem flacher wurde und schließlich aufhörte. Er war tot.

Ich hatte die ganze Zeit seinen Namen gerufen, ihn gefragt was los sei, was ich tun könnte. Das war der schlimmste Tag meines Lebens. Ich konnte nichts tun und nur zugucken, wie mein kleiner Bruder starb. Er bewegte sich nicht mehr und ich konnte meinen Augen nicht trauen. Ich kniete nieder, versuchte sein Herz schlagen zu hören, doch es war still. Wie konnte das passieren? Habe ich ihn getötet? Ich musste ihn so schnell wie möglich ins Dorf bringen, ich konnte nicht akzeptieren, dass er tot war. Also nahm ich ihn auf meine Arme und erinnerte mich wieder, weshalb ich eigentlich da war. Das Fleisch der Meerjungfrau! Das Fleisch musste giftig sein. Könnte er aus diesem Grund gestorben sein? Doch wie konnte er tot sein, während ich noch am Leben war? Ich hatte doch ebenfalls das Fleisch gegessen.

Die Zeit lief und ich wusste, dass ich mir darüber später Gedanken machen musste und meinen Bruder zuerst retten müsse. Ich konnte mir nicht eingestehen, dass er tot war. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie mich meine Mutter beschuldigen würde. Sie würde mir die Schuld geben, genauso wie mein Vater. Vor allem, da sie Recht hätten. Ich habe meinen Bruder umgebracht. Es war tatsächlich meine Schuld, dass er gestorben ist. Trotzdem hoffte ich, dass er jeden Moment erwachen würde. Ich konnte nicht aufgeben, die Hoffnung war noch nicht vorbei.

Im Dorf angekommen, wollte der Mediziner meinen kleinen Bruder nicht einmal untersuchen. Schon als er ihn aus dem Augenwinkel sah, erkannte er an seiner blassen Haut, dem Blut aus seinem Mund, dass er tot war. Ich erinnere mich ungern daran, wie meine Mutter zusammenbrach und wie mein Vater meinen Bruder starr anblickte. Er war bleich im Gesicht und seine Hände ballte er zu Fäusten zusammen. Meine Mutter war so am Ende, dass sie mich nicht mehr ansehen wollte. Alle gaben mir die Schuld, sie wollten nicht einmal anhören. Sie wollten alle nur, dass ich verschwinde, das Dorf verlasse und nie wieder zurückkehre. „Der Mörder hat hier nichts verloren“, sagten sie und blickten mich vorwurfsvoll an. Aber wie sollte ich gehen? Ich wusste nicht wohin und ich konnte mich noch nicht einmal von meinem Bruder verabschieden. Mein Vater konnte meinen Anblick nicht mehr ertragen, zog kurzerhand sein Schwert und erdolchte mich.

Ich hatte quasi auf diese Verurteilung von ihm gewartet. Die Schuld am Tod meines Bruders vergessen, Erbarmung durch meinen Tod, das war die beste Lösung. Ich dachte, ich wäre erlöst. Ich dachte, ich könnte in Frieden sterben, vergessen, dass mein Bruder tot ist und, wie sehr mich alle hassten. Doch ich irrte mich, denn als er mir das Schwert wieder rauszog, spuckte ich Blut aus, doch die Wunde verheilte in wenigen Minuten von selbst.

„Du Fabel“, „Du Monster“, „Verschwinde aus unserem Dorf“, „Lass uns in Frieden!“, schrien sie zu mir. Ich war so verwirrt und fragte mich, wie meine Wunde von selbst heilen konnte. Bin ich wirklich ein Monster? Aber seit wann? Dann erinnerte ich mich wieder: ich aß von dem Fleisch einer Meerjungfrau. Daran musste es liegen. Später bejahte man meine Feststellung.

Wer das Fleisch einer Meerjungfrau isst, stirbt. Nur selten überlebt man das Gift und wird verflucht indem man unsterblich wird. So etwas passiert nie, denn es ist sehr selten, dass man eine Meerjungfrau überhaupt zu Gesicht bekommt und es dann noch schafft, sie zu erlegen. Das Resultat von der ganzen Geschichte ist simpel und traurig sogleich: man kann mich ertrinken, mich von einer Klippe runter schubsen, mir ein Schwert ins Gehirn rammen, ich werde trotzdem überleben. Nie werde ich sterben können, es wird kein Erbarmen geben und keine Erlösung von den Schmerzen aus der Vergangenheit.

Ich bin kein Mensch, kein Tier, kein Fabel, ich gehöre zu nichts.

Kapitel 4


Der Mensch mag sich wenden wohin er will, er mag unternehmen was es auch sei, stets wird er auf jenen Weg wieder zurückkehren, den ihm die Natur einmal vorgezeichnet hat.

Johann Wolfgang von Goethe, Werke - Hamburger Ausgabe Bd. 9, Autobiographische Schriften I, Dichtung und Wahrheit

 

SOLVEIG

 

Als ich klein war, verbrachten meine Mutter und ich oft Tage, an denen wir uns ins Auto setzten und irgendwohin fuhren. Es war egal wohin, die Hauptsache war, dass wir den Tag nur zu zweit verbrachten. Oft sind wir in kleine Dörfer gefahren, haben die Stadt besichtigt, einige Male sind wir aber auch wandern gegangen. Später, als ich dann älter wurde, wollte ich nur noch in die Stadt fahren, um einzukaufen. Ich scheuche die Erinnerung weg, dass meine Mutter mit den Stadtbummeln immer unzufrieden und es mir egal war. Das sind unschöne Erinnerungen, ich dränge sie zurück, schaue mich um und erinnere mich an einen Ort, den ich damals mit meiner Mutter besucht hatte.

Wir fuhren in einen Wald hinein und blieben irgendwo stehen, um zu Fuß weiterzulaufen. Der Weg war anstrengend, genauso wie ich, da ich mich die ganze Zeit über das viele Laufen beschwert habe. Nach mehreren Seufzern kamen wir schließlich an und meine Mutter legte ihren Zeigefinger behutsam auf ihre Lippen, um mir weiszumachen, ich solle still sein. Stumm blickte ich in ihre warmen Augen, bis sie mit ihrer Hand auf etwas zeigte. Durch die Blätter der Gebüsche konnte ich eine Wiese erkennen, langsam und vorsichtig trat ich näher und erkannte sofort den Grund des Herkommens.

Es war eine magische, große Blumenwiese. Es gab Blumen von jeder Farbensorte. Vor allem wurden diese Farben auch noch durch die Sonne verstärkt, was das Bild vor mir so surreal machte. Ich erinnere mich an den leichten, süßen Duft in der Luft und die Vögel die glücklich zwitscherten. Ich weiß noch, dass ich ein ganz warmes Gefühl im Brustkorb fühlte und noch nie so entspannt und glücklich war. Auch wenn ich es früher nicht gerne zugeben wollte, fühlte ich mich auf dieser Wiese auf einmal vollkommen frei, unabhängig und akzeptiert. Klar gab es nur Blumen und ein paar Tiere, nichtsdestotrotz überkam mich das Gefühl, keine Probleme mehr im Leben zu haben. Meine Mutter machte mich schließlich noch auf eine Rehmutter mit ihrem Kleinen aufmerksam, die am anderen Ende der Wiese grasten. Während die Mutter dauernd umherblickte, schnüffelte der Kleine an den Blumen. Das alles wirkte für mich so schön, ich hatte davor nie etwas Schöneres gesehen. Ich wünschte mir, dieses Bild nie zu vergessen.

Dieses Gefühl, die Augen nicht mehr schließen zu wollen, um irgendwas zu verpassen, verfolgt mich auch jetzt. Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren, liegt es daran, dass meine Armbanduhr hier nicht mehr funktioniert, oder dass ich die Tage aufgehört habe zu zählen. Der Wald ist unglaublich schön und Furcht einflößend zugleich. Am Tag zeigt es seine schöne Seite und in der Nacht muss man auf der Hut sein.

Die Blumen von zu Hause habe ich schon längst vergessen, denn die hier, sind fünf Mal schöner und spannender. Ich frage Mehmet andauernd, ob die Blumen einen Namen tragen, aber er sagt ständig, dass er keine Ahnung hat, da er kein Heiler ist und geht auch nicht mehr weiter darauf ein. Das Interessanteste an ihnen ist, dass sie jede Blume mindestens drei verschieden Farben in sich trägt und jede eine komplett verschiedene Form und Größe hat. Manche Blumen schließen sich auch sofort, wenn ich sie aus Versehen berühre. Andere lassen Blütenstaub herauspuffen. Laufe ich an den exotischen Pflanzen vorbei, habe ich oft das Gefühl, ich würde sie reden und flüstern hören, sehe ich aber hin, ist es still. Dieser Wald lebt durch und durch.

Wie ich schon gesagt habe, weiß ich nicht genau, wie viele Tage wir schon unterwegs sind. Nach dem dritten Tag habe ich aufgehört zu zählen. Was Mehmet angeht, gehört er zu den Menschen, die ihre Gefühle nicht zeigen wollen, diese durch ihr Handel und ihre Taten jedoch verraten. Achtsam läuft er umher, jede Sekunde, jede Minute, keinen Augenblick ist er unaufmerksam. Hören wir ein Rascheln im Gebüsch, liegt seine Hand schon auf seiner Scheide. Als ich kurz darüber nachdenken muss, ob Mehmet es gegen einen Bären oder Wolf aufnehmen könnte, blicke ich ihn mir genauer an. An sich wirkt er unter seiner Leinen Bekleidung athletisch, sportlich und stark, jedenfalls schnappt er schneller zu seinem Schwert, als ich Geräusche von der Seite hören kann. Er ist zwar nur ein Kopf größer als ich, besitzt aber eine breite Schulter und starke Armmuskeln. Vom Aussehen her ist er nicht mein Typ, auch wenn er eigentlich ganz freundlich zu sein scheint. Die ganze Zeit wirkt er aber so misstrauisch und ernst, Humor hat er mir gegenüber noch nicht zeigen können. Hinzu kommt, dass er mir immer noch nicht glaubt, dass ich weder von hier noch eine Hexe bin. Die einzigen Gesprächsthemen kommen von mir aus, wenn ich ihn nach einer Blumensorte frage. Er antwortet nur kurz und wirkt im Anschluss so, als würde er so viel Unterhaltung mit mir vermeiden wie möglich. Vielleicht möchte er mich schnell loshaben, oder er hat Angst ich könnte sein Vertrauen missbrauchen und zum Schluss doch noch zu einem Monster montieren.

Es gab nur einen Moment, indem er mir sein wahres Gesicht gezeigt hat, ihn aber zum Schluss auch wieder schnell versteckte: Es wurde immer dunkler und wir liefen schon seit Tagen umher. Wir machten immer nur kleine Pausen, da reichte er mir entweder seine Wasserflasche oder irgendwelche Blätter von Gebüschen, die nach einer eigenartigen Mischung von Basilikum und Thymian schmeckten. Nur als es so dunkel war, dass man schon fast nicht mehr die eigene Hand sehen konnte, machten wir Rast und er entfachte manchmal ein Feuer. Am Anfang schliefen wir komplett ohne Feuer, da er meinte, die Gefahr wäre zu groß von „Fabeln“ angegriffen zu werden. Ich habe keine Ahnung, was Fabeln sind, doch immer wenn Gefahr zu drohen schien, meinte er es wären die Fabeln. Wie auch immer, wir liefen also und es dämmerte schon langsam. Ich bekam ziemlich Hunger, dass es schon fast unmöglich war, dass Mehmet mein Bauch nicht knurren hörte. Doch er weigerte sich eine Pause zu machen, er meinte es dauerte noch ein paar Minuten, bis es Nacht wurde. Ich beschloss mal wieder den Mund zu halten, da ich eine viel zu große Angst hatte, er würde mich allein lassen, wenn ich mich zu viel beschwerte. Also nahm ich alles selbst in die Hand. Wir liefen und liefen, bis ich ein Gebüsch voller reifen und leckeren, dunklen Beeren sah. Sie sahen genauso aus wie Blaubeeren und daher pflückte ich sie auch, putzte sie an meinem Kleid ab und wollte sie gerade in den Mund nehmen, als Mehmet mich an die Schulter fasste und mir die Beere aus der Hand schlug. Erschrocken blickte ich in seine bösen Augen, verstand aber nicht, was passiert war.

„Was ist los?“, fragte ich ihn benommen.

„Dieser Wald ist gefährlich, verstehst du das denn nicht? Er will dich mit seiner Schönheit täuschen! Die Beeren, die so köstlich und normal aussehen, sind extrem giftig. Du hättest sie nicht einmal auf deine Zunge legen können, da wärst du schon tot“, sagte er finster und drehte sich böse um.

Das war das erste Mal, dass ich eine Gefühlsregung in ihm sah, auch wenn es Wut war. Nach diesem Vorfall redete er einige Zeit nicht mehr mit mir. Nun sind wieder Tage vergangen und er entschied sich, dass wir neben einem Bach schlafen sollten. Müde knie ich mich runter, tauche meine Hände ins kühle Wasser und spritze mir davon ein wenig ins Gesicht. Wie lange es wohl schon her ist, als ich das letzte Mal geduscht habe? Ob sich die Menschen hier wohl duschen? Gibt es hier überhaupt sowas wie eine Dusche? Wenn es nicht einmal Uhren gibt, wird es wohl auch keine Duschen geben.

„Du möchtest dich bestimmt waschen, habe ich recht?“, fragt er mich plötzlich.

Kurz rätsele ich, ob er vielleicht Gedanken lesen kann, streite es aber sofort ab, da er ja denkt, dass ich die Hexe mit den Zauberkräften wäre.

„Ja, eigentlich schon“, gebe ich leise zögerlich zu.

„Ich werde ein Feuer vorbereiten, sodass du nicht frierst, wenn du aus dem Wasser kommst“, sagt er und dreht sich dann um, ohne eine Antwort von mir abzuwarten.

Seufzend warte ich, bis er verschwunden ist, und blicke mich erst einmal um, bevor ich mich ausziehe. Als ich niemanden entdecke, ziehe ich mir zögerlich das Kleid aus und steige zuerst mit meinen Füßen ins Wasser. Die Berührung mit meinem Zeh und dem Wasser lässt eine Gänsehaut überall auf meinem Körper entstehen. Sehnsuchtsvoll gehe ich immer mehr rein und verdränge den Gedanken, ob es da wohl irgendwelche Piranhas oder sonstige Tiere gibt, die mich am liebsten auffressen würden. Mehmet hätte mich nicht darin baden lassen, wenn er wüsste, dass da irgendwelche Tiere wären. Also schrubbe ich mit meinen Händen den Dreck von meinem Körper, tauche circa zehnmal ins Wasser, um meine Haare vollständig sauber zu bekommen. Als ich irgendwann zufrieden bin, steige ich aus dem Wasser und ziehe mir das Kleid wieder an. Frierend und zitternd laufe ich zum Lagerfeuer und setze mich dicht ans Feuer. Auch wenn mir kalt ist, bereue ich es nicht, mich gewaschen zu haben. Jetzt fühle ich mich immerhin etwas frischer.

Eigentlich dachte ich, Mehmet würde sich auch waschen gehen, doch er blickt nur stumm ins Feuer. Ob es wohl daran liegt, dass er mir nicht traut? Da es mir langsam reicht, dass er sein Mund nicht aufbekommt, spreche ich ihn endlich an, auch wenn er das vielleicht nicht möchte und mich endgültig verlassen könnte.

„Willst du dich nicht waschen?“, frage ich erst einmal freundlich.

„Nein.“

Schnaubend stehe ich auf und stelle mich genau vor ihn, seine Hand schnellt zu seiner Scheide.

„Wage es nicht dein Schwert rauszuholen. Du sagst mir lieber, was dein Problem ist! Andauernd versuchst du, mir aus dem Weg zu gehen. Falls du es immer noch nicht verstanden haben solltest, ich bin ein Mensch, ein stink normaler Mensch, wie du. Ich besitze keine sonderbaren Fähigkeiten und verwandle mich auch nachts nicht in einen Vampir!“

Er schaut mir misstrauisch in die Augen, sagt aber trotzdem nichts.

„Was ist? Hast du deine Zunge verschluckt?“, frage ich ihn bissig.

„Wenn du ein Mensch bist, dann erkläre mir, wieso wir bis jetzt kein einziges Mal angegriffen worden sind?“, fragt er böse und steht ebenfalls auf.

Er steht mir direkt gegenüber und blickt mich an, als hätte er mich bei einer Lüge erwischt.

„Was hätte uns denn normalerweise angreifen sollen?“, stelle ich die Gegenfrage.

„Fabeln!“, sagt er automatisch.

„Fabeln, Fabeln, Fabeln“, wiederhole ich genervt. „Immer wieder kommst du mit diesem Wort. Was zum Teufel sind Fabeln?“, frage ich ihn verdutzt.

Er sieht mich an, als wäre ich aus einer anderen Welt, was ja eigentlich auch stimmt. Vielleicht versteht er langsam, dass ich es auch bin. Dann wird sein Blick nachdenklich und er bricht den Augenkontakt ab, indem er wieder ins Feuer schaut.

„Fabeln sind unglaublich schlimme Tiere. Sie töten normalerweise jeden Menschen, die ihnen über den Weg laufen. Der Wald ist eigentlich voller Fabeln und ich wurde auch schon angegriffen. Aber nun sind schon acht Monde vergangen, seitdem ich dich auf meine Reise mitgenommen habe und kein einziger Fabel ist mehr aufgetaucht. Du kannst kein Mensch sein, du musst etwas weitaus Schlimmeres sein. Etwas, wovor sie Angst haben“, erklärt er und geht ein Schritt von mir weg, als würde ich ihn jeden Moment umbringen.

Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich dazu sagen soll. Ich bin ein Mensch und mehr kann ich ihm auch nicht sagen. Ich weiß nicht, wieso die Fabeln nicht rauskommen. Seine Reaktion mit dem Wegtreten versetzte mir einen kleinen Stich in der Brust. Noch nie im Leben habe ich jemanden Angst gemacht. Ich beiße mir auf die Lippe und setze mich hin, versuche ihm so deutlich zu machen, dass ich ihm nichts tue. Dann entscheide ich mich, ihm zu erklären, woher ich komme, auch wenn er es mir vielleicht nicht glauben wird.

„Ich glaube, ich komme aus einer anderen Welt. In meiner Welt entdeckte ich ein Bild von diesem Wald und aus irgendeinem Grund, konnte ich in das Bild hinein. Verstehst du?“, frage ich vorsichtig.

Den Teil mit meinen Eltern und der Welt der vielen Türen lasse ich extra aus, nicht dass ich ihn noch mehr verwirre.

„Ich habe keine Ahnung, wieso ich in das Bild hineinkonnte. Genauso wenig weiß ich, wo ich hier bin, was es hier gibt und aus welchem Grund das überhaupt funktioniert hat. Ich habe nicht vor, dir etwas zu tun. Vor allem, da ich nicht einmal weiß, wie ich das hinkriegen sollte“, sage ich ehrlich und ein Lächeln huscht auf meine Lippen.

„Außerdem, ist es denn nicht gut, dass wir bis jetzt noch ungestört weiterlaufen konnten?“, frage ich.

Er blickt wieder auf die Seite und scheint nachzudenken. Mensch ist der hartnäckig! Irgendwann dauerte es mir zu lange, ich stehe auf und will mich gerade umdrehen um ihn allein zu lassen, als er anfängt zu sprechen.

„Ich werde diese Nacht brauchen, um gründlich nachzudenken. Morgen werde ich dir sagen, was ich von alldem denke“, sagt er, legt sich hin und dreht mir seinen Rücken zu.

Das heißt also, dass ich jetzt schlafen sollte. Seufzend blicke ich nach oben und anstatt eines Himmels zu sehen, sehe ich mal wieder nur die Blätter der Bäume. Ich habe ein ungutes Gefühl. Was, wenn er entscheidet, sich lieber von mir fernzuhalten? Was mache ich dann? Wo soll ich hin? Ich spüre, wie mir die Tränen hochkommen, doch schnell beiße ich mir auf die Zunge und versuche positiv zu denken. Ich schaffe das schon irgendwie! Ich, Solveig, werde nicht tatenlos aufgeben. Ich bin nicht umsonst hierhergekommen, irgendwas oder irgendwer hat mir den Zutritt erlaubt. Ich werde schon noch herausfinden, wozu ich hier bin. Mit diesem Gedanken lege ich mich ebenfalls hin, schließe meine Augen und schlafe schließlich ein.

 

ASHRAM

 

Immer mehr rosa Wolken verschwinden mit der Sonne hinter dem Drachenberg. Zurück hinterlassen sie den violetten Himmel, der langsam eine dunkle Decke über die Köpfe der Lebewesen zieht. Das Farbenspektakel überrascht mich immer wieder, wie schön der Planet doch ist, wenn man vergisst, wie gefährlich er sogleich sein kann. Müde atme ich aus und schließe für wenige Sekunden meine Augen.

Wieder und wieder frage ich mich, woher König Lennard solch eine große Macht besitzt, wobei er nur ein Mensch ist. Irgendwas stimmt nicht und schon seit Langem suche ich nach diesem Puzzleteilchen. Zieht der König tatsächlich in den Krieg, hieße es sein Tod, doch das weiß er. König Lennard ist nicht dumm, im Gegenteil. Ich habe den König bei seinem ersten Aufstand kennengelernt. Ich war auf einer Reise und zog neugierig durch ein Dorf. Soweit ich mich erinnern kann, war das vor 23 Jahren, an dem Namen des Dorfes kann ich mich nicht mehr erinnern. Doch ich weiß, dass sich eine Menschenmenge versammelt hatte, indem er in der Mitte auf einem Podest stand und redete. Er sprach etwas von Rechten, dass die Menschen sich nicht verstecken bräuchten und vieles mehr. Was ich am deutlichsten mitbekam war, dass er davon sprach, dass die Menschen einen Herrscher bräuchten. Man hätte sehen müssen, wie bezaubert alle von diesem jungen Mann waren, fast als wären seine Worte Zauberei. Die Menschen jubelten und stimmten ihm zu und dann ging ich weiter. Ein Jahr später wurde er König und nun bereue ich es, ihn nicht schon damals umgebracht zu haben. Er muss also etwas in der Hand haben, etwas wovor die Fabeln Angst haben und darum auf seiner Seite kämpfen müssen.

Meine Hände umfassen immer stärker das Balkon Geländer und ich bemerke den beruhigenden Duft der Oxydenblumen. Oxydenblumen sind zarte, blaue Blumen mit türkisen Stängeln und einen bemerkenswerten Duft, der sogar als Waffe benutz werden kann. Früher wurden die Blumen oft als Verführungsmittel genutzt. Die Blume ist zart, da sie bei Berührung sofort in kleine Einzelteile zerbricht, wie Eis. Wenn sie zerbricht, können die Reste mit bestimmten Kräutern vermischt und verbrennt werden, der Geruch benebelt das Opfer und macht es träge. Der Grund warum es so viele auf meinem Balkon geben kann ist Bahar. Sie wusste, dass ich diese Blumen mag, weswegen sie mir eines Tages als Dank eine Menge von diesen Oxydenblumen auf meinem Balkon verfrachtete. Damit sie auch lange erhalten bleiben, beeinflusste Bahar die Blumen dahingegen, nicht zu zerbrechen.

Ich öffne meine Augen wieder und merke sofort, dass jemand erschienen ist. Es kann weder einer meiner Verbündeten sein noch ein Mensch, es muss ein Fabel sein. Ich schließe wieder meine Augen und lächele in mich hinein.

„Jemand aus dem Hinterhalt zu beobachten ist unhöflich“, sage ich und drehe mich entspannt um.

Meine Arme überkreuzt und das Lächeln verschwunden, sehe ich überrascht einen Pixie vor mir. Ein Pixie ist das seltenste Fabel den es auf den Planten gibt, vielleicht ist dieses hier sogar das Einzige. Ich habe nur einmal einen Pixie gesehen, und zwar als ich in das Engelreich einbrechen wollte, doch das ist eine andere Geschichte.

„Wie komme ich zu dieser Ehre?“, frage ich.

Wie kann es nur so stark und gleichzeitig so klein sein kann? Der Körper, der gerade mal so groß ist wie mein Kopf, wird von große, weißen und Federbedeckten Flügel getragen. Jedes Lebewesen hat Angst vor einem Pixie, auch wenn es mit dessen puderrosa Fell niedlich aussieht. Die schwarzen Knopfaugen des Pixies blicken emotionslos in die meine.

„Das Elfenreich schickt mich“, antwortet es mit einer tiefen Stimme.

Man könnte meinen der Gegensatz zwischen dem Aussehen und der Stimme wäre witzig, doch die Atmosphäre, die das kleine Wesen ausstrahlt, lässt einen respektvoll schlucken.

„Wozu?“, frage ich und runzele die Stirn.

„Wir verfolgen dasselbe Ziel“, sagt es nur kurz angebunden.

„Welches Ziel?“, frage ich verwirrt und gleichzeitig ungeduldig.

„Du weißt, welches Ziel wir meinen.“

Ich kann es mir immerhin denken, doch mein Stolz lässt es nicht zu, es dem Wesen zu leicht zu machen.

„Nein“, sage ich genervt und bereue es sofort.

Das Wesen dreht seinen Stab, den er mit seinen schwarzen Krallen umfasst, nur um zehn Grad und schon durchfährt mich ein Schmerz. Dieser fühlt sich fast so an, als würden zehn Schwerter auf einmal in mich einstechen. Meine Hand schnellt zum Geländer, sodass ich nicht vor Schmerzen umfalle.

„Eine Schande, dass du unsterblich bist. Ein normaler Mensch wäre schon längst tot“, sagt es verächtlich.

„Kein Grund dein Zauberstab zu schwingen“, hauche ich und stelle mich wieder aufrecht hin.

„Deine Unfreundlichkeit bedeutet irgendwann dein Tod.“

„Hoffen wir es doch“, belustigt sehe ich dem Pixie wieder in die Augen.

„Wir wollen das Ei“, fährt es unbeirrt fort.

„Da könnt ihr euch hinten anstellen. Ihr seid nicht die Einzigen, die das Prachtstück haben wollen.“

„Das ist nicht unsere Art. Wir bieten euch ein Angebot an.“

„Ich höre?“, frage ich interessiert.

Ein Angebot vom Engelreich klingt gut, die Engel auf unserer Seite zu haben, würde den Tod des Königs bedeuten. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass sie wirklich mit uns kämpfen, ist als würde auf einmal eine der zwei Monde am Himmel herabfallen.

„Wir wissen, wo das Ei ist und wir wissen, wer der auserwählte Krieger ist“, erklärt es langsam.

„Woher wisst ihr das?“, frage ich und runzle die Stirn.

„Wir werden euch das Ei und den Krieger bringen, doch dafür müsst ihr die beiden ausbilden. Der Krieg wird bald anfangen, wenn das Wesen und der Krieger bis dahin nicht vollsten ausgebildet sind, werdet ihr verlieren“, spricht es weiter und ignoriert meine Frage.

„Aber heißt es nicht, dass die Seite, die das Ei besitzt, automatisch gewinnt?“, frage ich.

„Nicht mehr. König Lennard besitzt eine Macht, die viel größer ist als die des Eies.“

„Wie ist das möglich? Das Ei wurde ursprünglich des Mondes Cyras gezüchtet. Was kann stärker sein als die Macht des Kindes eines Mondes?“

„Es ist nicht meine Aufgabe dir das zu erklären. Meine Aufgabe lautet nur, dir dieses Angebot zu machen“, spricht es, ohne die Stimme zu verändern.

„Ihr bringt uns das Ei mit dem Krieger und wir werden sie ausbilden?“, wiederhole ich laut.

„Genau.“

„Aber was habt ihr davon?“, frage ich.

„Frieden.“

„Das ist alles?“, frage ich noch einmal, da mir das etwas merkwürdig vorkommt.

„Wir wollen den Krieger und das Wesen am Ende der Ausbildung sehen.“

Es bleibt einige Minuten still, während ich nachdenke. Alles, was wir tun müssen ist, die Beiden auszubilden. Kann das schwer sein? Aber das hätten wir sowieso tun müssen, wenn wir sie gefunden hätten. Ich werde den Gedanken nur nicht los, dass es da noch etwas geben muss. Wieso sollten die Engel sich die Mühe machen das Ei zu finden und es sogar herzubringen? Und alles, was sie am Ende wollen ist, dass man sie ihnen am Ende vorbeibringt und sie ihnen vorstellt?

„Wie lange wird es dauern, bis Ihr sie hergebracht habt?“, frage ich nachdenklich.

„Ich werde sie persönlich zum Schloss bringen, bevor vier Monde vergehen.“

„Also gut. Ihr bringt sie zu uns, wir werden sie ausbilden und bringen sie im Anschluss für ein Willkommensgruß zu euch“, wiederhole ich noch einmal.

Das Pixie nickt und hegt Anstalt zu gehen, doch da stockt es und dreht sich wieder ein wenig zu mir um.

„Vergiss nicht Unsterblicher, wenn du die Abmachung nicht hältst, wird etwas passieren, dass du nie erwartet hättest“, droht das Pixie.

Dabei hat er das Wort „Unsterblicher“ so verächtlich ausgespuckt.

„Pixie, was könnte eine schlimmere Strafe sein als die Unsterblichkeit?“, frage ich belustigt und spreche dessen Namen mit derselben Verächtlichkeit aus.

Mir ist klar, dass sie mir mit nichts drohen können und das wissen sie ebenfalls. Ich habe nichts mehr zu verlieren auf dieser Welt und die größte Strafe habe ich bereits erleiden müssen mit meiner Unsterblichkeit. Als ich früher mit dem Magier befreundet war, hat er mir erzählt, ich würde dem Engelreich eine Gefahr darstellen. Sie hätten Angst, ich könnte mich gegen sie stellen, weil ich nicht sterben kann und sie schon.

„Unterschätze das Engelreich nicht“, sagt es nur und fliegt, ohne noch einmal zurückzublicken, in Richtung des Sonnenunterganges.

 

MEHMET

 

Ich höre, wie sich das Mädchen hin und her wälzt und frage mich, wie sie so schnell einschlafen konnte. Ich drehe mich zum Feuer um und blicke in die helle Flamme. Wieso hat uns noch niemand angegriffen? Es hätte sich schon längst irgendein Fabel gezeigt, wenn das Mädchen nicht da wäre, selbst die ungefährlichen. Aus diesem Grund bin ich so misstrauisch. Irgendwas stimmt nicht und es muss etwas mit ihr zu tun haben. Wer ist sie wirklich?

Je länger ich in die Flammen starre, desto schwerer werden meine Augenlider. Und bevor ich einschlafe, flüstert eine Stimme mir ins Ohr: „Erinnere dich“.

„Komm her mein Kleiner“, sagt Mutter und streckt ihre Hand nach mir aus.

Mama sieht nicht gut aus. Wieso ist ihre Haut so bleich? Weshalb hustet sie andauernd so stark? Warum sind ihre Beine so schwach, dass sie mich oft fragen muss, sie zu stützen, damit sie laufen kann? Was ist los mit ihr? Bekümmert laufen meine kleinen Füße zu ihr ans Bett, dort vergrabe ich meinen Kopf in ihre Brust. Sofort fällt mir auf, wie dünn sie doch geworden ist. So dünn, dass ihre Rippenknochen sich in meine Wangen pressen.

„Mama, geht es dir nicht gut?“, frage ich sie ganz leise und hoffe so stark, dass sie nur lacht und sagt, es wäre alles in Ordnung.

„Nein Mehmet, Mama geht es nicht gut“, antwortet sie und muss wieder stark husten.

„Was hast du denn?“, frage ich sie und beiße mir auf die Lippen, sodass ich mir das Weinen verkneife.

„Ich höre diese Stimme“, flüstert Mama und blickt plötzlich aus dem Fenster unseres Hauses.

„Stimme?“, frage ich, vielleicht habe ich mich verhört.

„Manchmal flüstert sie mir etwas zu, andere Male höre ich ein Schluchzen und Weinen“, sagt sie abwesend und blickt weiterhin mit ausdruckslosen Augen aus dem Fenster.

Das Zimmer ist dunkel, nur das Licht der Monde gibt mir die Möglichkeit, Mama anzusehen. Ich spüre, wie sich eine Gänsehaut auf mir ausbreitet. Mama macht mir Angst, sie sieht aus, als würde sie mit sich selbst reden, als wäre sie verrückt.

„Mama, ich kann dir helfen, hörst du mich?“, frage ich sie und versuche ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.

Doch sie schaut immer noch aus dem Fenster, als würde sie mich nicht hören können. Wieso kann sie mich nicht hören? Wieso schaut Mama mich nicht an? Meine Augen werden glasig, bis ich spüre, wie heiße Tränen meine Wange hinunterlaufen. Ich bekomme es mit der Angst zu tun. Was, wenn Mama mich verlässt? Hat sie auch Angst, mich zu verlieren? Plötzlich werde ich wütend, weil sie einfach nicht wiederzuerkennen ist.

„Hör mir endlich zu Mama“, sage ich und rüttele sie kurz, keine Reaktion. „Ich werde nicht zulassen, dass du mich allein lässt!“, schreie ich sie nun an und schüttele sie hin und her.

„Bitte schau mich an!“, sage ich und weine verzweifelt.

„Die Banshee“, flüstert sie plötzlich und ich verstumme.

Was sagt sie da? Die Banshee? Was ist das? Mit gerunzelter Stirn blicke ich Mama an.

„Sie wird bald kommen und mich holen. Die Banshee. Sie wird kommen und mich mitnehmen.“

Schwer atmend drehe ich mich zum Fenster und versuche etwas oder jemanden in der Dunkelheit zu erkennen, aber ich sehe niemanden. Was sieht Mama, was ich nicht sehen kann?

„Wer ist das, Mama? Wer ist die Banshee?“, frage ich und hoffe eine Antwort zu bekommen.

„Sie wird mir die Schmerzen nehmen“, sagt sie und wendet ihren Blick nun mir zu.

„Hab keine Angst, komm zu mir“, flüstert sie und lächelt ein wenig.

Unsicher blicke ich von ihr zum Fenster und wieder zurück zu Mama.

 

„Du machst das falsch. Schau her, so muss das aussehen“, kommandiert Jorek herum und zeigt besserwissend auf seinen aus Holz geschnitztes Messer.

Mit gerunzelter Stirn blicke ich abwechselnd meinen besten Freund und dann den Holzbalken in seiner Hand an. Seufzend lege ich das Messer zur Seite und blicke Jorek an. Vielleicht weiß Jorek, wer die Banshee ist, immerhin ist er schon älter als ich.

„Sag mal Jorek, hast du schon einmal was von einer Banshee gehört?“, frage ich ihn vorsichtig.

Mit großen Augen blickt er mich plötzlich an und legt nun auch seinen Messer weg.

„Die Banshee? Wie kommst du denn darauf?“, fragt er mich.

„Habe die anderen Jungs über sie reden gehört und wollte wissen, wer das ist“, sage ich schulterzuckend und verheimliche ihm, dass ich es in Wirklichkeit von meiner Mama gehört habe.

„Die Banshee ist so was wie die Todesfee. Man sagt, wer sie weinen und schreien hört, stirbt. Noch nie hat sie jemand gesehen, aber die Leute, die meinen sie hätten sie weinen gehört, sind nach wenigen Tagen wirklich gestorben. Viele sagen man erkennt sie dadurch, dass sie rote Augen hat, wegen dem ständigen Weinen“, erklärt er etwas ängstlich.

„Du lügst! So was gibt es doch gar nicht! Als ob jemand gleich sterben würde, wenn er jemanden weinen hört! Was für ein Schwachsinn!“, beschwere ich mich lauthals.

Wütend stehe ich auf und laufe aus seinem Zimmer direkt nach draußen und lasse Jorek verwirrt zurück. Meine Hände sinken in meine Hosentasche und ich grüble über das nach, was Jorek gesagt hat. Wenn er wirklich recht hat, dann hieße das, dass Mama bald sterben wird. Mit einem Kloß im Hals blicke ich auf den verdreckten Boden, laufe einfach weiter und versuche den Gedanken von Mamas Tod zu verdrängen.

Nach einiger Zeit höre ich meine eigenen Schritte und blicke auf. Wo sind denn die ganzen Menschen hin? Wo bin ich? Wie es aussieht, bin ich in irgendeine Gasse eingebogen. Mama hatte mir verboten auf Straßen allein zu laufen, sie meinte ich könnte verschleppt werden. Sofort laufe ich panisch die Straße entlang, weiß nicht wohin, aber ich hoffe es bringt mich wieder in die Menschenmenge.

Plötzlich höre ich ein lautes Summen und bleibe wie angewurzelt stehen. Ein Schauer läuft mein Rücken hinab und ich bin schockiert, dass ich eigentlich gar nicht stehenbleiben wollte, sondern meine Füße es von selbst taten. Das Summen verwandelt sich zu einem Singen und ich erkenne die Stimme einer alten Frau. Kratzig und mühevoll singt jemand das Lied des Eies.

Ich erinnere mich, dass Mama es mir einmal heimlich vorgesungen, aber verboten hat es jemals selbst zu singen. Es handelt von einem Ei, dass von dem Mond Cyra gezüchtet worden ist und wenn es schlüpfen sollte, dann würde das Wesen den König vom Thron stürzen. Als der König von dem Lied gehört hat, verbot er es auf der Stelle und erteilte seinen Soldaten den Befehl, jeden Menschen öffentlich zu töten, der es wagt, es zu singen oder zu summen. Obwohl Mama mir gestanden hat, dass das Lied früher jeden Menschen die Hoffnung auf Freiheit und Sicherheit gegeben hat, sagte sie mir ich solle es auf keinem Fall ausprovozieren, da es mein Leben kosten könnte.

Mit einer Gänsehaut und verschreckten Augen blicke ich in die dunkle Sackgasse, woher das Singen kommt und erkenne die Umrisse einer kleinen, gebückten Person.

„Gefällt dir das Lied?“, fragt die Alte mich plötzlich.

Erschrocken spüre ich meinen schnellen Puls und habe das Bedürfnis schnell wegzulaufen, doch schaffe ich es einfach nicht, meine Füße zu bewegen.

„Du brauchst keine Angst zu haben, komm doch näher“, höre ich diese kratzige Stimme sagen.

Plötzlich fangen meine Füße an zu laufen, doch bewegen sie sich in Richtung der alten Frau. Irgendwann bleiben sie stehen, schon so nah, dass ich mehr als nur die Umrisse erkennen kann und trotzdem weit genug entfernt, dass sie mich nicht berühren kann. Sie trägt einen schwarzen Umhang über ihren Körper mitsamt ihrem buckeligen Rücken und eine Kapuze verdeckt ihr Gesicht so, dass man es nicht sehen kann.

„Kennst du das Lied?“, fragt sie mich.

Ich schaffe es nur leicht zu nicken, da ich viel zu viel Angst habe, etwas zu sagen.

„Und gefällt es dir?“

Stumm blicke ich sie an und weiß nicht, was ich tun soll. Einerseits spüre ich, dass ich keine Angst vor ihr zu haben brauche, anderseits schaffe ich es einfach nicht ein Ton herauszubekommen. Ich erinnere mich, dass Mama es mir verboten hat. Wie eine Vision schnellt eine andere Erinnerung in meinen Kopf. Mit meinen eigenen Augen habe ich damals gesehen, wie der König den Befehl erteilt hat, Männer auszupeitschen und verbluten zu lassen. In meinem Kopf höre ich das verzweifelte Weinen von einer Frau, dessen Mann auf einem Platz ausgepeitscht worden ist und die Angst vor der alten Frau verschwindet wie im Nu. Sicher und mit ernstem Gesichtsausdruck nicke ich.

„Interessant“, flüstert sie.

Und obwohl ich das Gesicht der alten Frau weder sehen noch irgendwas erkennen kann, spüre ich, dass sie mich mustert.

 „Ich auch“, gibt sie dann schmunzelnd zu.

„Dein Name ist Mehmet, habe ich recht?“, fragt sie mich nun.

Woher weiß sie, wie ich heiße? Doch bevor ich noch weiter darüber nachdenken kann, sagt sie etwas, womit ich nicht gerechnet habe.

„Ich habe gewusst, dass du hier auftauchen wirst.“

„Wie können Sie so etwas wissen? Dafür müssten Sie in die Zukunft sehen können“, sage ich sicher.

Neugierig versuche ich ihr Gesicht unter der Kapuze zu erkennen, doch sehe ich nur ein Schatten.

„Vielleicht kann ich das ja auch Mehmet.“

„Woher kennen Sie meinen Namen?“, frage ich sie.

„Ich kenne deine Mutter“, sagt sie und ihre Stimme bricht ab.

„Aber woher…?“

„Shst, das Schicksal hat dich nicht umsonst hier hergebracht Mehmet. Lass uns die Zeit für keine unnötigen Fragen vergeuden, sondern für die Zukunft und deine Aufgabe.“

„Was für eine Aufgabe?“, frage ich sie verdutzt.

Plötzlich geht sie auf ihre Knie, sodass wir auf einer Höhe sind, und legt ihre verschrumpelten Hände auf ihre Kapuze, um sie herunterzuziehen. Ich blicke in glühend rote Augen, ihre Pupille ist nur ein kleiner schwarzer Punkt. Sie besitzt verquollene rote Augenringe und ihr Gesicht ist voller Falten. Ich spüre weder Angst noch Abscheu, eher Mitleid. Die alte Frau macht den Eindruck, als würde sie jeden Tag nur weinen. Und dann melden sich die Alarmglocken in meinem Kopf.

„Nicht umsonst hast du gesehen, wie der König Menschen auspeitscht und umbringt. Nicht umsonst wirst du in der Zukunft auf dich allein gestellt sein. Du wirst lernen selbstständig zu sein und mit dem Leben umgehen zu können. Irgendwann wirst du etwas erleben, was du für unmöglich hältst und wirst dir unsicher sein, was du tun sollst. Dann wirst du dich an meine Worte erinnern müssen Mehmet. Deine Aufgabe besteht darin, dem Krieger zu helfen, hörst du?“

„Du bist die Banshee“, sage ich mit großen Augen und Herz pocht schnell gegen meine Brust.

„Helfe dem Krieger!“, sagt sie streng und steht schnell auf.

„Wieso meine Mutter?“, schreie ich sie zornig an und ignoriere ihren Monolog.

„Das ist dein Schicksal.“

Und plötzlich ist sie weg, einfach verschwunden.

 

Meine Kehle fühlt sich wie zugeschnürt an. Ich erwache aus dem Schlaf und stemme mich laut schnaufend hoch. Schwer atmend blicke ich das schlafende Mädchen an und denke nur an das, was die Banshee mir gesagt hat. „Helfe dem Krieger“, „Das ist dein Schicksal“. Als sich mein Herzschlag etwas beruhigt, lege ich mich wieder zurück und blicke hoch auf das Geäst der Bäume.

Wieso habe ich davon geträumt? War das ein Zeichen? Soll ich ihr also mein Vertrauen schenken? Aber was die Wichtigste Frage in meinem Kopf ist: Ist sie der Krieger, der den Frieden auf die Welt bringen soll?

 

SOLVEIG

 

Als ich heute aufgewacht bin, hat Mehmet mir zum Frühstück ein paar selbst gepflückte Beeren angeboten. Die Tatsache, dass er überhaupt mit mir spricht und mir dann auch noch etwas von seinem Essen abgeben möchte, verwunderte mich sehr. Schließlich sind wir weitergelaufen und er hat angefangen über den Wald zu reden, ohne dass ich ihn danach gefragt habe.

Er erzählte mir, der Wald wäre kein gewöhnlicher Wald, sondern ein Fabel. Der Boden, auf dem ich laufe, ist der Rücken eines schlafenden Fabels. Die Bäume, die so hoch emporragen, sei dessen Fell und die bösartigen Fabeln, die sich hier ausgebreitet haben, sei Gift. Mehmet erklärte mir, der große Wald sei früher von Ort zu Ort gewandert, und als es sich hier ausruhte, machten die Fabeln es ihm unmöglich weiter zu wandern. Die bösen Seelen der Fabeln vergifteten den Wald und ließen es in einen tiefen Schlaf fallen. Im Laufe der Zeit kamen immer mehr Fabeln hier her und sind nun in diesem Wald zu Hause.

Gegen Mittag, so scheint es mir, falls es hier überhaupt so was wie einen Zeitrahmen gibt, brachte er mir so was wie ein totes Kaninchen mit. Der Unterschied zu diesem und dem Kaninchen von zu Hause war der, dass dieser dreimal so lange Füße und Ohren hatte und das Tier kein Fell, sondern eine violette Hautfarbe besaß. Eigentlich esse ich kein Fleisch, weswegen es mir auch auf den ersten Blick schwer fiel das Kaninchen tot zu sehen. Doch mein Hunger war so groß, da wir schon seit einigen Tagen nichts Richtiges mehr gegessen haben, dass ich das violette Kaninchen aß, nachdem Mehmet es über einem Feuer gegrillt hatte.

Nun, nachdem wir gegessen haben, laufen wir weiter und ich frage mich immer und immer wieder, wieso er auf einmal so nett zu mir ist. Ich werde ihn auf jeden Fall nicht danach fragen. Nicht, dass er dann denkt, er müsse wieder den Zungenschlucker spielen. Nicht, wenn ich gerade erst wirklich etwas von dieser Welt erfahre.

„Sag mal, wurdest du schon einmal von einem Fabel angegriffen?“, frage ich ihn und hebe mein Kleid hoch, um über einen großen Stein zu springen.

„Ja, vor ein paar Tagen sogar erst“, sagt er und dreht sein Gesicht ein wenig in meine Richtung.

Geschockt blicke ich ihn an.

„Oh mein Gott, was ist passiert? Was war das für ein Fabel? Wie sah es aus? Musstest du kämpfen?“

„Es war ein Werwolf“, antwortet er und sein Gesicht wird ein wenig bleich.

Ein Werwolf? Etwa so ein Werwolf, wie in den Filmen? Ich muss mir ein Grinsen verkneifen, da allein die Vorstellung eines Werwolfes lustig ist. Aber die Tatsache, dass er das so ernst gemeint hat zeigt, dass es wohl stimmen muss.

„Er hat mich hier in diesem Wald angegriffen, kurz bevor du aufgetaucht bist, dann ist er verschwunden“, antwortet er.

„Wie sah es aus?“, frage ich ihn neugierig.

„Werwölfe sind sehr gefährliche Geschöpfe. Sie besitzen zwei Hinterspringpfoten und zwei Vorderpfoten. Wobei er beliebig mit vier Beinen oder mit zwei rennen kann und er hat messerscharfe, lange Krallen an den Vorderpfoten. Ihr Fell, so wie seine Kopfform, gleicht die eines normalen Wolfes. Nur seine Augen sind strahlend blau und seine Zähne schärfer als seine Krallen“, beschreibt er.

„In unserer Welt wird erzählt, dass Menschen, die von einem Werwolf verletzt werden, sich auch in eines verwandeln. Ist das hier auch so?“, frage ich ihn.

„Teilweise, ja. Die Werwölfe entstanden vor tausenden Jahren, als ein Mensch einen verhexten Wolf tötete, aß und wegen des vergifteten Blutes sich selbst zu einem verwandelte. Aus Wut fing er an jeden Menschen, der ihm in die Quere kam, zu töten. Irgendwann fand die Hexe den Werwolf wieder und erklärte, dass er einen Menschen beißen oder verletzen müsse, aber der Mensch nur zum Werwolf werde, wenn er eine schlechte Seele besitze“, erklärt Mehmet.

„Eine Hexe? Es gibt Hexen?“, frage ich erstaunt.

Mit gerunzelter Stirn blickt er mich an und sieht aus, als wäre es etwas ganz Natürliches, dass es Hexen gibt.

„Selbstverständlich. Als es ein Krieg im Elfenreich gab, teilten sie sich in zwei Gruppen ein: Die Guten blieben Elfen und die Bösen wurden zu Hexen umgetauft. Als die Hexen jedoch den Krieg verloren und aus dem Elfenreich flohen, verloren sie ihre schöne Gestalt und verwandelten sich zu hässlichen Geschöpfen, besitzen aber dieselben Kräfte wie die Elfen.“

„Es gibt also auch Elfen? Was ist mit Feen?“, frage ich und steigere mich immer mehr in das Thema hinein.

Plötzlich bleibe ich wie angewurzelt stehen, da ich etwas höre. Es ist kein gewöhnliches Geräusch, es ähnelt einem Herzschlag und ich kann es so deutlich hören, als würde es genau neben meinem Ohr schlagen. Die Stimme von Mehmet gerät immer mehr in den Hintergrund, bis ich ihn gar nicht mehr hören kann. Dafür höre ich nur noch den lauten, gleichmäßigen Herzschlag. Ich drehe mich nach links, woher die Richtung kommt und habe auf einmal das Bedürfnis, dem Laut zu folgen. Stumm laufe ich dem Geräusch nach, stoße Äste und Gebüsche aus dem Weg und laufe sicher in eine Richtung.

Ich kann das Gefühl, dass sich in mir bildet nicht genau beschreiben. Dennoch breitet sich ein immer aufgeregteres Gefühl in mir aus und doch weiß ich nicht wieso. Wieso laufe ich einem Geräusch hinterher? Als mich plötzlich etwas an der Hand festhält, fahre ich erschrocken herum.

„Wo gehst du hin?“, fragt mich Mehmet.

Und so schnell, wie der Herzschlag gekommen ist, so schnell ist es wieder verschwunden. Meine Hand schnellt zu meiner Brust und ich bemerke meinen schnellen Puls. Mich durchfährt ein Stich im Herz, so ähnlich wie ein Herzschmerz wegen Liebeskummer. Was das wohl war? Soll ich Mehmet davon erzählen?

„Ich wollte ein Platz zum Ausruhen finden, meine Füße tun schon weh“, lüge ich angestrengt.

Da er in den letzten paar Stunden den Eindruck erweckt hat, als würde er mir vertrauen und er mir so viele Dinge freiwillig erzählt hatte, beschloss ich ihm die Wahrheit zu ersparen. Nicht, dass er es sich dann wieder anders überlegt.

„Jetzt schon?“, fragt er etwas unzufrieden.

Ich plustere meine Wangen auf und fange an demonstrativ meine Beine zu massieren.

„Haben wir es denn eilig?“, frage ich ihn gespielt erschöpft.

Ohne auf seine Antwort zu warten, laufe ich instinktiv ein Stück weiter und finde eine kleine Wiese, wo es keine übergroßen Büsche oder Steine gibt. Gemütlich setze ich mich hin und sehe zufrieden zu, wie es Mehmet mir gleichtut.

„Also, wo waren wir stehen geblieben? Stimmt, gibt es denn auch Feen?“, frage ich ihn.

Gerade als er anfangen möchte zu reden, höre ich wieder das Herzklopfen und mein Kopf schnellt zur Seite, woher ich es höre.

„Ist was?“, höre ich Mehmet sagen.

„Hörst du das auch?“, frage ich ihn nun seufzend und verzweifelt.

Er sieht angestrengt aus, als er versucht dasselbe heraus zu hören wie ich. Aber vermutlich hört er nur das Plätschern des Flusses.

„Da ist so ein Klopfen, so wie ein Herzschlag“, erkläre ich und versuche etwas in der Ferne zu erkennen.

Nun spüre ich auch, dass dieses etwas, von dem ich den Herzschlag höre, möchte, dass ich es finde. Keine Anforderung, keine Bitte, kein Sagen, nur eine telepathische Aussage. Ich höre keine bestimmte Stimme in meinem Kopf, sondern spüre eher das Gefühl des Wesens, dessen Herz nun etwas schneller pulsiert. Es möchte von mir gefunden werden. Ohne Protest stehe ich unwillkürlich auf und laufe sofort in die Richtung.

„Halt, wo willst du hin?“, höre ich Mehmet aufgebracht rufen.

Keine Minute später hält er mich wieder an meine Hand fest.

„Ich muss dahin“, erkläre ich fordernd und versuche meine Hand aus seiner zu ziehen, damit ich weiterlaufen kann.

„Wohin?“, fragt er nun drängender.

„Das weiß ich selbst nicht. Dorthin, woher das Klopfen kommt.“

Ich schaue ihm sicher mit meiner Entscheidung in die Augen und erkenne, dass er angestrengt nachdenkt, ehe er mich loslässt und mir dicht folgt, als ich weiterlaufe. Immer stärker, deutlicher und schneller wird das Klopfen, was bedeutet, dass ich bald da bin. Meine Füße gehen nicht mehr, sondern wechseln vom Laufen zum leichten Rennen. Der Drang, das Wesen endlich zu finden, breitet sich wie Adrenalin in meinem Körper aus. Ich spüre eine Freude sich in mir ausbreiten und erreiche eine große weite Wiese mit einem Lächeln.

Mitten in der Wiese liegt etwas. Irgendwas ist versteckt unter dem blutroten, hohen Gras. Mit langsamen Schritten, um die Freude auszukosten, laufe ich hin und werde von Schritt zu Schritt verwirrter von dem Anblick, dass ich da sehe. Es ist ein Ei. Kein gewöhnliches, kleines Hühnerei, sondern ein etwa vierzig Zentimeter großes Ei. Mit großen Augen bleibe ich davor stehen und knie runter. Vorsichtig, als wäre es zerbrechlich, berühre ich die weiße kalte Schale und sie bekommt sofort einen gelblichen Teint, als meine Fingerspitzen sie berühren. Verschreckt rücke ich zurück und genauso wie mein Herzschlag, höre ich seines auch rasen. Ich merke, dass es nicht schlimm ist, dass das Ei seine Farbe geändert hat, und fange an zu lächeln. Im selben Moment erkenne ich, dass das Wesen im Ei sich auch freut.

Mit einer übergroßen Freude nehme ich das Ei in meine Hände und ziehe es auf meinen Schoss. Zuerst dachte ich, es wäre so schwer wie ein Stein, aber verwundert mache ich die Erkenntnis, dass es so leicht wie eine Feder ist.

„Findest du das nicht genauso unglaublich Mehmet?“, frage ich ihn und drehe mich freudig um.

Sprachlos sehe ich zu, wie Mehmet sein Schwert zückt und dessen Spitze mir an den Kehlkopf hält.

„Du bist der Krieger.“

Kapitel 5

 

Solange wir die Wahrheit nicht entdecken, gibt es keinen Ausweg aus unseren Problemen und unserem Leiden. Die Lösung ist die direkte Erfahrung der Wahrheit in der Stille des Geistes, in der Ruhe vollkommener Aufmerksamkeit, in der Offenheit äußerster Empfindsamkeit.

 

Krishnamurti, Jiddu Krishnamurti - Freiheit und wahres Glück

 

ASHRAM

 

Es gibt Dinge auf der Welt, nach dem weder der Mensch noch der Fabel streben sollte. Eines dieser Dinge ist zum Beispiel die Unsterblichkeit. Diese überdimensionale Macht führt entweder ins Verderben der eigenen Seele oder das Ausrotten anderer. Wer die Unsterblichkeit wünscht, giert nach Macht. Wer sie schlussendlich bekommt, verwandelt sich in ein Monster. Eine Gefahr für sich selbst und vor allem der Welt.

Ich habe vieles in meiner Zeit als Unsterblicher erlebt. Es wäre eine Lüge, wenn ich sagen würde, dass mir diese Macht an manchen Tagen nicht aus den Fingern geglitten wäre. Genauso wäre es falsch zu sagen, dass ich es manchmal bereue, das Fleisch dieser Meerjungfrau gegessen zu haben. An manchen Tagen spürst du diese nie endende Energie durch deine Adern fließen. Du spürst, dass dir niemand was anhaben kann und es für dich ein Leichtes ist, gegen deinen Gegner zu gewinnen. Man weiß, dass nach egal wie vielen Schlägen oder Messerstichen ins Herz, man immer wieder aufsteht und immer noch kräftig ist. Doch oft scheint dir diese Macht ein Streich zu spielen. Während die gewonnenen Freunde am Alter sterben, wird die Anzahl an Feinden immer größer. Du siehst wie eine Geliebte immer mehr weiße Haare bekommt, während du immer noch so aussiehst, wie am ersten Tag eures Kennenlernens. Aber der größte Schmerz an der Unsterblichkeit ist, dass du nie die Möglichkeit haben wirst, sterben zu dürfen. Ich kann machen was ich will, ich kann nicht sterben und das übt sich auf die Seele aus.

Es vergingen ein paar Jahre, nachdem ich das Fleisch der Meerjungfrau gegessen hatte, in denen ich mir nicht sicher war, was ich bin. Ich wusste, dass keine Krankheit, selbst das Stechen ins Herz, mich umbringen konnte. Jedoch war ich mir sicher, dass ich irgendwann wieder sterblich werden würde, wie lange dies dauert, wusste ich nicht. Erst durch Garun wurde mir meine Macht erklärt und meine endlose Zukunft vorausgesagt. Am Anfang verstanden der Magier und ich uns hervorragend, wir verbrachten viel Zeit miteinander. Er erzählte mir viel über sich selbst, seiner Familie und seiner Magie. In der Zeit, die er nicht mit seiner Familie verbrachte, gingen wir durch das Land, erkundeten Ruinen oder halfen den Menschen in ihren Dörfern. Eines Tages jedoch verlangte er von mir etwas sehr Gefährliches zu tun, hingegen ich ihn dann ebenfalls um etwas bat. Wir schworen uns also gegenseitig etwas, das Garun am Ende, im Gegensatz zu mir, nicht einhielt. Danach gingen wir getrennte Wege, in dieser Zeit verlor ich meine Kontrolle über die Macht und über mich selbst. Ich verwandelte mich in ein Monster.

„Du scheinst wieder über die Vergangenheit nachzudenken“, höre ich plötzlich eine tiefe Stimme.

Ich wache aus meinen Gedanken auf und blicke Gillis im Türrahmen stehen. Gillis gehört zu den sechs berühmten Vampirgeschwistern: Bahar, Gillis, Tjard, Indigo, Kayla und Madlen. Wobei es nun nur noch fünf sind. Sowie Bahar die Fähigkeit besitzt, ihren Geist von ihrem Körper zu trennen und somit andere Lebewesen zu beeinflussen, besitzt Gillis die Macht die Gefühle, vor allem Schmerzen, anderer zu erkennen und Wunden zu heilen.

„Scheint so“, sage ich nur.

Normalerweise ärgere ich mich immer, wenn Gillis meine Gefühle durchschaut, das lässt jede Person schwach wirken. Doch da ich schon daran gewohnt bin, lasse ich es zu und stelle mich meinen Gefühlen, wie er es immer gerne sagt.

„Möchtest du darüber reden?“, fragt er besorgt und streicht eine blonde Strähne hinter sein Ohr.

Alle fünf Geschwister sind vollkommen verschieden. Bahar ist in einem Moment verträumt und in dem anderen aufgedreht. Gillis hingegen sorgt sich um viele Menschen und besitzt viel Geduld. Manchmal scheint er zu empfindlich zu sein, doch auf keiner naiven Art und Weise, eher wenn es darum geht jemanden zu schützen. Zu diesem Privileg kommen aber nicht viele Personen. Gillis ist einer der klügsten Vampire, die ich kenne.

„Nein danke“, antworte ich freundlich.

Ich drehe ihm den Rücken zu und öffne die Verandatür, um frische Luft zu schnappen. Leise höre ich seine Schritte mir hinterherlaufen.

„Ich habe viel über das Ei nachgedacht“, sagt er beiläufig und stützt seine Arme neben mir am Geländer ab.

Eine weitere Eigenschaft von ihm: die Nachdenklichkeit. Er denkt viel zu viel und zu lange über alles nach. Manchmal ist das ein Vorteil, aber oft verzweifelt er dann an seiner Grübelei.

„So? Und zu welchem Entschluss bist du gekommen?“, frage ich.

„Als du uns den Befehl erteilt hast, das Ei zu suchen, habe ich dies in verschiedenen Dörfern gemacht“, erklärt er. „Und mir ist aufgefallen, dass in jedem Dorf, in dem ich gewesen bin, alle Menschen dasselbe Gefühl besitzen.“

„Und das wäre?“

„Hoffnung. “

Daraufhin runzele ich die Stirn. Ich hätte mir vorstellen können, die Menschen sind wütend auf den König, oder haben Angst vor den Soldaten. Aber Hoffnung?

„Sie besitzen diese feste Hoffnung in sich, dass jemand sie da rausholt. Die Menschen sind sich fast sogar sicher, dass er kommen und sie aus ihrer Situation befreien wird“, sagt er mitfühlend.

Die Monarchie startete schon vor hundert Jahren, wenn ich mich recht daran erinnern kann. Damals regierte der Großvater von König Lennard. Dieser jedoch war im Gegensatz zum jetzigen König die Freundlichkeit in Person. Vierzig Jahre später war der Vater an der Reihe und wiedermal ungefähr vierzig Jahre später König Lennard höchstpersönlich. Seit er König ist, also seit zwanzig Jahren, wurden die Menschen nicht mehr wie richtige Menschen behandelt. Die Freiheit, Sicherheit und Freundlichkeit sind verschwunden gegangen und die Menschen wurden zu Sklaven.

„Du sagtest, er wird kommen und sie befreien. Von wem redest du?“

„Von dem Krieger“, sagt er, als wäre es selbstverständlich.

„Du meinst den Krieger, der hier demnächst mit dem Ei auftauchen soll?“, frage ich etwas belustigt.

Die ganze Hoffnung in eine Person zu stecken klingt für mich absurd.

„Natürlich, das ist schon all die Jahre lang die Rede. Wenn der Krieger auftaucht, erwacht das Ei und der Frieden wird kommen“, sagt er aufrichtig.

Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass es Schwachsinn ist. Aber Gillis vertraut eben wie die Menschen auf diese Sage, und wenn ich ihre Hoffnung zerstöre, wird ihr Wille verloren gehen. Hoffnung macht die Menschen stark und Stärke braucht man im Krieg. Für mich ist es schwer daran zu glauben, dass durch den Krieger und dem Ei der Frieden herbeigeführt wird. Ich stehe in einer Position, in der sich alle nach mir richten. Also ist es mir nicht erlaubt, diese naive Ansicht zu teilen. Am Ende, wenn der Krieger und das Ei versagen sollten, wenden sie sich an mich und dann kann ich mir nicht erlauben die Schwäche zu zeigen, dass ich mich eigentlich auch nach der Sage gerichtet habe. In diesem Zeitpunkt muss ich den Menschen und Fabeln, die an meiner Seite kämpfen, das Gefühl geben, dass die Hoffnung noch nicht vorbei ist.

„Ich kann es kaum abwarten den Krieger und das stärkste Tier kennenzulernen“, gibt Gillis aufgeregt zu.

„Lassen wir uns überraschen“, sage ich nur dazu.

 

SOLVEIG

 

Ich höre das Schlagen seines Herzens und das Rasen seines Pulses. Ich spüre seine Freude mich gefunden zu haben, und Lust aus dem Ei herauszukommen. Hätte Mehmet sein Schwert nicht so überraschend an meinen Kehlkopf gehalten, bin ich sicher, hätte ich sogar mit dem Wesen kommunizieren können. Ich weiß nicht, aus welchem Grund er auf einmal sein Schwert gezuckt hat. Vielleicht habe ich ihn ja verärgert, oder er fürchtet sich vor mir. Womöglich bin ich zu schnell hierhergelaufen, ohne es ihm erklärt zu haben. Aber ist das ein Grund seine Waffe herauszuholen?

„Was hast du vor?“, frage ich und beiße mir nervös auf die Lippe.

Ich versuche mich nicht zu bewegen, ein kleines bisschen nach vorne und schon schneidet sein Schwert mir in die Kehle.

„Wieso hast du es mir nicht gesagt!“, schreit er mich vorwurfsvoll an.

Seine Augen sind nicht wieder zu erkennen. Sie strahlen eine eiserne Kälte heraus und ich weiß sofort, dass es keine Chance für mich gibt, ihm irgendwie zu widersprechen oder etwas gut zu reden.

„Wovon redest du?“, frage ich verzweifelt.

Besitzergreifend halte ich das Ei in meinen Armen, wie eine Mutter sein Kind beschützen möchte.

„Du wusstest es von Anfang an und hast mich für dumm verkauft!“, schnauft er. „Schleifst mein Leben wie ein Stofftier am Boden hinterher und bestimmst über mein Schicksal, wie über dein Mahl.“

Je lauter Mehmets Stimme wird, desto stärker vibriert das Ei in meinen Armen. Würde ich raten, hätte ich gedacht, es hätte Angst. Aber aus einem seltsamen Grund weiß ich, dass es mich beschützen will und das Vibrieren eine Warnung an Mehmet sein soll.

„Mehmet, lass uns bitte in Ruhe über dein Problem reden“, bitte ich ihn.

Seine zusammengepressten Lippen, seine aufgeblähte Nase und das rote Gesicht lassen mich deuten, dass er sehr zornig sein muss. Ich weiß gar nicht was ich tun soll. Ein Ausweg gibt es nicht, schon allein, wenn ich aufstehe, hat er mich schon mit seinem Schwert erwischt. Aber was soll ich denn sonst tun? Er wird nicht mit sich reden lassen, womöglich findet er nur Frieden, wenn er mich entweder verletzt oder sogar tötet.

Plötzlich schnellt etwas, das einem weißen Blitz ähnelt durch die Luft, das sowohl das Schwert wie auch Mehmet fünf Meter wegschleudert. Das alles kommt aus dem nichts, dass ich aufschreien muss und mich wie eine Maus klein mache, wobei das Ei unter meinem Bauch versteckt bleibt. Was auch immer das war, es hat mich vor Mehmet gerettet oder wird sich jetzt als eine größere Gefahr darstellen.

„Habe ich Euch endlich gefunden“, höre ich eine tiefe männliche Stimme.

Zuerst bleibe ich noch in meiner Position verweilen, entscheide mich dann aber doch aufzusehen, um herauszufinden, wer das war. Als ich mich langsam und vorsichtig aufrappele, das Ei in meinen Armen, sehe ich etwas vor mir, was ich noch nie für möglich gehalten habe: Ein kleines, rundes, flauschiges und pinkes Wesen schwebt mit großen, weißen und Feder bedeckten Flügeln in der Luft. Es besitzt tiefschwarze Knopfaugen, zwei Löcher, die seine Nase darstellen sollen und keine Lippen. Seine Hände, die lange schwarze Krallen haben, sind genauso klein wie seine Pfoten. Seine rechte Hand umfängt einen langen, bis zum Boden reichenden Stab. Der Stab besitzt ein Sensenblatt und oben eine mattweiße Kugel.

Ich stehe eigentlich nur mit offenem Mund vor dem Wesen und blicke es mit großen Augen an. Zwar habe ich keine Ahnung, was das Wesen darstellen soll, aber ich finde es so niedlich, dass ich ihn am liebsten umarmen würde.

„Ich bin Pixie, treuer Diener des Engelreiches. Meine Aufgabe lautet den Krieger mit dem Ei in das Schloss von Ashram zu bringen“, erklärt er.

Zuerst muss ich wegen seiner tiefen Stimme stutzen, da sie kein bisschen zu seinem Äußeren passt, doch das Gesagte von ihm zieht mehr Aufmerksamkeit auf mich und irritiert mich gleichzeitig.  

„Engelreich? Krieger? Wer ist Ashram?“, frage ich leise.

„Ich werde versuchen Eure Fragen zu beantworten, aber jetzt müssen wir los, wir sind schon spät dran“, erklärt er ruhig.

Ich weiß gar nicht mit was ich zuerst anfangen soll. Was ist das für ein Wesen? Wohin will es mich bringen? Und was soll aus Mehmet werden? Da mir das Wesen schon den Rücken zukehrt und Anstalt macht weiterzufliegen, halte ich Ausschau nach Mehmet.

„Halt!“, rufe ich dem Pixie zu. „Ich komme erst mit, wenn mein Freund uns ebenfalls begleitet.“

Es wundert mich selbst, dass ich Mehmet ohne Probleme als „Freund“ bezeichnet habe. Aber er ist nun mal der Einzige, den ich in dieser Welt kenne und einigermaßen vertraue, auch wenn er mir vor ein paar Minuten noch was antun wollte. Ich bin mir sicher, dass es dafür einen Grund gab, ein simples Problem über das vernünftig gesprochen werden kann. Natürlich habe ich gleichzeitig ein ungutes Gefühl ihn mitzunehmen. Was, wenn er eigentlich gar nicht will? Nehme ich ihn also gegen seinen Willen mit? Ich weiß gar nicht, wohin er eigentlich hinwollte, noch bevor wir uns trafen. Bevor wir uns getroffen haben, ging er seinen eigenen Weg und hat mir nur den Gefallen getan, mich bis zum Ende des Waldes mitzunehmen. Es wäre egoistisch von mir, ihn jetzt einfach mitzunehmen, weil ich das Pixie nicht kenne. Anderseits könnte er hier im Wald sterben, wenn ich ihn zurücklasse.

Das Pixie dreht sich nur mit ausdruckslosem Gesicht zu mir um, während ich, immer noch mit dem Ei in den Armen, durch die Wiese laufe und Mehmet im blutroten Gras suche. Als ich ihn endlich bewusstlos liegen sehe, schnappe ich empört nach Luft.

„Was hast du mit ihm gemacht?“, frage ich das Pixie vorwurfsvoll.

Ich hatte weder gehört noch gesehen, dass es mir die ganze Zeit während ich nach Mehmet gesucht habe, dicht gefolgt ist. Als ich es fragend anblicke, schaut es mir immer noch emotionslos in die Augen.

„Er hielt sein Schwert gegen Euch, also musste ich ihn beseitigen“, spricht es.

„Beseitigen?“, quieke ich erschrocken.

Ich lege das Ei vor meine Knie und untersuche Mehmet besorgt, ob nicht irgendwo eine Blutwunde ist.

„Er lebt noch, er ist nur bewusstlos“, sagt das Pixie.

Erleichtert atme ich aus und überlege mir nun, ob ich ihn mitnehmen soll oder nicht. Ich schließe meine Augen, lege meine Hände auf das Ei und frage mich immer und immer wieder, was richtig wäre. Nur bei einem Gedanken bekomme ich ein gutes Gefühl und entscheide mich dafür.

„Müssen wir weit laufen?“, frage ich das Pixie.

Da er sich nur leicht mit seinem Körper hoch und runter bewegt, nehme ich dies als ein Nicken war. Ich werde Mehmet vorerst mitnehmen, und wenn er dann aufwacht, soll er selbst entscheiden, wohin er gehen möchte. Es wäre toll den einzigen Freund, den ich gefunden habe, nicht zu verlieren. Aber vermutlich bin ich in seinen Augen immer noch die bedrohliche Hexe. Bei den Gedanken muss ich meine Augen verdrehen. Ich und eine Hexe? Fragt sich nur, wie ich das Ei und gleichzeitig Mehmet tragen soll. Es ist nicht so, dass das Ei viel wiegt, es ist nur so groß, dass man es mit einer Hand nicht tragen kann.

„Meine Aufgabe lautet nur den Krieger und das Ei zum Schloss von Ashram zu bringen“, wiederholt das Pixie, als hätte es meinem Gedankengang gehört.

Ich will ihm gerade böse widersprechen, da spüre ich das Vibrieren des Eies. Es ist wieder eine Warnung, nun aber an mich. Wahrscheinlich soll ich keinen Streit mit dem Pixie anfangen.

„Ich bitte dich, diesen Mann auch mitzunehmen. Mir ist klar, dass du weder mich noch ihn kennst, aber wir werden dir nicht schaden“, bitte ich es höflich und blicke starr in seine schwarzen Knopfaugen.

„Einverstanden“, sagt es nach langer Überlegung. „Da der Weg weit ist und es viel zu lange dauern würde, um zu laufen, werdet ihr mit mir fliegen.“

Fliegen? Wie soll das denn gehen? Wird dieses kleine Wesen uns alle drei tragen und dann losfliegen?

„Ihr werdet keine Schmerzen fühlen, und wenn wir ankommen, werdet ihr wieder dieselbe Form erhalten wie sonst“, erklärt es.

Bevor ich noch etwas sagen kann, berührt es erst das Ei, dann Mehmet und zum Schluss mich mit der mattweißen Kugel seines Stabes. Danach passiert alles sehr schnell. Die sonst so hohen Bäume werden größer und größer. Das Pixie ist nicht mehr so klein wie am Anfang, sondern wird ebenfalls größer. Oder bin ich es, die einfach schrumpft? Mit gerunzelter Stirn sehe ich zu, wie selbst das rote Gras größer wird als ich. Als wir auch noch so plötzlich vom Boden abheben, schreie ich geschockt auf. Wir schweben bis zum Pixie hoch und schon wird alles weiß um mich herum. Mein Herz hört gar nicht mehr auf wie verrückt zu schlagen, als würde es mir gleich aus der Brust springen. Zuerst erkenne ich nur weiß um mich herum, erst als ich genauer hinsehe, weiß ich, dass wir uns in einer Kugel befinden.

„Was hast du getan?“, rufe ich verzweifelt.

Ich weiß nicht, ob das Pixie uns hören kann, wenn es überhaupt in unserer Nähe ist. Neben Angst und Verzweiflung fühle ich mich auch sehr einsam. Mehmet hat von alldem nichts mitbekommen und das Wesen im Ei ist auch verstummt. Ich spüre wie sich meine Tränen sammeln, doch ich drücke sie weg und versuche stark zu bleiben. Tief einatmend setze ich mich auf den glatten weißen Boden und umarme das Ei wie ein Kissen.

„Ihr befindet euch in meiner Kugel, habt keine Angst, das ist nur der schnellere Weg zu unserem Ziel zu kommen“, höre ich die tiefe Stimme des Pixie.

Dann hatte ich also recht, wir befinden uns in einer Kugel. Vermutlich in der Kugel die oben an dem Stab des Pixies hängt. Es hat uns an der Größe angepasst, sodass wir da reinpassen.

„Von welchem Ziel redest du? Das Schloss?“, frage ich.

Jetzt fühle ich mich schon etwas besser, da ich immerhin weiß, wo ich mich befinde. Trotzdem etwas beunruhigt, da ich das Pixie nicht kenne.

„Richtig. Meine Aufgabe lautet den Krieger mit dem Ei in das Schloss von Ashram zu bringen“, wiederholt es dieselben Worte wie vorhin.

„Und wer ist dieser Ashram?“

„Er wird euch ausbilden.“

„Uns? Ausbilden?“, frage ich und runzele die Stirn.

Wofür wird man uns ausbilden? Und wen meint er mit „euch“? Etwa das Ei? Das Wesen im Ei?

„Ihr seid die lang ersehnte Kriegerin, die jeder sucht. In Euren Händen haltet Ihr das stärkste Tier der Welt, mit welchem nur Ihr auskommen könnt. Ihr wurdest auserwählt Frieden auf die Welt zu bringen“, erklärt es.

Ich habe nur lauter Fragezeichen in meinem Kopf. Am liebsten würde ich dem Pixie widersprechen, dass ich überhaupt keine Kriegerin bin!

„Habt ihr denn keinen Frieden auf der Welt?“, frage ich stattdessen.

„Nein. Seit etwa hundert Jahren leidet diese Welt wegen einem machtbesessenen König.“

Bisher habe ich nur den Wald kennengelernt, ich hätte nicht gedacht, dass es hier auch einen König gibt und dazu noch einen bösen.

„Und was ist mit dem Ei in meinen Händen? Darin soll sich das stärkste Tier der Welt befinden?“, frage ich weiter.

„Jawohl.“

„Und was ist das für ein Tier?“

„Das weiß keiner. Ihr werdet die Erste sein, die dies herausfinden wird.“

Nachdenklich blicke ich das Ei in meinen Händen an und kann mir nicht vorstellen, warum ausgerechnet ich mit dem stärksten Tier auskommen sollte. Vorsichtig streichle ich die warme Schale und hoffe, es gehe dem Wesen gut. Zur Antwort spüre ich sein Herz pulsieren. Nicht zu schnell, sondern gleichmäßig. Das nehme ich als ein Zeichen dafür wahr, dass es sich wohl fühlt.

„Könntest du das mit der langersehnten Kriegerin noch einmal erklären“, bitte ich das Pixie.

„Wir haben lange gewartet, bis Ihr erscheint. Niemand wusste wann der richtige Zeitpunkt kommt gegen den König zu kämpfen. Nun, da Ihr erschienen seid, sind wir bereit für den Kampf“, erklärt er. „Ihr habt Euch sicher auch gefragt, aus welchem Grund Ihr hierhergekommen seid, oder?“, fragt es nun mich und impliziert gleichzeitig, das ich nur für diese Aufgabe hierhergekommen bin.

„Nein, eigentlich nicht. Es war meine eigene Entscheidung, ich hätte genauso gut dortbleiben können, woher ich komme“, sage ich nachdenklich.

Ich konnte selbst entscheiden, ob ich in das Bild hineingehe oder nicht. Stellt sich nur die Frage, ob auch andere Leute in das Bild durften. Jedenfalls wurde die Frage, warum man mir das Eintreten in diese Welt erlaubt hat, beantwortet. Sie brauchen jemanden, um ihren Planeten zu retten. Hätte ich das gewusst, wäre ich vermutlich zu Hause geblieben. Ich weiß nicht, warum ich so dermaßen enttäuscht von der Tatsache bin. Vielleicht habe ich mir mehr oder eben Besseres erhofft, als eine Kriegerin zu sein. Ich meine, was kann ich schon tun? Ich habe noch nie gegen jemanden gekämpft und habe mich dafür auch nie interessiert. Bis vor einem Jahr war ich noch die Verrückte, die ihre Eltern verloren hat und mit dem Verlust nicht klarkam. Und nun soll ich eine Welt retten? Ob das Ei wohl auch nur geboren wurde, um die Welt zu schützen? Hätte ihn überhaupt jemand erwartet, wenn die Welt nicht in Gefahr gewesen wäre? Traurig drücke ich das Ei näher an mich heran. Wir haben etwas gemeinsam, wir beide sind nur hier, um die Welt zu retten.

„Dann habe ich es also richtig verstanden, ja? In diesem Schloss wo du uns hinbringst, wird man ihn und mich ausbilden, um euch zu helfen.“

„Richtig“, antwortet es nach einer Weile.

Müde lege ich mich auf die Seite, das Ei immer noch in meinen Armen. Das Gefühl der Einsamkeit ist schon längst verschwunden und wurde mit Verantwortung ersetzt. Nicht die Verantwortung die Welt zu retten, sondern das Wesen zu beschützen. Es hat sich etwas gebildet zwischen uns und das wissen wir beide, das Wesen und ich. Ein Band, eine Verbundenheit oder auch eine Freundschaft.

 

MEHMET

 

„Ich frage mich, wozu der König so viele neue Schwerter benötigt“, sage ich beiläufig zu Jorek, der einige Meter weiter entfernt von mir steht.

Während Jorek noch neben dem Feuer steht, schlage ich auf das bereits fertige Metall und schmiede es zu einer perfekten Schwertform. Als keine Antwort von ihm zurückkommt, höre ich augenblicklich auf mit der Arbeit und blicke meinen besten Freund fragend an.

„Was hast du?“

Konzentriert blickt er auf das Feuer und sieht aus, als kämpfe er mit einem Geheimnis um sich. Ich kenne diesen Blick schon seit Mondzeiten, darum fällt er mir auch sofort auf.

„Jorek“, sage ich fordernd.

Schließlich blickt er mich ernst an und hört ebenfalls mit dem Arbeiten auf. Mit seiner großen und festen Statur steht er vor mir und sammelt seine Worte bedächtig.

„Findest du nicht auch, dass etwas schon lange in der Luft liegt?“, flüstert er, als könnte uns jemand hören.

„Was meinst du damit?“

Ich runzele die Stirn, da ich keine Ahnung habe, was mein Freund damit meint. Seit wann hat er so große Geheimnisse?

„Der König braucht neue Schwerter, die Soldaten sind viel aufmerksamer geworden, der Schwarzmarkt findet nicht mehr statt und auch die Mauer wird strenger beobachtet als sonst“, listet er auf und blickt mich vielsagend an.  

Trotzdem sehe ich ihn immer noch fragend an, da ich nicht darauf komme, was er mir mit der Auflistung von Argumenten sagen möchte.

„Nenn mich verrückt, aber ich glaube eine Sage wird bald wahr“, gibt er beschämt zu und blickt wieder zum Feuer.

Nun wird mir sofort klar, wovon er redet. Augen verdrehend drehe ich mich wieder zu meiner Arbeit und schnaufe genervt auf, da ich mehr erwartet hätte. Wie kann ihm eine Sage so viele Sorgen bereiten?

„Du meinst das Ei“, sage ich monoton und drehe mich wieder zu ihm. „Wie kannst du dir so sicher sein, dass es dieses Ding wirklich gibt?“, frage ich unglaubwürdig.

„Weil der König Angst hat“, antwortet er sofort, als sei er sich sicher.

Während ich wieder mit der Arbeit beginne, als wäre nichts geschehen, blickt Jorek mich immer noch aufgeregt an.

„Vor dem Ei?“, frage ich und muss dagegen ankämpfen belustigt zu klingen.

„Natürlich“, sagt er, als sei es selbstverständlich.

Nun kann ich nichts mehr dagegen tun, als die Gedanken nur so in meinem Kopf herumschwirren. Ich konnte der Sage noch nie viel Beachtung schenken, ich fand sie schon immer lächerlich. Desto beunruhigter werde ich aber, da es mein bester Freund wohl tut. Jorek ist kein naiver Mann, normalerweise glaubt er auch nur an Dinge, die einem direkt vor Augen stehen. Wieso also glaubt er solch einer Geschichte? Oder wieso glaube nicht ich daran?

„Was denkst du, was da für ein Wesen drin sein wird?“, frage ich ihn nach einiger Zeit neugierig.

Jorek scheint einige Minuten nachzudenken, bevor er mir ernst antwortet.

„Es ist das Kind der Monde Balduin, Jenö und Cyra. Also wird es weder Mensch noch Fabel sein. Ich glaube das Wesen wird eine Macht besitzen, die sich niemand vorstellen kann. Es wird die Kraft haben, jeden Einzelnen nur mit einem Blick zu töten. Jeder wird sich vor ihn fürchten, niemand hätte eine Chance gegen ihn. Ich bin mir sicher, es würde vor niemanden zurückschrecken, alles töten, was sich gegen ihn stellt, nur um den Frieden herbeizuführen. Es wird kein Herz besitzen und es wird unsterblich sein.“

 

Durch den dumpfen Schmerz unterhalb meiner Brust erwache ich aus meinem Traum. Reflexartig möchte ich meine Augen öffnen, doch schließe ich sie gewaltsam zu, als ich ein strahlend weißes Licht erblicke. Bin ich tot? Ist das der Grund, weshalb alles so hell ist? Als ich jedoch die Stimme von Solveig höre, beruhige ich mich augenblicklich.

Ich kenne Solveig nun erst seit ein paar Tagen und schon schafft es ihre Stimme, mich zu beruhigen. Vielleicht liegt es an ihrer Art. Sie ist ganz anders, wie die anderen Frauen in meinem Dorf, und das ist sehr seltsam.  Zwar scheint sie anständig und höflich zu sein, aber ihre Wortwahl, Haltung und Aussehen ist ganz anders. Vor allem wegen ihrer naiven Neugierde über jede Kleinigkeit, die sie sieht, frage ich mich, ob sie nicht doch von woanders herkommt. Aber das ist unmöglich! Auch wenn sie stur vorgibt, wirklich aus einer anderen Welt zu kommen, kann ich ihr keinen Glauben schenken. Diese Tatsache wäre genauso unglaublich, wie das Eintreten der Sage. Plötzlich erkenne ich den Fehler in meiner Denkweise. Die Banshee hat von einem Krieger gesprochen, dem ich begegnen werde und dieser Krieger würde das Ei finden, dass laut der Sage Frieden erkämpfen wird. Nun sind drei Dinge schon eingetroffen: Ich traf Solveig schicksalhaft im Wald, sie ist die Kriegerin und hat das legendäre Ei gefunden. Wenn diese unmöglichen Sachen schon passiert sind, wieso wäre es dann so unmöglich, dass Solveig aus einer anderen Welt kommt? Nein, das kann trotzdem nicht wahr sein!

Als sich der Schmerz wieder bemerkbar macht, erinnere ich mich auch sofort, wie dieser entstanden ist. Da Solveig das Ei tatsächlich gefunden hatte, wurde ich so wütend und hielt ihr mein Schwert an die Kehle. Natürlich wollte ich sie nicht verletzen, aber ich war so wütend auf die Welt, auf mich selbst und auf die Banshee. Denn sie hatte recht, bezüglich dessen was eintreten würde.  Das ist dein Schicksal. Ich hätte Solveig niemals kennengelernt, wenn meine Mutter nicht gestorben wäre. Niemals hätte ich aus Wut mein Heimatdorf verlassen. Doch die Banshee hatte recht damit, dass ich den Krieger begegnen würde. Trotzdem liegt es doch immer noch in meiner Hand, was ich als Nächstes tue. Ich habe die Möglichkeit entweder zu gehen oder wirklich bei ihr zu bleiben und sie zu beschützen. Kämpfe ich gegen mein Schicksal an, oder werde ich es lernen zu akzeptieren?

Es vergeht ein bisschen Zeit, bis ich mich entscheide nicht mehr so tun, als würde ich noch schlafen. Wieder einmal öffne ich meine Augen und muss wegen des Lichtes einige Male kräftig blinzeln, bis ich mich an die Helligkeit gewöhne.

„Du bist wach“, höre ich sie sagen.

Vorsichtig versuche ich mich aufzustützen und bin glücklich, dass die Schmerzen nicht schlimmer sind, als befürchtet. Als ich dann aufschaue und nichts außer uns in einem weißen Raum sitzen sehe, bekomme ich Panik.

„Wo sind wir?“, frage ich hastig, während meine Hand schon zu meinem Schwert schnellt.

„Vermutlich kannst du dich nicht mehr erinnern, da du durch das Pixie dein Bewusstsein verloren hast. “

„Pixie?“, unterbreche ich sie mit gerunzelter Stirn.

„Ja, du weißt schon“, sagt sie unsicher. „Klein, pink, riesige weiße Flügel und monströse schwarze Augen. “

„Aber das erklärt immer noch nicht, wo wir sind“, stelle ich ungeduldig fest.

„Das hört sich jetzt seltsam an, aber es hat uns geschrumpft und uns anschließend in seine Kugel, oberhalb seines Stabes befördert, damit wir schneller vorankommen“, erklärt sie mühevoll.

Pixies sind die seltensten Fabeln auf unserem Planeten, weswegen ich auch noch nie eines gesehen habe. Nur in Bilderbücher wurden sie in etwa genauso gemalt, wie Solveig es beschrieben hat. Aus Geschichten weiß ich, dass Pixies die Diener der Engel sind und daher einen göttlichen Stab mit sich tragen, dass ihre Machtposition veranschaulicht und ihnen Kraft gibt Gegner überlegen zu sein. Wenn Solveig die Wahrheit sagt, müssen wir uns also tatsächlich in seiner Kugel befinden. Das würde immerhin erklären, warum der Boden nicht gerade, sondern rund ist.

„Wohin bringt es uns?“, frage ich sie.

Dass wir einem Pixie begegnet sind, bedeutet eigentlich nichts Gutes. Gegen ihn zu kämpfen ist hoffnungslos. Da Solveig aber die lang ersehnte Kriegerin mit dem Ei ist, gibt es wohl einen guten Grund, weswegen wir in der Kugel eines Engelssoldaten sitzen.

„Es sagte, es müsse uns zum Schloss von Ashram bringen“, antwortet sie und spricht sein Namen unsicher aus.

„Ashram?“, flüstere ich und spüre, wie meine Nackenhaare sich aufstellen.

Mir wird gleichzeitig kalt und heiß und mein Herz pocht wie wild gegen meine Brust. Der Schock sitzt tief in meinen Knochen, lässt mich weder sprechen noch mich bewegen. Je klarer mir wird, wohin wir gerade gebracht werden, desto übler geht es mir.

 „Was ist mit dir?“, fragt Solveig bestürzt und greift nach meinem Arm, da sie meine Panik wohl erkannt hat.

Erst jetzt wird mir klar, dass sie das Ei die ganze Zeit unter ihren Armen begraben hielt. Dies erinnert mich an eine Mutter, die ihr Junges beschützen will.

„Mehmet du bist ganz bleich geworden, als ich den Namen genannt habe“, stellt sie besorgt fest und blickt mich mit ihren grau-grünen Augen an.

Ich versuche mich zusammenzureißen und die Geschichten von Ashram zu verdrängen. Wenn ich ihr sage, wen wir treffen werden, wird sie sich vor ihn fürchten und das würde alles vermutlich schlimmer machen.

„Was ist los?“, fragt sie ungeduldig, als ich immer noch nichts gesagt habe.

Ich reiße mich aus meiner Starre heraus und blicke sie eindringlich an.

„Wieso will es uns dort hinbringen?“

„Es meinte, dass man uns dort für den Kampf ausbilden wild“, sagt sie hastig und hört sich verunsichert an.

„Dich und“, ich muss stocken. „Das Wesen?“

Mit meiner Wortwahl dem Wesen gegenüber scheint sie zuerst nicht zufrieden zu sein, das erkenne ich an ihrer verärgerten Stirnfalte. Aber da ihre Sorge wegen meiner Reaktion größer zu sein scheint, glättet sich ihre Stirn und sie nickt, als hätte sie Angst zu hören, was ich als Nächstes sagen könnte. Ich habe so viele Geschichten über Ashram gehört und niemand möchte ihm je begegnen. Er ist nicht nur Angst einflößend, sondern auch sehr stark und gefährlich. Aber jetzt, wenn ich darüber nachdenke, ist es gar nicht so unlogisch, warum das Pixie Solveig und das Ei zu Ashram bringt. Er ist ein unbesiegbarer Krieger, der schon so viel Erfahrung gemacht hat, dass er ihnen bestimmt viel beibringen kann. Trotzdem bleibt er eines der gefährlichsten Geschöpfe des Planeten.

„Jetzt rede doch endlich! Wer ist Ashram?“, fragt sie böse.

Doch bevor ich etwas sagen kann, fängt die Kugel in der wir sitzen, an zu wackeln. Sofort legt Solveig ihre Arme wieder um das Ei und versucht ihr Gleichgewicht zu halten, um nicht umzufallen.

„Wir sind gleich da“, ertönt eine tiefe Stimme.

Zuerst bin ich sehr verwirrt, woher die Stimme kommt. Doch da wir in der Kugel des Pixies sind, muss es das Pixie wohl gewesen sein. Wer hätte schon gedacht, dass ein kleines Wesen so eine tiefe Stimme besitzt? Nun, da ich weiß, dass uns keine Zeit mehr bleibt, wende ich mich sofort an Solveig und schaue sie eindringlich an.

„Was auch immer passiert, schau keinem in die Augen, halte dich gebückt und werde nicht unhöflich. Und wenn Ashram erscheint, dann gehst du auf deine Knie und verbeugst dich. Verstehst du?“, frage ich, da ihr Gesicht eine stolze Form annimmt.

„Ich verbeuge mich vor niemandem“, zischt sie und blickt aufgeplustert auf das Ei.

Sofort greife ich gewaltsam nach ihrem Handgelenk und fordere sie an mich anzuschauen. Die Angelegenheit ist viel zu gefährlich, um darüber zu scherzen. Zuerst erschreckt sie sich, da sie nicht geahnt hätte, dass ich nach ihr greifen würde. Doch dann blickt sie wieder verärgert drein.

„Ich warne dich Solveig“, zische ich sie nun an. „Ashram ist ein gefährlicher Mann, keiner weiß genau, wozu er fähig ist, aber das liegt vermutlich daran, dass die Menschen, die es herausfinden wollten, niemals zurückgekehrt sind. Wo auch immer du herkommst, hier geht es ganz anders zu, also passe dich an! Wenn er da sein sollte, dann siehst du ihm nur in die Augen, wenn er dich dazu auffordert und du gehst verdammt noch einmal auf deine Knie. Haben wir uns verstanden?“

Ich kann in ihren Augen ganz genau ablesen, dass sie niemals damit gerechnet hätte, mich so wütend zu sehen. Darum überlegt sie kurz und zieht ihr Handgelenk dann mit einem Ruck aus meinen Fingern.

„Na schön“, sagt sie beleidigt und streichelt vielsagend ihr Handgelenk.

„Wir sind da“, ertönt die Stimme des Pixies.

Das Letzte, was ich tue, bevor unsere Körper aus der Kugel gerissen werden und wir unsere normale Gestalt annehmen, ist ein Stoßgebet an Ána zu schicken und zu hoffen, dass wir das Kommende überleben.

 

ASHRAM

 

Eines der schönsten Dinge auf diesem Planeten sind die Sonnenaufgänge. In dem Moment, wo die ersten Sonnenstrahlen den dunklen, violetten Himmel treffen, werden die drei Monde immer durchsichtiger, da ihr Licht nicht mehr gebraucht wird. Nur wenn man genau hinsieht, kann man sie im Tageslicht erkennen. Da scheint es, als wären sie zarte Wolken.

Der Tag hat gerade begonnen, ich stehe auf dem Balkon und blicke zur aufgehenden Sonne. Es sind nun drei Monde vergangen, heute muss das Pixie mit dem Krieger und dem Ei erscheinen. Falls es das legendäre Ei wirklich geben sollte, dann könnten viele Probleme beseitigt werden. Wir könnten es schaffen die Menschen aus der gewaltsamen Herrschaft von König Lennard zu befreien. Die Fabeln und Tiere könnten wieder einige ihrer Gebiete zurückbekommen und frei von Verfolgung sein. Und ich müsste mir um diese Dinge keine Gedanken mehr machen und könnte nach einem Ausweg meines Problems finden: Die Erlösung.

Alles, was mich in diesem Leben noch hält, ist Frieden herbeizuführen. Vermutlich hätte ich schon viel früher den Weg zum Tod gesucht, wenn es nur nicht so schwer wäre. Wenn das alles vorbei ist, werde ich alles was in meiner Macht steht tun, um sterben zu können. Was hält mich sonst noch am Leben? Zu lange habe ich versucht, den Sinn des Lebens in der Liebe oder in Freunden zu suchen. Doch sterben sie entweder oder sie verlassen einen. Diese Vergänglichkeit macht einen nur krank, deswegen will ich endlich fort. Es geht das Gerücht herum, dass es noch einen weiteren Magier geben soll als nur Garun. Falls das stimmt, gäbe es eine Chance meine Unsterblichkeit zu heilen.

In Gedanken versunken erkenne ich erst nach einer Weile eine Gestalt am Himmel, die sich immer mehr an mein Schloss nähert. Meine Hände bilden sich zu Fäusten und meine Augen versuchen das Geschöpf besser zu erkennen. Das Pixie kann es nicht sein, da seine Flügel weiß sind und sofort ins Auge stechen würden. Diese Flügel sind pechschwarz und das Tier muss fünfmal so groß sein wie das Pixie. Je näher sich die Gestalt nähert, desto größer wird die Bestätigung meiner Ahnung. Als ich die langen, goldenen Haare in der Luft umherschweben sehe, bin ich mir ganz sicher, dass es sich um Baobhan-Sith handeln muss.

Baobhan-Sith ist die weitbekannteste und gefürchtete Vampirin auf der Welt. Ich muss zugeben, dass sie meistens sehr verführerisch sein kann, was größtenteils an ihrem Aussehen liegt. Ihre langen, goldenen Haare passen geradezu perfekt zu ihren stechend blauen Augen und ihre blutroten Lippen betonen ihre schön geschwungenen Lippen. Mit ihrem Aussehen ähnelt sie viel eher einem Menschen, als einem Vampir, weswegen viele Männer ihr leicht verfallen. Nichtsdestotrotz ist sie skrupellos und tötet, ohne mit der Wimper zu zucken. Als sie schon fast mit ihren schwarzen, ledrigen Flügeln angekommen ist, erkenne ich sofort ihr amüsiertes Lächeln im Gesicht. Im Gegensatz zu den gewöhnlichen Vampiren, besitzt sie Flügel. Gerüchten zufolge hat ihr ein Magier diese geschenkt.

„Hallo mein Hübscher“, begrüßt sie mich mit ihrer verlockenden Stimme und lächelt mich mit strahlend weißen Zähnen an.

Ich bleibe zuerst stumm und betrachte sie desinteressiert, bis sie mit ihren Füßen auf meinen Balkon steht und mich mit hochgerecktem Kinn anblickt. Dann erinnere ich mich, dass Garun meinte, sie wäre auf der Seite von König Lennard. Jetzt wäre ein guter Augenblick, um herauszufinden, weshalb sie das ist. 

„Was willst du?“, frage ich sie ohne jegliches Lächeln im Gesicht.

„So kalt und emotionslos wie immer“, seufzt sie und will meine Wange berühren, doch ich schnappe gewaltsam nach ihrer Hand und blicke sie anfordern an.

„Rede. “

Anschließend lasse ich ihre eiskalte Hand los und blicke in ihr blasses Gesicht.

„Darf ich nicht einfach so zu Besuch kommen? Sozusagen einen alten Freund besuchen?“, fragt sie unschuldig.

„Du hast keine Freunde“, antworte ich nur ungeduldig.

Kurz blähen sich ihre Nasenflügel böse auf, doch dann atmet sie tief ein, um sich zu beruhigen. Es ist bekannt, dass Baobhan-Sith schnell die Beherrschung verlieren kann, hier kontrolliert sie sich jedoch, was mich wieder zum Grübeln bringt. Mit einem strahlenden Lächeln blickt sie wieder in meine Augen.

„König Lennard schickt mich“, flüstert sie geheimnisvoll und tritt zurück.

Sie kehrt mir den Rücken zu und fährt mit ihren Nägeln dem Balkongelände hinterher. Also stimmt es wohl was Garun sagte. Baobhan-Sith hat sich auf die Seite des Königs gestellt. Aber wieso?

„Er will, dass ich dir etwas ausrichte“, redet sie weiter. „Eigentlich wollte er das ja selbst tun, aber die Arbeit eines Königs ist dir ja bekannt, weswegen er so beschäftigt ist“, meint sie und blickt mich wieder an.

Daraufhin muss ich meine Stirn runzeln. Wieso sollte mir die Arbeit eines Königs bekannt sein? Vor allem klingt das Gesagte beabsichtigt, als hätte sie geplant, mich zu verunsichern.

„Sag bloß, dir ist dein eigener Stand nicht bekannt“, sagt sie gespielt erschrocken.

„Leider habe ich den Zeitpunkt verpasst, als ich zum König gekrönt wurde“, sage ich bedauerlich und meine es ironisch.

Zuerst fängt sie an schallend laut zu lachen, doch dann verstummt sie, als sie meinen verwirrten Gesichtsausdruck erkennt. Schließlich formen sich ihre Augen zu Schlitzen und blicken mich ganz genau an, als versuche sie in meine Gedanken zu tauchen, was sie natürlich nicht kann.

„Du weißt also wirklich nichts“, sagt sie monoton. „Sag, Ashram. Ist dir nicht aufgefallen, wie untergeben manche Fabeln gegenüber dir sind?“, fragt sie und zieht ihre perfekte Augenbraue in die Höhe.

Ich muss immer noch runzeln, da ich mich nicht daran erinnern könnte, von irgendjemand als König genannt zu werden. Und welche Fabeln sollten mir untergeben sein? Noch nie habe ich irgendwem Befehle erteilt oder jemand für sein schlechtes Verhalten bestraft. Bahar und ihre Geschwister sind meine treusten Freunde, die wegen unserer Vergangenheit auf meiner Seite sind und alles tun würden, was ich ihnen sagen würde.

„Dir folgen die fünf legendären Vampirgeschwister. Die Einhörner treten nur noch in deinem Teil des Waldes auf. Die Greife haben jeden Einzelnen getötet, der sich auf dein Schloss begehen möchte. Nicht zu vergessen haben die Engel dich immer noch nicht für deine Unsterblichkeit verrotten lassen und du bist mit einem Magier befreundet“, zählt sie auf.

Ihre Aufzählung macht Sinn und stimmt auch teilweise, wobei ich die Sache mit den Einhörnern und Greife das erste Mal höre. Trotzdem habe ich mich selbst noch nie als ein König gesehen. Wieso auch? Ich wollte noch nie so eine Macht besitzen und sehe es auch nicht ein, den Einfluss auf andere zu besitzen. Gerade für die Freiheit und Unabhängigkeit kämpfe ich doch, wieso sollte ich also das Ziel ein König zu sein, verfolgen?

„Ashram, der König fühlt sich bedroht von dir“, zischt sie mich genervt an, als hätte ich selbst darauf kommen sollen. „Was glaubst du, weswegen ich hier bin?“

„Du bist hier, um mir mein Stand aufzuklären?“, frage ich unglaubwürdig.

„Ich bin hier, um dir zu sagen, dass der König dir den Krieg erklärt“, sagt sie aufgeregt und reißt ihre Augen auf. „Jawohl, er will dich auslöschen, dich aus der Bildfläche schmeißen, sodass er in Ruhe weiter herrschen kann.“

„Und wie will er das hinkriegen?“, frage ich belustigt. „Will er mit mir auf die Suche gehen, etwas gegen meine Unsterblichkeit zu unternehmen?“

Plötzlich sieht sie aus, als hätte ihr jemand ins Gesicht geschlagen. Sie beginnt unregelmäßig ein und auszuatmen und hält sich mit einer verkrampften Hand am Geländer fest, um nicht zusammenzuklappen und mit der anderen an ihren Kopf. Ihr vorher blasses Gesicht wechselt zu einer dunkelroten Farbe. Sie sieht fast so aus, als würde sie gleich explodieren. Irgendetwas stimmt nicht mir ihr, das wird mir sofort klar. Trotzdem spüre ich keine Regung in mir, ihr auf irgendeiner Weise zu helfen.

„Was ist los?“, frage ich nur.

„Du darfst ihn nicht unterschätzen Ashram“, sagt sie nun ängstlich und faltet ihre Flügel aus.

Jetzt sieht sie ganz so aus, als würde sie so schnell wie möglich hier weg wollen. Als wolle sie nicht, dass ich ihre Schwäche sehe. Normalerweise ist mir so ein Anfall von ihr nicht bekannt, immer war sie sehr kontrolliert und darauf fixiert einen starken Eindruck zu hinterlassen.

„Vielleicht hast du einige Fabeln auf deiner Seite, aber er besitzt andere Hilfe“, flüstert sie.

„Wen genau meinst du mit anderer Hilfe?“, frage ich neugierig.

„Götter“, pfeift sie in die Luft, sodass es fast so klingt, als hätte der Wind dies geflüstert.

Plötzlich geht sie in die Knie, nimmt Schwung und springt in die Luft. Ehe ich sie aufhalten kann, schwebt sie bereits vor mir und blickt mich müde an.

„Was meinst du mit Göttern? Meinst du das Ei?“, frage ich nun unschlüssig und kassiere einen überlegten Blick von ihr.

„Er ist nicht dumm, er wusste, dass er das Ei nicht in die Finger bekommt. Aus diesem Grund hat er nach etwas gesucht, was die Macht des Eies ebenbürtig ist“, erklärt sie unschlüssig und blickt umher, als würde irgendjemand unser Gespräch belauschen.

„Moment, ich bin noch nicht fertig!“, sage ich hastig und lehne mich vom Geländer weiter nach vorne, um sie vom Gehen abzuhalten. „Was hat er gefunden?“

Ihre Augen huschen immer noch hin und her, sodass ich mir sicher bin, dass sie vor etwas Angst hat. Aber wovor? Ich kann niemanden in unserer Reichweite sehen.

„Das darf ich dir nicht sagen“, flüstert sie und blickt zum ersten Mal etwas niedergeschlagen drein.

Schnell kommt sie wieder in die richtige Fassung und setzt ihr stolzes Gesicht in die Höhe.

„Ich bin nur hergekommen, um dir auszurichten, dass der Krieg schon bald beginnen wird. Also mach dich bereit.“

Das ist das Letzte, was sie sagt, bevor sie sich umdreht und endgültig davonfliegt. Nun ist es also offiziell, es wird ein Krieg ausbrechen. Nur fragt sich, was Baobhan-Sith mit der Hilfe der Götter meinte. Meinte sie vielleicht Balduin, Jenö und Cyra? Aber das wäre absurd, laut der Kindergeschichte sind sie schon seit langer Zeit tot und verweilen als Monde in unserem Himmel. Aber was meinte sie dann? Auf was sollen wir uns vorbereiten? Was erwartet uns?

Im Laufe des Tages mache ich mir weitere Gedanken und komme immer noch zu keiner Lösung. Zur Ablenkung trainiere ich und bitte Indigo, einer der Vampirgeschwister, Garun herzuholen. Auch wenn ich keine große Lust habe, muss ich mich mit ihm über das Geschehnis unterhalten. Außerdem sollte noch am selben Tag der Krieger mit dem Ei erscheinen, dann könnte der Magier die Zwei sogleich begutachten.

Als die Sonne langsam untergeht, laufe ich wieder auf den Balkon in meinem Zimmer und blicke in den noch hellen, violetten Himmel. Es ist erstaunlich, wie schnell der Tag vorbeigeht und die drei Monde immer mehr zum Vorschein kommen. Ich fühle eine kleine Aufregung in mir, wie der Krieger wohl aussehen wird. Ich kann nur hoffen, dass es sich um einen gesunden Mann handelt und er sich gut trainieren lässt. Mit nichtsnutzigen Menschen komme ich nur schwer klar und ich verliere auch schnell die Geduld, vor allem da sein Training sehr wichtig sein wird. Aber noch neugieriger bin ich auf das Wesen, genauso wie alle andere im Schloss. Heute habe ich Gillis mehrmals dabei erwischt, wie er aus dem Fenster blickte und diesen sehnsuchtsvollen Blick hatte. Alle im Schloss warten begierig auf das Erscheinen der Beiden.

Als es plötzlich an meiner Tür klopft, weiß ich, dass sie wohl schon da sind. Das Pixie würde niemals seine Versprechen brechen, er ist ein Krieger der Engel, das wäre gegen seine Art.

„Ashram, sie sind da“, höre ich Bahar aufgeregt gegen die Tür rufen.

Mit weichen Schritten drehe ich mich um und laufe aus meinem Zimmer, hinunter zum Tor.

Kapitel 6

 

Der Glaube an die Wahrheit beginnt mit dem Zweifel an allen bis dahin geglaubten Wahrheiten.

 

Friedrich Nietzsche, Werke I - Menschliches, Allzumenschliches 

 

 SOLVEIG

 

Es ist ganz einfach: Du schließt deine Augen und stellst dir dieses gigantische Schloss mit seinen großen, dunklen, aufeinandergestapelten Blocksteinen vor. Das aller erste was man sehen kann, ist das hölzerne Tor das mit dicken, metallischen Schlössern gehalten werden muss, um einerseits nicht umzufallen und andererseits fremde Menschen eintreten zu lassen. Anschließend muss man sein Hals hochstrecken, um die Burgspitze des Schlosses im weiten Himmel erkennen zu können. Sie kommt dir so dünn und spitz vor, doch in Wirklichkeit ist sie einfach viel zu weit von dir entfernt. Aber dies trifft nicht nur zu dieser einen zu, sondern auch zu den acht weiteren Burgspitzen.

Du merkst, wie du erstaunt dein Mund öffnest und einfach nicht aufhören kannst, alles zu beobachten. Denn es gibt nicht nur das Schloss, das dir den Atem raubt, sondern alles um dich herum. Das Leuchten eines vollen Mondes strahlt genau auf dich hinab. Mit purem Entsetzen merkst du, dass nicht nur ein Mond am Himmel schwebt, sondern noch zwei weitere Monde. Halbmond – Vollmond – Halbmond. Als würden sie wollen, dass niemand im Dunkeln tappt. Dein Herz beginnt schneller zu schlagen, als du realisierst, dass der Himmel nicht gewöhnlich blau, sondern dunkelviolett ist. Du fühlst dich wie in einem Traumland, erkennst in weiter Ferne eine große Kreatur, viel größer als ein gewöhnlicher Vogel oder Adler, mit breiten Flügeln fliegen. Du hörst von der Seite ein Plätschern, das einem Wasserfall ähnelt. Hinter dir meinst du, ein raues Krähen zu hören und direkt vor deinem Gesicht fliegt gerade etwas blitzschnell an dir vorbei das einer Biene ähnelte, nur viel dicker.

Früher musste ich meine Augen schließen, um mir dieses Bild und diese Geräusche vorstellen zu können. Der einzige Unterschied ist nun, dass ich meine Augen dafür nicht schließen muss und die Gerüche nicht verpasse. Eine frische Brise vermischt mit Süßwasser, Blumen und Gras macht sich in meiner Nase bemerkbar und weht meine Haare zur Seite. Ich sehe der Windrichtung sehnsuchtsvoll hinterher und erblicke sofort das Pixie neben mir, das mich mit neugierigen Augen mustert. Sofort erinnere ich mich, dass wir davor in seiner kleinen, weißen Kugel waren und blicke auf die andere Seite neben mir. Erleichtert sehe ich Mehmet neben mir stehen, der seine Umgebung genauso interessiert mustert, wie ich.

Ich hätte mich am Liebsten umgedreht und wäre zur Klippe gelaufen, da ich mir sicher bin, dass ich dort einen Wasserfall erblicken würde. Das Schloss scheint nämlich auf einem hohen Hügel zu stehen und neben ihr, hinter den Schlossmauern, muss sich ein weiterer Hügel mit einem Wasserfall befinden, sodass unten ein Fluss vorbeizieht. Völlig begeistert tippen meine Finger auf die Schale des Eies und ich spüre, wie das Wesen sich über meine Gefühle freut. Plötzlich öffnet sich das Tor, erstreckt sich mit seiner vollen Länge und erreicht meine Füße nur wenige Meter davor.

Meine Augen huschen sofort zum Eingang und ich spüre, dass Mehmet wohl genauso aufgeregt ist wie ich, da er ebenfalls mit seinen Fingern auf sein Schwert tippt. Anders als bei mir, scheint Mehmet aber mit Ärger zu rechnen, denn sein Blick sieht nicht neugierig, sondern vorsichtig aus. Im Eingang stehen zwei Personen, erst als sie sich uns nähern merke ich, dass es sich hiermit um eine Frau und einem Mann handelt. Ich beobachte erstaunt, wie ihr schulterlanges Haar sich im Wind um ihren Kopf schlängelt und ihre großen Augen zum Vorschein bringt, die uns ebenfalls neugierig mustern. Der Mann blickt im Gegensatz zu ihr auf den Boden, sodass nur seine kurzen, blonden Haare zu erkennen sind und sein Gesicht verborgen bleibt. Beide scheinen eine Art von Kampfanzug zu tragen. Ein schwarzer Stoff erstreckt sich von den Füßen bis zu den Schultern hinauf. An den Knien, den Armen, der Brust und der Schulter ist ein dickes Polster zu sehen, vermutlich zum Schutz von Schwertern. Denn natürlich tragen beide ein Gehänge, an dem ihre Schwertscheibe zu sehen ist, genauso wie bei Mehmet.

Gerade als sie vor uns stehen bleiben, schnappt der Mann erschrocken nach Luft und blickt mich schockiert an. Sofort zucke ich zusammen und hätte fast das Ei fallengelassen. Sein Schock sitzt tief in seinen Augen, als er mich anblickt. Seine Pupillen haben sich geweitet, sodass das Weiße nicht mehr zu sehen ist. Doch genauso schnell, wie er sich erschrocken hat, genauso schnell hat er sich wieder unter Kontrolle und sieht mich lediglich mit Verunsicherung an. Mir fällt sofort auf, dass sowohl der Mann als auch die Frau vor uns viel größere Augen haben als ich oder Mehmet. Da stellt sich schnell die Frage in mir, ob sie zwei Menschen sind.

„Gillis?“

Die Stimme der Frau hört sich besorgt an und sie blickt ihn stirnrunzelnd von der Seite an. Als hätte Gillis sie nicht gehört, schaut er mich weiterhin, ohne mit den Wimpern zu zucken an. Sein Blick strahlt nun nicht nur Verunsicherung aus, sondern auch Zweifel. Mit dieser Erkenntnis kann ich jedoch nichts anfangen, weswegen ich zittrig zu Mehmet blicke, näher zu ihm rücke und das Ei noch fester an mich drücke. Mehmet jedoch blickt die beiden argwöhnisch an und legt seine Hand auch nicht von seinem Schwert weg.

„Ich habe den Krieger hier, wo ist Ashram?“, fragt das Pixie ungeduldig.

„Hier bin ich.“

Beim Ertönen seiner Stimme macht mein Herz einen Sprung. Die Stimme klingt so stark und gleichzeitig bedrohlich. Sofort blicke ich zum Eingang des Tores und erkenne eine große Gestalt auf uns zukommen. Das Erste was mir auffällt, sind seine breiten Schultern und seine hohe Statur. Je näher er kommt, desto besser sind die Abdrücke seiner Muskeln durch seinen Pullover sichtbar. Ich halte erstaunt die Luft an, als sein Gesicht besser erkennbar wird.

Es sind seine Augen, die mir den Atem rauben. Nicht seine Augenfarbe, sondern sein Ausdruck: pure Stärke, Kraft und Macht. Seine Lippen, die zu einem kalten Strich gezogen sind und seine hinausragenden Wangenknochen verdeutlichen seine Ausstrahlung. Sein kurzes, schwarzes Haar wird sachte mit dem Wind zur Seite gestrichen. Kraftvoll, mit sicheren Schritten läuft er zu uns. Müsste ich ihn mit einem Wort beschreiben, wäre es unzerstörbar.

„Solveig“, höre ich Mehmet neben mir zischen und spüre schon, wie seine Hand auf meinem Rücken mich zu Boden drückt.

Erst jetzt erinnere ich mich, dass ich mich ja verbeugen sollte, sobald Ashram auftauchen sollte. Nun verstehe ich auch wieso. Um Mehmet nicht zu verärgern, gehe ich tatsächlich auf meine Knie und blicke aufgeregt auf das rote Gras.

„Steht auf“, höre ich Ashrams raue Stimme nah bei uns.

Ich stehe erst auf, nachdem Mehmet sich erhebt und traue Ashram auch erst anzuschauen, als ich aufrecht dastehe. Ashram steht zwischen den anderen zwei und blickt Mehmet mit einem neugierigen Blick an. Seine Augen huschen von dem Ei in meinen Händen zu Mehmet, der immer noch einen argwöhnischen Blick auf dem Gesicht hat, hin und her.

„Ashram“, stellt er sich vor und reicht Mehmet seine Hand.

Was mir sofort auffällt sind Ashrams Narben auf seinem Unterarm, als der Stoff seines Pullovers etwas nach oben rutscht. Mehmet reicht ihm unsicher seine Hand. Schon fängt es an in meinem Kopf zu rattern. Ich mache mir Sorgen, wie ich reagiere, wenn er mir die Hand reicht und mich mit seinem kalten Blick durchbohrt. Schnell fällt mir auch auf, dass ich ihm gar nicht die Hand reichen kann, ohne dass das Ei runterfällt. Meine Sorgen vergehen binnen Sekunden, als er sich nach Mehmet an das Pixie wendet, es zunickt und mich auslässt, als würde ich gar nicht existieren. Etwas beleidigt und peinlich berührt blicke ich runter auf meine weißen Ballerinas. Auf einmal fühle ich mich wie ein kleines Kind und wünsche mir überall zu sein, nur nicht hier.

„Ich halte mein Wort Pixie“, sagt er düster und spricht dabei das letzte Wort mit einem Hauch von Verachtung aus.

„Ashram“, meldet sich der Mann namens Gillis plötzlich leise und blickt ihn ängstlich von der Seite an.

„Später“, winkt Ashram ihn ab und wendet sich wieder an das Pixie.

„Du hast mir den Krieger gebracht und das Ei, das Weib kannst du wieder mitnehmen“, sagt er ungehalten.

Er würdigt mir immer noch kein Blick, viel eher scheint er angewidert von mir zu sein. Meine Augenbraue schnellt hoch und ich blicke Ashram verächtlich an.

„Entschuldige mal“, melde ich mich nun empört und plustere meine Wangen auf.

Ich bereue meine Worte sofort, als er mir ruckartig in die Augen blickt. Sein Blick ist kälter als die Antarktis. Jede einzelne Pore in meinem Körper ist eingefroren und ich spüre deutlich, dass er sich wünscht, ich wäre tot und nicht hier bei ihm. Am liebsten würde ich meinen Satz zurücknehmen. Mir wird klar, dass wir uns in einer anderen Welt befinden. Dieser Mann ist fähig und würde vermutlich auch nicht zögern mir vor allen anderen eine Backpfeife zu verpassen. Schuldbewusst beiße ich mir auf die Unterlippe und blicke ängstlich weg, um seinen bösen Blick zu entgehen.

„Ich rate dir, sie mitzunehmen“, zischt er dem Pixie zu.

„Das geht nicht“, sagt das Pixie nur gleichgültig.

Erst jetzt verstehe ich, was hier vorgeht. Ashram hat keine Ahnung, dass ich die Kriegerin bin. Er geht davon aus, dass es nur ein Mann sein kann und in dem Fall eben Mehmet. In diesem Moment wünsche ich mir ehrlich gesagt auch, dass Mehmet die Rolle übernimmt und ich nach Hause unter meine Decke schlüpfen kann.

„Als ich sagte, dass ich den Krieger und das Ei ausbilden würde, war niemals die Rede, dass ich die Verantwortung für ein vorlautes und dummes Kind übernehme“, spricht Ashram wütend.

Er klingt, als würde er keine andere Antwort von dem Pixie akzeptieren. Tatsächlich fühle ich mich in dem Moment in meinem weißen, dreckigen Kleidchen und den schmutzigen Ballerinas, wie ein Kind. Am liebsten würde ich unter den Erdboden versinken vor Scham.

„Ashram“, meldet sich Gillis wieder angestrengt.

Es scheint, als hätte Gillis, woher auch immer herausgefunden, dass ich die Kriegerin bin und nicht Mehmet. Er scheint Ashram wohl darauf hinweisen zu wollen. Doch Ashram hört ihm nicht zu.

„Das vorlaute und dumme Kind neben mir ist die Kriegerin mit dem Ei“, spricht nun Mehmet neben mir und wirkt verärgert.

Verblüfft, dass Mehmet etwas sagt, blicke ich ihn sofort von der Seite an und sehe, wie selbstsicher er Ashram ansieht. Mir kommt es vor, als würden alle den Atem anhalten, außer dem Pixie natürlich, der die ganze Zeit seine ausdruckslose Miene hält. Ich traue mich gar nicht Ashram in die Augen zu blicken. Ich spüre sein Ärgernis deutlich bis in meine Knochen.

„Pixie?“, fragt Ashram ihn mit kalter Stimme, als könne er den Worten von Mehmet nicht glauben.

„Es ist wahr“, höre ich Gillis sagen. „Ich spüre, dass sie es ist.“

Mein Herz hört gar nicht mehr auf gegen meine Brust zu pochen. Ich habe ein schlechtes Gefühl bei der ganzen Sache und ich fühle mich fehl am Platz. Die schöne Umgebung kann die Situation nicht mehr retten, nur noch das warme Gefühl des Wesens im Ei. In dem Moment, in dem ich mir wünsche von irgendjemand beiseitegeschoben und beschützt zu werden, höre ich zum ersten Mal seine Stimme: keine Angst. Am liebsten hätte ich noch mehr gehört und mich von seiner weichen und tiefen Stimme beruhigen lassen. Doch ich schlucke nur stark und halte mein Kinn hoch, um alle Anwesenden anzuschauen. Die Frau scheint überrascht zu sein, jedoch nicht so wutentbrannt wie Ashram.

„Eine Frau?“, fragt Ashram skeptisch, als könne er es einfach nicht glauben.

Ich bin ebenfalls wütend. Wütend, weil Ashram so respektlos mir gegenüber ist. Wütend, weil die Rolle einer Frau hier wohl an letzter Stelle steht. Wütend, weil er mir das Gefühl gibt, nichts Wert zu sein. Trotzdem schmeiße ich ihm meine Gefühle nicht gegen sein Gesicht, wie er sein Zorn auf mich peitscht.

„Soll ich den Mann mitnehmen?“, fragt das Pixie, als er Wind macht zu gehen.

„Nein, er bleibt bei mir“, sage ich blitzschnell, bevor auch nur irgendjemand etwas sagen kann.

Ich erkenne den erstaunten Blick der Frau und den hilflosen Ausdruck des Mannes Gillis neben ihr, der Ashram entschuldigend anblickt, obwohl dieser ihn gar nicht ansieht. Ashrams Blick liegt nämlich nur auf mir. Erst nachdem ich mir dreimal gesagt habe, dass er mir nichts tun wird, blicke ich ihm in die Augen. Ich versuche einen starken Eindruck zu hinterlassen, doch ich habe viel eher das Gefühl, dass er weiß, dass ich mir jeden Moment in die Hose mache.

„Voraussichtlich er möchte das überhaupt“, sagt Ashram verärgert.

Dabei blickt er mich an, als würde er wissen, wie Mehmets Entscheidung aussieht. Ich halte den Blickkontakt weiterhin stand, wartend auf eine Antwort von Mehmet. Mit zitterndem Atem wünsche ich mir, dass Mehmet bei mir bleibt, sodass ich nicht auf mich allein gestellt bin. Mehmet scheint schnaufend nachzudenken, als wäre er nicht zufrieden mit seiner Entscheidung und blickt mich schließlich von der Seite an.

„Ich bleibe bei ihr“, sagt er unzufrieden und blickt wieder weg.

Nun bin ich es, die Ashram mit hochgezogener Augenbraue ansieht, bis er wieder sein Todesblick aufsetzt und ich wegblicke. Dann dreht er sich abrupt um, ohne etwas zu sagen und läuft zurück ins Schloss. Ich merke, wie eine Last von mir fällt. Mein ganzer Körper zittert und ich habe das Gefühl, überhaupt keine Kraft mehr in mir zu haben. Das starke Standhalten hat mich viel Überwindung und Energie gekostet. Ich nehme mir vor Mehmet später mein Dank auszusprechen.

„Wir werden uns wiedersehen Kriegerin“, sagt das Pixie zu mir, ehe er seine Flügel ausbreitet und losfliegt.

Ich schaue kurz hinterher bis nur noch ein kleiner Fleck zu sehen ist, dann drehe ich mich wieder zu den anderen um. Die Hände nach hinten gestemmt stehen beide unnatürliche Menschen mit den großen Augen vor uns. Während die Frau mich freundlich anlächelt, blickt der Mann mich argwöhnisch an und betrachtet anschließend das Ei in meinen Händen.

„Mein Name ist Bahar“, stellt sich die Frau nett vor und zeigt auf den Mann neben ihr. „Das hier ist Gillis.“

„Ich bin Solveig“, sage ich etwas schüchtern und senke den Blick hinunter zum Ei.

„Mehmet“, höre ich meinen neugefunden Freund neben mir kurz sagen, als wolle er nicht noch mehr von sich preisgeben.

„Freut mich euch kennenzulernen“, sagt Bahar mit ehrlicher Stimme. „Folgt mir, ich führe euch ins Schloss.“

Als Bahar und Gillis uns den Rücken zuwenden, blicke ich erst fragend zu Mehmet. Dieser schaut mich ebenfalls unsicher an und zuckt schließlich mit den Schultern, als die beiden loslaufen. Also tappen wir vorsichtig durch das rote Gras und folgen ihnen. Zufrieden stelle ich fest, dass mein Bauchgefühl nichts von Gefahr ausstrahlt und das Wesen ebenfalls stumm ist. Was bliebe uns auch anderes übrig als nicht mitzugehen? Ich kenne mich hier sowieso nicht aus und ich bin mir sicher, dass meine Rolle als “Kriegerin“ viel zu wichtig ist, um verloren gehen zu können. Der unangenehme Gedanke, was sie alle von mir wohl erwarten, schleicht immer wieder in meinen Kopf herum. Krieger werden nicht umsonst mit Gewalt und Krieg verbunden. Trotzdem laufe ich wacker weiter und versuche den Gedanken zu vertreiben. Niemand wird mich zwingen können, etwas gegen meinen Willen zu tun!

Als wir durch das Tor laufen, hebe ich meinen Kopf hoch, um wieder das Schloss zu begutachten. Noch nie in meinem Leben habe ich ein echtes Schloss mit eigenen Augen gesehen. Klar, gab es Bilder im Internet, aber die haben nicht die Präsenz ausgestrahlt, wie wenn man direkt vor einem Schloss steht. Selbstverständlich wächst meine Neugierde, wie es wohl darin aussehen wird. Also laufen wir weiter durch das rote Gras, bis ein weiteres Tor, etwas kleiner als das vom Anfang sich öffnet wie eine Tür. Ich spüre, wie aufgeregt ich bin und hoffe, dass man mir das nicht sofort ablesen kann. Krieger sollen doch den Anschein machen, als könne sie niemand aus der Fassung bringen.

Als sich jedoch plötzlich etwas Großes vor mich aufbaut, bleibt mir die Luft weg und ich pfeife auf meinem Titel als Krieger. Größer als ich und ohne Kopf, steht eine leere Rüstung vor mir und scheint nicht einverstanden zu sein, mich durchzulassen.

„Spiritu“, höre ich die ermahnende Stimme von Bahar. „Sie gehören zu uns.“

Alles in allem sieht die Rüstung nicht abschreckend aus, da sie wie eine gewöhnliche Ritterrüstung aussieht. Doch die Tatsache, dass sich darin nichts als Luft befindet und sie sich trotzdem bewegen kann, lässt mich beinahe ohnmächtig werden. Kurz dachte ich nur, dass sie eine Dekoration wäre, doch als sie dann wirklich vor mir stand, sich bewegte und der Kopf der Rüstung fehlte, wurde mir abrupt schlecht.

Da Bahar und Gillis wieder weiterlaufen und Mehmet nicht einmal ein bisschen erstaunt ist wie ich, kralle ich meine Finger auf die Schale des Eies und merke, wie trocken meine Lippen geworden sind.

„Was war das?“, flüstere ich immer noch erschrocken zu Mehmet und hoffe, dass die anderen mich nicht hören.

„Ein Hausgeist“, sagt er schulterzuckend, als wäre es das normalste auf der Welt.

Während sich meine Nackenhaare aufstellen, frage ich mich kurz, ob das alles doch nicht eher ein Traum ist. Die Tatsache, dass es Geister gibt, erkläre ich mir damit, dass ich mich in einer anderen Welt befinde oder einfach nur träume, eine andere Erklärung gibt es nicht.

Ich lenke mich damit ab, indem ich das Innere des Schlosses mustere. Meine Füße laufen auf einem großen Teppich und überall stehen Kerzen, da dies wohl die einzige Lichtquelle zu sein scheint. Ansonsten sind die Wände ebenfalls aus dem Stein wie außen. Als wir eine steinerne Treppe hochlaufen, womöglich zum ersten Stockwerk, sehe ich unten gegen die Wand gelehnt noch ein paar hölzerne Tische, auf denen verzierte Kerzen stehen oder oben drüber Gemälde hängen. Die Treppe führt uns zu einem Flur, an dem auf jede Seite vier Türe zu sehen sind. Als Bahar auf halbem Weg stehen bleibt und eine Tür öffnet, bleiben Mehmet und ich unsicher stehen.

„Das hier ist dein Zimmer Solveig“, erklärt sie kurz und läuft hinein.

Neugierig folge ich ihr und werde vom Licht, das durch das Fenster scheint, gestoppt. Im Flur war es so dunkel und düster, dass ich im Zimmer erst einmal blinzeln muss wegen der Helligkeit. Der Raum ist wirklich groß, stelle ich erstaunt fest. Auf der rechten Seite steht ein gigantisches Bett, indem ich dreimal reinpassen würde. Geradeaus führt eine Tür direkt auf einen Balkon zu und neben der Tür steht ein großer Schreibtisch. Links im Raum sehe ich noch eine Tür, die vermutlich ins Badezimmer führt. Was mir dann sofort ins Auge sticht, ist die Kampfrüstung, die neben der Badezimmertür an einem Haken hängt. Mir überkommt sofort eine Gänsehaut bei dem Gedanken sie womöglich anziehen zu müssen.

„Hier ist dein Badezimmer“, lächelt Bahar ruhig und zeigt auf die Tür, bei der ich bereits dachte, dass es sich um ein Bad handeln muss.

„Du kannst ein Bad nehmen, so lange bringe ich ein paar Klamotten“, sagt sie und zwinkert mir zu.

„Alles klar“, sage ich dankend und blicke zu Mehmet.

„Sein Zimmer liegt am anderen Ende des Flures“, sagt Bahar schnell, als hätte sie meine Gedanken gelesen.  

„Wenn ihr beide fertig seid, könnt ihr runter ins Esszimmer kommen. Ich bin mir sicher, dass ihr am Verhungern seid“, meint sie lächelnd und läuft mit Mehmet aus dem Zimmer.

Als die Tür hinter ihnen zugeht, stehe ich etwas verloren mit dem Ei in meinen Händen da und bin mir nicht sicher, womit ich anfangen soll. Ich habe so viele Fragen und Gedanken im Kopf und ich wünschte, ich könnte mit jemandem darüber sprechen. Um mich abzulenken, laufe ich zur Tür, die ins Badezimmer führt und öffne sie vorsichtig. Wie erwartet steht eine große Badewanne, Toilette und Waschbecken darin. Kurz frage ich mich, ob es hier denn auch warmes Wasser gibt. Unsicher lasse ich Wasser in die Wanne laufe und halte meine Hand unter das Wasser. Das kalte Wasser lässt mich kurz zurückschrecken, also versuche ich an dem Hahn zudrehen, mit der Hoffnung, dass es warm wird. Wieder halte ich meine Finger unter dem Strahl und merke, wie das kalte Wasser langsam warm wird. Zufrieden mit der Temperatur lasse ich die Wanne volllaufen.

Ich schließe die Tür hinter mir zu und lege das Ei vorsichtig auf den Boden. Bei dem Gedanken das Ei unbeaufsichtigt auf dem Bett zu lassen, hatte ich ein ungutes Gefühl. Lieber habe ich es in meiner Nähe, damit ich es im Auge behalten kann. Nachdem ich ein Handtuch unter dem Waschbecken gefunden habe, lege ich meine Klamotten ab und lege mich ins warme Wasser. Tief einatmend tauche ich hinein, als das Becken schon fast voll ist. Unter Wasser sind die Gedanken am lautesten. Wie wird es hier weitergehen? Was hat es mit dem Ei auf sich? Bin ich richtig in dieser Welt? Werde ich die Rolle des Kriegers übernehmen können? Wann werde ich wieder nach Hause gehen?

Als ich wieder auftauche, lehne ich mein Kopf am Becken an und schließe die Augen. Es tut gut, endlich wieder ein Bad nehmen zu können. Ich spüre, wie sich meine Muskeln entspannen und ich mich etwas erhole. Anschließend nehme ich die Seife in die Hand, die am Beckenrand liegt und wasche mich sorgfältig. Wer weiß, wann ich das nächste Mal die Möglichkeit habe, in einer Badewanne zu liegen.

Irgendwann verliert das Wasser an Wärme und ich steige aus der Wanne heraus. Ich trockne mich mit dem Handtuch ab, wickele es um meinen Körper und öffne vorsichtig die Tür. Wie erwartet liegt etwas auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch. Ich schnappe mir das Kleidungsstück und gehe wieder ins Badezimmer. Es handelt sich hier um ein einfaches, weißes Hemd mit Schnüren an den Handgelenken und einer schwarzen, engen Leggings. Als ich das Hemd anziehe, habe ich schon einmal Schwierigkeiten die Ärmel auf beiden Seiten zuzubinden. Die Leggings bekomme ich gut über die Beine übergezogen, obwohl ich zugeben muss, dass sie wirklich eng ist. Meine Haare flechte ich zusammen, damit sie nicht nass meine Schulter runterhängen. Anschließend schnappe ich mir das Ei und verlasse das Badezimmer. Sehnsuchtsvoll blicke ich zum Fenster und nehme mir vor, später hinauszuschauen, da mein Bauch schon vor Hunger knurrt.

Im selben Moment, als ich die Tür zu meinem Zimmer öffne, höre ich, wie noch eine Tür auf dem Flur sich öffnet. Hoffnungsvoll blicke ich in die Richtung und erkenne zu meinem Glück Mehmet, der auf mich zukommt. Er trägt ebenfalls ein Hemd, das ihm natürlich besser steht als mir und eine richtige schwarze Hose. Ausdruckslos bleibt er vor mir stehen und mustert kritisch meinen Aufzug.

„Die Leggings ist ein bisschen zu eng“, sage ich leise, da ich nicht will, dass jemand hört wie ich mich beschwere.

„Kein Wunder“, sagt er und ich könnte schwören ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen zu sehen. „Sowas trägt man auch unter der Kampfhose.“

Gerade als Mehmet Anstalt macht die Treppen runterzulaufen, halte ich ihn unbeirrt an der Hand fest. Er scheint von meiner Reaktion genauso verwundert zu sein wie ich. Zusätzlich glaube ich, dass er kurz Sorge hatte, ich könnte ihn verzaubern mit meiner Berührung. Ich gebe zu, dass ich zu schnell gehandelt habe und zwischen uns noch kein richtiges Vertrauensverhältnis besteht.

„Ich wollte mich noch bedanken“, sage ich schnell, bevor es komisch wird zwischen uns.

Mit gerunzelter Stirn blickt er mich an und scheint nicht zu verstehen, für was ich mich bedanke.

„Dafür, dass du hiergeblieben bist“, erkläre ich schulterzuckend. „Wir kennen uns nicht. Eigentlich hättest du das nicht für mich tun müssen.“

„Schon gut“, sagt er kurz und ich entnehme dies als ein Zeichen, seine Hand loszulassen.

Bevor ich Treppen heruntergehe, atme ich noch einmal kräftig ein und sammele mein Mut. Dicht hinter mir folgt Mehmet, wie mein persönlicher Schatten oder auch Schutzschild. Ich fühle mich mit Mehmet tatsächlich sicherer in diesem Schloss. Als wir unten ankommen, blicken wir uns beide unsicher um. Wir befinden uns eigentlich wieder am Eingang, da wo wir vorher der Rüstung begegnet sind. Die Rüstung finde ich auch neben der großen Tür wieder, dieses Mal steht sie aber fest neben der Tür.

„Was meinst du, wo das Esszimmer ist?“, frage ich Mehmet.

Er scheint gerade etwas sagen zu wollen, da ertönt schon ein lautes Stimmengewirr aus der linken Seite.

„Diesen Krieg werden wir mit ihr an unserer Seite verlieren“, höre ich eine kräftige Stimme und bekomme sofort eine Gänsehaut am ganzen Körper.

Diese Stimme werde ich nun für immer und ewig wiedererkennen, da sie unvergleichbar ist. Es ist die Stimme von Ashram. Neben mir höre ich das leise Knirschen von Mehmet. Seufzend und unglücklich läuft er an mit vorbei in Richtung der Stimme von Ashram. Unsicher laufe ich ihm hinterher und drücke das Ei fest gegen meine Brust.

 

MEHMET

 

„Ei Kinder was treibt ihr so spät abends noch hier? Schlafen solltet ihr schon längst. Passt auf, dass euch der Nachtgiger nicht erwischt“, hält uns ein älterer Mann auf und blickt uns streng an.

Gerade sind wir noch eine Seitenstraße heruntergelaufen und waren auf dem Heimweg. An der Ecke einer Gasse angelehnt, etwas im Schatten, steht ein älterer Mann mit seinen Händen in seiner Hosentasche.

„Es gibt gar keine Nachtgiger“, antwortet Jorek dem Mann nur verächtlich.

Gerade machen wir Anstalt weiterzulaufen, als der Mann selbstgefällig zu lachen beginnt, wodurch sich seine Falten auf der Stirn stark winden.

„Wieso lachen Sie?“, fragt Jorelk leicht verärgert.

Ich merke, dass Jorek die Situation erst bereinigen muss, bevor wir weiterlaufen können. Kampfbereit steht er vor dem älteren Mann und blickt ihn herausfordernd an.

„Weil du noch jung und naiv bist“, lacht der alte Mann weiter.

„Na haben Sie denn schon einmal einen Nachtgiger mit eigenen Augen gesehen?“, stichelt Jorek ihn mit rotem Kopf an.

„Oh ja“, seufzt der Mann und seine Miene wird ernster. „Die armen Kinder hätte es fast böse erwischt, das kann ich euch sagen.“

„Was ist mit ihnen passiert?“, melde ich mich erschrocken zu Wort.

Ich hatte mich von Anfang an hinter Jorek gestellt, da ich nicht in die Situation zwischen den beiden verwickelt werden wollte. Doch nach seinem letzten Satz wurde ich aufmerksam und stellte mich neben Jorek hin.

„Sie waren nachts allein unterwegs und der Nachtgiger hatte vor sie mitzunehmen, wie es in allen Geschichten erzählt wird“, antwortet er mit hochgezogener Augenbraue.

„Er hatte es vor? Also hat er es doch nicht getan?“, fragt Jorek skeptisch und provokant.

„Das ist sein Wesen. Der Nachtgiger sammelt Kinder, die noch spät abends unterwegs sind zusammen und frisst sie im Anschluss. Niemand kann ihm entgegentreten, keiner hat eine Chance gegen ihn“, erklärt er. „Aber an diesem Abend konnte ich mit eigenen Augen sehen, wie ein Wesen ihm mit Leichtigkeit das Wasser reichen konnte und die Kinder noch einmal davonkamen.“

Jorek und ich blicken ihn neugierig an und warten gespannt darauf, wen er meint. Noch nie habe ich von solch einem Wesen gehört. Dabei werden in unserem Dorf einige Geschichten von verschiedenen Fabeln und berühmten Helden erzählt.

„Es war weder Mensch noch Fabel. Habt ihr schon einmal von solch einem Wesen gehört?“, fragt er und wir schütteln beide kräftig mit dem Kopf.

„Es lebt weit hinter dem Grävelswald. Tief im Tahorja-Gebirge , umringt von Wasserfällen, steht ein gigantisches, hohes Schloss, in welchem das Wesen mit seinen Dienern lebt. Es ist unsterblich, wisst ihr, was das bedeutet?“, fragt er rhetorisch und spricht gleich weiter. „Nichts auf dieser Welt kann es töten. Das Wesen selbst kann es nicht einmal. Es lebt bereits seit Jahrhunderten auf dieser Welt, verstoßen von den Menschen und den Fabeln. Ein Wesen, das von Anfang an auf sich allein gestellt war. Es besitzt einen außergewöhnlichen Charakter, vermutlich geprägt durch die vergangenen Jahrhunderte. Die Männer, die ihm bereits begegnet sind, sagen es sei unberechenbar, bedrohlich und stolz. Die Frauen erzählen, es wirke reserviert und undurchdringbar. Eins sei gesagt, keiner legt es mit ihm an.“

„Wie heißt das Wesen?“, frage ich erstaunt, gefesselt von seiner Beschreibung.

„Ashram“, haucht er dessen Namen und mich überkommt eine Gänsehaut.

 

„Ashram, nicht“, ertönt eine alarmierende Stimme, gerade als Solveig und ich den Raum betreten.

Mir schwirrt, seitdem wir Ashram begegnet sind, eine lang zurückliegende Erinnerung im Kopf herum, als ich das erste Mal eine Erzählung von Ashram gehört habe. Nie hätte ich gedacht, dass ich das unsterbliche Wesen jemals kennenlernen würde. Vor allem nicht mit dem langersehnten Krieger aus den Geschichten. Hätte halt keiner wissen können, dass es sich damit um eine Frau handelt.

Alle Blicke im Esszimmer sind auf uns gerichtet, oder vielleicht eher auf Solveig. Diese steht dicht neben mir, bei näherem Hinsehen sogar etwas hinter mir versteckt. Sie wirkt eingeschüchtert und überfordert, das ist gut daran zu erkennen, dass sie sich an das Ei in ihren Armen klammert, als wäre es ein Schutzschild. Ich weiß, dass sie sich vor Ashram fürchtet. Und wenn ich das weiß, wissen das mit Sicherheit alle anderen auch. Schlecht ist nur, dass der langersehnte Krieger, der den Frieden herbeiführen soll, zum einen eine Frau ist und zum anderen bereits vor Ashram Angst hat. Wie wird sie auf Krieg und Tod reagieren? Ich gehe davon aus, dass dieser Gedanke gerade bei allen am Tisch sitzenden Personen durch den Kopf geht.

Mitten im großen Esszimmer, am langen Tisch, sitzt Ashram wütend am Tischende, links und rechts seine Vampirfreunde. Rechts neben ihm sitzt der Vampir, der Solveig und mich vor dem Schloss abgeholt hatte. Wenn ich mich recht erinnere, war sein Name Gillis. Gillis hatte Ashram auch aufhalten wollen, als Solveig und ich den Raum betreten hatten. Bedacht blickt Gillis auf die rote Tischdecke und wirkt unschlüssig. Neben Gillis sitzt eine rothaarige Frau mit verschränkten Armen und blickt Solveig herablassend an. Bei ihr spüre ich sofort, dass man nicht gut mit ihr Kirschen essen kann. Zu Ashrams Linke sitzt die Vampirin Bahar mit ihren rotbraunen, schulterlangen Haaren, die uns mit Gillis vor dem Schloss abgeholt hatte. Im Gegensatz zur anderen Frau blickt Bahar Solveig mitleidig und entschuldigend an, als würde es ihr leidtun, dass Solveig Ashrams Worte habe hören müssen. Neben Bahar sitzen jeweils noch ein glatzköpfiger Vampir, der Solveig erwartungsvoll ansieht und ein Vampir, dessen braune Haare zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden sind, welcher eher gelassen dreinblickt.

„Setzt euch doch“, spricht Bahar bemüht freundlich und zeigt auf die freien Plätze am anderen Ende des Tisches. „Das Essen wird gleich serviert.“

Mit prüfendem Blick sehe ich zu Solveig, ob sie in der Lage ist sich zu bewegen. Im Wald hatte ich dauernd Zweifel an Solveig, wer sie ist und was ihre Intuition ist. Ich traute ihr nicht, daran hat sich bis dato auch nichts geändert. Was sich geändert hat, ist die Verbundenheit zwischen uns. Erschreckend merke ich, dass sich zwischen Solveig und mir eine freundschaftliche Basis entwickelt hat, seitdem wir im Schloss angekommen sind. Dabei ist höchstens eine Stunde vergangen. Womöglich ist dieses Gefühl zustande gekommen, weil wir auf uns allein gestellt waren gegenüber Ashram und den Vampiren. Klar, ich hätte sie auch allein mit ihnen lassen können, doch ihr flehender Blick und die pure Angst in ihren Augen unterließen mir diese Entscheidung. Nun fühlt es sich an als wären wir im Krieg, Solveig und ich gegen Ashram und den Vampiren. Nichtsdestotrotz kann ich ihr noch nicht trauen, das braucht Zeit.

Ich sehe, wie Solveig sich auf die Unterlippe beißt, ihre Hände sich zu Fäusten bilden und sie mir wacker zunickt. Also setzen wir uns auf die Holzstühle, an das Tischende. Solveig versucht sich unauffällig im Raum umzusehen, doch sie wird nicht aus den Blicken der anderen gelassen. In manchen Momenten schafft es Solveig mutig zu sein, wie zum Beispiel in dem Moment, als sie darauf bestand, dass ich hier im Schloss bleibe. Oftmals wirkt sie aber eher wie ein kleines Kätzchen, das sich ihre Ohren zuzieht, wenn es zu laut wird. Schwierig sich vor anderen beweisen und rechtfertigen zu müssen, wenn diese eigentlich jemand vollkommen anderes erwartet hätten.

„Hier würde man ja auch eine Stecknadel auf den Boden fallen hören“, beschwert sich der glatzköpfige Vampir neben Bahar und klatscht mit seinen flachen Händen auf den Tisch.

„Ich breche mal das angespannte Schweigen und stelle mich vor“, spricht dieser weiter und richtet sich an Solveig. „Mein Name ist Tjard und ich bin ein enger Freund von dem stinkigen Typen hier“, zwinkert er Solveig aufmunternd zu und zeigt auf Ashram.

Ashram sieht überhaupt nicht begeistert aus. Mit aufgeblähten Nasenflügeln fixiert er Solveig weiterhin und lässt sie nicht aus den Augen. Seine Augen strahlen pure Wut aus, wodurch er sehr bedrohlich wirkt. Solveig ignoriert den nicht ablassenden Blick von Ashram und sieht zu Tjard hin.

„Bahar und Gillis musst du schon kennengelernt haben“, zählt er auf und zeigt auf die beiden.

„Die wunderschöne Dame neben Gillis ist Kayla“, lächelt Tjard übermütig und blickt Kayla an.

Kayla hat immer noch denselben herablassenden Blick auf ihrem Gesicht, nur dass sie Solveig nun zusätzlich ein falsches Lächeln schenkt.

„Ihr solltest du lieber aus dem Weg gehen“, fügt Tjard zögerlich hinzu, nachdem er das Lächeln gesehen hat.

„Zuletzt haben wir noch Indigo neben mir“, sagt er und zeigt zu seiner rechten Seite.

Indigo lehnt sich gelassen mit einem Arm an der Stuhllehne an und die andere Hand drückt sich an seinem Bein ab. Er nickt uns beiden nett zu, wirkt aber dennoch desinteressiert.

„Meine Geschwister und ich leben schon lange hier in diesem Schloss mit Ashram zusammen“, fügt Tjard noch hinzu. „Und wie sieht es mit euch aus?“, fragt er neugierig und blickt Solveig an.

Bei der Frage konnte ich förmlich sehen, wie Solveig ihre Zunge verschluckt. Mit großen, erschreckten Augen blickt sie in die Runde, verfängt sich in Ashrams wütendem Gesicht und wird daraufhin blasser und blasser. Ich entscheide mich diese Frage zu beantworten, bevor sie in Ohnmacht fällt.

„Mein Name ist Mehmet“, melde ich mich zuerst zu Wort und alle Blicke haften an mir, neben mir höre ich Solveig erleichtert aufatmen. „Ich komme aus einem weit gelegenen Dorf hinter dem Grävelswald. Ich kenne Solveig nun seit wenigen Tagen. Plötzlich habe ich sie im Wald gefunden und seitdem hat sie sich mir angeschlossen.“

„Was hattest du im Grävelswald verloren?“, fragt mich Kayla bissig und formt ihre Augen zu schlitzen.

„Ich habe mein Dorf verlassen“, antworte ich kurz angebunden und sehe es nicht ein ihr mehr zu erzählen, wenn sie so unhöflich nachfragt.

„Aus welchem Dorf kommst du denn?“, fragt nun die andere Vampirschwester vorsichtig.

„Ich komme aus dem Dorf namens Hagrebord.“

„Dürfen wir auch wissen, wieso du dein Dorf verlassen hast?“, fragt Bahar weiterhin vorsichtig.

Zögerlich blicke ich zu meinen verschränkten Fingern, die auf dem Tisch liegen und mir eine gewisse Ruhe geben.

„Du hattest Angst“, spricht Tjard.

Verwundert blicke ich auf und merke, wie er mich intensiv mustert. Tjard sieht mir nicht in die Augen, es wirkt eher so, als würde er durch mich hindurchsehen. Während er mich fixiert, huscht ein Lächeln über sein Gesicht, ganz so, als wüsste er auch noch mehr.

„Und es hatte etwas mit Freiheit zu tun“, erkennt er und wirkt stolz auf seine Erkenntnis.

Diese verdammten Vampire.

 

„Wieso haben Ashrams Diener sich nicht um den Nachtgiger gekümmert?“, fragt Jorek naiv und mit einer Spur Zweifel, als würde er dem alten Mann nicht ganz glauben.

„Junge, das sind keine gewöhnliche Diener“, lacht der alte Mann wieder und streicht sich nun erschöpft mit einer Hand eine graue Strähne vom Gesicht.

„Fabeln?“, frage ich leise, da ich immer noch erstaunt bin.

„Vampire“, antwortet er gespenstisch und blickt auf uns hinab. „Ashram hat sechs treue Vampirdiener, die ihm in die Ewigkeit folgen.“

„Sie meinen doch nicht etwa die sechs legendären Vampirkrieger?“, fragt Jorek und runzelt seine Stirn.

„Aber ja doch“, bejaht der alte Mann.

„Warum sind sie so berühmt?“, stellt sich meine Frage an Jorek und dem alten Mann.

„Alle sechs Vampire haben individuelle, besondere Kräfte. Um welche genau es sich handelt, weiß kaum jemand“, antwortet mir der alte Mann. „Aber glaube mir, das willst du auch gar nicht herausfinden.“

 

Wieder mal erinnere ich mich an das Gespräch damals in der Kindheit mit dem alten Mann und Jorek. Die Vampirgeschwister haben alle eine besondere Kraft. Wenn ich raten müsste, hat Tjard die Fähigkeit, die Gefühle von Menschen zu erkennen.

„Lässt du das bitte sein!“, ärgert sich Bahar über Tjard, nachdem sie meinen entgleisten Gesichtsausdruck gesehen hat, und zwickt Tjard in den Arm.

„Schon gut“, jauchzt Tjard und streicht behutsam die Stelle am Arm, an welche Bahar ihn zuvor gezwickt hat. „Es tut mir leid“, entschuldigt er sich bei mir halbherzig.

„Meine Geschwister und ich sind mit besonderen Fähigkeiten gesegnet“, erklärt Bahar an Solveig gerichtet, da sie wohl sehr fraglich ausgesehen haben muss. „Jeder hat seine eigene Kraft.“

Solveig blickt immer noch mit gerunzelter Stirn zu Bahar und scheint nicht mit der Antwort genügt zu sein.

„Mein Bruder Tjard zum Beispiel kann unter anderem die Entscheidungen anderer erkennen“, erklärt Bahar geduldig.

„Also bist du aus Angst und dem Wunsch nach Freiheit geflohen?“, meldet sich nun Indigo an mich gewandt, ehe Bahar fertig mit ihrer Erklärung ist.

Dabei wirkt er weder herablassend noch neugierig, eher ungeduldig das Gespräch am Essenstisch zu Ende führen zu können.

„König Lennard hat den Krieg angezettelt und ich sah es nicht ein, mein Kopf für seine Pläne zu verlieren“, antworte ich ihm kurz, ebenfalls ungeduldig das Gespräch beenden zu können.

„Dann ist es also auch schon unter den Menschen offiziell“, merkt Gillis bedacht an und blickt besorgt weiterhin auf die Tischdecke.

Kurz blicke ich zu Ashram, der direkt neben Gillis sitzt, um zu erkennen, was gerade in ihm vorgehen mag. Dieser blickt immer noch Solveig an, doch scheint seine Wut etwas abgeraucht zu sein. Er wirkt nun eher nachdenklich und mies gelaunt. Während des kurzen Gesprächs bisher hat er kein Wort verloren.

„Wohin hattest du vor zu fliehen? Was war dein Ziel?“, fragt Kayla und klingt, als würde sie immer noch an meine Worte zweifeln.

„Keine Ahnung“, antworte ich nun bissig. „Ich wollte einfach nur weg.“

Langsam fühle ich mich wie ein Sträfling, als würden sie mir meine Geschichte nicht abkaufen, als würde ich etwas verheimlichen. Solveig blickt mich von der Seite entschuldigend an, als wäre sie schuld dafür, dass ich ausgelöchert werde und nicht sie.

„Und was hattest du im Grävelswald verloren?“, spricht nun Ashram und richtet sich direkt an Solveig.

Sein Blick ist unausweichlich auf Solveig gerichtet und die Frage unvermeidbar für sie zu beantworten. Man kann förmlich spüren, dass er die Antwort von Solveig erwartet und keine andere. Auch Solveig scheint dies zu spüren, zappelnd sitzt sie auf ihrem Stuhl und ringt um Worte.

„Ich bin dort zufällig aufgetaucht“, flüstert sie und zuckt leicht entschuldigend mit den Schultern, als wüsste sie, dass diese Antwort erfolglos ist.

„Wie soll ich mir das vorstellen?“, flüstert Ashram ebenfalls, hebt bedrohlich seine Augenbraue hoch. „Zufällig?“

Die Spannung im Raum steigt, die Wut kocht wieder in Ashram hoch. Ich könnte schwören seine Wut in der Luft knistern zu hören. Keiner bewegt sich, oder wagt es etwas zu sagen. Die Einzigen die sprechen sind Ashram und Solveig, als wären auch nur die beiden allein im Raum. Solveig scheint die ganze Situation sehr unangenehm zu sein. Sorgenvoll beißt sie sich auf die Unterlippe und blickt mal vorsichtig zu Ashram hoch, dann aber wieder schnell auf die Tischdecke oder zum Ei.

„Das ist alles so kompliziert und unglaubwürdig“, sagt sie nun laut und atmet schwer, ihre Stimme zittert dabei.

Ihre Augen werden glasig und sie blickt hilfesuchend durch die Menge. Ashram knurrt bedrohlich und wendet sich mit ernstem und forderndem Gesichtsausdruck an Tjard.

„Wenn sie gleich anfängt zu weinen, verliere ich endgültig den Geduldsfaden und ich schwöre, wir ziehen ohne sie in den Krieg“, zischt Ashram ungeduldig und wirkt wutgeladen.

Tjard scheint seine Aufforderung stumm zu verstehen, dreht sich konzentriert zu Solveig und blickt sie genauso durchdringend an, wie kurz davor mich.

„Was tut er da?“, frage ich alarmierend, runzele die Stirn und hebe automatisch meinen Arm vor Solveig.

Keiner gibt sich die Mühe, mir das zu erklären und alle warten geduldig, bis Tjard mit der Sache fertig ist, mit der er angefangen hat. Von der Seite höre ich, wie Solveig erschrocken aufatmet. Dann bleibt es erst einmal still im Raum.

„Er nimmt mir die Angst und die Panik“, antwortet Solveig ausdruckslos und blickt Tjard benommen und enttäuscht an.

Anders als bei mir fasst sich Tjard plötzlich an die Brust und seine Augen werden schockierend größer, als sie sonst schon sind.

„Entschuldigt“, sagt dieser sofort und erhebt sich von seinem Stuhl. „Das war etwas zu viel für mich.“

Er verlässt kommentarlos den Raum. Außer Bahar sieht ihm keiner seiner Vampirgeschwister sorgenvoll hinterher. Ashrams Blick liegt weiterhin auf Solveig, nun etwas entspannter da sie keine Tränen mehr in den Augen hat.

„Das war sehr heimtückisch“, spricht Solveig und sieht finster aus.

Verwundert über ihren Mut, so ehrlich zu sprechen, bemerke ich, wie ihre flachen Hände auf dem Ei liegen. Hat ihre Haltung etwas mit dem Ei zu tun? Sie wirkt plötzlich wie ein anderer Mensch.

„Es war notwendig“, sagt Ashram kalt. „Du wolltest erzählen, wie du im Wald gelandet bist.“

„Von wollen ist hier nicht die Rede“, antwortet sie nachtragend.

Wieder ist es still im Raum. So still, dass man hören kann, wie Ashram mit seinen Zähnen knirscht.

„Ich komme aus einer anderen Welt“, gibt Solveig schließlich nach und atmet angespannt aus. „Auf meiner Erde gibt es keine Fabeln und wir leben in einer viel fortgeschrittenen Zeit. Unsere Gräser sind grün, unser Himmel blau und wir haben nachts nur einen Mond.“

Alle Augen liegen nun neugierig auf Solveig. Was sie da erzählt, ist auch für mich neu. Ihre kurze Beschreibung klingt so fernab von der Realität, doch sie wirkt dabei dermaßen ehrlich, dass ich ihr glaube.

„Vor wenigen Tagen fand ich ein Bild im Dachgeschoss meines Onkels“, erzählt sie unbeirrt der Blicke weiter. „Das Bild war wunderschön. Zu sehen war ein dichter Wald und rotes Gras. Ich war wie hypnotisiert. Leicht berührte ich das Bild und konnte hindurchsteigen, keine Ahnung wie so etwas möglich ist. Kurzerhand bin ich vollkommen in das Bild gestiegen und verlor schließlich das Bewusstsein. Aufgewacht bin ich in eurer Welt und vor mir stand Mehmet.“

Ashrams Blick richtet sich kurz an mich, ehe er wieder zu Solveig blickt.

„Es stimmt, was Mehmet gesagt hat“, sagt sie und blickt mich kurz an. „Ich habe mich an ihm gehangen und bin ihm gefolgt, da ich keine Ahnung hatte, wo ich gelandet bin und was es alles auf dieser Welt gibt. Gestern, als wir durch den Wald liefen, spürte ich etwas Unbeschreibliches. Etwas rief nach mir, suchte mich, wollte, dass ich es finde. Wie verzaubert fand ich das Ei und verliebte mich sofort in ihn.“

„Ihn?“, unterbricht Gillis Solveig bedacht.

„Ja“, sagt sie leise, blickt vorsichtig zu Gillis und drück das Ei behutsam in ihr Schoß. „Ich kann ihn spüren.“

Plötzlich gehen die Seitentüren des Esszimmers auf und drei Mädchen mit jeweils einem Tablett und Speiseglocke laufen hintereinander, im selben Tempo herein und stellen sich in eine Reihe. Es handelt sich hierbei um Drillinge, die alle einen strengen Dutt tragen, schwarze Haare besitzen und ihre Augen mandelförmig sind. Sie unterscheiden sich lediglich durch die Farbe ihrer Kleider, welche durch einen breiten Gürtel zusammengehalten werden, den ganzen Körper verdecken und bis zum Boden reichen.

„Das Essen kann serviert werden Master Ashram“, sprechen die Drillinge gleichzeitig mit einer hellen Stimmenfarbe.

Aus der Seite sehe ich, wie Solveig die Drillinge neugierig mustert.

„Nur zu“, spricht Ashram und wirkt erschöpft. „Mein Hunger ist aber für heute vergangen.“

Ohne irgendjemanden im Raum anzusehen, steht Ashram von seinem Stuhl auf und verlässt den Raum. Alle sehen ihm hinterher, doch er verabschiedet sich nicht mehr. Mich überkommt eine Erleichterung, dass die Fragerei fürs Erste beendet ist und es etwas zu Essen gibt. Die Drillinge stellen zuerst Solveig, mir und Kayla das Tablet mit dem Essen hin. Leise höre ich Solveig, wie sie sich bei ihnen bedankt. Schließlich verlassen sie wieder das Esszimmer und kommen kurze Zeit später mit den restlichen Tabletts herein. Unschlüssig blicke ich die Speiseglocke vor mir an und frage mich, ob es sich hierbei um eine Wunschglocke handelt.

„Danke“, richtet sich Bahar deutlich an die Drillinge. „Genießt nun das Essen.“

Während die Vampirgeschwister ihre Speiseglocke heben, warten Solveig und ich zuerst. Alle vier Geschwister haben unterschiedliche Speisen auf ihren Tellern, so könnte es tatsächlich eine Wunschglocke sein. Behutsam lege ich meine Finger auf die Speiseglocke und stelle mir ein Kartoffel-Tatar vor. Als ich diese hochhebe, erscheint darunter tatsächlich mein Wunschgericht. Ich merke, wie Solveig meine Speise neugierig mustert und schließlich auch ihre Speiseglocke hochhebt. Als darunter nichts zum Vorschein kommt, verstehe ich schnell, dass es so was wohl in ihrer Welt nicht gibt. Eine Wunschglocke ist auch bei uns nicht gang und gebe. Nur die reichen Leute besitzen solch eine Wunschglocke, da sie sehr selten und aufwendig herzustellen sind.

„Das ist eine Wunschglocke“, meldet sich Bahar vor mir zu Wort. „Du hältst deine Finger darauf, stellst dir vor, was du gerne essen würdest, und hebst sie dann hoch. Darunter erscheint dann deine Wunschspeise.“

Völlig baff sitzt Solveig neben mir und ich kann deutlich spüren, wie aufgeregt sie wird.

„Das heißt, ich kann mir jedes Gericht wünschen?“, fragt Solveig, um wohl sicherzugehen.

„Selbstverständlich“, nickt Bahar und lächelt sie freundlich an.

Nachdenklich sitzt Solveig erst da, während die anderen bereits anfangen zu essen. Als sie sich überlegt hat, was sie gerne essen würde, legt sie vorsichtig ihre Finger auf die Wunschglocke und schließt ihre Augen. Auf ihre Essenswahl waren wir alle nicht vorbereitet. Nachdem sie aufgeregt die Wunschglocke hochgehoben hatte, erschien ein flaches, rundes, belegtes Fladenbrot. Stirnrunzelnd betrachte ich ihr Essen und blicke sie fragend an, als sie ein Stück davon abreißt und der zerschmolzene Käse sich ausdehnt.

„Noch nie eine Pizza gegessen?“, fragt sie verwundert und scheint die Pizza in vollen Zügen zu genießen.

Ich schüttele nur den Kopf und frage mich automatisch, ob das eine gängige Speise in ihrer Welt ist.

„Willst du ein Stück probieren?“, fragt sie und reißt, ohne auf meine Antwort abzuwarten, ein Stück ab. „Schmeckt superlecker.“

Eigentlich wollte ich ihr Angebot verneinen, da sie mir das Stück aber bereits auffordernd hinhält, nehme ich es an. Ohne groß darüber nachzudenken beiße ich von dieser sogenannten „Pizza“ ab. Sofort überkommt mich ein Heißhunger und ich verschlinge in schnellen Zügen das Stück. Stumm und mit einem kleinen Lächeln nicke ich ihr zustimmend zu. Glücklich sitzt sie neben mir und lächelt ebenfalls leicht zurück.

 

SOLVEIG

 

Mit dem Ei auf meinem Schoß sitze ich draußen auf meinem Balkon, das zu meinem Zimmer dazugehört. Nach dem Essen gab es kein Gespräch mehr, es schien, als wäre jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Bahar begleitete uns freundlicherweise zu unseren Zimmern und dann beschloss ich den Tag auf dem Balkon zu beenden. Ich sitze schon seit Stunden auf einer Kissenpyramide und blicke den Lauf der Sonne zu. Mir gehen unterschiedliche Gedanken durch den Kopf, während ich in den violetten und langsam roten, dunkelvioletten Himmel starre.

Mein Hauptgedanke gilt Ashram. Schon allein das Aussprechen seines Namens in meinem Kopf, lässt mich leicht erzittern. Sein durchdringender Blick lag am Essenstisch ohne Unterbrechungen auf mir. Sicherlich hat er sich tausend Szenarien ausgemalt, wie er mich am liebsten umbringen würde. Jedenfalls sah er danach aus. Noch nie im Leben bin ich einer Person begegnet, vor der ich dermaßen Respekt und Angst hatte. Dieser Typ würde mich, ohne zu zögern in Stücke zerreißen. Das Einzige, was ihn aufhält, ist das Ei. Schmunzelnd streichele ich dessen glatte Schale.

Dann ist da noch Mehmet, der mir im Kopf herumschwirrt. Ich bin ihm unendlich dankbar, dass er mir am Essenstisch zur Seite stand und mich unterstützte. Als Tjard bat uns vorzustellen und sie eigentlich alle mich anstarrten, war ich dermaßen überfordert. Ich stieß ein kurzes Gebet in den Himmel, als Mehmet mir aus der Zwickmühle half. Irgendwas ist anders zwischen uns, seitdem wir im Schloss angekommen sind. Für mich persönlich ist Mehmet in diesem Schloss die einzige Ansprechperson und der einzige, dem ich vertraue, auch wenn ich weiß, dass das noch nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Trotzdem glaube ich, dass ich einige Sympathiepunkte bei ihm sammeln konnte, sonst wäre er nicht hiergeblieben und hätte mir nicht aus der Patsche geholfen. Überrascht hatte mich seine kurze Erklärung, wie er in den Wald gekommen ist. Das hatte er mir gegenüber noch nicht erzählt. Die Kriegssituation in diesem Land kann ich zwar aus gegenwärtiger Perspektive noch nicht richtig einschätzen, doch hat es etwas zu bedeuten, wenn Mehmet aus diesem Grund sein Dorf verließ. Ich nehme mir vor, mit Mehmet darüber die Tage intensiver zu sprechen.

Was mich auch noch beschäftigt, sind die Vampirgeschwister Bahar, Gillis, Tjard, Kayla und Indigo. Alle so unterschiedlich, aber doch irgendwie ähnlich. Auch wenn sie sich vom Aussehen her unterscheiden und, wie es aussieht auch noch unterschiedliche Fähigkeiten besitzen, folgen sie doch allesamt treu Ashram. Hier muss auch eine Geschichte dahinterliegen. Vom Aussehen her hätte ich mir Vampire anders vorgestellt, sie gleichen Menschen sehr. Die einzigen Unterschiede von ihrem Äußeren liegen in ihren großen Augen und ihren langen, spitzen Eckzähnen. Gerade das Letztere wurde bei Tjard deutlich sichtbar, als er sich vorgestellt hatte und breit lächelte. Schließlich ist ihre Augenform um etwa eine Fingerbreite größer als meine. Ansonsten konnte ich bisher keine weiteren Unterschiede erkennen, aber das heißt noch lange nicht, dass es da nicht noch mehr gibt.

Erstaunlich sind die Fähigkeiten der Geschwister, über diese wurde nicht laut herumgeprahlt. Lediglich Tjards Fähigkeit, die Entscheidungen anderer erkennen zu können, ist bekannt, doch vermutlich steckt auch da noch viel mehr dahinter. Für heute hat mir seine Fähigkeit jedoch ausgereicht. Die Erinnerung daran, wie Tjard seine Kraft bei mir anwendete, bereitet mir wieder eine Übelkeit aus. Ich hatte das Gefühl, das sich mein Herz langsam zusammenzieht und etwas von mir langsam ausgesogen wird. Meine Panik und Angst vor Ashram verflog, doch gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass auch meine Lebensenergie schwand. Ich wurde müde und fühlte mich unglücklich. Außerdem war ich enttäuscht darüber, dass sie solch einen hinterhältigen Trick an mir anwendeten, nur weil ich in Augen von Ashram zu schwach wirkte. In dem Moment hörte ich wieder die Stimme von dem Wesen im Ei. Ich bin bei dir, sagte er zu mir und ich spürte deutlich, dass ich wieder stärker und auch mutiger wurde. Tjard werde ich in nächste Zeit erst einmal aus dem Weg gehen.

Etwas positives hatte das Erlebnis im Essenszimmer jedoch; die Wunschlocke. Wieso kann es sowas nicht in meiner Welt geben? Während ich darüber nachdenke, was ich mir alles zu essen wünschen könnte, klopft es plötzlich an meiner Tür. Zaghaft erhebe ich mich, immer noch mit dem Ei in meinen Händen und laufe zur Tür. Innerlich kämpfe ich gegen den Gedanken, was ich tun sollte, wenn Ashram hinter der Tür steht. Zögerlich öffne ich sie um eine Handbreite und äuge vorsichtig raus. Erleichtert atme ich aus, als ich Gillis dastehen sehe und öffne die Tür schließlich richtig.

„Hallo“, begrüße ich ihn freundlich und merke, dass meine Stimme immer noch zittrig ist.

„Ich hoffe, ich störe nicht“, entschuldigt dieser sich und blickt mich ebenfalls zögerlich an.

Seine Hände hat er hinter seinem Rücken versteckt und seine Augen gehen die meinen aus dem Weg.

„Nein, alles gut“, sage ich hastig. „Kann ich dir behilflich sein?“

„Es gebe da ein paar Dinge, worüber ich gerne mit dir sprechen würde“, gibt er zu, als hätte er lange darüber nachgedacht. „Vorausgesetzt du bist nicht zu erschöpft für ein Gespräch.“

„Kein Problem, komm doch herein“, antworte ich sicher und öffne ihm einladend meine Tür.

Der hochgewachsene Gillis betritt dankend mein Zimmer und bleibt unsicher im Raum stehen. Es scheint ihm unangenehm zu sein, sich in meinem Zimmer zu befinden, weswegen ich auf meinem Balkon zeige und kurz frage, ob wir uns nicht nach draußen stellen wollen. Dieses Angebot scheint ihm viel Anspannung zu nehmen, da er auf dem Balkon plötzlich nicht mehr so versteift aussieht. Gillis ist von allen Vampirgeschwistern der zurückhaltendste und vermutlich auch am schüchternsten. Seine Art wirkt auf mich beruhigend und harmlos, da er nicht aufdringlich ist und mich nicht mit seinem Blicken auffressen möchte, im Vergleich zu Ashram. Gillis hat kurze, blonde Haare und stechendblaue Augen, welche aber die meine kaum erreichen. Von der Körperhaltung steht er geduckt da, seine Hände hinter seinem Rücken verschränkt. Er wirkt eher wie ein alter Mann, sehe er nicht so jung aus. Bevor Gillis anfängt zu sprechen, lege ich das Ei vorsichtig auf die Kissenpyramide, stelle mich schließlich neben Gillis und stütze mich am Balkongeländer ab.

„Es tut mir leid für dich, dass du so schlecht bei uns willkommen geheißt wurdest“, gibt er schließlich von sich und blickt zum Sonnenuntergang.

Ich tue es ihm gleich und blicke zum Horizont, an dem die Sonne gerade untergeht und die drei Monde am Himmel immer stärker zum Vorschein kommen. Das Schloss steht auf einem hohen Berg, so hoch, dass von meinem Balkon aus nur Wolken zu sehen sind. Nichtsdestotrotz ist das Plätschern eines Wasserfalles aus der Ferne zu hören und ich habe mir bereits vorgenommen, dem morgen auf die Spur zu gehen.

„Schon gut“, sage ich leise und zucke leicht mit den Schultern. „Ihr habt jemand anderes erwartet.“

Ich höre Gillis von der Seite schwer seufzen und frage mich, worüber er mit mir sprechen möchte.

„Was hat dir das Pixie alles erzählt?“, fragt er und blickt mich kurz an, bevor ich sein Blick jedoch erwidern kann, hat er sich bereits wieder weggedreht.

Nachdenklich versuche ich in meinem Kopf, alles mit der Begegnung mit dem Pixie zusammen zu puzzeln, ehe ich mich wieder an Gillis wende.

„Das Pixie hat mir lediglich gesagt, dass ich die lang ersehnte Kriegerin mit dem Ei bin und jeder auf mich gewartet und gesucht hat. Das Wesen in dem Ei soll das stärkste Tier auf der Welt sein und zusammen mit ihm wurde ich auserwählt, den Frieden herbeizuschwören“, zähle ich alles nachdenklich auf.

„Ach und es brachte mich zu Ashram, damit dieser mich und das Wesen ausbildet“, dabei spreche ich seinen Namen leise und zögerlich aus.

Nun lastet Gillis Blick länger auf mir und er wirkt sehr verständnisvoll.

„Nimm es Ashram nicht so übel“, meint er zögerlich. „Er lebt schon ziemlich lange auf dieser Welt und deine Funktion als Kriegerin ist sehr wichtig, um den Frieden herbeizuführen. Er kämpft gerade mit Zweifel und Ungeduld.“

Ich wüsste nicht, was ich darauf antworten sollte, weswegen ich nur ein unglückliches Seufzen von mir gebe. Er hat leicht reden. Gillis muss sich vor Ashram nicht beweisen, von mir wird das allerdings klar verlangt.

„Du sagtest vorhin, dass du aus einer anderen Welt kommst“, fährt Gillis fort und klingt dabei nachdenklich, ich nicke ihm zustimmend zu.

„Weißt du denn, was Krieg bedeutet?“, fragt er mich und sieht dabei sehr ernst aus.

Komisch, dass das seine erste Frage ist. Hätte ich jemand getroffen, der mir erzählt er käme aus einer anderen Welt, hätte ich ihn erst einmal nicht geglaubt. Irgendwann hätte ich die Person dann mit Fragen durchlöchert. Doch wiedermal dreht sich alles um Krieg, Kampf und Frieden.

„In unserer Welt führten die Menschen auch Kriege“, antworte ich ihm. „Zwei Seiten führen einen organisierten Kampf, geprägt von Gewalt und Waffen. Beide versuchen ihr Interesse durchzusetzen, egal wie viele Menschen dafür sterben müssen. Ich habe das zum Glück nicht mehr miterlebt. Diese Kriege sind schon lange Zeit her, da wurde ich noch nicht einmal geboren.“

Verständnisvoll nickt Gillis und scheint wohl bedacht nachzudenken, was er als nächstes sagt.

„In unserer Welt gibt es seit Jahrhunderten Kämpfe zwischen Fabeln und Menschen“, beginnt er. „Mal mehr und mal weniger. Doch in den letzten Jahren hat sich etwas geändert, genauer gesagt, ging es los, als König Lennard nach seinem Vater den Thron bestieg. Menschen, die sich für den Frieden auf unserer Welt einsetzten, verschwanden. Fabeln, welche sich mit den Menschen gut verstanden, gar befreundet waren, zogen sich zurück und verschanzten sich. Gerüchte wurden auf die Welt gesetzt, in welche entweder Menschengruppe Fabeln gefoltert oder Fabeln Menschen gejagt haben sollten. Der König nutzte diese Situation aus und betrieb Propaganda bei den Menschen. Er manipulierte, beeinflusste sie mit nicht bewiesenen Fakten, die gegen die Fabeln sprachen, und schaffte es, die Mehrheit der Menschen in seine gewünschte Richtung zu lenken. Diese Richtung orientiert sich nach einer Welt ohne Fabeln und seither versucht er, das Gleichgewicht dieser Welt zu zerstören.“

Gebangt höre ich Gillis zu und lasse mich von nichts ablenken. Ich merke, wie mein Herz aufgeregt schneller schlägt, da seine Mimik ein purer Ernst ausstrahlt, wie ich noch bei jemanden gesehen habe.

„König Lennard strebt nach einer Welt ohne Fabeln, und Menschen, die ihm bedingungslos folgen. Auf diesem Weg tötet er die schwachen, unschuldigen Fabeln oder versklavt die, die ihm bei seinem Vorgehen möglicherweise hindern könnten. Menschen, die versuchen sich gegen ihn zu stellen, werden ohne Widerrede und Erbarmen öffentlich hingerichtet.“

„Lange vor König Lennard, mit Anfang der Monarchie bei den Menschen, gab es eine Sage, die sich durch das ganze Land zog“, sagt er nun bedacht und blickt mich bekümmert an. „Es heißt, wenn der kluge, mutige und selbstlose Krieger erwacht, an seiner Seite das stärkste Tier, dann erst entsteht der Frieden auf unserer Welt. Der Krieg zwischen den Fabelwesen wird gestillt, der König gestürzt und die Menschen müssen keine Angst mehr vor der Dunkelheit haben.“

„Und da bin ich“, sage ich leise ironisch und blicke in die Ferne. „Mit dem Ei an meiner Seite.“

Ich spüre nicht nur einen großen Kloß in meinem Hals, sondern auch eine heftige Bürde auf meinen Schultern. Wer hat sich bitte diese Sage ausgedacht? Wenn das mal keinen Druck ausübt…

„Das ist nur eine Sage“, versucht Gillis mich aufzumuntern. „Wer weiß schon, ob das stimmt.“

Für eine billige Sage hat sich bereits ganz schön viel erfüllt. Ich kam wie aus dem Nichts in diese Welt hereinspaziert und habe das Ei gefunden. Fehlt nur noch, dass es schlüpft. Schuldbewusst schaue ich zum Ei, da ich gespürt habe, dass ich mir für einen kurzen Moment gewünscht habe, dass es nicht schlüpfen mag. Sofort verwerfe ich den Gedanken.

„Zu einem Krieg gehören immer zwei Seiten“, melde ich mich nun, nachdem ich schwer geschluckt habe. „Habt ihr vor euch gegen den König zu stellen? Ashram als Anführer der Fabeln?“

„Ashram ist kein Fabel“, antwortet Gillis trocken.

Erst jetzt erkenne ich meinen Denkfehler und gleichzeitig nicht. Umringt von den fünf Vampiren bin ich davon ausgegangen, dass Ashram auch ein Fabel sein muss. Ich habe gar nicht erwägt, etwas anderes anzunehmen. Mir war bewusst, dass er kein Vampir ist, da er aussieht wie ein normaler Mensch. Nichtsdestotrotz wird er von Vampiren umringt, wirkt wie ein Anführer, also hatte ich ihn automatisch in die Kategorie Fabel einsortiert. Jetzt sagt Gillis aber, dass Ashram kein Fabel ist. Könnte es wirklich sein, dass Ashram ein normaler Mensch ist?

„Er ist ein Mensch?“, frage ich und glaube meinen Worten selbst nicht.

„Nein“, schüttelt Gillis den Kopf. „Das ist aber kein Thema, worüber ich mit dir reden sollte.“

Verschwiegen steht Gillis neben mir und hat nun seine Hände in seine Hosentasche gelegt. Ich akzeptiere seine Antwort, auch wenn ich zu gern mehr erfahren hätte.

„Was ist mit meiner ersten Frage?“, frage ich vorsichtig und wiederhole. „Stellt ihr euch gegen den König?“

„Das haben wir uns geschworen“, antwortet er kurz. „Dafür brauchen wir aber die Hilfe des Kriegers und des Wesens im Ei.“

„Ich weiß nicht, ob ich die Richtige dafür bin“, gebe ich ehrlich zu und seufze.

„Das bist du, Solveig“, sagt Gillis nun ermutigend und blickt mir sicher in die Augen. „Alles was geschieht, hat einen Grund.“

Das ist das erste Mal, dass jemand in diesem Schloss meinen Namen ausgesprochen hat. Ich lächele ihm leicht entgegen, auch wenn ich an seine Worte zweifle.

„Ich sollte dich jetzt ausruhen lassen“, meint Gillis und blickt zum Horizont, an dem die Sonne schon fast untergegangen ist.

„Dank für die Infos“, bedanke ich mich seufzend und mit schwerem Kopf.

„Eine Bitte hätte ich noch“, sagt Gillis und bleibt am Türrahmen des Balkons stehen.

„Ja?“, frage ich neugierig und merke, wie seine Augen ein leichtes Funkeln ausstrahlen.

„Das ist mir etwas unangenehm, dich darum zu bitten“, räuspert er sich und blickt verstohlen zum Ei. „Dürfte ich es mal berühren?“

Verwundert blicke ich Gillis an. Am Anfang wirkte er noch wie ein alter Mann, der nur in einem jungen Körper steckt. Nachdem er diese Frage jedoch gestellt hat und seine Augen zu strahlen begannen, spiegelte sich ein kleines Kind in ihm wider.

„Klar doch“, antworte ich wie selbstverständlich und schmunzele leicht.

Vorsichtig läuft Gillis an mir vorbei, stützt sich runter auf seine Knie und blickt das Ei forsch, aber doch sehnsuchtsvoll an. Langsam und bedacht legt er sein Zeigefinger auf die Schale, sofort rutscht ihm ein Lächeln über seine Lippen, wie ein kleines Kind, das soeben einen Welpen entdeckt hat. Ich sehe ihn schlucken, ehe er beide Hände auf das Ei legt. Gefühlvoll blickt er zu mir und sieht dankbar aus.

„Wir haben so lange gewartet“, sagt er nur und seine Stimme zittert dabei leicht.

Am liebsten wäre ich zu ihm gelaufen und hätte ein Arm um ihn gelegt. Aber wir kennen uns noch kaum, das wäre zu viel auf einmal gewesen. Also schenke ich ihm ein einfaches Lächeln und seufze schwer. Dann macht er Anstalt aufzustehen und hatte wohl beabsichtigt, das Ei hochzuheben. Ruckartig wird er zurück auf seine Knie geworfen. Verwundert blickt er das Ei an, ehe er laut anfängt zu lachen. Ich blicke ihn verständnislos entgegen und versuche herauszufinden, wieso er lacht. Währenddessen nimmt er seine Hände vom Ei, steht auf und läuft wieder zu mir.

„Es lässt sich wohl nur von dir heben“, erklärt er kurz, nachdem er meinen ahnungslosen Blick bemerkt hat.

„Du meinst, du konntest es wirklich nicht hochheben?“, frage ich und runzele die Stirn.

„Nein, es ist unmöglich“, lächelt er. „Aber das ist in Ordnung. Es beweist umso deutlicher, dass du die auserwählte Kriegerin bist, da nur du das Ei mit Leichtigkeit heben kannst.“

Fassungslos starre ich abwechselnd zu Gillis und zum Ei, das immer noch auf der Kissenpyramide liegt.

„Schlaf gut, Solveig“, verabschiedet sich Gillis schließlich und verlässt den Balkon und im Anschluss mein Zimmer.

Mit langsamen Schritten laufe ich zum Ei und bleibe davor stehen.

„Wie kommt es, dass du dich ausgerechnet für mich entschieden hast?“, frage ich das Ei und knie mich nun ebenfalls hin.

Wieder seufze ich und greife nach dem Ei, das sich mühelos hochheben lässt. Müde lasse ich mich mit dem Ei in meinen Armen im Bett fallen und merke erst jetzt, wie erschöpft ich eigentlich bin. Als ich den gleichmäßigen Puls des Wesens im Ei spüre, merke ich, wie mir die Augen zufallen und ich schlussendlich einschlafe.

Kapitel 7

 

Die Geburt ist der Anfang einer lebensgefährlichen Reise.

Erwin Koch (*1932), deutscher Aphoristiker

 

ASHRAM

 

Der Morgenwind ist stark und kühl, schützend ziehe ich die Kapuze meines Umhangs tiefer ins Gesicht, um meine Ohren vor dem kalten Gegenwind zu schützen. Die Sonne kommt gerade langsam hoch, wodurch der Himmel immer heller und violetter wird. Keine Wolke ist am Himmel zu sehen, heute wird ein klarer, sonniger Tag. Je heller der Himmel wird, desto schwächer wird das Licht der Sterne und der drei Monde. In der Frühe sind bereits die Luftfabeln aktiv und begegnen uns auf dem Weg zum Elfenreich. Unter anderem gewöhnliche Vögel, Tiere ohne menschliche Gaben, wie dem Sprechen. Dann aber auch Hippogreife, Waisenbringer oder Flosauxilias.

Mit einem kurzen Blick sehe ich hinunter, da wir wieder an einem Dorf vorbeifliegen. Die Menschen werden langsam auch wach, einige sind bereits am Arbeiten oder Füttern ihre Haustiere. Vor allem hier fliegen wieder auffällig viele Waisenbringer. Waisenbringer sind weise und gutmütige Luftfabeln. Sie besitzen lange, dünne Beine, ein violettes Gefieder, wodurch sie in der Luft kaum auffallen, einen langen, schwarzen Schnabel und einen goldenen Kreis oberhalb ihrer schlitzartigen Augen. Es wird angenommen, dass der goldene Kreis ein Zeichen dafür ist, dass sie ihre Dienste im Auftrag des Engelreiches verüben. Waisenbringer nehmen Waisenbabys auf und fliegen sie zu einer Familie, die es aufziehen soll. Sie fliegen solange, bis sie eine geeignete Familie finden, für die Auswahl einer Familie haben sie ein gutes Gespür. Waisenbringer liefern diesen Familien regelmäßig Geschenke, als Dank dafür, dass sie sich um das Waisenkind sorgen.

Ich drücke meinen Fußknöchel deutlich in das Hinterbein des Greifs und setze damit ein Zeichen, dass es schneller fliegen soll. Zander, der Name unseres Schloss-Greifes, setzt seine Flügel aus und gleitet nun bestrebt schneller durch den Wind. Zander lebt schon viel länger als ich im Schloss des Tahorja-Gebirges. Als ich damals mit den Vampirgeschwistern aufgetaucht bin, war es eine Ehre für Zander uns dort leben zu lassen. Seitdem es weiß, dass wir im Krieg gegen König Lennard antreten wollen, hat es uns seine Dienste angeboten. Also fliegt es uns immer von Ort zu Ort.

Greife sind intelligente und bedachte Fabeln, sie schließen selten Freundschaften, nur wenn der Gegenüber es in ihren Augen Wert ist. Sie unterscheiden sich der Hippogreife insofern, dass Greife einen löwenartigen Unterkörper besitzen, große, federbedeckte Flügel und einen spitzen, mittellangen Schnabel. Greife sind neben Drachen die schnellsten Fabeln in der Luft. Außerdem können ihre Augen so scharf sehen, dass sie Dinge von einer Distanz bis zu 1000 Meter erkennen können. Dagegen besitzen Hippogreife einen Pferdeunterkörper, nicht ganz so große Flügel wie Greife und einen Hahnenkopf. Die meisten Hippogreife sind nicht schlau und tappen oft in die Fallen der Menschen, welche Hippogreife einfangen, ihnen die Flugfedern brechen, anketten und dann versklaven.

Während der Wind an uns vorbeizieht, umkreisen meine Gedanken nur eine Person; das seltsame Mädchen, das die langersehnte Kriegerin sein soll. Ich spüre wieder, wie die Wut in mir aufbrodelt und schnaube verächtlich. Die ganze Sage mit dem Ei mit dem stärksten Wesen und dem starken, wackeren Krieger, der den König stürzen und Frieden einbringen soll, war von vornherein eine unsichere Sache, fast schon ein Hirngespinst. Erst in den letzten vergangenen Jahrzehnten wurde das Gerücht stärker. Hätte man mich vor hundert Jahren gefragt, ob ich an das Gerücht glaube, hätte ich laut gelacht. Doch in den letzten Jahrzehnten gab es einen Wandel auf der Welt, als der König immer mehr Fabeln auf seine Seite zog, er eine Vielzahl der Menschen gegen uns manipulierte und sie auf einen Kampf vorbereitete. In dieser Zeit wurde das Gerücht lauter, fast als wäre es der einzige Hoffnungsschimmer. Als mich dann noch das Gerücht erreichte, dass König Lennard tatsächlich das Ei gefunden hätte, fing ich ebenfalls an zu glauben, dass etwas an dem Gerücht wahr sein könnte. Wir leben in einer verrückten Welt, wieso sollte es dann nicht auch ein starkes Wesen mit einem Krieger geben, der uns vor einem Untergang bewahrt?

Doch dann erschien dieses Mädchen und die ganze Hoffnung, die ich bei den Menschen, bei vielen Fabeln und bei meinen Verbündeten sah, erlosch. Sie wird unser Untergang nicht bewahren können. Wie sollte sie denn auch? Sie ist noch ein Mädchen, das manchmal vorlaut ist, wenn sie sich traut, aber hauptsächlich schüchtern, emotional und ängstlich ist. Ich konnte in ihren graugrünen Augen genau erkennen, dass sie Angst vor mir hatte. Wie soll sie sich dann gegen unsere Feinde stellen? Nicht zu vergessen, dass sie kaum danach aussieht, als könne sie kämpfen. Ihre Beine und Arme sind viel zu dünn und eine Kampfhaltung ist nirgends zu erkennen. Mal sehen, was das Wesen im Ei mit sich bringt, sobald es schlüpft. Falls es überhaupt schlüpfen wird, wer weiß…

Was mich aber nicht in Ruhe lässt, ist die Tatsache, dass das Mädchen gestern Tjards Fähigkeit irgendwie zurückschleudern konnte. In diesem Moment wirkte sie nicht, wie sie selbst. Sie klang kalt und hatte eine ausdruckslose Miene, nachdem Tjard ihr die Angst und die Panik nahm. Tjard kam abends noch zu mir und erzählte mir, was es mit ihm gemacht habe, dabei sah er sehr schockiert aus. Er meinte, er hätte genau die Angst und Panik gefühlt, die er von dem Mädchen eigentlich entfernen wollte. Tjard kann die Entscheidungen anderer sehen und beeinflussen, weswegen er dem Mädchen die Wahl Angst zu haben und in Panik zu geraten, nahm und aus unverständlichen Gründen, sich selbst aneignete. Er war daraufhin dermaßen verstört, dass er den Saal habe verlassen müssen. Für mich stellt sich die Frage, ob diese Kraft von ihr ausging, sie es mit Absicht gemacht hat oder es vielleicht gar nicht von ihr kam, sondern von dem Ei, das die ganze Zeit auf ihrem Schoß lag.

„Ashram“, höre ich die tiefe Stimme von Zander. „Wir sind da.“

Ausdruckslos blicke ich auf seinem Rücken sitzend auf die Seite in die Tiefe und erkenne den Bangenwald. Der Bangenwald ist dafür bekannt, dass das Elfenreich sich darin erstreckt. Es ist ein dunkler Wald, lauter Picobäume, welche bis zu 60 Meter hoch sind. Ihre Baumkrone ähnelt einem Kegel, die Äste wachsen dicht aufeinander und bilden einzelne Stockwerke, die nach oben hin dünner werden. Den Bangenwald umgibt immerzu ein Nebel und eine Kühle, dass Menschen und Fabeln abschrecken soll, einzutreten. Die Elfen sind in jedem Wald zu Hause, doch im Bangenwald lebt das führende Elfenkind Finn. Seit dem Jahrhundertkrieg der Elfen, als sie sich spalteten und ein Teil Elfen blieben, die anderen zu Hexen wurden, gab es ein Elfenkind, das die restlichen Elfen regierte. Finn ist mehrere Jahrhunderte alt, sieht aber immer noch aus wie ein Kleinkind und wird keinem Geschlecht zugeordnet. Finn ist also weder ein Junge noch ein Mädchen, es ist beides und nichts.

Als wir dem Boden immer näherkommen und Zander schließlich durch den dichten Nebel fliegt, versuche ich mich noch mal an die wichtigsten Eigenschaften der Elfen zu erinnern. Schließlich ist es schon lange her, als ich sie das letzte Mal mit Garun besucht habe. Da sie aber ein sehr gutes Gedächtnis haben, werden sie sich sicherlich noch an mich erinnern können. Die Elfen versuchen sich seit ihrem Jahrhundertkrieg von der Welt abzuschotten und bleiben streng unter sich. Besucher empfangen sie eher ungern und nur mit guter Begründung. Elfen sind ein seltsames Volk, viel Wissen über sie gibt es kaum. Ich habe dem Elfenkind damals ein Besuch abgestattet, da ich es darum bitten wollte, mir den Fluch abzunehmen. Das hat aber nicht so gut funktioniert, wie man sieht…

„Ich danke dir“, sage ich zu Zander, als wir am Boden ankommen und es sanft stehen bleibt.

Schwungvoll steige ich von seinem Rücken herunter und lande angenehm auf dem Boden.

„Bist du sicher, dass du das machen willst?“, fragt es mich gewissenhaft und blickt sich mit Argusaugen um.

„Es muss sein“, antworte ich sicher.

Ich ziehe den Umhang aus und lege es neben Zander auf den Boden, da dieser hier auf mich warten wird, bis ich wieder zurückkehre. Der Nebel ist sehr dicht, ein Durchblick ist gar unmöglich. Die Sicht reicht bis zu fünf Bäume Entfernung aus, danach wird alles milchig. Mit dem Schwert auf meiner Seite verabschiede ich mich kurz von Zander und laufe geradewegs in den Nebel. Einen Weg gibt es nicht, den Eingang in das Elfenreich zeigt mir nur das Elfenkind, ansonsten werde ich es nicht finden. Ich laufe eine gefühlte Ewigkeit durch den Nebel, höre nur meine Schritte durch das rote Gras und sehe keine anderen Tiere oder Fabeln. Alles sieht gleich aus, als würde ich die ganze Zeit im Kreis laufen. Schnaubend und nicht erfreulich laufe ich weiter und gebe Acht, geduldig zu sein.

Als ich in unmittelbarer Entfernung einen Baum mit einer großen, hervorstechenden Wurzel sehe, weiß ich, dass mir Einlass gewehrt wird. Mitten in der Baumwurzel ist ein breites Loch zu sehen, breit genug, dass zwei Menschen gemeinsam durchpassen können. Also steige ich durch das Loch und laufe durch den Tunnel, das noch von draußen beleuchtet wird. Nach wenigen Schritten erreiche ich das Ende des Tunnels, auf dem Boden folgt das nächste große Loch. Ich erinnere mich, dass nun der unlustigste Part kommt. Etwas verärgert, dass die Elfen heutzutage nicht einen passableren Eingang in ihr Reich kreiert haben, stelle ich meinen Fuß an den Rand des Loches und blicke unglücklich in die Dunkelheit. Seufzend stelle ich auch meinen zweiten Fuß auf die andere Seite, sodass ich über dem Loch stehe. Schließlich verschränke ich meine Arme, springe leicht in die Höhe und lasse mich dann direkt in das Loch fallen. Es ist stockdunkel, während ich in die Tiefe falle. Wenn ich meine Arme etwas mehr verschränke, spüre ich wie meine Ellenbogen an der Wand abschleifen. Nach kurzer Zeit falle ich keine Hundertgrad mehr in die Tiefe, sondern rutsche an der Wand eine Strecke entlang. Mit einem kurzen Blick nach unten erkenne ich, dass es immer heller und heller wird. Plötzlich endet das beengende Loch und ich lande plump auf dem Boden.

Verärgert über die Landung, stehe ich zähneknirschend auf und reibe behutsam mein Steißbein. Ein kurzer Blick auf meine Umgebung reicht aus zu erkennen, dass sich in den letzten Jahren nichts geändert hat. Die Decke ist überwachsen mit Wurzeln, an einzelne Stellen hängen Äste, wie Lianen herab, mit Blättern, die als Licht dienen. Es ist stickig hier unten und die Luft ist süß. Ich vermute, dass das Elfenkind und seine Untergebenen auf dessen Thron auf mich warten. Sie wussten bestimmt schon, seitdem ich mit Zander den Nebel durchdrungen haben, dass ich hier bin. Sonst hätten sie mich auch nicht durch ihr Loch kommen lassen. Da der einzige Weg der Gang vor mir ist, laufe ich diesen achtsam entlang. Irgendwann erscheint eine Ecke und ich biege nach links ab. Wie erwartet stehen die Elfen mitten in einem großen Raum und blicken mich neugierig an.

Der Raum ist riesig, rund und besitzt mehrere Durchgänge. In der Mitte steht ein dicker Stamm und ragt noch weiter über die Decke hoch, weswegen die Baumkrone nicht zu sehen ist. Im Stamm ist ein Loch, in welchem das Elfenkind auf dessen Thron sitzt. Die anderen Elfen umringen den Stamm und blicken mich starr an.

„Guten Tag“, begrüße ich die Elfen mit einem schiefen Lächeln und bleibe weiterhin stehen.

Typisch für Elfen ist ihre braune Haut, die der Erde gleicht. Sie sind wunderschöne, makellose Fabeln. Alle besitzen golden, geschwungene Lippen, eine kleine Nase und eine große Stirn. Außerdem sind ihre Augen tiefschwarz, kein Augenweiß ist zu sehen und ihre Ohren sind spitz. Einige der Elfen haben goldene Tattoos an ihre Körperteile, welche sich durch ihre leichte Bekleidung bei diesen Temperaturen gut zeigen lassen. Ihre Haare tragen die Elfen unterschiedlich, wie auch ihre Haarfarbe. Ihre Finger sind zweimal so lang wie die eines Menschen und sie sind generell etwas größer.

„Ashram“, haucht das Elfenkind überrascht mich zu sehen und der Akzent mit der Betonung auf dem Vokal wird deutlich.

Das Elfenkind Finn besitzt lange, haselnussbraune Haare und einen Blumenkranz auf dem Kopf. Auf der Stirn besitzt es ein goldenes Tattoo einer Sonne, das Kinn ist zweigespalten. Im Gegensatz zu den anderen Elfen besitzt Finn die Größe eines Kindes. In dessen rechter Hand hält es ein Zepter.

„Wieso bist du hier?“, fragt das Elfenkind mich und gibt mir ein Handzeichen näher zu treten.

Ich laufe zuerst nach vorne, bleibe mehrere Meter vor den anderen Elfen stehen und blicke zum Elfenkind hoch, bevor ich anfange zu sprechen.

„Weil der Krieg bald beginnen wird“, antworte ich sicher und blicke erwartungsvoll hoch.

„Und?“, fragt es schließlich und sieht mich verständnislos an.

„König Lennard hat starke Mächte an seiner Seite und möchte die Herrschaft über unser Land übernehmen. Wenn wir das nicht gemeinsam verhindern, werden wir am Ende alle darunter leiden.“

Kurz ist leises, unverständliches Getuschel zwischen den Elfen zu hören. Hauptsächlich wirken sie nicht davon abgeschreckt oder gar bedroht.

„Wieso bist du hier?“, fragt das Elfenkind noch einmal, nachdem es seine Untertanen mit einem Zeichen zur Ruhe gebracht hat.

Mir scheint, als würde das Elfenkind die eigentliche Frage kennen, sie aber von mir hören wollen. Vielmehr verfolgt mich das Gefühl, dass es schon längst eine Meinung dazu gebildet hat.

„Ich bin hier, um herauszufinden, auf welcher Seite Ihr steht“, spreche ich und knirsche ungeduldig mit den Zähnen.

„Wir Elfen stehen auf gar keine Seite“, antwortet das Elfenkind und sieht unbeeindruckt aus.

„Ihr haltet euch also da raus?“, frage ich belustigt und fahre fort. „Während sie eure Kinder in den Wäldern jagen, euch weiterhin die Ohren abschneiden und eure Wurzeln verbrennen werden?“

Nun ist es mucksmäuschenstill. Alle blicken mich gebangt an, als hätte ich verheilte Wunden aufgerissen. Heutzutage werden Elfen gerne von den Menschen gejagt, Elfenohren geben eine schöne Dekoration ab und sind ein Zeichen von Macht. Eigentlich sind Elfen keine Fabeln, die man unterschätzen sollte. Sie können gut mit Waffen umgehen und gemeinsam sind sie noch viel stärker, da sie ihre Magie zusammen verbinden können.

„Wir sind müde von diesen Kriegen“, spricht das Elfenkind, seufzt und blickt desinteressiert auf dessen Zepter.

Damit meint es wohl den Jahrhundertkrieg innerhalb der Elfen. Dieser Krieg hat Jahre gedauert und spielte sich hauptsächlich in den Wäldern ab. Viele Elfen sind gestorben und die Wälder sind seit dem Krieg am heilen. Da sich das Volk der Elfen auch reduziert hat, ist die Macht der Elfen geringer geworden. Je mehr sie sind, desto stärker ist ihre Kraft. Doch seitdem sich ein Teil von den Elfen abgewandt hat, sie zu Hexen wurden, ist ihre Kraft nicht mehr dasselbe.

„Das verstehe ich“, gebe ich zu und blicke die Elfen um den Stamm herum verständnisvoll an. „Aber alle Fabeln teilen sich momentan auf und werden sich an diesem Krieg beteiligen.“

„Wir sind nicht wie alle anderen Fabeln“, meint das Elfenkind arrogant und reckt die Nase hoch.

„Die Hexen sind auf Seiten von König Lennard und werden ebenfalls in diesem Krieg kämpfen“, nenne ich mein bestes Argument.

Nun fängt das erregte Getuschel bei den Elfen wieder an. Von der Seite höre ich auch ein bedrohliches Knurren.

„Die Hexen ziehen in den Kampf?“, fragt das Elfenkind ungläubig und blickt mich nun mit großen, interessierten Augen an.

„Jawohl.“

Garun erzählte mir damals, dass es der sehnlichste Wunsch der Elfen ist, die Hexen vollkommen zu vernichten. Dadurch, dass sie sich von ihrem Volk abgewandt haben, wünschen sich die Elfen Vergeltung für die Toten und Rache wegen ihrer Revolte. Lange haben sie sich zurückgezogen, um Kraft zu sammeln. Garun ging damals davon aus, dass sie dies nur taten, um sich auf den nächsten Krieg vorzubereiten. Das Elfenkind scheint lange darüber nachzudenken, während die Elfen drumherum weiter miteinander diskutieren und teilweise verärgert schnaufen.

„Wenn wir uns auf eine Seite schlagen sollten“, beginnt das Elfenkind nun bedacht und das Getuschel endet. „Wieso sollten wir uns für Eure entscheiden?“

„Ihr wollt dasselbe wie wir, Rache und Frieden. Wir besitzen dieselben Feinde und Ihr wartet schon lange darauf, die Hexen zu vernichten. Wieso also nicht gemeinsam? Schließlich werden dadurch auch die Foltern gegen euer Volk enden“, argumentiere ich.

Ich merke aber schnell, dass das nicht reicht. Das Elfenkind blickt nämlich zögerlich mit geschürzter Lippe auf dessen Zepter. Dann muss ich eben ein weiteres Argument reinbringen.

„Ist euch das Gerücht mit dem stärksten Wesen von Mutter Cyra und dem langersehnten Krieger bekannt?“, frage ich und ziehe interessiert eine Augenbraue hoch.

„Selbst bis hier unten ist das Gerücht angekommen“, antwortet es kurz.

„Wir haben beide gefunden“, sage ich und klinge herausfordernd.

Tief im Inneren weiß ich, dass ich gerade mit dem Feuer spiele. Klar haben wir beide gefunden, das heißt noch lange nicht, dass die Sage Recht mit der Stärke und dem Geschlecht hat.

„Ist das so“, sagt das Elfenkind nun unbeeindruckt. „Wenn das so ist, wo sind sie dann?“

Diese Frage hatte ich zwar erwartet, aber keine passende Antwort darauf. Hätte ich das Mädchen mit dem Ei mitgebracht, hätte sich das Elfenkind sicher aus dem Krieg rausgehalten. Doch wir brauchen die Elfen auf unsere Seite, gerade weil König Lennard die Hexen bereits zu sich nehmen konnte.

„Sie sind in meinem Schloss“, antworte ich verbissen. „Als würde ich die zwei größten Mächte auf meiner Seite frei herumlaufen lassen.“

„Das glaube ich Euch nicht“, sagt das Elfenkind mit ausdrucksloser Miene.

„Ihr habt mein Wort, das es sie wirklich gibt“, versichere ich und schaue ernst zum Thron.

„Was bringt mir Euer Wort?“, sagt das Elfenkind nun verächtlich, runzelt die Stirn und blickt finster drein.

Ich weiß sofort, dass er damit auf die Vergangenheit anspielt. Als ich damals mit Garun bei dem Elfenkind war und es darum bat mir die Unsterblichkeit zu nehmen, verlangte es dafür zuerst ein Gefallen von meiner Seite. Leider konnte ich mein Wort nicht halten und die Vereinbarung platzte. Gerade möchte ich irgendwelche besänftigende Worte bilden, als er mich sofort darin unterbricht.

„Das reicht“, hält es mich auf. „Ich gebe euch vierzehn Monde Zeit hier mit dem Krieger und dem Wesen zu erscheinen. Wenn Ihr bis dahin nicht erscheint, werden wir uns aus dem Krieg raushalten.“

Mir wird bewusst, dass das Gespräch somit beendet ist. Also nicke ich dem Elfenkind nur zu und warte darauf, dass mich jemand nach draußen begleitet. Während ich angestrengt überlege, wie ich das Mädchen binnen vierzehn Tagen zu einer Kriegerin ausbilden kann, begleitet mich ein Elf wieder zurück an den Ort, aus dem ich vom Loch herausgeflogen bin. Da ich mich erinnere, wie die nächsten Schritte zum Ausgang aussehen, bin ich nicht überrascht, als es stockdunkel wird und ich einen Windhauch nach oben spüre. Wie damals gehe ich davon aus, dass die Magie der Elfen mich denselben Weg nach oben katapultieren. Denn ich komme wieder in der dunklen Höhle an, laufe in Richtung Licht und befinde mich schließlich wieder im Wald. Der Weg zurück zu Zander erfolgt schneller als der Weg hin zum Eingang ins Elfenreich. Brummend laufe ich durch das rote Gras und erreiche schließlich Zander.

„Hast du erreicht, was du dir vorgenommen hast?“, fragt mich Zander und kniet sich runter, damit ich besser auf seinen Rücken steigen kann.

„Wir werden noch einmal herkommen müssen“, antworte ich zischend. „Das nächste Mal aber mit dem Wesen und diesem Mädchen.“

 

 

SOLVEIG

 

Ein Klopfen reißt mich aus meinem tiefen Schlaf. Ich spüre regelrecht, wie ich nach dem ersten Klopfen verzweifelt versuche, zurück zu meinem Traum zu gelangen, doch nach dem zweiten Klopfen bin ich endgültig raus und wach. Zumindest so wach, dass mir wieder bewusst wird, wo ich mich befinde. Die Erinnerungen an den letzten Tagen rasen alle auf einmal durch meinen Kopf und ich muss leise stöhnen. Kaum bin ich wach, schon fühle ich mich ermüdet von all den Erlebnissen und Eindrücke aus dieser Welt. Als es schließlich noch einmal an der Tür klopft, öffne ich meine Augen und blinzele zur Holztür. Zu Beginn macht mir die Helligkeit von draußen zu schaffen, doch meine Augen gewöhnen sich schnell daran. Hastig werfe ich die Decke von mir zur Seite und bemerke das Ei neben mir, das wohl die Nacht über in meinem Armen lag. Ich muss es wohl gewärmt haben, wie eine Henne, denke ich und verdrehe die Augen. Galant springe ich über das Ei und lande auf dem Boden, dann laufe ich mit schnellen Schritten zur Tür, um sie zu öffnen.

Verblüfft bleibe ich am Türrahmen stehen und sehe die drei asiatischen Mädchen von gestern vor mir. Sie tragen wieder mal alle ein Kimono, jedoch in unterschiedlichen Farben. Mit einem Lächeln stehen sie in einer Reihe, blicken zu Boden und halten ihre Hände aneinander, als würden sie beten. Die Mädchen sehen aus, als wären sie sechs Jahre alt, zumindest wirkt ihr junges Gesicht danach und ihr Größe, die mir bis zum Bauchnabel reicht. Vom Gesicht her sehen sich alle drei sehr ähnlich, als wären sie Drillinge.

„Ja?“, frage ich verdutzt und blicke jede Einzelne fragend an.

„Das Essen ist serviert“, spricht das Mädchen links mit dem blauen Kimono und alle blicken weiterhin zu Boden.

„Danke“, antworte ich und versuche, ihr in die Augen zu schauen. „Aber ich frühstücke morgens nicht.“

„Dem Herrn des Hauses ist es wichtig, dass Ihr etwas zu Euch nehmt“, spricht nun das Mädchen in der Mitte mit dem grünen Kimono.

Die Art und Weise, wie das asiatische Mädchen das sagt, klingt, als wäre es eine Aufforderung.

„Das ist schön und gut“, sage ich und versuche meinen Ärger herunterzuschlucken. „Aber das ändert nichts an der Sache, dass ich keinen Hunger habe.“

Mir ist klar, dass die Mädchen mit dem Herrn des Hauses Ashram meinen. Die einzige Erklärung, warum Ashram es wichtig sein könnte, dass ich etwas esse, kann ich nur damit zusammenreimen, dass er nicht möchte, dass die langersehnte Kriegerin an Hunger oder schlechter Gesundheit stirbt. Wobei er gestern eher danach aussah, als würde er sich genau das wünschen. Das ändert aber nichts daran, dass er mir befehlen könnte, etwas zu essen.

„Wir bitten Euch, ins Esszimmer zu kommen“, ignoriert das Mädchen rechts mit dem gelben Kimono meine Aussage und alle verneigen sich schließlich gleichzeitig vor mir. „Danke.“

Noch bevor ich irgendetwas dazu erwidern kann, drehen die Mädchen sich um und laufen im selben Tempo hintereinander den Flur entlang zur Treppe. Verdattert stehe ich am Türrahmen und blicke ihnen hinterher. Es hat keinen Sinn ihnen hinterherzurufen oder irgendwelche Probleme am Morgen zu machen. Außerdem können die Mädchen auch nichts an meinen Frust ändern, sie führen nur den Befehl von Ashram aus. Ob das wohl auch Fabeln sind? Sie sehen so menschlich aus, verhalten sich aber eher mechanisch, wie Roboter. Mit geschürzter Lippe drehe ich mich widerwillig in mein Zimmer und schließe die Tür hinter mir.

Bevor ich mich entschließe mich fertigzumachen, gehe ich nach draußen auf den Balkon und lehne mich seufzend an dem Geländer ab. Gestern Abend waren von meinem Balkon aus nur Wolken zu sehen, heute ist der Tag aber wolkenfrei und ich habe den perfekten Ausblick auf das Gebirge. Um das Schloss herum sind viele hohe Gestein Berge zu sehen, manche sind sogar weiß bedeckt und ich gehe davon aus, dass es sich um Schnee handelt. Schräg links vor mir erstreckt sich ein anderer Berg, etwas kleiner als der, worauf das Schloss steht, und dort strömt aus einem Loch mitten im Berg Wasser heraus, was wiederum auf einen anderen Berg landet und den Weg bis nach unten findet. Was ich gestern gehört habe, war wie es aussieht kein normaler Wasserfall, sondern das Plätschern des Wassers von einem Berg auf den anderen. In der Ferne weit hinter dem Gebirge, ist ein lang gezogener Wald zu erkennen. Ob das wohl der Wald ist, woher ich gekommen bin? Ich genieße zum letzten Mal den Ausblick, bevor ich mich zurück ins Zimmer wende und mich für das Frühstück fertigmache.

Zuerst mache ich mich im Badezimmer frisch und finde auf dem Nachttisch schließlich eine Holzbürste, mit welche ich meine Haare kämme. Neben dem Bett und dem Nachttisch gibt es im Zimmer in der anderen Ecke noch ein Schreibtisch, worauf eine Kerze, Blätter und eine Schreibfeder zu finden sind. Schließlich steht noch ein großer Holzschrank da, dass wohl ein Kleiderschrank sein müsste. Interessiert öffne ich den Holzschrank und meine Vermutung bestätigt sich. Wenn ich mich nicht täusche, hängt in dem Schrank größtenteils Kampfausrüstung. Zu sehen sind einige Leggings, solche eng anliegende die ich gestern auch getragen habe, Kettenhemden, Polsterdiechlinge und Leinenhemden. Außerdem gehe ich davon aus, dass das alles für das andere Geschlecht gedacht ist, da sie viel zu groß für mich aussehen. Da nichts für mich dabei ist, schließe ich schulterzuckend den Schrank und beschließe einfach das anzubehalten, das ich gestern anhatte. Mein weißes Kleid, das ich gestern im Badezimmer ausgezogen hatte, lag nach dem Essen nicht mehr dort. Ich hoffe, dass es nur zum Waschen mitgenommen wurde.

Mit dem Ei in den Armen verlasse ich mein Zimmer und lausche auf den Treppen, ob Ashram auch im Esszimmer ist. Ich würde ihn nur ungern schon so früh am Morgen begegnen und den Tag mit schlechter Laune beginnen. Als ich die Stimme von Mehmet heraushöre, atme ich beruhigend aus und entscheide runterzulaufen. Solange Mehmet da ist, werde ich es nur halb so schwer haben. Im Esszimmer angekommen fällt mir ein Stein vom Herzen, als ich sehe, dass lediglich Bahar und Mehmet dasitzen. Beide mustern mich aufmerksam, als ich das Zimmer betrete.

„Ausgeschlafen?“, fragt Bahar freundlich und zeigt einladend auf die freien Stühle am Tisch.

„Mehr oder weniger“, antworte ich zögerlich und setze mich neben Mehmet hin.

Der Tisch vor mir ist schon gedeckt, die Wunschglocke steht bereit, benutzt zu werden. Da ich aber morgens wirklich nicht gerne frühstücke, blicke ich nur verträumt auf den Tisch.

„Das tut mir leid, wir sind alle Frühaufsteher“, meint sie besorgt und blickt mich entschuldigend an.

„Alles gut“, versichere ich sofort, da ich ihr kein schlechtes Gewissen einreden möchte. „Normalerweise macht mir das nichts aus. Wir waren die letzten Tage nur sehr viel unterwegs und den Schlaf habe ich nachholen müssen.“

„Das muss eine anstrengende Reise gewesen sein“, merkt sie nickend an und öffnet ihre Wunschglocke.

Unter dieser befindet sich eine Holzschüssel voller bunter Blätter, ähnlich einem Blattsalat. Mehmet tut es ihr gleich und öffnet ebenfalls seine Wunschglocke, woraufhin ein dampfendes Brötchen mit einer Schüssel Grießbrei erscheint, jedenfalls sieht es in meinen Augen danach aus. Gleich daraufhin erscheinen wieder die drei Schwestern und stellen uns nacheinander eine Tasse mit dampfendem Inhalt an den Tisch.

„Sind diese drei Mädchen eure Angestellte?“, frage ich interessiert, als die Mädchen wieder verschwinden.

„Angestellte?“, wiederholt Bahar neugierig.

„Bezahlt ihr sie?“, weite ich aus und blinzele verwundert, dass sie das Wort nicht kennt.

„Nein“, antwortet sie lachend, als sie versteht, was ich meine. „Das sind die Zashiki-Warashi Drillinge, unsere Hausgeister.“

Normalerweise wäre ich zu aller erst sprachlos gewesen. Ich erinnere mich aber schnell daran, dass die kopflose Rüstung von gestern auch ein Hausgeist war. Diese Welt ist durch und durch verrückt. Warum sollte es abwegig sein, dass es Geister gibt? Mehmet sitzt die ganze Zeit stumm neben mir und isst sein Frühstück. Ich nicke nur und nehme die heiße Tasse in die Hände.

„Und Hausgeister dienen dem Hausbesitzer?“, frage ich weiter interessiert.

„Genau, sie erledigen hauptsächlich den Hausputz, kochen und bedienen“, erklärt sie freundlich.

„Ich werde den Zashiki-Warashi Drillingen übrigens ausrichten, dass sie dir Kleidung in deine Größe in den Schrank legen sollen“, meint sie plötzlich und lächelt mich an.

„Danke“, sage ich leise und fühle mich augenblicklich willkommen.

Ehe ich aus der Tasse trinke, rieche ich zuerst daran und ordne den leicht-süßen Duft irgendwelchen Kräutern zu. Als ich vorsichtig daran nippe, stelle ich erleichtert fest, dass es tatsächlich wie Kräutertee schmeckt. Kurz bin ich glücklich, dass es nicht wieder irgendwas Abgefahrenes ist und es sich einfach nur um Tee handelt. Ich mustere schließlich Bahar aufmerksam, als sie ein kleines Glasfläschchen aus ihrer Brusttasche zieht. In der Glasflasche befindet sich irgendeine dunkelrote, dickflüssige Flüssigkeit. Ich ziehe meine Augenbrauen hoch, als sie gelassen einen Tropfen davon in ihr Tee gibt und das Glasfläschchen wieder verschwinden lässt. Als sie meinen Blick bemerkt, lächelt sie mich wissentlich an.

„Du weißt, dass ich ein Vampir bin“, erinnert sie mich und holt die Glasflasche wieder demonstrativ raus. „Um zu überleben, brauchen wir täglich mindestens einen Tropfen Blut.“

„Ja“, stoße ich aus und ziehe das Wort lang.

Darauf hätte ich auch selbst kommen können. Aus so vielen Geschichten weiß ich, dass Vampire Blut benötigen. Aber wer hätte schon gedacht, dass das hier auch der Fall ist?

„In unserer Welt gibt es keine Vampire“, erkläre ich schnell meine Verwunderung. „Dafür gibt es Geschichten, in denen Vampire auftauchen und eine Menge an Menschenblut benötigen.“  

„Das trifft auf junge Vampire zu“, meldet sich nun Mehmet zu Wort.

„Das stimmt“, bestätigt Bahar und nickt Mehmet zu. „Meine Geschwister und ich sind schon lange auf dieser Welt, wir haben uns dem Blut entwöhnen können und benötigen nicht mehr viel, um überleben zu können.“

„Und das in deinem Fläschchen ist Menschenblut?“, frage ich und spüre, dass ich etwas angespannt klinge.

„Nein, ein Tropfen Menschenblut würde mir nicht genügen“, antwortet Bahar mit ruhiger Stimme. „Um täglich nur mit einem Tropfen zu überleben und trotzdem noch genug Kraft zu haben, benötigt es das Blut von Ashram.“

Verdattert blicke ich in ihre großen Augen und sehe, wie sie mich verständnisvoll mit ihren langen Wimpern anblinzelt. Ich erinnere mich, dass Gillis gestern meinte, dass Ashram weder Mensch noch Fabel ist. Was ist er nun? Und hat seine Gattung etwas damit zu tun, dass Vampiren einen Tropfen von seinem Blut genügen, um zu überleben?

„Hast du keinen Hunger?“, fragt Bahar schnell, da sie wohl merkt, wie immer mehr Fragen bei mir auftauchen.

„Ich habe morgens keinen Appetit“, antworte ich kurz.

Nachdenklich nippe ich an meinem Tee und frage mich, wie ich Bahar geschickt eine Frage zu Ashrams Gattung stellen könnte, ohne allzu neugierig zu wirken.

„Das ist schlecht“, merkt Bahar an und stochert mit der Gabel in ihrem Salat. „Die morgendliche Mahlzeit ist die wichtigste.“

„Wie kommt es, dass Blut euch sättigt aber ihr trotzdem noch Menschenessen esst?“, frage ich spontan.

Verwundert hört sie auf zu essen und blickt mich mehrmals blinzend an, ehe sie zu lachen beginnt.

„Das Blut stillt unseren Durst“, erklärt sie lächelnd. „Wir brauchen Blut genauso dringend, wie Menschen das Wasser benötigen. Und ohne normales Essen würden wir nach einiger Zeit sterben, wie auch die Menschen.“

„Das macht Sinn“, sage ich leise nickend und gehe ihrer Erklärung kurz in Gedanken nach, bis ich meine nächste Frage stelle. „Wo sind denn die anderen?“

„Meine Brüder und Kayla sind längst wach und haben bereits gegessen“, antwortet Bahar und lächelt mich wissentlich an.

„Und Ashram?“, frage ich.

Ich merke, dass ich seinen Namen zum ersten Mal laut ausgesprochen habe und daraufhin meine Wangen wärmer werden. Wie peinlich, wenn ich jetzt rot werde, dann nur weil ich eine Heidenangst vor diesem Typen verspüre und nicht irgendwelche Schwärmereien. Hoffentlich ordnet Bahar das nicht falsch ein.

„Ashram ist vor Sonnenaufgang auf Reisen gegangen“, antwortet sie und blickt in ihre halbleere Salatschüssel.

Zwar bin ich froh, dass Bahar mich nicht prüfend mustert, doch gilt das nicht für Mehmet. Dieser ist nämlich bereits fertig mit dem Essen und beobachtet mich aufmerksam von der Seite.

„Ist er eigentlich auch ein Vampir, wie ihr?“, frage ich weiter hartnäckig.

„Nein“, antwortet Bahar mit hochgezogenen Augenbrauen und blickt mich verwundert an. „Ashram ist kein Fabel.“

„Aber er ist auch kein Mensch?“, stelle ich eine weitere Frage und blicke ihr nun gespannt in die Augen.

„Das musst du ihn schon selbst fragen“, antwortet Bahar schließlich ernst.

Sie ist nun die Zweite, die mir nicht erklären möchte, was Ashram genau ist. Wieso ist das ein Geheimnis? Als wüssten sie nicht alle, dass ich mich niemals im Leben trauen würde, Ashram zu fragen, was er ist. Ich bezweifle, dass ich es gar allein schaffen könnte, mit ihm ein Gespräch zu führen. Binnen fünf Sekunden würde er mich vor Ungeduld auffressen, da bin ich mir sicher. Dann muss ich mich also damit abfinden, erst einmal nicht zu wissen, was Ashram ist. Seufzend trinke ich den Tee aus und stelle die Tasse schließlich zurück auf den Tisch.

„Ich würde euch später gerne abholen und euch die Trainingshalle zeigen“, sagt Bahar, nachdem sie ebenfalls leer getrunken hat.

„Was gibt es dort?“, frage ich neugierig und verspüre ein leichtes Lächeln von Mehmet.

„Es gibt dort jene Menge Platz und Gegenstände, mit denen wir trainieren können“, erklärt Bahar und grinst mich ebenfalls an.

„Trainieren im Sinne von Sport machen?“, frage ich weiterhin neugierig und werde das Gefühl nicht los, das ich für die anderen naiv klinge.

„Trainieren im Sinne von sich auf einen Krieg vorbereiten“, antwortet nun Mehmet anstelle von Bahar.

Sprachlos sitze ich da und sehe von Bahar, die ihre Augen entschuldigend geschlossen hält und ihre Lippen aufeinanderpresst, zu Mehmet, der mich nur kopfschüttelnd anblickt und meine Naivität nicht zuordnen kann. Vermutlich hätte ich auch selbst darauf kommen können, dass sie sich hier auf einen Krieg vorbereiten und nicht zum Spaß Sport machen. Aber was hat das mit mir zu tun? Eine leise Stimme flüstert in meinen Kopf, dass auch ich an diesen Vorbereitungen teilnehmen muss. Ich unterdrücke diese Stimme jedoch, da ich knallhart die Meinung vertrete, nicht kämpfen zu werden und keinen Krieg zu unterstützen. Ich werde nicht lernen zu töten und ich werde niemand körperlich misshandeln.

„Ihr könnt euch gerne draußen vor dem Schloss umsehen“, meint Bahar, und versucht die Stimmung aufzulockern. „Ich hole euch dann ab, wenn die Sonne in der Mitte steht.“

Also gibt es hier wohl keine Uhrzeit, stelle ich fest und nicke ihr stumm zu. Meine Laune ist etwas gesunken, seitdem die Vermutung besteht, dass sie von mir als langersehnte Kriegerin, vielleicht wirklich erwarten werden zu kämpfen. Denn wie soll die Kriegerin einen König stürzen und Frieden herstellen, ohne dafür zu kämpfen? Leise seufzend beiße ich mir auf die Unterlippe und blicke zum Ei. Ich bin keine Kämpferin, das war ich noch nie und muss es auch nicht unbedingt sein. Keine Schmerzen, kein Blut und keine Gewalt. Vielleicht lässt sich der Frieden auch auf anderem Weg herstellen, ohne Krieg? Hoffnungsvoll blicke ich die Schale des Eies an und frage mich, ob das Wesen darin mich unterstützen könnte.

„Sollen wir?“, höre ich nun die Stimme von Mehmet und blicke auf.

Bahar hat wohl den Saal verlassen und Mehmet sitzt seitdem allein mit mir am Tisch. Wie lange habe ich das Ei verträumt angesehen?

„Was meinst du?“, frage ich verwirrt.

„Du bist doch bestimmt genauso neugierig, wie das Schloss von außen aussieht“, meint Mehmet und steht vom Stuhl auf.

Ist das eine Einladung, ihn zu begleiten? Mit großen Augen blicke ich zu ihm hoch und nicke ihm leicht zu. Es ist nett von ihm, mich mitzunehmen und mich nicht allein zu lassen. Also stehe ich ebenfalls auf und verlasse mit ihm zusammen das Essenszimmer. Mit dem Ei in meinen Armen laufe ich Mehmet hinterher und bleibe neben ihm vor der Tür nach draußen stehen. Die kopflose Rüstung von gestern steht mit einem Schwert vor der Tür und verwehrt uns den Durchgang.

„Wir möchten gerne nach draußen“, sagt Mehmet ruhig zur Rüstung und blickt es sicher an.

Kurz dachte ich, es würde uns nicht durchlassen wollen. Doch dann regt es sich, dreht sich um und entriegelt das Schloss, damit die Tür sich öffnet. Als es schließlich zur Seite geht und die Tür mit sich zieht, läuft Mehmet zielsicher durch und ich folge ihm dicht. Das große Tor, welche mitangebunden einer hohen Steinmauer das Schloss umkreist, steht offen und wir laufen auch da durch. Schnell erkenne ich die Stelle im roten Gras, an welche wir gestern mit dem Pixie ankamen und Bahar, Gillis und Ashram kennenlernten. Meine Beine werden wieder schwach bei der Erinnerung an die Wut von Ashram, als er erfuhr, dass ich die Kriegerin bin. Seufzend schüttele ich die Gänsehaut auf meinen Armen weg und laufe mit Mehmet die Steinmauer entlang. Viel Wiese ist nicht vorhanden, weil das Schloss fast die ganze Bergspitze umgibt und am Rand eine steile Klippe nach unten ragt.

Wir laufen eine Weile an der Mauer entlang und ich erkenne den Berg mit dem Loch aus dem Wasser herauskommt wieder, das auch von meinem Balkon aus zu sehen ist. Ich sehe mich weiterhin neugierig um, während wir stumm nebeneinander herlaufen. Als wir auf der anderen Seite des Schlosses ankommen, bleibt Mehmet stehen, setzt sich auf das Gras und lehnt sich an die Mauer an. Ich beschließe, es ihm gleich zu tun und setze mich neben ihn. Die Aussicht ist fast genauso schön, wie aus meinem Balkon. Auch hier breitet sich ein Gestein Gebirge aus und in der weiten Ferne sind Wälder zu erkennen.

„Das muss doch alles erschreckend für dich sein, wenn du wirklich aus einer anderen Welt kommst“, spricht Mehmet plötzlich und blickt nachdenklich in die Ferne.

Es klingt ganz danach, als würde er mir langsam glauben, dass ich aus einer anderen Welt komme. Ich mustere von der Seite seine langen, blonden Haare, die er mit einem Zopf zusammengebunden hat. Dadurch kommen seine ernsten Augen besser zur Geltung. Er sieht erschöpft aus und er hat feine Falten um seine Augen.

„Ist es auch“, gebe ich zu und blicke schließlich ebenfalls in die Ferne. „Das hier ist das komplette Gegenteil meiner Welt.“

„Du sagtest am Anfang, du wärst in ein Bild gestiegen“, erinnert sich Mehmet und runzelt die Stirn, als müsse er sich anstrengen sich das vorzustellen. „Wieso hast du das getan?“

Kurz pocht mein Herz stärker gegen meine Brust und ich merke, wie die die Erinnerungen von zu Hause auf mich einprasseln. Mir ist in den letzten Tagen so viel passiert, dass ich fast vergessen habe, woher ich eigentlich komme und was ich zurückgelassen habe. Vor vielen Tagen lebte ich noch ein gewöhnliches Leben. Gut, wem möchte ich etwas vormachen. Ich war zutiefst unglücklich mit meinem Leben.

„Ich hatte nichts zu verlieren“, gebe ich leise zu und umklammere traurig das Ei.

„Wie meinst du das?“, fragt er mich vorsichtig und seine Stimme klingt sensibel.

„Nachdem ich meine Eltern verloren habe, gab ich mein Leben auf und hatte keine Lebenslust mehr in mir“, erkläre ich zögerlich und starre nun auf die Schale des Eies.

Das scheint Mehmet immer noch nicht die Antwort gegeben zu haben, die er erwartet hatte, zu hören. Weswegen ich tief Luft hole und entscheide mich ihm zu öffnen. Schließlich ist er der einzige Freund, den ich hier habe.

„Dieses Bild war wie eine Chance auf etwas Neues“, erkläre ich geknickt. „Ich stieg in das Bild, weil ich wusste, dass ich in meiner Welt nichts groß vermissen würde und niemand auf mich zählt. Die Menschen, die für mich das Wichtigste waren und für die ich ihre Welt war, waren von einem Tag auf den anderen weg. Das Bild strahlte ein Abenteuer und ein Geheimnis aus, etwas, das ich schon lange nicht mehr erlebt hatte. Mir bat sich die Chance, endlich die trübselige Welt zu verlassen, raus aus der Dunkelheit, raus aus der ewigen Trauer, hinein in ein neues Leben.“

„Das war bestimmt waghalsig“, rede ich nach kurzem Überlegen weiter. „Ich wusste nicht, wo ich landen werde. Aber das Risiko, das mir etwas passieren könnte, ging ich ein, statt weiterhin in einer Welt zu leben, in der ich nicht glücklich bin.“

Daraufhin fängt Mehmet an zu lachen. Verwundert blicke ich zu ihm und verstehe nicht, was gerade lustig geklungen haben soll. Sein Lachen wird immer lauter, während er fassungslos mit dem Kopf schüttelt.

„Tut mir leid, ich möchte dich nicht kränken“, sagt er und holt tief Luft, um mit dem Lachen aufzuhören. „Aber ich hätte nie gedacht, dass wir beide uns ähnlich sein könnten.“

„Was meinst du?“, frage ich und runzele die Stirn.

„Ich war am Anfang fest davon überzeugt, dass du eine Hexe bist. Ich dachte, du hättest dich vermutlich im Wald verlaufen, warst auf der Hut vor den Elfen und hast mir ein falsches Spiel vorgegaukelt, damit ich dir helfe aus dem Wald rauszukommen. Das war für mich die einzige Erklärung dafür, dass uns keine Fabel angegriffen haben. Hexen besitzen nämlich Magie und können durchaus ein Schutzschild vor anderen Fabeln aufstellen“, erklärt er.

Dann war meine Vermutung im Wald gar nicht so abwegig, dass Mehmet mir nicht traute und dachte, ich wäre eine Hexe. Auch wenn ich die Hintergrundinformationen und Fähigkeiten von Hexen zu dem Zeitpunkt nicht kannte.

„Aber inwiefern sind wir uns ähnlich?“, frage ich weiter.

„Im Endeffekt bist du wie ich“, sagt er und lacht wieder. „Du bist aus einer Welt geflohen, in welcher du unglücklich warst und gabst dem Unbekannten, mitsamt dem Risiko zu sterben, eine Chance.“

„Du bist aus deinem Dorf geflohen, weil du an dem Krieg nicht teilnehmen wolltest“, erinnere ich mich an seine Worte von gestern und verstehe langsam, worauf er hinaus möchte. „Was für eine Ironie, dass du nun hier bist, um dich darauf vorzubereiten.“

„Und du hattest in deinem Dorf auch keine Familie?“, frage ich vorsichtig.

„Nicht mehr“, antwortet er leise. „Mein Vater ging als ich sehr jung war. Im Jugendalter starb schließlich meine Mutter. Ich verließ meinen besten Freund, das tat zwar weh, aber meine Sehnsucht nach Freiheit war viel zu groß, um weiterhin dortbleiben zu können.“

„Verstehe“, sage ich verständnisvoll.

In meiner Welt ließ ich Dayana und meinen Onkel zurück. Der Gedanke an ihnen versetzt mir einen Stich im Herzen, trotzdem bereue ich es nicht, in das Bild gestiegen zu sein. Jedenfalls hat Mehmet recht und wir beide sind uns diesbezüglich sehr ähnlich. Wer hätte das gedacht. Er hat ebenfalls seine Familie verloren und war auf sich allein gestellt. Als er sein Dorf verließ und in den Wald flüchtete, hatte er auch keine Ahnung, wohin ihn sein Weg führen wird. Er ging ebenfalls ein Risiko ein, wie ich.

„Ich kann verstehen, wenn du das Gefühl hast, dass dir der Titel der langersehnten Kriegerin mit dem mächtigen Ei zu Kopf steigt und du überfordert bist“, meint Mehmet schließlich und blickt mich ernst an. „Aber es ist kein Zufall, dass du in unsere Welt gestoßen bist und ich dich gefunden habe. Alles hat seinen Sinn und du wirst deiner Rolle noch treu werden.“

Seine Worte bauen mich auf und ich habe für eine kurze Zeit das Gefühl, dass alles gut wird. Tief im Inneren weiß ich auch, dass es kein Zufall sein kann, dass ich das Bild auf dem Dachboden gefunden habe und ich schließlich in diese Welt eingetroffen bin. Es muss Schicksal gewesen sein, dass ich Mehmet im Wald getroffen habe und ich nun hier bin. Auch wenn mir vieles noch Angst macht und ich unsicher bin, wie es weiter gehen soll, halte ich daran fest, dass ich immerhin nicht allein bin und einen Freund gefunden habe. Denn ich spüre, dass Mehmet und ich uns nicht mehr fremd sind, sondern auf einem guten Weg sind, einander noch besser kennenzulernen.

„Danke“, sage ich leise und lächele ihn leicht an.

 

MEHMET

 

Ein leichter Wind hebt ihre schwarzen Haare kurz in die Luft, woraufhin Solveig aufmerksam von ihrem Ei aufblickt und in den violetten Himmel sieht. Als der Wind vorbeizieht, bleibt eine Strähne in ihrem Gesicht hängen. Ich spüre den Impuls, ihr die Strähne hinter ihr Ohr zu legen, doch ich halte mich bewusst zurück. Ihr Blick wirkt verloren, orientierungslos und sorgenvoll. Trotzdem strahlen ihre Augen eine gewisse Stärke und Verbissenheit aus, als wäre sie überzeugt davon nicht aufzugeben. Mein Blick haftet an ihren Augen und mir fällt auf, dass in diesem Licht das Grün stärker heraussticht als das Grau.

Ihre Geschichte darüber, dass sie durch ein Bild gestiegen und hier gelandet ist, würde für jedes fremde Ohr albern klingen. Doch ihre Mimik und Gestik stellt keinen Zweifel dar, dass sie zu lügen vermag. Sie erzählt ihre Geschichte mit solch einer Sicherheit, dass ich ihr glaube. Wer hätte gedacht, dass dieses verlorene Mädchen mit mir solch eine große Eigenschaft teilt? Nachdenklich wende ich den Blick von ihr ab und sehe zu Boden. Sie war auf der Suche nach einem neuen Leben und dem langersehnten Glück. Nun muss sie feststellen, dass diese Welt ihr nur Eintritt gewährt hat, weil sie Solveig zum Überleben benötigt. Ein bedrückender Gedanke muss das sein, kein Frieden zu erlangen, sondern eine Aufgabe, auf die man unvorbereitet ist und niemand einen gefragt hat, ob man das überhaupt möchte.

„Huch“, quiekt Solveig überrascht neben mir. „Was ist denn das?“

Schnell blicke ich auf und sehe, wie sie auf die Schale des Eies auf ihrem Schoß zeigt. Darauf sitzen zwei hellblaue Flosauxilias und schnüffeln an der Schale. Flosauxilias sind kleine Insektentiere, besitzen vier durchsichtige Flügel und einen kleinen, schmalen Rüssel. Diese kleinen Tiere sich ungefährlich, mit einem Handschlag könnte man sie töten.

„Das sind Flosauxilias“, antworte ich ihr ruhig.

Ich merke, dass Solveig sich unwohl fühlt, die zwei Insekten skeptisch mustert, ihre Finger sich an die Schale des Eies krallen und sie angespannt wirkt. Die Existenz von Flosauxilias sind für mich so normal, wie das Menschen Luft zum Atmen brauchen. Ich muss mich in Zukunft daran gewöhnen, dass Solveig die Tiere und Fabeln in unserer Welt nicht kennt. Was es wohl für Wesen in ihrer Welt gibt?

„Du brauchst keine Angst zu haben, das sind ungefährliche Insekten“, füge ich schnell hinzu.

„Na dann ist gut“, schnauft sie erleichtert und lässt ihre Schultern wieder locker herunterfallen. „Was tun sie da?“

Die Flosauxilias schnüffeln immer noch interessiert an der Schale des Eies. Ein leichtes Lächeln huscht mir auf die Lippen, da sie wie ein junges, naives Mädchen klingt.

„Sie suchen nach Blütenstaub“, erkläre ich. „Jede Blumenart auf dieser Welt besitzt ihre Flosauxilias, diese suchen für sie nach Blütenstaub, damit die Blumen wachsen können. Flosauxilias gibt es in allerlei verschiedenen Farbtönen, wie es Blumenarten auf dieser Welt gibt. Jede Art unterscheidet sich zudem in ihrer Größe, Saugform und Summtonlage. Sie sind zu ihrem eigenen Schutz immer zu zweit unterwegs, damit einer immer die Beute zur Blume fliegen kann, wenn der andere verletzt werden sollte.“

„Bemerkenswert“, sagt sie leise und betrachtet sie nun neugierig.

„Diese Welt ist voll von Tieren und Fabeln, die ich mir selbst in den abenteuerlichsten Träumen nicht erdenken konnte“, staunt sie schließlich und seufzt.

Als die Flosauxilias mit ihrer Entdeckung auf der Schale des Eies fertig sind, heben sie sich in die Luft und fliegen davon. Wie in Trance blickt Solveig den Insekten hinterher, bis sie in der Ferne nicht mehr zu erkennen sind.

„Ich hätte mir niemals erträumen können, jemals in einen violetten Himmel zu sehen“, schüttelt sie fassungslos den Kopf. „Im Wald waren die Bäume so hoch, dass ich den Himmel nicht sehen konnte.“

Der Wald. Plötzlich erinnere ich mich wieder, was zuletzt in diesem Wald zwischen Solveig und mir vorgefallen war. Bevor das Pixie erschien und uns zu Ashrams Schloss brachte, bedrohte ich Solveig mit meinem Schwert. Dafür schäme ich mich und ich merke, wie feige mein Verhalten war. Welche Chance hatte ein unschuldiges, unbewaffnetes Mädchen gegen mir mit einem Schwert? Schuldbewusst beiße ich auf meinen Wangeninnenseiten.

„Ich muss mich noch bei dir entschuldigen“, sage ich schließlich und blicke Solveig mit Absicht nicht an.

„Wofür?“, fragt sie sofort und von der Seite erkenne ich, wie sie ihre Stirn runzelt.

„Dafür, dass ich dich zuletzt im Wald mit meinem Schwert bedroht habe“, erkläre ich und hätte mir am liebsten gegen die Stirn geschlagen.

Es bleibt erst mal einige Minuten still und ich fange an zu glauben, dass sie meine Entschuldigung vermutlich nicht annehmen möchte. Dann blickt sie mich jedoch erwartungsvoll an, sodass ich mich zu ihr wende und ihrem aussagekräftigen Blick standhalte.

„Ich kann verstehen, wieso du das gemacht hast. Vermutlich hätte ich in dieser Situation genauso gehandelt“, gibt sie offen zu und fährt fort, ehe ich etwas einwenden kann. „Also Entschuldigung angenommen.“

Da ich nicht weiter auf diesem Thema herumreiten möchte und merke, dass Solveig ebenfalls damit abgeschlossen hat, bleibe ich stumm und genieße die friedvolle Stille. Wir bleiben eine Weile stumm nebeneinandersitzen und kosten den Moment aus. Als ich irgendwann aus der Seite eine Bewegung ausmache, erblicke ich Bahar. Ein leichtes Lächeln umspielt ihre Lippen, während sie uns immer näherkommt.

„Entschuldigt ihr zwei“, meldet sich Bahar schuldbewusst und weckt nun auch Solveigs Aufmerksamkeit. „Aber es wird Zeit euch in der Trainingshalle willkommen zu heißen.“

Ich merke, dass Solveig davon nicht begeistert ist und nur widerwillig aufsteht. Mit schweren Schritten läuft sie Bahar hinterher, ich folge ihr dicht und verliere sie nicht aus den Augen. Es scheint sie sehr zu sträuben, die Trainingshalle kennenzulernen. Vermutlich, weil sie weiß, was auf sie zukommen wird.

Als wir das Schloss von vorne erreichen und wieder durch das große Tor und dem Haupteingang durchlaufen, gehen wir am Esszimmer vorbei, entlang eines langen Flures und bleiben schließlich vor einer Steinwand stehen. Neugierig sehe ich zu, wie Bahar ihre Hände gegen die Steinwand presst und schließlich mit einer Anstrengung dagegen drückt. Als die rechte Seite der Steinwand schließlich einfährt und sich langsam öffnet, sodass ein Durchgang sichtbar wird, stehe ich verblüfft da. Auch Solveig hat wohl nicht damit gerechnet, da sie Bahar mit hochgezogenen Augenbrauen mustert.

„Unsere Trainingshalle befindet sich unter dem Schloss“, schnauft Bahar leicht. „Passt auf die Stufen auf, nicht, dass ihr stolpert. Es ist etwas dunkel hier und gleich erscheinen Treppen.“

Der Durchgang ist tatsächlich dunkel und das einzige Licht kommt aus dem Flur, von welchem wir hergekommen sind. Zuerst laufen wir einen Gang durch und ich stelle fest, dass der Weg nicht sonderlich breit ist und ich die Wände berühren kann, wenn ich beide Arme zur Seite ausstrecke.

„Jetzt kommen die Treppen“, höre ich Bahar von vorne sagen.

Ich achte auf die nächsten Schritte und merke, dass Solveig ebenfalls vorsichtig ist, da ihre Schritte bedachter und langsamer werden. Bei den Treppen angekommen, welche nach unten führen, stelle ich auch fest, dass je weiter wir runterlaufen, es kühler und frischer wird. Plötzlich höre ich das klirrende Zusammenstoßen zweier Schwerter, unverständliche Worte und ein Lachen. Nach weiteren Stufen wird ein Licht in der Tiefe immer sichtbarer, bis es so hell ist, dass sogar die Treppenstufen ersichtlich werden.

Unten angekommen erblicken wir einen großen Raum. Auf jeder Seite stehen längliche Holzsitzbänke, an den Wänden hängen Dutzende Waffen, wie unterschiedliche Schwerter, Dolche, Sensen, Bögen mit Pfeilen, Hammer, Armbrüste, Äxte, Morgensterne. In jeder Ecke steht eine Fackel und an der hohen Decke hängt ein großer Kronleuchter mit sehr vielen Kerzen, welche den Raum sehr gut erleuchten. Der Boden ist nicht steinig, sondern aus einem weichen Stoffmaterial. Ich vermute, dass es dann weniger wehtut auf diesen Boden zu fallen, statt auf Stein. Mitten im Raum stehen Indigo und Kayla mit jeweils einem Schwert in der Hand und hörten mit ihrem Training auf, als wir erschienen.

„Lasst euch nicht von uns stören“, bricht Bahar das Schweigen und dreht sich zu uns um. „Willkommen in unserer Trainingshalle.“

Ich merke, wie die anderen zwei Solveig interessiert mustern und wohl gespannt sind, wie sie sich bei dem Training machen wird. Solveig blickt währenddessen wild umher und scheint die anderen zwei noch gar nicht richtig bemerkt zu haben. Ihre endgültige Aufmerksamkeit landet auf den Wänden mit den Dutzenden Waffen. Ihr Mund verzieht sich zu einem Strich, ihre Augen wirken glasig, ihre Nasenflügel blähen sich auf und ihre Haut wirkt bleicher als noch draußen vor dem Schloss. Mich überkommt ein ungutes Gefühl, wie Solveig in den nächsten Minuten reagieren wird. Aber egal, was kommen mag. Ich werde sie darin unterstützen und ihr zur Seite stehen, genauso wie die Banshee es mir damals vorhergesagt hat.

„Wie du sieht, haben wir hier eine tolle Auswahl an Waffen, mit denen du dich ausprobieren kannst“, gibt Bahar bemüht freudig von sich.

Da Solveig niemand in dem Raum ansieht und ihr Blick starr auf die Wand gerichtet ist, merke ich, wie Bahar angestrengt nachdenkt, die Atmosphäre angenehmer zu machen. Solveig strahlt eine eindeutige Abwehrhaltung aus, sie gibt sich nicht einmal die Mühe zu verbergen, was sie von der Trainingshalle hält. Ich müsste gar nicht in ihren Kopf schauen, um zu wissen, dass sie hier so wenig Zeit wie möglich verbringen und eigentlich nichts davon wissen möchte.

„Wir sind fast jeden Tag hier unten“, stammelt Bahar und blickt hilfesuchend zu ihren Geschwistern, die ebenfalls gemerkt haben, dass Solveig nicht begeistert ist. „Mit der Matratze unter deinen Füßen wird ein Aufprall auf den Boden kaum schmerzen.“

Nun scheint keiner mehr etwas sagen zu wollen. Alle warten darauf, dass sich Solveig zu den Geschwistern umdreht und wenigstens ein Kommentar dazu abgibt. Nach einer gefühlten Ewigkeit atmet Solveig schwer aus und dreht sich dann mit ausdrucksloser Miene zu den Vampirgeschwistern.

„Was erwartet ihr generell von mir, hier in diesem Raum?“, fragt Solveig mit ruhiger Stimme.

„Dass du lernst zu kämpfen“, antwortet Kayla knallhart, da ihr sonst keiner eine Antwort gibt.

Indigo und Bahar achten auf jede Mimik und Gestik von Solveig und wirken sehr angespannt. Langsam richtet sich Solveigs Blick auf Kayla und hält dem ihren Stand.

„Wieso sollte ich das lernen?“, fragt Solveig sie mit gerunzelter Stirn.

„Dein Ernst?“, fragt Kayla ungläubig und verärgert.

In dem Moment, als Kayla bedrohlich einen Schritt nach vorne macht, schnelle ich an Solveigs Seite und lege automatisch meine Hand auf mein Schwert. Noch bevor Kayla weiter zu Solveig laufen kann, greift Indigo dazwischen und drückt Kayla hinter sich zurück.

„Sachte Kayla“, zischt Indigo sie an und hält sie fest.

„Ich entschuldige mich für meine Schwester“, richtet sich Indigo an Solveig. „Sie hat ein starkes, unkontrolliertes Temperament.“

Aus der Seite wirkt Solveig nicht ängstlich, sondern geduldig, wie es weiter geht. Kayla scheint ihr keine Angst gemacht zu haben, vielleicht aber auch nur, weil sie wusste, dass sie ihr nichts antun dürfe.

„Wir möchten dich auf den Krieg vorbereiten. Da wirst du nicht drumherum kommen zu kämpfen“, erklärt Indigo und streicht sich eine Strähne zurück.

„Ich verstehe nicht, wieso es überhaupt zu einem Krieg kommen muss“, klagt Solveig und runzelt wieder ihre Stirn. „Hat denn noch niemand die Option erwähnt, die Sache friedvoll zu klären?“

„Doch“, antwortet Bahar schnell und sieht sie mitleidig an. „Ashram hat in all den Jahren versucht, einen Krieg zu umgehen. Aber König Lennart möchte und wird es nicht anders klären wollen. Entweder wir stellen uns auf und kämpfen, oder wir gehen unter. Denn die gegnerische Seite wird kommen und uns vernichten wollen.“

Solveig bekommt einen verzweifelten Gesichtsausdruck, mit welchem sie schließlich herunter zu ihrem Ei blickt. Sie bleibt eine Zeit lang still, bis sie nickend über ihre Entscheidung sicher hochsieht.

„Es tut mir leid, aber ich kann das nicht“, sagt sie mit zittriger Stimme. „Ich habe mir geschworen, nie Gewalt anzuwenden. Vor allem werde ich nicht lernen zu töten. Das spricht gegen meine Natur.“

Ich seufze laut, da ich genau das befürchtet hatte. Die Vampirgeschwister blicken Solveig alle ungläubig an und scheinen vor Schock ihre Zunge verschluckt zu haben. Wie erstarrt stehen sie da und bewegen sich kein bisschen. Ich schlucke schwer und spüre, wie sich ein Aufruhr bei den Geschwistern bildet. Da hat Solveig aber etwas Großes rausgehauen. Die langersehnte Kriegerin, die den Frieden herbeiführen und den Krieg beenden soll, weigert sich zu lernen zu kämpfen. Da liegt ein großer Widerspruch in sich und ich bin mir nicht sicher, ob die Vampirgeschwister, geschweige denn Ashram, dies akzeptieren werden.

„Aber Solveig“, sagt Bahar leise verzweifelt und blickt sie mit großen Augen an.

„Bitte nicht“, unterbricht Solveig sie schnell und sieht sie entschuldigend an.

„So geht das nicht“, zischt Kayla nun wütend. „Wir haben solange auf dich gewartet, dass wir schon fast angefangen haben an deiner Existenz zu zweifeln. Und nun bist du da, jemand ganz anderes als wir uns vorgestellt haben, und weigerst dich kämpfen zu lernen?“

Am Ende des Satzes lacht sie laut auf und blickt Solveig mit stechend bösen Augen an. Indigo muss noch fester gegen sie drücken, damit sie nicht auf Solveig losgeht wie ein tollwütiger Hund.

„Wir überleben alle nur, wenn du kleines Mädchen lernst zu kämpfen“, sagt sie herablassend und frustriert sogleich. „Was für eine Enttäuschung du bist.“

Solveig muss hörbar laut schlucken, blickt aber nicht feige weg, sondern hält den Blicken der Vampirgeschwister stand. Sie sieht zwar verzweifelt aus, doch ihre Entscheidung steht fest, daran scheint sie nicht zu zweifeln.

„Es war nicht meine Entscheidung, die Kriegerin eurer Sage zu sein“, antwortet Solveig entschieden bissig und verärgert. „Niemand hat mich gefragt und ich werde sicherlich nicht etwas tun, was nicht meinem Ich entspricht. Tut mir leid, euch enttäuschen zu müssen.“

Mit dieser Ansage dreht sich Solveig zu mir um und blickt mir hilfesuchend in die Augen. Ich spüre, dass sie diesen Raum verlassen möchte, weswegen ich zur Seite trete, um ihr den Vortritt zu lassen. Prüfend blicke ich noch zu den Vampirgeschwistern, die sich jedoch gegenseitig verunsichert anblicken und wohl akzeptiert haben, dass Solveig heute dem Training widersprochen hat. Schließlich folge ich Solveig dicht die Treppen hoch. Oben angekommen spricht keiner von uns beiden ein Wort, sondern laufen nur zu unseren Zimmern. Ich begleite Solveig direkt bis zu ihrem Zimmer und wir verabschieden uns mit kurzen Worten, ehe sie mit gequältem Gesicht eintritt und die Tür hinter sich schließt.

Seufzend laufe ich den Flur entlang zu meinem Zimmer. Mit Sicherheit waren das nicht die letzten Worte von Solveig. Früher oder später muss sie lernen mit dem Schwert umzugehen, daran führt tatsächlich kein Weg vorbei, wie Indigo es bereits gesagt hat. Spätestens wenn Ashram davon Wind erfährt, dass sie sich geweigert hat am Training teilzunehmen, wird dieser fuchsteufelswild und dann werde selbst ich es nicht schaffen, Solveig vor ihm zu beschützen. Dann wird ihr Training beginnen.

 

SOLVEIG

 

Gewalt hat unterschiedliche Formen, jede davon beinhaltet eine egoistische Haltung des Gewalttätigen darauf abgesehen das eigene Befinden zu stillen, ohne Rücksicht auf das Opfer zu nehmen. Während der Täter seine Gefühle freie Bahn schenkt, versetzt es das Opfer unter anderem in Ohnmacht und Angst. Niemand sollte Gewalt erfahren müssen.

Meine Kindheit rührte auf eine gewaltfreie Erziehung, das Hauptmerkmal lag auf Liebe und Zuneigung. Meine Eltern lehrten mich keine Gewalt anzuwenden, weder an Tiere noch an meine Mitmenschen. Dies nahm ich sehr ernst, vor allem nachdem meine Eltern mir mit vierzehn Jahren das Schicksal meines Onkels anvertrauten. Meine Mutter und ihr Bruder lebten getrennt voneinander auf, da sich meine Großeltern früh voneinander getrennt hatten. Während meine Mutter von meiner Großmutter aufgezogen wurde, lebte mein Onkel bei meinem Großvater. Laut meiner Mutter hatte es mein Onkel nicht einfach im Haushalt meines Großvaters. Dieser machte meinen Onkel nicht nur psychisch fertig, sondern wurde oftmals auch körperlich gewalttätig gegenüber seinem Sohn. Meine Großmutter erfuhr nie etwas über diese Gewalttätigkeiten, da mein Onkel gezwungen war, darüber zu schweigen. Erst als die Polizei meinen Onkel aus dem Haushalt befreite und ihn zu meiner Großmutter brachte, kam heraus, dass er auch eine andere Art von Gewalt erleiden musste. Mein Großvater verdiente sich größtenteils sein Geld damit, meinen Onkel im Internet für allerlei Handlungen zu verkaufen. Als die Polizei im Internet darauf stieß, nahmen sie meinen Onkel sofort in Obhut. Er war noch sehr jung, als ihm diese Dinge angetan wurden. Durch jahrelange Therapie und Aufarbeitung konnte er die Erfahrungen einigermaßen verarbeiten und sich mit meiner Großmutter und Mutter ein neues Leben aufbauen.

Bis heute spüre ich überall eine Gänsehaut, wenn ich über die Handlungen nachdenke, die meinem Onkel angetan wurden. Die Erzählung hat mein Leben geprägt und ich hatte mir geschworen, niemals Gewalt anzuwenden. Heute zeigt er sich selbstständig und verantwortungsbewusst, mir gegenüber war mein Onkel immer sehr liebevoll. Gewalt hatte er nicht verdient, das hat niemand. Seufzend schüttele ich den Gedanken beiseite und blicke schließlich wieder hypnotisierend in den violetten Himmel.

Wie wird es wohl weitergehen? Vorgestern zeigte Bahar mir und Mehmet zum ersten Mal die Trainingshalle und die Vampirgeschwister sprachen deutlich aus, dass sie sich wünschten, ich würde anfangen zu lernen zu kämpfen. Was gab es in dieser Trainingshalle alles für Waffen! Allein bei dem Gedanken eine davon in die Hand zu nehmen und sie gegen jemand anderem anzuwenden, wird mir wieder übel. Jedenfalls waren sie sichtlich geschockt, als ich ihnen nicht gehorchte und einen Abgang machte. Immer noch bin ich Mehmet dankbar, dass er mir zur Seite stand und mich nicht allein ließ. Ich war mir sehr sicher, dass ich noch am selben Abend den Zorn von Ashram spüren würde. Darum hatte ich mich in meinem Zimmer versteckt und kam selbst für das Abendessen nicht mehr aus dem Bett gekrochen. Doch ich hatte wohl Glück und wurde verschont.

Gestern bat Bahar mich noch einmal, sie in die Trainingshalle zu begleiten, lange musste sie auf mich einreden und mich überreden. Ich willigte nur zögerlich ein, da ich ihr gegenüber nicht unfreundlich sein wollte und auch wusste, wie wichtig es ihnen ist. Mehmet und ich sahen Indigo und Tjard beim Trainieren zu. Kayla war nicht da, vermutlich hätte sie sich sonst wie ein tollwütiger Hund auf mich geworfen. Indigo und Tjard fuchtelten mit ihren Schwertern, als wären sie ihr dritter Arm. Mit einer Leichtigkeit schwangen sie die Schwerter, der Kampf glich gar einem Tanz. Ich war begeistert von ihrer Kampfkunst, wollte trotzdem nichts damit zu tun haben.

Indigo traf meine Abneigung gegen das Kämpfen von den drei anwesenden Vampirgeschwistern am härtesten. Er versuchte mir sogar ins Gewissen zu reden, indem er meinte, dass sehr viele Menschen wegen meiner Untat sterben würden. Das war auf jeden Fall sein stärkstes Argument und traf mich schwer. Dennoch blieb ich der Meinung, dass sie auch ohne mich kämpfen könnten, ich würde lieber nach einer anderen Lösung suchen wollen. Als Indigo mich bat, sein Schwert wenigsten einmal zu berühren und mir diesen hinreichte, bemerkte ich seinen vernarbten Unterarm. Dieser nahm mehr Aufmerksamkeit auf mich als das Schwert. Sein kompletter Unterarm war voll von Brandnarben, als hätte er sich dort vor langer Zeit mal stark verbrannt. Da er mit seiner Bitte nicht lockerließ, berührte ich das Schwert und spürte keinerlei Regung in mir. Mit zuckenden Schultern entschuldigte ich mich bei ihm und verließ die Trainingshalle schließlich mit Mehmet. Auch gestern wurde ich von Ashram verschont.

Es muss eine andere Lösung für mich geben. Ich will unter keinen Umständen kämpfen, merke aber, wie die anderen wegen mir gegen eine Wand laufen. Das Schloss umringt seit meiner Abfuhr eine angespannte Atmosphäre und ich fühle mich teilweise unter Druck gesetzt. Diesen Druck lasse ich aber so wenig wie möglich an mich heran, um nicht zu etwas gedrängt zu werden, dass ich gar nicht möchte. Ich merke, wie die Vampirgeschwister versuchen mich zu überreden und ich zähle eins und eins zusammen, dass sie das nur tun, damit Ashram nicht an das Thema ranmuss. Ich bin nicht blöd. Ich weiß genau, dass es nicht mehr lange dauert bis sie die Dogge rauslassen, welche nur drauf und dran ist, mich zu fressen. Vielleicht lassen sie aber davor noch Kayla an mich ran.

Ich stoße einen tiefen Seufzer aus und lege mit schwerem Herzen meinen Kopf auf das Ei. Mit meinen Händen streichele ich die Schale und wünschte, er würde mit mir reden. Seit Tagen habe ich nichts mehr von dem Wesen gehört oder gespürt, woran das wohl liegen mag? Seine Stille macht mich schon lange kirre, doch ich habe versucht es zu ignorieren und es gut zu reden. Seine Stille begründete ich mit Ausreden, dass er nichts sagen würde, weil er zu müde sei. Doch nun mache ich mir Sorgen.

Gefunden habe ich ihn, weil ich ihn gespürt, gar Sehnsucht nach ihm verspürt habe. Als ich ihn fand, konnte ich nicht mehr von ihm ablassen. Das Wesen im Ei wurde ein Teil von mir, anfangs unbewusst und im Laufe der Tage immer intensiver. In den Momenten, in denen es mir nicht gut ging, in denen ich Angst hatte oder ich einfach nicht mehr weiter machen wollte, schenkte er mir sein Verständnis und seinen Mut. Er machte mir klar, dass er bei mir bleiben würde, egal wofür ich mich entscheiden würde. Er wurde so schnell und unbemerkt ein Teil von meinem Herzen, das ich das gar nicht mitbekam. Seitdem ich das Ei bei mir trage, habe ich das Gefühl, mein Herz in den Händen zu halten. Keine Ahnung, was er mit mir gemacht hat, aber ich kann und werde ihn niemals leichtfertig verlassen können. Ich spüre tiefe Zuneigung für das Wesen im Ei, ohne zu wissen, was sich eigentlich darin befindet. Blinde Liebe. Und ich weiß, dass er dasselbe für mich empfindet. Wir sind füreinander bestimmt, sonst hätte ich ihn nicht gefunden.

Aber wieso höre ich dann seit Tagen nichts mehr von ihm? Ist er vielleicht nicht meiner Meinung? Könnte er böse auf mich sein? Oder viel schlimmer, ist er nicht mehr da? Mein Herz macht bei der letzten Frage einen kurzen, schmerzlichen Aussetzer. Schnurstracks hebe ich den Kopf und blicke die Schale an, als könnte ich nach längerem Hinsehen durch die Schale hindurchsehen. Der Gedanke lässt mich nicht mehr los. Könnte es wirklich sein, dass er fort ist? Wieder krümmt sich mein Herz zusammen und ich spüre, wie sich Tränen bilden und der Kloß in meinem Hals größer wird.

„Bist du noch da drin?“, frage ich mit zittriger Stimme und blicke das Ei an.

Ich höre weder seine Stimme in meinem Kopf noch irgendeine Vibration ausgehend von dem Ei. Habe ich etwas falsch gemacht?

„Nein, bitte nicht“, flüstere ich verzweifelt und kralle mich an die Schale.

„Sag doch etwas“, bitte ich aufgeregt.

Panisch klopfe ich leicht gegen die Schale, keine Reaktion. Aussichtslos halte ich das Ei in meinen Händen und beginne es zu schütteln, nicht allzu kräftig, dennoch keine Reaktion.

„Wenn ich dich verärgert habe, dann sag es mir“, fordere ich verzweifelt.

Mein Herz pocht wild gegen meine Brust und das Atmen fällt mir immer schwerer. Mein Kopf ist wie leergefegt und ich habe das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren.

„Bitte geh nicht“, hauche ich in den aufkommenden Wind. „Bitte lass mich nicht auch im Stich.“

Der Wind wird immer stärker und stärker, lässt meine Haare wild in der Luft herumwirbeln. Doch ich achte kaum darauf, da meine Augen nur auf dem Ei gehaftet sind. Mein Kummer ist groß, die Tränen finden keinen Halt. Ich habe mich so sehr auf mich fixiert, nur über meine Abwehrhaltung gegen das Kämpfen gesprochen, dass ich das Wesen ganz vergessen habe. Der Gedanke, dass auch er mich verlassen hat und nie wieder zurückkehren wird, zerreißt mein Herz. Wie verzweifelt ringe ich nach Luft, mein Atem kommt nur stoßweise, es fühlt sich an, als würde ich ertrinken. Der Wind haucht mir um die Haare, brummt laut in meinen Ohren. Es ist so laut in meinem Kopf und mein Herz schmerzt so sehr, dass ich das Ei auf meinen Schoß lege und ich meinen Oberkörper darauflege. Wimmernd wippe ich mit dem Ei vor und zurück und weine bitterlich.

Plötzlich höre ich ein lautes Knacken, als würde ein dicker Ast an einem Baum brechen. Das Knacken ist in dem Wind deutlich zu hören, als würde es direkt neben meinem Ohr brechen. Als sich schließlich auch das Ei unter mir anfängt zu regen, verstehe ich schnell was hier passiert. Mit großen Augen sehe ich auf und erkenne einen langen Riss im Ei. Kurz werde ich panisch, habe ich das vielleicht mit meinem Gewicht verursacht? Doch als es sich wieder von selbst bewegt, ohne dass ich es berührt habe, glaube ich zu ahnen, dass das Wesen bereit ist zu schlüpfen. Während der starke Wind immer noch um uns wütet, hebe ich vorsichtig das Ei von meinem Schoß und lege es vor mir auf das rote Gras. Da Ei wackelt hin und her und der Riss zieht sich immer weiter in die Länge.

Erleichtert atme ich aus, während ich dem Wesen zusehe, wie es aus dem Ei schlüpfen mag. Er war also die ganze Zeit da und hat mich doch nicht verlassen. Aber wieso hat er dann nicht mehr zu mir gesprochen? Besorgt sehe ich dem Ei zu und würde ihm am liebsten helfen herauszukommen, entscheide mich aber dagegen, da er es selbst schaffen muss. Was wird mich erwarten? Wird er noch mit mir sprechen? Sollte ich Angst vor ihm haben? Bei der letzten Frage sträubt sich alles in mir dagegen. Er würde mir niemals etwas antun, da bin ich mir sehr sicher.

Noch ein lautes Knacken ist zu hören und das Ei hört schließlich auf sich zu bewegen. Der letzte Knack erzeugte einen erneuten Riss, sodass ein großes Kreuz auf dem Ei zu sehen ist. Die Oberfläche fängt langsam an zu bröckeln, das Wesen versucht den Riss zu vergrößern und ein Loch aus zu polen. Wie dick die Schale des Eies sein muss, dass es so schwer für das Wesen ist herauszukommen. Ich bin so aufgeregt und neugierig, dass ich meine Augen nicht mehr von dem Ei lösen kann und mein Atem kaum bemerke. Das Loch in der Mitte wird immer größer. Das Wesen pausiert seine Handlung, als das Loch etwa so groß ist wie meine Faust.

Der Wind, der die ganze Zeit um uns herumgewütet hat, endet mit einem Mal und es wird windstill. Verwundert über die plötzliche Stille, kann ich nun mein eigenen unregelmäßiger Atem hören. Meine Aufmerksamkeit gilt trotz der plötzlichen Wetteränderung nur dem Ei. Gespannt blicke ich zu dem Loch und erkenne, wie langsam etwas daraus kommt. Etwas Längliches gleitet langsam hoch in die Luft. Es ist bordeaux rot, dünn und lang, wie ein Stab und auf der Spitze wird es dicker, oval förmig. Als sich der Stab beginnt zu winden und sich zu beugen, meine ich zu glauben, dass es sich um einen Fühler handeln muss. Die oval förmige Spitze beugt sich langsam in meine Richtung und kommt mir immer näher. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich keine Angst zu haben brauche und das Wesen selbst etwas aufgeregt ist. Vorsichtig hebe ich meine Hand, strecke meinen Zeigefinger aus und halte es dem Fühler entgegen. Zuerst berührt nur die vorderste Spitze des Fühlers meinen Finger, bis es sich an meinem Finger anlehnt. Der Fühler ist warm und fühlt sich an wie Haut und nicht zerknüllbar, wie etwa geformtes Papier.

Als der Fühler sich schließlich wieder zurück in das Loch zurückzieht, beginnt das Ei sich wieder wild umher zu bewegen. Von innen ist ein Klopfen und Treten zu hören, als würde das Wesen versuchen die Schale aufzubrechen. Meine Erwartungen erfüllen sich und binnen wenigen Minuten teilt sich das Ei in zwei Hälften. Was sich darin befindet, hätte ich mir niemals erträumen lassen können. Ein kleines, schwarzes Wesen mit vier Beinen, welche es an den Bauch angezogen hat, liegt auf der Schale. Es besitzt nicht nur den einen gesehenen Fühler auf seinem runden Kopf, sondern dicht nebendran noch einen. Links und rechts neben den Fühlern besitzt das Wesen schwarze, katzenartige Ohren. Sowohl die Fühler als auch die Ohren bewegen sich in allen Richtungen. Das Wesen besitzt wohl Augen, welche jedoch geschlossen sind. Seine Augen sind umrundet von derselben bordeaux roten Farbe, wie auch die Fühler haben, ansonsten besitzt das Wesen ein kurzes, schwarzes Fell. Bei genauerem Hinsehen besitzt es auch einen Schwanz, welcher jedoch nur kurz und spitz ist. Das Wesen ist klein, gleicht der Größe eines Babys. Vermutlich ist es auch noch ein Baby.

Am liebsten würde ich das Wesen berühren, weiß jedoch nicht, ob es das möchte. Also halte ich meine rechte Hand gegen meine Brust, meine linke Hand hält sie fest, damit ich auch wirklich nicht auf die Idee komme es anzufassen. Es ist unglaublich, was gerade passiert ist. Das Ei ist endlich geschlüpft, worauf ich gewartet habe und laut der Sage fast alle anderen Menschen auf diesem Planeten auch.

„Bist du das Wesen, dessen Stimme sich manchmal bei mir gemeldet hat?“, frage ich leise und muss mich davor kurz räuspern.

Daraufhin richten sich seine Fühler in meine Richtung und das Wesen hört auf sich zu winden.

„Ja“, höre ich wieder die altbekannte, tiefe Stimme in meinem Kopf.

Freude macht sich in mich breit und mir stellen sich um die hundert Fragen, die ich ihm am liebsten sofort gestellt hätte. Um ihn nicht zu überfordern, fange ich mir der Einfachsten an.

„Wie heißt du?“, frage ich ruhig.

„Ich habe keinen Namen“, antwortet er mir ebenfalls mit einer ruhigen, wie Balsam klingenden Stimme.

„Möchtest du denn einen haben?“, frage ich und runzele die Stirn.

Ich gehe einfach davon aus, dass jeder mit einem Namen angesprochen werden möchte, mit welchem man identifiziert werden kann. Wieso sollte das Wesen keinen haben dürfen oder bekommen können? Es sei denn, er möchte keinen Namen. Es bleibt erst mal still, als würde er gründlich darüber nachdenken.

„Welcher Name würde denn zu mir passen?“, fragt er mich zögerlich.

Seufzend blicke ich den violetten Himmel und denke angestrengt nach. Ich kenne das Wesen noch nicht, wie sollte ich ihm also einen Namen vorschlagen, das zu ihm passen könnte? Durch meinen Kopf rattern alle möglichen männlichen Namen, die ich aus meinem Bekanntenkreis kenne, doch keines von ihnen würde seinem Wesen treu werden, da sie viel zu gewöhnlich klingen. Also werde ich kreativer und blicke mich um, ob es einen Gegenstand oder ein Gefühl gibt, das ihn beschreiben könnte.

„Das ist nicht so einfach“, seufze ich nach einer gefühlten Ewigkeit.

Als wieder ein starker Wind an mir vorbeizieht und einen frischen Blumenduft mit sich trägt, erinnere ich mich schlagartig an die starken Windböen, kurz bevor das Wesen geschlüpft ist. Schmunzelnd überlege ich, wie ich einen Namen mit Wind kreieren könnte. Luft, Stärke, unsichtbar? Alles Quatsch. Wie sieht es mit Übersetzungen des Wortes Wind auf anderen Sprachen aus? Wind auf englisch, viento auf spanisch, vent auf französisch, vento auf italienisch. Bei der letzten Übersetzung halte ich inne. Vento? Klingt irgendwie stark.

„Was hältst du von Vento?“, frage ich nachdenklich und sehe aufmerksam zum Wesen hin.

Auf die Frage hin beginnt wieder der Wind zu wehen und seine Fühler leicht mit sich zu ziehen.

„Vento“, spricht das Wesen den Namen eindrucksvoll aus, als würde er den Namen über seine Zunge zergehen lassen. „Hört sich gut an.“

„Ja?“, frage ich heiter und beginne breit zu lächeln. „Dann nenne ich dich von heute an Vento.“

„Das finde ich schön“, schmunzelt Vento.

„Mein Name ist Solveig“, stelle ich mich nun vor.

„Ich weiß“, meint Vento und fährt fort. „Ich habe lange auf dich gewartet Solveig.“

„Wie meinst du das?“, frage ich und werde stutzig.

„Ich werde dir alles erklären. Aber magst du mir davor aus dem Ei helfen?“, fragt er mich. „Mein Geist ist zwar schon lange wach und aktiv, mein Körper muss aber erst wachsen und Kraft sammeln.“

„Klar“, nicke ich verständnisvoll.

Aufgeregt beuge ich mich nach vorne und drücke zuerst die Schale des Eies stärker zur Seite. Mein Herz sagt mir klar und deutlich, dass das Wesen keine Gefahr umgibt und ich es ruhig berühren darf. Mein Kopf lässt meinen Körper jedoch zögern. Vento liegt auf seiner rechten Seite auf dem Ei, sein Atem verläuft regelmäßig, sein Bauch hebt und senkt sich dabei. Ich habe noch nie so ein Wesen wie Vento gesehen. Vermutlich traue ich mich deswegen nicht, ihn zu berühren. Dabei sieht er gar nicht gefährlich aus, sondern eher niedlich.

„Hab keine Angst vor mir“, spricht Vento fürsorglich.

Er hat recht, dafür gibt es keinerlei Gründe. Ich atme tief ein und schiebe meine rechte Hand unter seinen Bauch durch und meine linke Hand stützt vorsichtig seinen Kopf. Sein kurzes Fell ist sehr weich und sein Körper angenehm warm. Wie ein Baby hebe ich Vento vorsichtig hoch aus der Schale und halte ihn dann in meinen Armen. Mich überkommen ein wohliger Schauer und ein schönes Gefühl. Ich fühle mich glücklich, muss automatisch lächeln und blicke Vento voller Freude an. Solch ein Gefühl hatte ich noch nie, es fühlt sich an, als hätte ich etwas wiedergefunden, das ich lange verloren hatte. Vielmehr noch habe ich das Gefühl, als würde ich Vento schon lange kennen und mich erst wieder an seine Nähe erinnern, nachdem ich ihn berührt habe. Er ist ein Teil von mir, etwas, das ich niemals verlieren darf.

„Verrückt, wie sehr ich dich vermisst habe“, lache ich fassungslos. „Dabei wusste ich bis vor wenigen Tagen noch nichts von deiner Existenz.“

„Ich habe dich viel länger vermisst“, gibt er leicht seufzend zu. „Und ich kannte dich schon lange, bevor du überhaupt geboren wurdest.“

„Das musst du mir näher erklären“, sage ich stirnrunzelnd.

Ich möchte mir gar nicht seine jahrelange Sehnsucht ausmalen, die ich nur ansatzweise zu spüren bekomme, wenn ich darüber nachdenke, von ihm getrennt zu sein. Das muss schrecklich gewesen sein.

 „Als die Welt erschaffen wurde, gab es nur drei Lebewesen: Cyra, Balduin und Jenö. Cyra liebte sowohl Balduin als auch Jenö. Ich bin das Kind aller drei Lebewesen. Die Weltenerschafferin Ána missbilligte diese Liebschaft und verurteile alle drei zur lebenslangen Herrschaft auf jeweils einem einsamen Planeten, welche du am Himmel erkennen kannst. Balduin, der Mond des Friedens. Jenö, der Mond des Todes und Cyra, der Mond des Wiederauferstehens. Als ich zur Welt kam, erhielt ich sofort eine Aufgabe von Ána. Als Kind der drei ersten Lebewesen dieses Planeten, sollte ich das Gleichgewicht zwischen Leben und Tod halten und für Frieden sorgen. Doch Ána legte das Schicksal, mein Auferstehen in dieser Welt, in einer höheren Macht, die auch ich nicht kenne. Ich wusste, dass ich meine Aufgabe nur erfüllen konnte, wenn ich dich treffen sollte. Über Jahrhunderte lebte ich in dem Ei, versteckt auf der Welt, für niemanden außer dir zu finden. Ich wusste, ich würde nur aus dem Ei schlüpfen können, wenn du da bist. Und du würdest nur erscheinen, wenn die Welt in Gefahr ist. Nur zusammen können wir das Gleichgewicht dieser Welt wiederherstellen.“

Die Erzählung muss erst einmal sacken. Es sind viele Informationen auf einmal und noch mehr Fragen, die nun aufgetaucht sind. Neben den Fragen verspüre ich aber auch Kummer. Eines seiner Fühler lehnt sich an meine Schulterbeuge an, fast so, als würde er mich umarmen wollen.

„Das muss schrecklich für dich gewesen sein“, flüstere ich kummervoll und ziehe Vento noch stärker zu mir. „Nicht zu wissen, ob du jemals aus dem Ei schlüpfen würdest und nur wegen einer Aufgabe zu leben.“

Kurz kommt mir der Gedanke, ob ich wohl auch nur geboren wurde, um hier zu landen und das Gleichgewicht wiederherzustellen. Das könnte jedenfalls zutreffen, da Vento nur mit meiner Hilfe schlüpfen konnte. Wer ist dafür verantwortlich? Wer hat entschieden, Vento solange gefangen zu halten und nur für eine Aufgabe leben zu lassen?

„Ich war sehr lange allein und einsam, darum bin ich umso glücklicher nun bei dir sein zu können.“

„Ich wünschte, wir hätten uns aus einem anderen Grund früher getroffen“, seufze ich und spüre Wut auf die unbekannte Person, die sich unser Schicksal ausgedacht hat.

„Ich verstehe deinen Groll“, meint Vento plötzlich, als hätte er meine Gefühle gespürt. „Aber lass dich davon nicht tragen. Ich war sehr lange wütend auf mein Schicksal. Letztendlich haben wir keine Macht sie zu ändern und sollten das Beste daraus machen. Ansonsten werden wir nur verbittert und unglücklich.“

Vento hat Recht, aber das kann er wohl nur so einfach sagen, weil er schon lange damit leben musste. Ich versuche meine Wut runterzuschlucken, da ich sie an niemand herauslassen kann. Um mich auf etwas anderes zu konzentrieren, erinnere ich mich an die anderen Fragen, die ich noch an Vento hatte.

„Wieso hast du die letzten Tage nicht mehr mit mir gesprochen?“, frage ich vorsichtig.

Vor der Antwort habe ich etwas Bangen. Kann es wirklich sein, dass er böse auf mich war und eine andere Haltung gegenüber dem Kämpfen hat? Wird er womöglich von mir dasselbe verlangen, wie auch die Vampirgeschwister und Ashram? Und wenn ja, was werde ich dann tun?

„Ich musste mich auf das Schlüpfen aus dem Ei vorbereiten. Wie gesagt, sind meine Kräfte noch lange nicht auf dem höchsten Stand, weswegen schon allein die Aktion aus dem Ei zu schlüpfen, jene Menge Energie von mir verlangt hat. Darum konnte ich leider nicht mit dir sprechen“, erklärt er ruhig.

„Dann warst du nicht böse auf mich?“, frage ich leise und blicke zu Boden.

„Wie kommst du denn darauf?“, fragt Vento und klingt sehr verwundert.

„Die Vampirgeschwister und Ashram verlangen, dass ich lerne zu kämpfen. Vorgestern habe ich mich dagegen entschieden und weigere mich seitdem irgendetwas damit zu tun zu haben“, erkläre ich und fahre mit einer neuen Erkenntnis fort. „Nun hast du mir ebenfalls offenbart, dass wir beide das Schicksal tragen, das Gleichgewicht und Frieden auf dieser Welt wiederherzustellen. Daraus schlussfolgere ich, dass es nötig ist zu wissen, wie man mit Waffen umgeht und kämpft. Oder?“

„Ich würde niemals etwas von dir verlangen, wozu du nicht bereit bist oder ablehnst. Wenn du gegen das Kämpfen bist, bin ich das auch. Wenn du dich anders entscheidest, werde ich an deiner Seite stehen und dich beschützen“, spricht Vento. „Ich vertraue dir blindlings Solveig. Egal, welche Entscheidung du triffst, sie wird die Richtige sein.“

„Ich hatte befürchtet, dass du da anderer Meinung bist, enttäuscht warst und deswegen nicht mehr mit mir gesprochen hast“, seufze ich erleichtert.

„Nun, ich bin eindeutig anderer Meinung, würde dich aber niemals dazu drängen“, sagt Vento nun ernst. „Du hast deine Meinung und ich die meine. Die Entscheidungen, die du aber letztendlich triffst, werde ich immer mitgehen. Ich werde dir meine Bedenken und Sorgen äußern, mein Zuspruch und Mut, jedoch nie Zwang oder Enttäuschung. Ich bin ein Teil von dir und du ein Teil von mir. Wir funktionieren nur miteinander, wenn wir einander vertrauen.“

„Du findest also, ich sollte lernen zu kämpfen?“, frage ich und merke, wie sich mein Herz zusammenzieht.

„Ich finde, du solltest lernen zu kämpfen, damit dir nichts geschieht und du unversehrt bleibst. Ich werde jede einzelne Minute an deiner Seite bleiben. Doch ich würde es mir niemals verzeihen können, wenn dir etwas passiert, weil ich eine Sekunde weggesehen habe und du es nicht geschafft hast, dich selbst zu schützen.“

Seine Begründung ist verständlich und ich weiß genau, dass er recht hat. Nichtsdestotrotz fühle ich mich dabei nicht gut, meine Meinung zu ändern. Seine Sorge um mich und sein Vertrauen mir gegenüber lässt mich erleichtert ausatmen. Er wird mich zu nichts drängen, aber immer ehrlich zu mir sein und bei mir bleiben. Ein schöner Gedanke.

„Danke für deine Ehrlichkeit“, sage ich wahrheitsgemäß.

„Glaubst du nicht, wir können den Krieg irgendwie verhindern?“, frage ich schließlich nachdenklich und beiße mir auf die Unterlippe.

„Ich glaube unsere Chancen dafür sind zu gering, auch wenn ich mir diesen Weg viel eher gewünscht hätte“, meint Vento. „Leider scheint die Sage diesbezüglich wahr zu sein, vor allem da wir beide heute hier stehen und uns in unserem Schicksal eingefunden haben. Die Sage lautet: Die Kriegerin mit dem stärksten Wesen an ihrer Seite werden erscheinen, wenn der Krieg ansteht.“

„Aber wie sollten wir beiden den Frieden wiederherstellen können?“, frage ich fassungslos.

Der Gedanke, wie ein Mädchen, das weder kämpfen kann, noch möchte und ein kleines Wesen, das kaum Kraft hat die eigenen Augen zu öffnen, Frieden herstellen sollen, ist verrückt und naiv. Dieser wahnsinnige König Lennard wird uns doch ins Gesicht lachen, wenn er sieht, wie schwach wir sind.

„Das wird nicht einfach, deswegen brauchen wir Unterstützung und Zeit“, antwortet Vento.

„Unterstützung von wem?“

„Es gibt sehr viele Fabeln und Menschen, die auf unserer Seite sind. Wir müssen sie finden und sie um Unterstützung bitten. Nur wir beide allein können den Krieg nicht beenden“, erklärt mir Vento. „Und wir brauchen Zeit, damit du dich auf den Krieg und den Feinden einstellen kannst und ich meine Kraft sammeln kann, um meine Gestalt zu verändern.“

Das klingt, als hätte sich Vento schon lange darüber Gedanken gemacht. Immerhin hatte er genug Zeit dafür.

„Du wirst deine Gestalt verändern?“, frage ich aufmerksam.

Ich blicke noch einmal intensiv Vento in meinen Armen an und frage mich, wie er sich verändern möchte.

„Du dachtest doch nicht, dass ich so bleiben werde?“, fragt Vento belustigt und ich spüre, wie sein kleiner Körper vor Lachen bebt.

„Ich dachte, du wirst einfach etwas größer“, lache ich nun ebenfalls.

„Ohja, ich werde auf jeden Fall noch größer. Aber ich bin ein Gestaltenwandler, ich kann jede Form annehmen, die ich mir gedenke“, erklärt Vento.

„Dann bist du auch ein Fabel?“, frage ich neugierig.

„Nein“, antwortet Vento ruhig. „Ich gehöre keiner Spezies an, da ich das Kind der ersten drei Lebewesen bin, die auf diesem Planeten gelebt haben. Auch sie gehört keiner Spezies an.“

„Ich dachte Cyra, Balduin und Jenö wären so etwas wie Götter“, sage ich nachdenklich.

„Götter?“, fragt Vento, da er das Wort wohl noch nie gehört hatte. „Klingt nicht schlecht.“

Ich belasse das Thema mit einem Lächeln und beende die Fragestunde. Im Moment fühle ich mich erschöpft und erschlagen. Die letzten Tage und Stunde waren aufregend und sorgenreich. Mit Vento in meinen Armen blicke ich zum Horizont und frage mich, wie es weiter gehen wird. Im Gegensatz zu den vorherigen Tagen habe ich nun keine große Angst mehr. Ich weiß, dass ich nicht allein bin und Vento bei mir bleiben wird, egal was kommt. Mit ihm an meiner Seite fühle ich kräftiger. In naher Zukunft werden große Ereignisse auf uns zukommen, die wir gemeinsam meistern müssen. Die größte Hürde wird wohl oder übel zuerst Ashram sein, denn ich spüre, dass er nicht mehr lange ruhig sitzen und zusehen wird, wie ich mich gegen die Vampirgeschwister stelle. Aber egal was kommen mag, Vento wird bei mir sein.

Kapitel 8

 

Es kann das beste Herz in dunkeln Stunden fehlen.


Goethe, Die Mitschuldigen, entstanden 1768/69. 3. Aufzug, 2. Szene. Sophie zu Vater (Wirt)

 

 ASHRAM

 

Es ist frisch draußen und der Regen schüttet ohne Ende aus den dunklen Wolken. Als der Tag bereits trüb begonnen hat, wusste ich, dass heute nicht Gutes passieren würde. Es regnet nicht oft in dieser Gegend, und wenn es regnet, zieht es einen niederschmetternden Tag mit sich. Die dunklen Wolken betrüben nicht nur den Himmel, sondern auch die Gemüter aller. Mit kritischem Blick stehe ich auf meinem überdachten Balkon und blicke in den endlos scheinenden Regen.

Die letzten Tage habe ich mich mit Vorsicht und Zurückhaltung geübt. Regelmäßig kam Bahar zu mir und berichtete von den Ergebnissen mit dem Mädchen. Es sind nun vier Monde vergangen und das törichte Ding weigert sich immer noch zu kämpfen. Bereits am ersten Tag, nachdem mir Bahar davon zögerlich erzählte, wollte ich direkt zu ihr marschieren und sie an den Haaren in die Trainingshalle zerren. Doch Bahar meinte, ich solle vernünftig bleiben. Gillis bat mich regelrecht darum, dem Mädchen Verständnis entgegenzubringen. Wäre sie nicht die langersehnte Kriegerin, hätte ich sie schon längst von unserer Klippe gestoßen. Meine Geduld hängt am seidenen Faden und das Mädchen provoziert es gar heraus, mich zur Weißglut zu bringen.

Wäre das Wesen gestern nicht aus dem Ei geschlüpft, hätte ich sie da bereits mit meiner Wut konfrontiert. Doch meine Hoffnung bestand darin, dass das Wesen sie einer anderen Meinung gegenüber der Kampfkunst lehren kann. Denn aus diesem Grund ist das Wesen doch geschlüpft, oder etwa nicht? Bei dem wiederkehrenden Gedanken ihrer Abwehrhaltung zum Kämpfen verkrampfen sich meine Hände wieder am Geländer des Balkons, sodass meine Finger durch meine hervorstechenden Knochen weiß werden. In den letzten Tagen habe ich mich mit den Gedanken beruhigt, wie ich das Mädchen für ihre Dummheit und Abwehr peinigen könnte. Vermutlich wäre der Einsatz einer Waffe aus der Trainingshalle Zeichen genug, dann könnte sie diese gleich kennenlernen und wüsste, wofür sie gut sind.

Nichtsdestotrotz hat mich gestern zugegebener Maße eine gewisse Neugier geritten. Meine Freunde haben versucht mir die Gestalt des Wesens zu beschreiben. Als sie nämlich davon erfuhren, kamen sie direkt aufgeregt zu mir gerannt und berichteten mir von dem Tier. Vento, hat das Mädchen das Wesen getauft. Die Augen meiner Freunde haben regelrecht geglüht, ich konnte ihre große Erleichterung ablesen. Allein das Ei hat ihnen schon Hoffnung auf Frieden gegeben, nachdem es tatsächlich geschlüpft ist und sie das Wesen hautnah sehen konnten, waren sie überglücklich. Für den Moment war es ihnen dann auch gleich, ob das Mädchen kämpfen möchte oder nicht. Sie wollten, dass ich sie begleite und Vento selbst mit eigenen Augen sah. Doch ich lehnte ab, da ich immer noch eine bebende Wut auf dieses Mädchen hatte. Alles an ihr macht mich tierisch wütend. Ihr Geschlecht, ihre Schüchternheit und Zurückhaltung und vor allem ihre Frechheit, die Kampflehre abzulehnen. Wäre ich mitgekommen, hätte ich mich nicht auf das Wesen konzentrieren können, sondern wäre regelrecht auf sie losgegangen. Ich wusste, dass ich Vento früher oder später schon noch kennenlernen würde.

Ein Klopfen an der Tür weckt mich aus meinen Gedanken und lässt mich tief einatmen. Ich rufe ein kurzes „Herein“ und warte auf dem Balkon, dass die Person zu mir nach draußen kommt. Müde lege ich die Hände auf mein Gesicht und ziehe meine Haut straff. Ich merke, wie müde und leid ich es bin, auf dieser Welt wandeln zu müssen, ohne ein absehbares Ende. Was wird noch alles geschehen, bis der Frieden in Sicht kommt? Werde ich irgendwann diese Welt verlassen können? Hat das alles irgendwann ein Ende für mich?

„Du wirkst erschöpft“, höre ich die Stimme meines Freundes Gillis im Hintergrund.

Ich blicke weiterhin in den Regen und verschränke meine Arme. Als das Mädchen am Schloss ankam, übertrug ich Gillis die Aufgabe, im Land herumzulaufen und herauszufinden, wie die Stimmung in den einzelnen Dörfern ist. Wie weit ist König Lennard mit seiner Kriegsplanung? Wen hat er alles auf seiner Seite?

„Das übliche“, antworte ich emotionslos und zucke nur leicht mit den Schultern.

„Hast du etwas Neues für mich?“, frage ich nun interessiert und drehe mich zu ihm um.

Seine blonden, kurzen Haare sind nass und sein schwarzer Umhang komplett durchweicht. Gillis sieht aus, als wäre er von draußen direkt zu mir gekommen. Wenn er sich nicht einmal die Zeit genommen hat sich umzuziehen, muss er etwas Wichtiges zu erzählen haben.

„Leider nichts Gutes“, seufzt er leicht und verzieht seine Mundwinkel nach unten. „Während König Lennard nun alle fünf große Werwolfsrudeln auf seine Seite gebracht hat, will er sich als Nächstes die Elfen zuknöpfen.“

Als Gillis die Elfen erwähnt, blitzen meine Augen auf und starren ihn wütend an. König Lennard darf die Elfen nicht zuerst auf seine Seite bringen, wir müssen mit allen Mitteln zuerst an sie rankommen. Lange haben wir aber nicht mehr Zeit. Sobald zehn Monde vergangen sind, werden sich die Elfen laut dem Elfenkind aus dem Krieg raushalten. Da die Hexen aber im Krieg ebenfalls dabei sind, werden sie unmöglich tatenlos unter der Erde verweilen. Keine Ahnung, wie König Lennard die Elfen überreden möchte an seiner Seite neben den Hexen zu kämpfen. Das Risiko, das König Lennard dafür einen Weg findet, möchte ich nicht eingehen. In den nächsten Tagen muss ich mit dem Mädchen wieder ein Besuch bei dem Elfenkind abstatten.

„Wir werden ihm zuvorkommen“, schlucke ich schwer und beiße mir auf die Lippeninnenseite, bis ich einen metallischen Geschmack spüre.

Schon allein der Gedanke, mit dem Mädchen allein unterwegs zu sein, lässt mich automatisch meine Fingerknochen knacken. Wenn ich mir schon selbst nicht versprechen kann, ihr nichts anzutun, wie soll das dann in der Praxis aussehen? Niemand wird mich zurückhalten können und sie selbst wird sich sicher nicht vor mir wehren können.

„Das ist noch nicht alles“, sagt Gillis und klingt verbittert.

Mit gerunzelter Stirn blicke ich meinen Freund an und frage mich, was ihn denn noch zum Verzweifeln bringen könnte.

„Er hat schon wieder ein Dorf ausgelöscht Ashram“, spricht Gillis zwischen zusammengepressten Zähnen und wirkt den Tränen nahe.

Es ist nicht das erste Mal, dass König Lennard ein ganzes Dorf auslöscht. Sobald die Bewohner eines Dorfes sich weigern, sich ihm anzuschließen, beauftragt er seine Kameraden alle Bewohner zu töten. Dabei wird niemand verschont. Männer, Frauen, Kinder, Greise, Tiere und Fabeln, die in solch einem Dorf leben, werde alle gnadenlos getötet. Immer wenn wir davon Wind bekommen, welches Dorf angegriffen wird, sind wir meist zu spät und es gibt keine Überlebende. Es ist bis jetzt nur einmal vorgekommen, dass wir rechtzeitig kommen konnten, doch wurde auch da bereits das halbe Dorf ausgelöscht. Die Dörfer werden grausam hinterlassen, die Toten über einen Haufen geworfen und ihr Blut an den Häusern beschmiert.

„Welches war es dieses Mal?“, frage ich und spüre, wie meine Hände sich zu Fäusten bilden.

„Das Kathorama Dorf, in der Nähe des endlosen Sees“, antwortet er und blickt zu Boden.

„Wir haben die Kriegerin und Vento“, seufze ich nach einer schweigsamen, kurzen Zeit und versuche den erschütterten Gillis zu trösten, indem ich meine Hand auf seine Schulter lege. „Wir sind schon ein Schritt weiter in Richtung Frieden und werden König Lennard für den Mord Hunderte Menschen bestrafen.“

„Das sagst du so sicher, dabei hast du Vento noch gar nicht kennengelernt“, erinnert er mich und lächelt wacker.

„Das liegt daran, dass ich dieses Mädchen nicht sehen kann“, antworte ich genervt, verdrehe die Augen und nehme meine Hand wieder weg. „Ich würde sie vermutlich aus Versehen umbringen.“

„Sag das nicht“, rügt er mich mit ruhiger Stimme. „Solveig hat Angst und weiß gar nicht was es bedeutet, im Krieg zu leben.“

„Das ist das Problem“, zische ich wütend und blicke wieder in den Regen. „Solange sie nicht weiß, wie viel Tod ein Krieg mit sich zieht, wird sie niemals erlernen wollen, ein Schwert zu zücken.“

Gerade wollte Gillis etwas erwidern, als es erneut an meiner Tür klopft und wir aufmerksam in das dunkle Zimmer blicken. Ich rufe wieder ein „Herein“ und verschränke die Arme vor der Brust. Wer mag wohl das Gespräch mit mir suchen? Da ich im Zimmer keine Kerze angezündet habe, lässt sich die Gestalt, welche die Tür öffnet und in mein Zimmer hereinspaziert, erst nicht erkennen. Immer deutlicher werden die Konturen und die Rundungen, als ich schließlich eine rote Mähne erkenne, weiß ich, dass es sich um Kayla handeln muss.

Seit dem Tod von Madleen, die sechste Vampirschwester, haben Kayla und ich kaum Worte miteinander gewechselt. Als Madleen noch in der Runde war, war Kayla ein Freigeist, ähnlich wie Bahar. Seitdem Madleen jedoch verstarb, veränderte sich Kaylas Charakter um hundertachzig Grad. Sie wurde verbittert, bissig, herablassend und traut niemandem außer ihren Geschwistern. Da ich größtenteils für den Tod von Madleen schuld war, ging Kayla mir größtenteils aus dem Weg. Trotzdem schwor sie mir, wie auch ihre Geschwister, die endlose Treue. Sie wurde eine begnadigte Schwertkämpferin und kann es mit jedem anlegen. Es muss einen triftigen Grund haben, wieso Kayla zu mir kommt.

„Nicht jetzt Kayla“, warnt Gillis seine Schwester und wird bleich.

Da Gillis die Emotionen anderer erkennen kann, schlussfolgere ich, dass Kayla mit einer schlechten Nachricht kommt. Die Tatsache, dass Gillis sie aufhalten möchte, noch bevor sie etwas gesagt hat, lässt mich aufmerksam aufhorchen.

„Sei still Gillis“, pfeffert sie ihn wie eine störrische Mücke beiseite und richtet ihren Blick schließlich mir zu.

„Was geht hier vor sich?“, frage ich missgelaunt, ziehe ungeduldig eine Augenbraue hoch und blicke von den Geschwistern hin und her.

„Du solltest gehen“, zischt Gillis zurück und stellt sich direkt vor Kayla, sodass unser Augenkontakt abgebrochen wird.

Ich merke, wie ich immer ungeduldiger werde. Zähneknirschend halte ich mich noch zurück und lasse die Geschwister ihr Konflikt selbst regeln, bevor ich eingreife.

„Wenn du nicht zur Seite gehst, fliegst du mit Handumdrehen von dem Balkon“, droht Kayla ihrem Bruder provokant und mit ruhiger Stimme.

„Das wagst du nicht“, höre ich Gillis streng antworten.

„Das reicht“, melde ich mich. „Gillis, sei so freundlich und geh zur Seite.“

Zögerlich dreht sich Gillis zu mir und beißt sich nachdenklich und nervös auf seine Unterlippe. Irgendwas scheint ihn sehr zu bedenken geben. Was mag Kayla fühlen, weswegen Gillis so in Panik gerät? Schließlich gleitet sein Blick seufzend zu Boden und er tritt zur Seite. Nun blicken mich die aufgeregten, großen Augen von Kayla an. Ihrem Blick zu urteilen, muss es sich bei ihrer Information um etwas sehr Spannendes handeln. Ausdruckslos sehe ich ihr in die Augen und nicke ihr auffordernd zu, zu sprechen.

„Ich dachte, es wird Zeit dem wachsamen, gnadenlosen Ashram Bericht über unser Küken zu leisten“, beginnt sie zu sprechen und lächelt mich spitz an.

Mit dem Küken meint sie das nutzlose Mädchen, das unsere Kriegerin sein soll. Mir wird schnell bewusst, warum Gillis sie aufhalten wollte zusprechen. Ich spüre nämlich wieder die aufbrausende Wut in mir hochkommen.

„Was hat sie wieder getan?“, frage ich und merke, dass mir die Worte nur schwer über die Lippen kommen.

„Es geht wohl eher darum, was sie nicht getan hat“, antwortet Kayla spielerisch und beginnt mich wie ein kampflustiger Tiger zu umkreisen.

„Kayla“, höre ich Gillis sie anzischen.

„Was wohl das Elfenkind, Baobhan-Sith oder König Lennard sagen würden, wenn sie wüssten, wie oft das dumme Ding dir frech in den Rücken gefallen ist und sich weigert deine Anweisungen Folge zu leisten?“, spricht sie, als sie hinter mir steht.

Ihre Worte gleichen einem Flüstern und doch höre ich sie laut und deutlich. Während sie ihre hasserfüllte Rede hält, fährt eine Fingerspitze meine Schultern entlang. Als sie ihr Kreis beendet und das andere Ende meiner Schulter erreicht hat, greife ich schwungvoll nach ihrer Hand und halte sie fest zwischen meinen Fingern.

„Komm auf den Punkt“, verlange ich bissig.

Es kostet mich eine Menge Kraft, ihre Finger unter meinem Griff nicht zu zertrümmern. Ich habe das Gefühl zu explodieren und ich weiß, dass das auch ihre Absicht war. Gillis hat das noch viel früher gewusst.

„Sie weigert sich partout, eine Waffe in die Hand zu nehmen“, antwortet Kayla und hat nicht einmal mit einer Wimper gezuckt, als ich ihre Hand gewaltsam ergriffen habe.

„Auch heute?“, frage ich, um noch einmal sicherzugehen.

Auf ihrem Gesicht ist kein Lächeln mehr zu sehen, sondern brodelnde Wut, als sie auf meine Frage bestätigend nickt. Die Wut scheint unsere einzige Gemeinsamkeit zu sein.

„Wo?“, bringe ich nur knurrend heraus.

„Kayla nicht“, versucht Gillis sie wieder aufzuhalten, doch Kayla kommt ihm zuvor.

„In der Trainingshalle.“

Noch bevor weitere Worte fallen können, verlasse ich den Balkon und lasse die Vampirgeschwister zurück. Als ich aus meinem Zimmer raus bin, höre ich noch ein „Nicht, Ashram“, von Gillis, ehe die Tür hinter mir mit einem lauten Knall zufällt. Mich würde jetzt niemand, rein gar nichts, aufhalten können. Meine Geduld hat ein Ende erreicht, meine Wut kann ich nicht mehr in Zaum halten. Während ich mit zügigen Schritten in Richtung Trainingshalle laufe, hallt mir ein wiederkehrender Gedanke im Kopf herum. Jeden Tag sterben Hunderte Menschen, weil sie den Mut haben, sich gegen den König zu wehren. Menschen und Fabeln haben auf den langersehnten Krieger gewartet und hatten Hoffnung, von der Gewalt befreit zu werden. Jetzt ist sie hier und es ist ihr gleichgültig, dass weitere Menschen sterben werden, nur weil sie sich weigert zu lernen zu kämpfen. Das Schicksal der ganzen Welt liegt in den lächerlichen Händen dieses törichten Mädchens. Ich kann nicht länger zusehen, wie weitere Menschen und Fabeln sterben. Und sie sollte das auch nicht. Als ich die Treppen der Trainingshalle erreiche, habe ich schon eine Entscheidung getroffen für das weitere Vorgehen. Ich schwöre, ich würde sie spüren lassen, was Krieg auf unserem Planeten bedeutet!  

Meine Schritte sind schnell, binnen weniger Sekunden habe ich den letzten Treppenabsatz erreicht. Im Raum ist es mucksmäuschenstill und ich spüre sofort die Blicke aller auf mir. Schnell resigniere ich, dass Bahar zuvor in einem eindringlichen Gespräch mit dem Freund von dem Mädchen war, sein Name war Mehmet. Als sie mich erblickt, sieht sie schockiert und fassungslos aus. Abseits von ihnen steht Indigo mit einem Schwert in der Hand und einem verzweifelten Gesichtsausdruck vor dem Mädchen. Neben ihren Füßen sitzt ein schwarzes, vierbeiniges Wesen mit zwei Ohren und zwei Fühlern, das vermutlich Vento sein muss. All das nehme ich nur schwach wahr, denn meine volle Aufmerksamkeit liegt auf das Mädchen. Ihr Blick strahlt pure Panik aus, als ich ihr zähneknirschend näherkomme. Mit Absicht blicke ich ihr direkt in die Augen, um ihr weiszumachen, dass sie gegen mich keine Chance hat.

„Du“, zische ich nur und komme ihr bedrohlich entgegen.

Ich merke, wie alle Personen im Raum angespannt den Atem anhalten. Von dem Wesen neben ihr höre ich ein bedrohliches Knurren, je näher ich ihnen komme. Doch das macht mir wenig aus, soll das Wesen doch versuchen mich aufzuhalten. Das Mädchen wird blass, als sie versteht, dass ich wegen ihr komme. Als ich schließlich bei ihr ankomme, greife ich gewaltsam nach ihrem Unterarm und ziehe diesen mit einem starken Ruck zu mir, wodurch sie zum Schwanken, fast zum Stolpern kommt.

„Mitkommen“, bringe ich nur knurrend heraus.

Damit drehe ich mich um und ziehe sie eisern hinter mir her. Von der Seite nehme ich wahr, wie alle aufgebracht und panisch werden. Doch ich lasse mich nicht beirren und denke gar nicht dran, sie loszulassen. Als ich sie hinter mir wimmernd aufkeuchen höre, lockere ich nur leicht meinen Griff. Kurz hatte ich vergessen, dass sie nur ein Mensch ist und ich ihr mit Leichtigkeit den Arm brechen könnte. Ein Gedanke, der für mich in der derzeitigen Lage eigentlich verlockend klingt.

„Was? Nein!“, höre ich sie panisch hinter mir sagen, als wir die Treppen erreichen. „Lass los!“

Unnachgiebig stürme ich die Treppen hoch, überspringe sogar einige Stufen. Ich weiß genau, dass sie nicht mit mir mithalten kann, doch meine Wut ist so groß, dass es mir gleich ist, wenn sie sich ein paar blaue Flecken zuzieht.

„Nein! Vento!“, ruft sie weiter panisch und hilfesuchend, kurz bevor wir oben ankommen.

Ich schnaube nur wütend und würde ihr am liebsten mit irgendwas den Mund stopfen, damit ich keine weiteren Laute von ihr ertragen muss. Kurz frage ich mich, wer von uns beiden mehr leidet. Sie unter meinem starken Händegriff, oder ich unter der Unentschlossenheit zwischen der Verlockung sie mit einem Mal endlich loswerden zu können oder sie nicht zu verletzen, weil sie noch gebraucht wird?

Als wir oben ankommen, ziehe ich sie weiterhin mit großen Schritten den Flur entlang. Ich spüre, wie sie schnell laufen muss, um mit mir Schritt halten zu können und höre ihren aufgeregten, lauten Atem. Neben unseren Schritten höre ich auch ein gleichmäßiges Aufschlagen von Krallen auf dem Boden, das von dem Wesen ausgehen muss.

„Wo bringst du mich hin?“, ruft sie verzweifelt.

Unter meinem Händegriff bemerke ich, wie schnell ihr Puls schlägt. Soll sie ruhig Angst vor mir haben, vielleicht kann ich dann wenigstens etwas bewirken. Nach weiteren Schritten antworte ich ihr immer noch nicht, da mir die Lust dazu fehlt. Ununterbrochen quälen mich die Gedanken, wie ich sie eigentlich bestrafen könnte. Doch ich muss einen anderen Weg einschlagen, auch wenn mir dieser weniger gefällt. Da ich ihr nicht antworte, höre ich schließlich ein aufgebrachtes Schnauben von ihr. Mit einem Mal bleibt sie wie angewurzelt stehen, sodass sogar ich verwundert halten muss und ihr fast den Arm hätte rausreißen können. Der Stillstand hat ihr deutlich wehgetan, dass ich anhand ihres verzweifelten Gesichtsausdrucks erkennen kann, als ich mich wütend zu ihr umdrehe.

„Was wird das, wenn es fertig ist?“, frage ich knurrend.

Mit einem Ruck ziehe ich sie wieder zu mir, komme ihrem Gesicht sehr nah, um ihr wütend in die Augen zu blicken. Meine Brust hebt und senkt sich vor Wut. Was fällt ihr ein stehenzubleiben? Selbstverständlich könnte ich sie jetzt mitschleifen, selbst wenn ich sie auf dem Boden liegend mitziehen müsste. Doch mir gefällt es partout nicht, dass sie sich mir erneut widersetzt. Sie atmet sehr schwer und wirkt aufgedreht.

„Wo bringst du mich hin?“, fragt sie, nachdem sie tief Luft geholt hat, um vermutlich Mut zu sammeln.

„Das wirst du schon sehen“, antworte ich kurz, drehe mich wieder um und ziehe sie mit.

Doch sie bleibt immer noch eisern stehen und ich höre sie schwer schlucken, als ich mich brodelnd vor Wut erneut zu ihr umdrehe. Am liebsten würde ich sie gegen die Steinwand knallen oder sie an den Haaren weiterziehen. Doch dann würde sie wie eine Irre durch das ganze Schloss schreien.

„Beantworte mir meine Frage“, verlangt sie wacker und ihre Augen werden groß vor Aufregung, das nächste Wort gleicht einem Flüstern, als dieses über ihre bebenden Lippen kommt. „Bitte.“

„Du stellst hier überhaupt keine Fragen“, zische ich nur schnaubend und perplex von ihrer Forderung.

Schließlich lasse ich ihre Hand los, packe sie an ihrer Hüfte, hebe sie mit Leichtigkeit hoch und werfe sie mir über die Schulter. Wenn sie nicht selbst laufen möchte, werde ich sie wohl tragen müssen. Lange möchte ich jedenfalls meine Zeit nicht mit ihr verschwenden.

„Nein“, beschwert sie sich wieder und fängt an rumzuschreien und mir mit ihren Fäusten auf den Rücken zu hämmern.

Bevor ich loslaufe, spüre ich kleine Stiche an meinem rechten Bein und sehe kurz hinunter. Das schwarze Wesen hat sich mit seinen kleinen, trotzdem spitzen Zähnen in mein Bein gebissen, um mich wohl aufzuhalten. Wie eine störende Fliege schiebe ich Vento beiseite und laufe schließlich mit schnellen Schritten weiter. Wieder höre ich, wie die Krallen von Vento bei jedem Schritt seiner vier Pfoten auf den Boden aufkommen.

„Lass mich sofort runter“, schreit das Mädchen weiter und bewegt sich unruhig.

Für mich ist es eine Leichtigkeit, sie mit einer Hand festzuhalten, damit sie nicht von meiner Schulter herunterfällt. Und auch hier finde ich Gedanken zugegebener Maße genussvoll, wie sie mit ihrem Dickkopf auf den Steinboden fallen könnte. Doch ich ermahne und zwinge mich, die Gedanken zu vertreiben. Ich muss den anderen Weg zuerst einschlagen, das bin ich den verstorbenen Menschen und Fabeln schuldig. Stumm ignoriere ich die Schreie und Rufe von dem Mädchen, mittlerweile wird sie niemand mehr hören können, da wir endlich das andere Ende des Schlosses erreicht haben. Weitere Treppen hoch führen uns zum Ostflügel, an dem ich die Tür zum Ostturm entgegenlaufe und sie öffne. Die Treppen hinter der Tür sind eng und drehen sich in die Höhe im Kreis.

„Was auch immer du vorhast“, wimmert sie nun panisch und ihre Stimme schallt an den Steinwänden nach oben. „Wir können zuerst darüber reden.“

Es sind einige Treppenstufen nach oben, doch für mich keine besondere Anstrengung. Mag es daran liegen, dass ich nun schon seit so vielen Jahren auf diesem Planeten lebe, oder weil ich jeden Tag trainiere. Hinzu kommt, dass das Mädchen kaum etwas wiegt.

„Diese Chance hattest du schon“, brumme ich unzufrieden.

„Es geht ums Kämpfen“, sagt sie aufgeregt, als wäre ihr ein Licht aufgegangen. „Darum willst du mich töten?“

Als wir endlich ankommen, klappe ich das Eisenschloss auf und öffne die schwere Holztür. Sobald diese offen ist, kommt uns eine starke und kalte Windböe entgegen. Zu ihrem Glück hat es aufgehört zu regnen, doch der Regenduft liegt noch süß in der Luft. Hier oben auf dem Turm lebt Zander, welcher mich erstaunt anblickt, als wir erscheinen. Er liegt auf seinem Nest und aß gerade noch ein Stück Fleisch, beendet jedoch sofort sein Mahl und erhebt sich auf seine vier Beine. Sein Blick ist neugierig und ich kann deutlich ablesen, dass er nicht mit mir und erst recht nicht mit dem Mädchen gerechnet hat.

„Ich werde dich nicht töten“, zische ich genervt, hebe sie erneut hoch, um sie dieses Mal von meiner Schulter zu nehmen. „Aber vielleicht wirst du es dir ja wünschen.“

Als sie auf dem Boden ankommt, zieht sie sich ihr Hemd und ihre Haare zurecht, bevor sie zu mir aufblickt. Ihre grau-grüne Augen treffen die meine und mit einem verzweifelten Blick versucht sie abzulesen, was ich mit ihr vorhabe. Ihr Blick ist durchdringend und ihr Atem geht schnell, ihre Brust hebt und senkt sich aufgeregt. Ich sehe keine Sekunde weg und stelle mich ihrem verzweifelten Blick. Ich bin ich mir sicher, dass ich im Gegensatz zu ihr immer noch wütend aussehe und vermutlich hat sie immer noch eine panische Angst vor mir. Doch es stört mich nicht, denn nicht umsonst habe ich sie hier hochgeschleppt. Bei dem Gedanken fange ich wieder böse an mit den Zähnen zu knirschen. Das scheint sie aus ihrem Bann befreit zu haben und sie blickt zu Boden, um vermutlich das Wesen zu suchen.

„Das ist Zander“, stelle ich den Fabel vor, um keine weitere Zeit zu verlieren.

Da Zander hinter dem Mädchen steht, dreht diese sich völlig entgeistert um. Sie hatte wohl nicht damit gerechnet, dass noch jemand hier oben sein würde. Zander beugt seinen Kopf leicht zu Boden, wie eine Art Verbeugung, als das Mädchen ihn erblickt. Ich hätte mir sicherlich eine andere Reaktion von ihm gewünscht, aber wie meine Vampirfreunde, verehren andere Fabeln die langersehnte Kriegerin ebenfalls. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, wie sich Vento mit vorsichtigen Schritten Zander nähert. Als Zander wieder aufblickt, sieht er Vento auf sich zukommen und wirkt plötzlich sprachlos. Vento scheint anfangs noch zögerlich zu sein, doch nach mehreren Schritten ist er bereits bei Zander und legt einen schwarzen Fühler auf eins seiner mit Fell übergezogenen Beinen. In dem Moment, als Vento ihn mit seinem Fühler berührt, wandelte sich der Gesichtsausdruck von Zander. Zuvor wirkte er neugierig und verwundert, nun sehe ich zum ersten Mal ein Strahlen auf seinem Gesicht. Hätte er keinen Schnabel, hätte ich schwören können, dass er lächelt.

„Zander“, melde ich mich schließlich und er blickt mich mit weit aufgerissenen Augen an, fast wirkt er benebelt. „Ich brauche dich zum Fliegen.“

Nach einem kurzen Nicken von Zander an Vento, zieht dieser seinen Fühler wieder zurück und Zander kniet sich auf seine Knie auf den Boden. Das ist das Zeichen dafür, dass wir uns auf seinen Rücken aufsetzen können.

„Auf seinen Rücken“, befehle ich und schubse das Mädchen von hinten näher zu Zander.

Sie muss kurz stolpern, fängt sich jedoch schnell auf und läuft zögerlich mit langsamen Schritten zu Zander. Ich kann ihren Gesichtsausdruck nicht sehen, doch ihre versteifte Haltung lässt daraus schließen, dass sie nicht nur vor mir, sondern auch vor Zander Angst hat.

„Fliegen?“, flüstert sie resigniert. „Nein, nein, auf keinen Fall.“

Wieder bleibt sie stehen, ihre Arme hängen ihr steif herunter und ihre Fingernägel krallen sich in ihre Handinnenflächen. Da ich ihr so dicht gefolgt bin, stoße ich abrupt gegen sie, als sie spontan stehen bleibt. Seufzend raufe ich mir in die Haare, da mir jegliche Geduld mit ihr fehlt. Es juckt tierisch in meinen Fingern, am liebsten würde ich sie gewaltsam auf Zander werfen, doch ich muss mich zusammenreißen.

„Ich zähle bis drei“, warne ich sie leise knurrend, blähe meine Nasenflügel auf und beginne zu zählen. „Eins.“

„Nein“, meldet sich das Mädchen wieder panisch und dreht ihren Kopf leicht zu mir nach hinten, um mich besser ansehen zu können. „Du verstehst nicht, ich kann nicht fliegen.“

„Zwei“, ignoriere ich sie und verdrehe meine Augen.

„Ich meine das ernst“, mit weit aufgerissenen Augen dreht sie sich zu mir um und blickt mich mit flehenden Augen an. „Ich habe Höhenangst.“

„Drei.“

 

 

SOLVEIG

 

Ich habe vor vielen Dingen Angst. Ich fürchte mich vor Spinnen, Clowns, Donner und Höhe. Doch sind das Dinge, womit ich gelernt habe umzugehen. Sehe ich eine Spinne, drehe ich mich langsam um, renne in ein anderes Zimmer und rufe um Hilfe. Bei Gewitter verbunden mit Donner, höre ich Musik aus meinen Kopfhörern. Das letzte Mal bin ich einem Clown begegnet, als ich mit sechs Jahren im Zirkus war, das war auch mein letzter Besuch. Und der Höhe ging ich bisher gekonnt aus dem Weg, indem ich in keinen Flieger stieg oder mich sonst irgendwohin begab, wo ich damit konfrontiert werden könnte.

Dann gibt es aber auch spezielle Situationen, vor denen ich Angst habe, diese sind unvorhersehbar und daher schwieriger zu kontrollieren. Zum einen fürchte mich neue Freunde kennenzulernen, da ich Angst habe, dass sie mich verlassen könnten. Mein Psychologe erklärte mir damals, dass ich nach dem Tod meiner Eltern enorme Verlustängste entwickelt hätte, das war das Einzige, das ich aus seinem Mund nachvollziehen konnte. Zum anderen habe ich vor Situationen Angst, in denen ich keine Kontrolle habe und ein Ohnmachtsgefühl erlebe. Diese Angst tritt häufig auf und erzeugt ein blankes Entsetzen in mir. Mein Atem verläuft stoßweise, mein Puls rast, meine Bewegung ist wie erstarrt und mein Kopf wie leer gefegt.

Seit ich in dieser Welt gelandet bin, ist Ashram die einzige Person, die in mir solch eine Angst ausgelöst hat. Das erste Mal, als Mehmet und ich am Schloss ankamen und er mich mit seinem kalten, unerschütterten Blick angesehen hat, spürte ich eine Ohnmacht in mir aufkommen. Als er dann auch noch erfuhr, dass ich die Kriegerin bin, konnte ich förmlich sehen, wie er sich wünschte, mich mit seinen Blicken töten zu können. Ich fühlte mich bewegungslos, verloren und unerwünscht. Und ich konnte mich nicht aus dieser Situation befreien, war in seinen unbarmherzigen Klauen gefangen, hatte keine Kontrolle. Nach diesem Tag sah ich Ashram für einige Tage nicht mehr, bis heute. Als er in die Trainingshalle geschossen kam, war ich bereits erstarrt. Meine Knochen fühlten sich steinhart an, sie konnten sich nicht regen und mir war kalt und heiß gleichzeitig. Ich spürte regelrecht, wie die Panik in mir hochkroch und ich bekam Todesangst. Er hatte einen fuchsteufelswilden Gesichtsausdruck und ich wusste, dass er bei mir keine Gnade fallen lassen würde.

Keiner konnte mir zur Hilfe eilen, damit schloss ich sofort ab, als ich die entsetzten Gesichter der anderen erkannte. Sie wussten alle, dass sich keiner Ashram widersetzen könnte oder dürfte. Nur Vento blieb an meiner Seite und rief mir beruhigende Worte zu. „Bleib ruhig Solveig“, „Halte durch“, „Er wird dir nichts tun“, „Ich bin bei dir“. Doch Vento hat seine vollen Kräfte noch nicht und ist Ashram körperlich unterlegen. Ich war also auf mich allein gestellt. Dass ich nicht an einem Herzinfarkt gestorben bin, verdanke ich Vento und seine aufbauenden Worte, während er uns hinterher eilte, als Ashram mich einen Turm hochtrug. Ich war fest davon überzeugt, dass er mich umbringen würde. Doch als wir draußen ankamen, der kühle Wind durch meine Haare wehte, verneinte er meine Erwartung. „Aber vielleicht wirst du es dir wünschen“, höre ich seine Stimme wieder in meinem Kopf und bekomme eine Gänsehaut.

Als mir bewusst wurde, dass er so wütend auf mich ist, weil ich mich immer noch weigere zu lernen zu kämpfen, wusste ich schon, dass eine Strafe auf mich warten würde. Da es nicht mein Tod ist, was würde es dann werden? Die Höhe?

„Drei“, zählt Ashram zu Ende und zieht seine Lippen zu einem festen Strich.

Ich spüre heiße Tränen aufkommen, drücke sie aber verzweifelt weg, da ich weiß, dass Ashram das nur noch mehr aufregen würde. Bislang hielt er seine Wut gekonnt zurück, doch mir ist bereits aufgefallen, wie oft er seine Hände zu Fäusten ballte, sich in die Wangen biss oder sich schnaufend durch seine Haare griff. Bald knallt es, damit kann ich rechnen.

Da ich immer noch, wie erstarrt vor ihm stehe und ihn mit flehenden Augen anblicke, seufzt er nur wieder genervt von mir. Erbarmungslos legen sich seine Hände wieder um meine Hüfte, heben mich hoch und werfen mich wieder über seine Schulter. Ich wehre mich gar nicht mehr, da ich weiß, dass daran kein Weg vorbei geht. Er will mich strafen, mich foltern und ich bin selbst schuld daran, also muss ich dafür einen Preis zahlen. Zitternd vor dem, was mir gleich widerfahren wird, spüre ich, wie er stehen bleibt, um mich dann wieder von seinen Schultern abzunehmen. Doch lande ich dieses Mal nicht auf dem Boden, sondern spüre, wie ich auf etwas Warmes sitze. Mit unglücklichem Blick und schniefender Nase sehe ich auf und meine Befürchtung wird bestätigt. Ashram hat mich auf den Fabel gesetzt, dessen Namen Zander ist und einen Körper eines Löwen besitzt, mit großen Flügeln.

„Langersehnte Kriegerin“, ertönt eine fremde Stimme. „Ihr solltet eure Beine um meinen Rücken schlingen, ansonsten besteht die Gefahr, dass ihr herunterfliegt.“

Die Stimme kommt von Zander und sein Adlerkopf mit einem mittellangen Schnabel, dreht sich leicht mit besorgtem Blick zu mir nach hinten. Unglücklich blicke ich noch einmal hoch zu Ashram, doch sein Blick zeigt kein Erbarmen. Mit verschränkten Armen steht er vor mir und nickt mir streng demonstrativ zu, dass ich Zanders Anweisung folgen sollte. Meine zitternden Finger greifen schließlich widerwillig in das weiche, kurze Fell von Zander, dann hebe ich mein rechtes Bein und schwinge es auf die andere Seite seines Körpers, sodass ich rittlings auf dem Fabel sitze. Gerade als ich panisch umherblicken möchte, weil ich Vento aus meinem Blickfeld verloren habe, springt er aus dem Nichts auf Zander drauf und setzt sich vor mich hin. Mit verzweifeltem Blick sehe ich in seine schwarzen Knopfaugen und fühle mich ein wenig ruhiger.

„Egal was passiert, ich bleibe bei dir“, spricht Vento in meinem Kopf zu mir.

Seine Worte tun mir gut, sind wie Balsam für meine Seele. Ich spüre regelrecht, wie sich meine Knochen entspannen, denn ich weiß, er bleibt bei mir und wird mich nie und nimmer im Stich lassen. Oh, mein treuer Freund! Der Tag gestern war noch sehr aufregend, da alle wie aus dem Häuschen waren, als ich mit Vento in meinen Armen zurück ins Schloss kam. Die Vampirgeschwister, außer Kayla, waren brennend daran interessiert, wer Vento ist und, was er zu erzählen hat. Mehmet hielt sich bewusst zurück, wirkte dennoch sehr interessiert und warf uns ständig neugierige Blicke zu. Da Vento aber noch nicht genug Kraft hatte, musste er sich nach mehreren Minuten abschalten und schlief ein. So schlief er den Rest des Tages in meinen Armen und schließlich zusammen mit mir im Bett. Als ich heute Morgen aufwachte, blickte ich schließlich in die fremden Augen von Vento. Seine Augen verstärkte nur die Verbundenheit zwischen uns und während ich mich in seine Knopfaugen verlor, spürte ich eine Welle von Liebe ihm gegenüber aufkommen. Wie schnell es dazukam, dass ich ein so kleines Wesen mehr liebe als vermutlich mich selbst!

Als ich hinter mir eine Regung verspüre, bemerke ich, dass Ashram sich ebenfalls auf Zanders Rücken gesetzt hat. Schnell wird mir wieder bewusst, wo ich mich gerade befinde und was gleich geschehen wird. Noch bevor ich spüre, wie die Panik wieder in mir hochkommt, erhebt sich Zander von seinen Knien. Meine Augen werden groß, meine Finger krallen sich in das Fell von Zander und ich könnte schwören, dass ich die ganze Zeit „Nein“ sage. Dann fangen seine Flügel an zu schlagen, erst leicht und langsam, dann rennt er dem Abgrund des Turmes entgegen und schlägt seine Flügel stärker und schneller. Der Wind fegt meine Haare nach hinten, meine Augen werden groß und ich spüre eine Übelkeit in mir hochkommen. Als der Abgrund immer näherkommt und Zander schließlich mit einem kräftigen Sprung sich vom Rand abstoßt, habe ich das Gefühl mein Herz fällt zu Boden, während mein Körper hoch hinauffliegt.

„Leg dich sofort nach vorne“, warnt mich Vento.

Ich kann gar nichts darauf antworten, sondern versuche verbissen, seine Worte in meinem Kopf einzuordnen. Während der Wind an uns vorbeizieht, Zander sich geschmeidig fallen lässt und dann mit der passenden Windböe wieder mit seinen Flügeln aufschlägt und hochfliegt, betrachte ich alles wie paralysiert. Ich bin ganz klar einer Schockstarre verfallen. Meine Zunge fühlt sich an wie Watte, meine Augen sind staubtrocken sowie auch mein Hals. Ein leises Knurren aus Ventos Kehle lässt mich in das Hier und Jetzt zurück. Verblüfft darüber kann ich kurz den Wind, die Kälte und die Höhe vergessen und blicke meinen Freund mehrmals blinzelnd an.

„Du musst dich nach vorne legen, sonst fällst du gleich in Ohnmacht“, sagt Vento streng.

„Das empfinde ich doch schon längst“, schießt mir sofort der Gedanke als Antwort an Vento durch den Kopf.

Das ist das erste Mal, dass ich Vento telepathisch geantwortet habe. Bislang wusste ich nicht, dass es möglich wäre, doch es gelang mir, ohne groß darüber nachzudenken. Meine Gedanken waren eine Antwort und konnten ihm übertragen werden, so wie sie sonst über meine Lippen kämen. Schließlich nicke ich Vento schwer schluckend zu und beuge mich mit dem Oberkörper nach vorne, sodass mein Gesicht auf dem weichen Fell von Zander liegt. Sein Fell ist weich, doch sein Geruch geht in die Richtung eines nassen Hundes. Trotzdem bleibe ich weiterhin in der Position liegen und ermahne mich gleichmäßig zu atmen. Nach einiger Zeit fällt mir das Atmen leichter und ich merke, dass ich mich beruhige. Solange ich die Höhe nicht sehe, scheint es mir gut zu gehen.

„Wo bringt er uns hin?“, frage ich mich und richte die Frage auch automatisch an Vento.

„Ich weiß nicht“, brummt Vento nachdenklich. „Er sieht auf jeden Fall sehr wütend aus.“

„Das ist bisher der einzige Gesichtsausdruck, den ich von ihm kenne“, meine ich abschätzend.

„Das passt jedenfalls zu den Erzählungen von ihm“, bestätigt Vento.

„Du hast von Ashram gehört?“, frage ich hellhörig und überrascht.

„Als ich im Ei war und um die Welt gereist bin, habe ich viele Geschichten über viele Menschen und Fabeln gehört“, erklärt Vento mit ruhiger Stimme. „Einige Geschichten stammen von Ashram.“

„Erzähl sie mir“, dränge ich begierig.

Meine Neugierde über Ashram überrascht mich selbst. Der Mann hat mich abgelehnt, beleidigt, angeschrien, bedroht und macht mir Angst. Wieso möchte ich noch mehr über ihn erfahren?

„Das sollte ich dir momentan nicht erzählen“, meint Vento zögerlich und klingt unsicher.

Als ich die Enttäuschung in mir spüre, verstehe ich, warum ich Geschichten über Ashram hören wollte. Ich hatte insgeheim die Hoffnung, dass es Erzählungen über sein gutes Wesen gibt. Doch die Tatsache, dass Vento es mir nicht erzählen möchte, liegt bestimmt daran, dass er mir nicht noch mehr Angst machen oder beunruhigen möchte.

„Nähere dich dem endlosen See“, höre ich die befehlshaberische Stimme von Ashram hinter mir.

Endloser See? Mir gehen sofort Hunderte von Gedanken durch den Kopf. Ein See kann doch nicht endlos sein, oder? Was ist das für ein See? Wieso will er mit mir dorthin? Möchte er mich vielleicht ertränken? Wenn der See wirklich endlos ist, könnte er meine Leiche jedenfalls gut loswerden und niemand würde mich finden. Ein schlauer Typ dieser Ashram.

„Hör auf, dich in solche Gedanken reinzusteigern“, schnallt Vento verärgert in meinen Kopf.

„Du kannst also jeden einzelnen Gedanken von mir hören?“, frage ich verblüfft.

„Momentan ja, aber nach einer gewissen Zeit wirst du das besser kontrollieren können“, antwortet er mir.

„Wir sollten umdrehen“, höre ich die alarmierende Stimme von Zander. „Ich erkenne Rauch.“

„Flieg weiter“, drängt Ashram bedingungslos.

Ich spüre die kräftigen Flügelschläge von Zander und das Arbeiten seiner Muskeln. Noch ehe ich darüber nachdenken kann, ob dieser Rauch oder der endlose See mich beunruhigen sollte, ändert sich die Luft um uns. Verbranntes Holz, Heu und noch etwas Strenges liegt in der Luft. Der Rauch dringt durch meine Nase und wird immer intensiver. Als dieser meine Lunge erreicht, muss ich heftig husten und bekomme das Gefühl zu ersticken. Da mir das Atmen schwerfällt, bleibt mir nichts anderes übrig als mich wieder zu erheben und den Rauch buchstäblich aus meiner Lunge heraus zu husten. Durch das Husten werden meine Augen tränend, weswegen ich sie unweigerlich öffnen muss. Der Anblick, der mich schließlich erwartet, lässt mich den Rauch herunterzuschlucken und setzt meinen Atem für einen kurzen Moment aus.

Der Rauch ist in der Luft weit verteilt und geht von einem Fleck in nicht weiter Ferne aus. Ein Feuer ist nicht zu erkennen, es scheint eher so, als wäre das Feuer vor wenigen Minuten erloschen, nur noch der Rauch steigt in die Luft. Ich spüre eine unangenehme Befürchtung in mir hochkommen, kann aber nicht erklären, worum es sich handelt. Je näher wir kommen, desto erkenntlicher wird, dass es sich bei dem glühenden Fleck, um ein großes Dorf gehandelt haben muss. Mehrere Häuser, zum Teil schwarz verbrannt durch das Feuer und zerstört, ineinander gefallen, stehen wild verteilt. Eine hohe Steinmauer umrandet das Dorf. Bäume, Felder, Brunnen wurden alle verbrannt und sind schwarz. Was ist hier passiert? Und wieso möchte Ashram dorthin?

„Lande vor dem Dorf“, befiehlt Ashram Zander.

„Ich weiß nicht, ob es sicher ist“, antwortet Zander zögerlich, steuert dennoch dem Dorf näher zu.

„Es wird nichts passieren“, versichert Ashram.

Meine Augen fixieren das Dorf und lassen nicht mehr davon ab. Die Höhe habe ich schon längst vergessen. Je näher wir kommen, desto schmerzlicher zieht sich mein Herz zusammen. Ich habe eine Vorahnung, was mich erwartet und dies sticht jetzt schon wie kleine Nadeln in mein Herz. Meine Aufregung steigt, mein Puls rast und meine Augen können nicht von dem Dorf ablassen. Kurz bevor wir ankommen, zieht Zander einen seitlichen Schlenker, weswegen das Innere des Dorfes nicht mehr zu sehen ist.

Als Zander den Boden erreicht und nach mehreren Bremsschritten stehen bleibt, stehen wir einige Meter vor dem Haupteingang entfernt, welche das Dorf mit seiner Steinmauer umrandet. Es herrscht eine Totenstille und ich kann mein Blick nicht von dem Haupteingang ablassen. Eine starke, aber auch vorsichtige Neugierde wühlt in meinem Inneren. Ich will wissen, was in dem Dorf passiert ist und warum vieles abgebrannt ist. Mein Atem verläuft unregelmäßig und ich spüre eine Spannung in mir hochkommen, ärgere mich aber, weil ich diese Spannung immer noch nicht benennen kann. Irgendwas macht mich nervös und etwas tief in mir möchte mich vor etwas warnen. Trotzdem kann ich meinen Blick nicht von der Katastrophe vor mir abwenden.

Meine Ohren fühlen sich an, als wäre sie voll mit Watte, ich höre quasi nur mein eigenes Herz schlagen. Wie in Trance schwenke ich mein linkes Bein zur Seite, um von Zander abzusteigen. Ich merke, wie angespannt meine Muskeln sind, wie tief meine Stirn gerunzelt ist. Mit wackeligen Beinen, die noch teilweise vom Fliegen eingeschlafen sind, tapse ich zum Haupteingang. Vento bleibt bei Zander, das weiß ich, ohne mit ihm darüber gesprochen zu haben. Mit Absicht drehe ich mich nicht zurück, da ich genau weiß, dass Ashram das von mir verlangt. Er will, dass ich das Innere sehe, sonst hätte er mich nicht hierhergebracht. Stellt sich nur die Frage, warum er das möchte. Trotzdem spüre ich, dass ich nicht allein zum Eingang laufe. Dicht hinter mir spüre ich Ashram, auch wenn ich ihn nicht sehe, weiß ich, dass er mir wie ein Schatten folgt.

Kurz bevor Ashram und ich den Eingang erreichen, löst sich der Druck meiner Ohren und ich kann das Knistern von abgebranntem Holz hören. Meine Augen sind weit geöffnet, als wir den Eingang erreichen und in das Dorf hineinlaufen. Ich hatte gehofft mehr, als ein Knistern zu hören, doch weit und breit herrscht eine einsame, erdrückende Stille. Die meisten Häuser sind bis zum Abgrund verbrannt und zerstört. Einige Bäume wurden abgehackt, einige verbrannt und zurückgeblieben sind nur verbrannte, abgestorbene Baumkronen. Das Gras ist bedeckt mit Asche und mit Blut. Als ich den ersten Blutfleck im Gras erkenne, bleibe ich sofort stehen. Meine Alarmglocken gehen an und meine Blicke haschen nun intensiver um mich herum. Eine Blutspur führt direkt zu einem Häuschen, das ein Dach hat und im Vergleich zu den anderen Häusern noch instand ist. Ich sammele mein Mut, schlucke meine Sorgen herunter und folge der Spur.

Was mich erwartet, werde ich niemals vergessen. Mir entgeht ein erschrockener Schrei, meine Hand legt sich auf meinen Mund, um nicht zu kreischen. Mein Herz krümmt sich zusammen und ich verliere den Halt, falle zu Boden, kann aber den Blick nicht abwenden. Der Kopf eines Jungen, etwa sechs Jahre alt, hängt an einem Seil mitten im Häuschen. Seine Augen sind blutunterlaufen, als hätte sie ihm jemand ausgedrückt. Unter ihm liegt ein Mann mit einem Pfeil in seiner Kehle und neben ihm eine Frau, dessen Gesicht vollkommen verstümmelt wurde.

Ich schreie, kralle meine Finger in die Erde und habe das Gefühl den Verstand zu verlieren. So etwas Grausames habe ich noch nie gesehen und konnte mir das auch nicht vorstellen. Doch meine Gefühle sind so schmerzhaft, dass ich glaube, mein Herz bricht. Ich höre mich selbst andauernd „Nein“ wimmern und schreien. Unter meinem Tränenschleier sehe ich immerzu dasselbe Bild und wünschte mir, hier gewesen zu sein. Oh, hätte ich dieser armen Familie doch helfen können!

„Wieso?“, schluchze ich fassungslos.

Mit fragendem Blick und nassem Gesicht drehe ich mich um und blicke zu Ashram hoch. Ich weiß genau, dass er die ganze Zeit neben mir stand und nicht von mir abließ. Sein Blick ist emotionslos, fast als würde ihm das kein bisschen leidtun, er zeigt keinerlei Regung. Er kann kein Mensch sein.

„Das ist noch nicht alles“, brummt er und blickt mich mit aufgeblähten Nasenflügeln an.

Noch mehr Grausamkeit? Nein, das kann ich nicht. Wieder mal weiß ich, was er von mir erwartet, doch neige meinen Blick von ihm ab. Er will, dass ich weiter ins Innere des Dorfes gehe, aber das kann ich nicht. Das hält mein Herz nicht aus.

„Auf keinen Fall“, entgegne ich ihm.

Mit wackeligen Beinen stehe ich auf und blicke noch einmal in das Innere des Häuschen. Das hatte die Familie nicht verdient, es gibt kein Grund auf der Welt, warum ihnen das angetan wurde. Vieles geht mir durch den Kopf, der Wunsch nach Rache und Vergeltung für diese armen Opfer. Doch nichts davon macht mich glücklich und vielmehr, nichts davon wird sie wieder zurückbringen und es wiedergutmachen können. Mit schmerzendem Herz drehe ich mich um und laufe an Ashram vorbei, um wieder zu Zander zurückzulaufen. Ich will einfach weg von hier.

„Das ist noch nicht alles“, wiederholt Ashram seine Worte und hält mich an meinem Arm fest.

Sein Griff ist dieses Mal nicht so fest wie noch in der Trainingshalle.

„Das genügt“, antworte ich verschnieft und versuche mich aus seinem Griff zu befreien.

„Wir gehen erst, wenn du auch das Innere des Dorfes gesehen hast“, sagt er nur und zieht mich wieder mit sich.

Aufgeschreckt über seine Entscheidung, versuche ich ihn aufzuhalten, mein Arm gewaltsam zu entreißen, doch keine Chance. Er läuft unbeirrt weiter, als würde ich ihm keine Kraft kosten. Ich bekomme sofort Panik, weil er mich in eine Situation zwingen will, die ich nicht möchte. Er nimmt mir meine Kontrolle, meine Macht über mich selbst, meinen Eigenwillen. Wieder diese Ohnmacht.

„Nein“, rufe ich verzweifelt und meine Tränen kommen hoch bei dem Gedanken, was mich gleich erwarten wird.

„Nein, ich kann das nicht“, schreie ich ihn an.

Da mir nichts anderes übrig bleibt, gehe ich das kleinere Übel ein und bleibe plötzlich wie versteinert stehen. Wie auch im Flur nach der Trainingshalle zieht Ashram unablässig an meinem Arm, sodass ich schmerzhaft aufschreien muss, als er zieht, aber nicht weiterkommt. Es fühlt sich so an, als würde er mir meinen Arm auskugeln. Mit wütendem Blick dreht er sich wieder zu mir. Doch dieses Mal sieht er wirklich außer Wut aus. Verbissen schnellt sein Arm hoch und ballt seine Hand zur Faust. Beinahe hätte er mir eine reingehauen, da bin ich mir sicher. Doch sein Arm zittert unentwegt und er scheint mit der Entscheidung sehr zu kämpfen, denn seine verkrampfte Faust öffnet sich wieder langsam.

„Ich schwöre, mach das noch einmal und ich pfeife auf deinen Kriegerstatus“, zischt er mit angehaltenem Atem.

Noch bevor ich etwas entgegnen kann, greift er mit seiner rechten Hand nach meinem rechten Oberarm, schubst mich nach vorne und legt dann seinen linken Arm um meine Hüfte. Umschlossen zieht er mich weiter in das Innere des Dorfes. Ich drücke mich unentwegt zurück, schüttele verärgert mit dem Kopf, doch er zieht mich gnadenlos weiter. Er muss so stark an mir ziehen und drücken, dass sich mein Oberarm schon fast taub anfühlt durch seinen eisernen Griff.

Je näher wir dem Zentrum des Dorfes kommen, desto mehr Leichen liegen auf dem Weg herum. Jede auf eine andere Art ermordet oder verstümmelt. Was mich fast zum Würgen bringt, sind die Kinderleichen. Warum tut er mir das an? Warum muss ich das alles unbedingt sehen? Kann es denn noch schlimmer werden?

„Nein“, weine ich ununterbrochen, klinge nun flehend und schließe meine Augen. „Ich halte das nicht aus, bitte.“

Dann bleibt er plötzlich stehen und mein Herz setzt kurz aus. Meine Augen sind immer noch geschlossen, doch ich rieche wieder den Rauch, den wir in der Luft ebenfalls erhaschen konnten. Ich konnte verbranntes Holz riechen und noch etwas anderes, konnte es in der Luft aber nicht einordnen. Nun brauche ich meine Augen nicht zu öffnen, um zu wissen, was hier noch verbrannt wurde. Ich wusste, dass der Rauch etwas Seltsames mit sich trug, etwas das ich nicht kannte. Wie hätte ich ahnen können, dass es sich dabei um verbranntes Menschenfleisch handelt?

„Öffne deine Augen“, flüstert Ashram mir ins Ohr.

Ich bekomme sofort am ganzen Körper eine Gänsehaut. Mit seiner Aufforderung wird auch der Druck um meinen Arm stärker und schmerzhafter. Ich spüre, wie mir eine weitere Träne die Wange hinabrollen. Doch dieses Zeichen an Menschlichkeit würde bei Ashram kein Mitleid hervorrufen, dazu ist er wohlgemerkt nicht zustande. Bevor er mir noch mehr wehtut oder mich auf irgendeine andere Weise zwingt, seine Aufforderung zu folgen, öffne ich meine Augen. Daraufhin lässt mich Ashram auch sofort los.

Das Bild wird noch bis zu meinem Lebensende in meinen schlimmsten Albträumen auftauchen. In der Mitte des Platzes liegt ein großer Haufen verbrannter Leichen. Neben den Häusern liegen Tote, dessen Bäuche aufgeschlitzt wurden. Mit ihrem Blut wurde an den Häusern geschrieben „Verräter“, „Missgeburten“, „Es lebe der König“. Auf der Wiese liegen vermehrt drei aufeinanderliegende Tote, die alle mit einem Speer durchgespießt wurden. Alles in allem schrecklich, trostlos und grausam. Ich weine ununterbrochen, schluchze und habe das Gefühl, mein Herz würde jeden Moment auseinandergerissen. Alles tut mir weh, meine Knochen, meine Muskeln, mein Kopf. Als der Wind in meine Richtung weht und den Rauch der Toten mit sich zieht, spüre ich die Übelkeit in mir hochkommen. Ich schaffe es ein paar Schritte zur Seite zu gehen, um dann zu Boden zu sinken und mich zu übergeben.

Als nichts mehr aus mir rauskommt und ich nur noch Luft würge, fange ich an, die Dinge klarer zu sehen. Das hier ist ein Massaker, versucht durch die Anordnung des Königs, das ist sicher. Warum er das tat und warum er die Menschen davor noch foltern musste, ist mir unklar. Ich merke, dass ich immer wütender werde. Meine Wut richtet sich auf den Planeten, auf diesen grausamen König, auf mich und auf Ashram.

„Was hast du dir dabei gedacht?“, schnelle ich hoch, wie von einer Tarantel gestochen.

Ich drehe mich zu Ashram und finde ihn wenige Meter vor mir mit verschränkten Armen stehen. Kurz kann ich eine Art Überraschung in seinen Augen aufblitzen sehen, doch verschwindet diese sofort. Sein Blick ist immer noch emotionslos und streng. Seine Gleichgültigkeit macht mich unfassbar wütend und es überrascht mich selbst, wie ich mir auf einmal wünsche ihn zu schlagen.

„Wieso hast du mich hierhergebracht?“, schreie ich ihn an. „Dachtest du es witzig?“

„Witzig?“, fragt er nun abfällig und runzelt die Stirn. „Bist du so dämlich, dass dir kein anderer Grund einfällt?“

„Oh doch“, antworte ich nun eingeschnappt und laufe zu ihm. „Mir fällt noch ein Grund ein, aber der ist noch viel erbärmlicher als der erste.“

Als ich bei ihm angekommen bin, recke ich mein Kinn hoch und sehe ihn hasserfüllt in die Augen. Ich habe das Gefühl, dass sich meine Trauer, mein Schmerz und meine Wut zusammengetan haben und nun explodieren muss. Die Trauer darüber, dass so viele Menschen, darunter Kinder, auf eine grausame Art und Weise sterben mussten. Der Schmerz, dass niemand die Mörder daran gehindert hat und niemand sie schützen konnte. Die Wut darüber, dass Ashram wollte, dass ich das Massaker mit eigenen Augen sehe und er mir mit Absicht wehtun wollte. Doch eigentlich bin ich am allermeisten über mich selbst wütend, denn insgeheim wusste ich, dass wir uns im Krieg befinden und es auch Opfer gibt, die solch ein Schicksal erwartet. Ich spüre eine Schuld auf mir lasten. Alle Welt redet darüber, dass die langersehnte Kriegerin den Krieg beenden kann. Und diese Kriegerin weigert sich zu lernen zu kämpfen. Doch ist es viel einfacher die Wut auf Ashram loszulassen, als es mir selbst offen und ehrlich einzugestehen.

„Du dachtest eine angemessene Strafe dafür, dass ich mich weigere zu kämpfen wäre, mir einen passenden Grund dafür zu liefern mich umzuentscheiden“, erkläre ich zischend. „Doch dieser Grund wäre so geschmacklos und grausam, dass mir mit dem ersten wenigstens noch ein kleines bisschen Respekt vor dir geblieben wäre.“

Daraufhin knackst sein Kiefer gefährlich und sein Blick durchbohrt meinen gefährlich. Ich merke, dass er sich wieder zurückhält und ich wünsche mir, er würde es endlich rauslassen und mir einen Grund geben, zurückzuschlagen.

„Sieh dich doch mal um“, zischt er zurück. „Hier geht es nicht um mich oder um dich. Es ist mir egal, ob du mich hasst oder mich respektierst. Es ist mir auch egal, wie es dir bei diesem Anblick hier geht. Diese unschuldigen Menschen wurden ermordet und das hätte nicht passieren dürfen.“

Seine Worte sind härter, als es ein Faustschlag gewesen wäre. Damit hat er mich wieder zurück in das Dorf katapultiert, zurück in das Land der Toten. Meine Wut ist sofort verraucht und mir wird klar, dass ich auf blutigem Boden stehe.

„Es geht hier in erster Linie um die unschuldigen Menschen und Fabeln, die wir schützen müssen und die nichts für diesen Krieg können. Es wird immer schlimmer und wird immer mehr Tote geben, wenn wir nicht endlich etwas unternehmen. Und du bist nun mal in dieser ganzen Geschichte das Mittel zum Zweck“, erklärt er verbissen und wirkt hartnäckig, als wolle er mich wachrütteln. „Du musstest das sehen, um zu verstehen, was hier in unserer Welt vor sich geht. Denn du bist die Einzige, die etwas ändern kann.“

Beschämt blicke ich zu Boden und habe das Gefühl in einen bodenlosen Abgrund zu fallen. Die Verantwortung, die mir zugeschrieben wird, lastet wieder aktiv und schwer auf meinen Schultern. Ich fühle mich verzweifelt, verloren und einsam. Noch mehr fühle ich mich von all den toten Menschen, den Geistern, beobachtet. Ashrams Worte erzeugen nun wirklich ein Schuldbewusstsein in mir, dies schwebt nicht mehr in meinem Kopf herum, sondern wurde offen ausgesprochen. Ich bin schuld daran, dass die Menschen in diesem Dorf gestorben sind. Ich hätte schon viel früher etwas tun müssen. Aber was? Was hätte ich schon tun können? Verzweifelt verschränke ich meine Arme und drücke meine Fingernägel in meine Haut, um meine Tränen aufzuhalten, und nicht schon wieder schwach vor Ashram und den Geistern zu wirken.

„Warum ist das passiert?“, flüstere ich heiser und starre immer noch zu Boden.

Ich spüre den aufmerksamen Blick von Ashram auf mir, doch ich wage es nicht aufzusehen.

„König Lennard muss seine Streitkraft vergrößern, er zieht von Dorf zu Dorf und separiert zwischen Verbündete oder Gegner. Dabei handelt es sich bei den Gegnern oftmals um Fabeln oder Menschen, die sich von dem Krieg raushalten möchten. Doch das akzeptiert er nicht. Wenn sich das Dorf ihm nicht anschließt, wird es so hinterlassen.“

Und alles nur, um mehr Soldaten auf seiner Seite zu haben? Alles nur, weil er in einen Krieg ziehen möchte, dass der Großteil dieser Welt gar nicht möchte? So viele Tote nur, weil er ein Egomane ist und ein Nein nicht akzeptiert? Wie kann er sich König nennen?

„Dann gibt es noch mehr Dörfer, die so verwüstet wurden?“, frage ich mit bebender Stimme.

Da Ashram darauf nichts antwortet, weiß ich, dass es stimmt. In was für eine Welt bin ich hier gelandet? Anfangs wirkte sie schön, abenteuerlich, frisch. Mit ihren satten Farben, den frischen Düften, den atemberaubenden Tieren und den außergewöhnlichen Fabeln, wirkte sie anders und fehlerfrei. Ich fühlte mich frei, als ich hier ankam. Doch jetzt wünsche ich mir nur noch, wieder zurück in meine Welt zu kommen.

Durch einen Tränenschleier blicke ich wieder hoch und blicke an Ashram vorbei. Mein Blick landet sofort an einem Mädchen, das keine Kleider trägt und dessen ganzer Körper blutverschmiert ist. Mir wird wieder schlecht und ich habe das Gefühl, in einer Gefühlsachterbahn zu stecken. Mal bin ich todunglücklich und traurig, mal unfassbar wütend und nun bin ich am Ende angelangt. Vollkommen ausgelaugt, erschöpft und gefühlsleer.

„Du hast etwas in mir gebrochen“, sage ich heiser und blicke ihn unglücklich an.

Ashrams Augen weiten sich etwas, er runzelt leicht seine Stirn und wirkt fast so, als würde er kurz zurückschrecken.

„Ich hatte keine andere Wahl“, sagt er schließlich mit ruhiger Stimme.

„Jeder hat eine Wahl, jedenfalls sollte jeder eine haben. Doch du hast sie mir weggenommen, mich hierher geschliffen, meinen schlimmsten Albtraum wahrwerden lassen und etwas in mir ausgelöst, dass ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Es hätte auch einen anderen Weg gegeben“, nicke ich nur, spüre heiße Tränen meine Wangen hinablaufen und fühle mich von Sekunde zu Sekunde schwächer.

„Nein, je länger du gebraucht hättest es zu verstehen, desto mehr Menschen wären gestorben“, widerspricht er streng und in seiner Behauptung eingefahren.

Ich merke, wie meine Beine schwach werden und mein Sichtfeld immer undeutlicher wird. Alles fängt an sich zu drehen und ich verlieren den Halt.

„Das war grausam“, flüstere ich und sinke zu Boden. „Genauso wie die Tat des Königs.“

Ich liege auf meiner linken Seite und ziehe meine Beine an mich. Dieses Erlebnis hat all meine Kraft gekostet, ich fühle mich ausgelaugt und leer. Kein Empfinden, keine Trauer, keine Wut. Regungslos und ausdruckslos liege ich auf dem Boden und starre wie benommen auf den qualmenden Scheiterhaufen. Der Rauch steigt immer noch in die Luft, als wäre es das verbliebene Zeichen der verstorbenen Menschen, die zeigen, dass sie gelebt haben.

Das Gespräch zwischen mir und Ashram ist vorbei, für heute jedenfalls. Ich bin froh, wenn ich es im Moment schaffe einfach zu atmen und wach zu bleiben. Gerade als ich mir darüber Gedanken machen wollte, wie ich wieder zurück zu Vento und Zander kommen soll, spüre ich wie sich zwei Hände unter mich schieben und mich hochheben. Vorsichtig und sanft hebt Ashram mich hoch und trägt mich in seinen Armen aus dem Dorf. Hätte ich nicht schon genug Schockierendes heute gesehen, hätte ich mir bestimmt hundert Gedanken über Ashrams Aktion getan. Doch ich habe das Gefühl, mich immer noch in einer Schockstarre zu befinden, weswegen ich meinen Kopf erschöpft gegen Ashrams Brust lehne und meine halb geschlossen Augen die verbrannten Häuser bemustern. Der Weg zu Zander kommt mir unglaublich lang vor. Der letzte Gedanke, bevor sich meine Augen schließen und ich erschöpft einschlafe, ist der, dass Ashram vielleicht doch nicht so grausam ist, wie er sich gibt.

 

MEHMET

 

Als ich noch jung war, hörte ich viele unterschiedliche Geschichten über Ashram. Die einen nannten ihn den einsamen, schwarzen Ritter, aufgrund seines skrupellosen Herzes und seinen pechschwarzen Haaren. Manch andere erzählten, er sei nach einer Heldentat von einem Engel geküsst worden, weswegen er unsterblich geworden ist. Dann gibt es aber auch Behauptungen, dass er aus einer anderen Welt kommt. Seine Herkunft und seine Gattung sind unbekannt, doch er wallt schon lange auf dieser Welt, länger als ein gewöhnlicher Mensch oder Fabel. Schließlich hörte ich Geschichten, wie in denen er allein gegen hundert Soldaten gekämpft hatte und sie alle besiegte oder auf den ältesten und angsteinflößendsten Drachen Igforti geritten sei. Ob diese Geschichten der Wahrheit entsprechen, weiß niemand. Doch nachdem ich Ashram nun kennengelernt habe, könnten all die Geschichten stimmen, das würde ich ihm zutrauen.

Wir hatten ihn seit Tagen nicht gesehen, doch ich hatte schon die Befürchtung, dass er sich früher oder später zeigen würde. Aller spätestens wenn bei ihm alle Stricke reißen würden, weil Solveig sich wehrte, am Training teilzunehmen. Und das ist heute geschehen, trotzdem hatte niemand mit seiner Wucht gerechnet. Wir hatten uns in der Trainingshalle versammelt, weil Bahar und Indigo Solveig noch einmal überreden und ihr die Dringlichkeit zum Kämpfen darlegen wollten. Als Ashram in die Halle hereinplatzte, fühlte sich die Luft brenzlich an, als könnte sie jeden Moment explodieren. Alle hielten den Atem an, keiner hat es gewagt, sich zu rühren. Sein Erscheinen kam überraschend, weswegen wir auch alle so schockiert waren und kein Wort herausbekamen.

Bei dem Gedanken, mit welcher Wut und einem Todesblick Ashram Solveig angesehen hatte, zieht sich mein Herz wieder leicht und unangenehm zusammen. Ich weiß, dass ich ihr nicht geschworen habe sie zu beschützen, doch nach den Aussagen der Banshee in meiner Kindheit fühlt es sich so an. Vermutlich hätte ich dazwischen gehen müssen, als er sie gewalttätig mitgezogen hatte. Ich weiß nicht, was mich nun mehr quält. Die lastende Schuld auf meinen Schultern sie beschützen hätte zu müssen, oder das Wissen, dass ich zu feige dafür war. Ich hätte keine Chance gegen Ashram gehabt, das wusste ich in dem Moment, als er in die Halle geschossen kam.

Mit diesen Gedanken stehe ich draußen auf dem Turm, von dem Ashram mit Solveig und Vento weggeflogen sind. Jedenfalls hatte Gillis diese Befürchtung, der, kurz nachdem Ashram mit ihr aus der Trainingshalle gegangen ist, gekommen ist. Da der Greif auch nicht am gewohnten Platz zu finden war, war sich Gillis schließlich sehr sicher, dass sie mit ihm weggeflogen sind. Wohin sie geflogen sind, was er mit ihr vorhatte, konnte oder wollte Gillis mir nicht sagen. Seitdem blicke ich die ganze Zeit sorgenvoll in die Ferne und versuche einen Greif zu erkennen. Ich kann nur hoffen, dass es Solveig gut geht.

Immerhin ist sie nicht allein mit Ashram unterwegs, denke ich mir und seufze. Das Wesen Vento ist zwar noch klein und sieht kaum gefährlicher aus als ein Klushund. Nichtsdestotrotz ist er kein gewöhnlicher Fabel und wird, wenn die Sage stimmt, den Krieg beenden können, also wird er es auch mit Ashram aufnehmen können. Gestern konnte ich mir Vento noch nicht genau ansehen, dafür wirkte er zu erschöpft und ich wollte mich ihnen nicht aufdrängen. Heute Morgen wurden wir nach dem Essen sofort in die Trainingshalle gebeten, weswegen ich immer noch nicht mit Solveig oder Vento sprechen konnte. Alles was ich sagen kann, ist, dass Solveig und Vento ein festes Band umgibt, das wird durch ihr gegenseitiges Verhalten zueinander sichtbar.

Als ich plötzlich einen schwarzen Punkt in der Ferne erblicke und dieser immer größer wird und näherkommt, erfüllt sich meine Erwartung, dass es sich dabei um Ashram und Solveig handelt. Ungeduldig stehe ich auf dem Turm und warte, bis der Greif endlich landet. Je näher der Greif zum Schloss fliegt, desto deutlicher erkenne ich die langen, schwarzen Haare von Solveig und die große Gestalt von Ashram. Bei näherem Hinsehen merke ich aber, dass etwas nicht stimmt. Solveig sitzt nicht wie erwartet vor Ashram auf dem Greif, sondern liegt in seinen Armen. Meine Nackenhaare stellen sich prompt auf, als ihre Konturen immer deutlicher werden.

Geschmeidig landet der Greif nach wenigen Minuten vor seinem Nest und läuft noch einige Schritte, bevor er endgültig stehen bleibt. Meine Augen haften jedoch weiterhin nur auf Solveig, die bewusstlos in den Armen von Ashram liegt. Ihre Haut sieht aschfahl aus, ihr Blick wirkt auch im Schlaf gequält. Mich überkommt eine Welle aus Wut bei dem Gedanken, was Ashram ihr angetan haben könnte. Meine Hände ballen sich zu Fäusten, wütend presse ich meine Lippen aufeinander. Hätte ich sie doch von Anfang an vor ihm beschützt! Was mich noch wütender macht, ist der unbesorgte, teilnahmslose Blick von Ashram und dass er mir noch keinen Blick gewürdigt hat.

„Was hast du mit ihr gemacht?“, zische ich ungehalten, als der Greif sich hinkniet, damit Ashram von ihm absteigen kann.

Mit wenigen Schritten bin ich bereits bei ihnen, um mir Solveig noch näher anzusehen. Von der Seite erkenne ich, wie Vento mit gesenkten Fühlern von dem Greif springt und besorgt zu Solveig hochsieht. Ashram ignoriert meine Äußerung gekonnt und lässt sich genügend Zeit, um von dem Greif abzusteigen.

„Ich danke dir Zander“, spricht Ashram ruhig zum Greif, als er auf seinen eigenen zwei Beinen steht.

Die Tatsache, dass er mich einfach ignoriert und es für wichtiger hält, dem Fabel zu danken, als mir zu antworten, macht mich noch wütender. Doch der Blick von Solveig lässt die Wut etwas verrauchen und die Sorge um sie größer werden. Bisher hatte ich sie noch nie so gesehen, so leer und erschöpft. Ashram ist um einen Kopf größer als ich, doch dieses Mal würde ich nicht feige zur Seite treten, wenn herauskommt, dass er ihr ein Haar gekrümmt hat. Mit einer Leichtigkeit hält er Solveig in seinen Armen, ihr Kopf lehnt sich immer noch an seine Brust an und sie scheint fest zu schlafen.

„Ich habe getan, was ich tun musste“, antwortet er mir endlich und blickt mich schließlich an.

Sein Blick strahlt eine Ruhe und tiefe Entschlossenheit aus. Er wirkt unglaublich stark und sicher, aber nicht gefährlich. Rückblickend auf die Szene in der Trainingshalle, als er fuchsteufelswild aussah und eindeutig gefährlich wirkte, ist davon nun keine Spur zu sehen. Vielmehr erweckt er im Moment einen schuldbewussten und leicht niedergeschlagenen Eindruck, doch verrät dies nicht sein Gesicht, sondern seine etwas herabhängenden Schultern. Sein Blick ist steinhart, daraus können keinerlei Emotionen gelesen werden. Ob er wohl noch etwas fühlen kann? Er lebt nun so lange in dieser Welt, vielleicht hat er es verlernt?  

„Was bedeutet das?“, frage ich und runzele die Stirn.

Langsam sinkt sein Blick zu Solveig hinunter und er mustert ausdruckslos ihr schlafendes Gesicht. Was gerade wohl in seinen Kopf durchgeht? Jedenfalls hätte ich Ashram nie zugetraut, dass er Solveig in seinen Armen halten würde. Er hat sie vom ersten Tag an gehasst, so dass ich meine Hand dafür aufgegeben hätte, dass er sie eigentlich nur tot sehen möchte. Was wohl geschehen sein muss, dass Solveig bewusstlos ist und der weltberühmte, eiskalte Ashram sie in seinen Armen hält?

„Ich habe ihr die Konsequenzen des Krieges gezeigt“, antwortet er, kommt mir näher und streckt mir schließlich die schlafende Solveig hin. „Das konnte sie nicht gut verkraften.“

Gerade als Ashram mir Solveig übergibt und ich sie in meinen Armen halte, beginnen ihre Augen zu blinzeln und sie wird wach. Ihre graugrünen Augen treffen die meine und sie seufzt schließlich erleichtert. Von welchen Konsequenzen spricht er? Was hat er ihr gezeigt, dass sie dadurch ihr Bewusstsein verlieren konnte?

„Wie schön, du bist es Mehmet“, seufzt sie noch einmal und spricht mit heiser Stimme. „Ich hatte einen schrecklichen Traum.“

Als ein kühler Wind vorbeizieht, wird sie wacher und beginnt sich in meinen Armen umzusehen. Ihre Stirn faltet sich und ich kann deutlich erkennen, dass sie angestrengt nachdenkt.

„Das war kein Traum“, flüstert sie erschrocken mit gebrochener Stimme, als sie den Rücken von Ashram erblickt.

Nachdem dieser mir Solveig übergeben hat, lief er bereits zur Tür des Turmes, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich bin mir sicher, dass er mitbekommen hat, wie Solveig aufgewacht ist. Doch er möchte wohl nicht wissen, wie es ihr geht.

„Ashram“, ruft Solveig und muss vor Anstrengung husten.

In meinen Armen beginnt Solveig sich stürmisch zu bewegen und macht Anstalt von meinen Armen herunterzuspringen. Verblüfft lasse ich sie herunter, halte sie jedoch sofort fest, als ihre Beine sie nicht halten können. Solveig wirkt hin- und hergerissen. Als würde sie am liebsten zu Ashram laufen, hat aber keine Kraft dafür. So hakt sie sich verzweifelt in meine Arme ein und atmet schwer, als wäre sie bereits eine Meile gerannt.

„Ashram“, ruft Solveig nun lauter und mit drängender Stimme.

Aufmerksam beobachte ich die Situation und mische mich nicht ein, sondern halte Solveig einfach nur fest. Ashram ist nach ihrem zweiten Ruf kurz vor der Tür stehengeblieben. Langsam dreht er sich zu uns um und sieht ihr mit ernstem Gesicht in die Augen. Ich spüre eine deutliche Spannung zwischen den Beiden und nehme an, dass es mit dem Erlebnis zu tun haben muss.

„Ich bin bereit“, spricht Solveig und beißt schließlich ihre Zähne zusammen.

Ich habe keine Ahnung, wovon sie spricht. Doch ich weiß, dass Ashram damit etwas anfangen kann. Dieser blickt ihr nämlich weiterhin fest in die Augen, nickt kurz und dreht sich schließlich wortlos um und verschwindet dann hinter der Tür. In dem Moment, als Ashram endgültig verschwindet, werden Solveigs Beine noch schwächer und sie fällt zu Boden, sodass ich sie wieder hoch in meine Arme nehme.

„Ich bin so müde Mehmet“, haucht Solveig erschöpft und mit geschlossenen Augen.

„Ich bringe dich in dein Zimmer“, antworte ich verständnisvoll und folge Vento, welcher bereits vorausläuft.

Besorgt halte ich sie in meinen Armen und frage mich immer wieder, was vorgefallen ist. Aus ihr scheint jede Lebensenergie gesaugt worden sein, wie konnte das passieren? Doch jetzt werde ich sie auf keinen Fall mit meiner Neugierde belästigen, sie braucht Ruhe und Schlaf. Als wir an Solveigs Zimmer ankommen, ist sie bereits in meinen Armen eingeschlafen. Eigentlich ziemt es sich für einen Mann nicht in das Schlafzimmer einer Frau zu spazieren, welche nicht seine Seelenverwandte oder Ehefrau ist. Da sie aber so tief schläft, entscheide ich mich sie in ihr Bett zu tragen, ohne sie aufzuwecken. Vento scheint damit auch kein Problem zu haben und läuft mit schnellen Schritten auf das Bett zu, als ich Solveigs Zimmertür öffne. Mit weichen Schritten laufe ich durch das Zimmer und lege Solveig schließlich neben Vento auf das Bett.

„Ich komme morgen früh vorbei und sehe nach ihr“, spreche ich unsicher zu Vento und blicke in seine schwarzen Knopfaugen.

Bevor ich das Zimmer verlasse, schnappe ich noch nach der Decke und ziehe sie über Solveig, damit sie sich keine Erkältung zulegt. Aufmerksam beobachtet Vento mich und legt seinen Kopf auf seine Vorderpfoten. Ich nicke ihm noch leicht zu, ehe ich das Zimmer verlasse und die Tür hinter mir zuziehe. Ich kann nur hoffen, dass sie sich gut erholt und morgen wieder fit ist.

Da ich nicht weiß, wie ich den restlichen Tag verbringen soll und keine Lust habe, über Solveig nachzudenken und mir Fragen in den Bauch zu löchern, was wohl mit ihr passiert sein mag, laufe ich zur Trainingshalle. Die Waffen, die an den Wänden hängen, haben mich schon von Anfang an inspiriert. Als ich bei den Treppenstufen hinunter zur Trainingshalle ankomme, höre ich bereits, dass sich jemand dort aufhält. Es ist ein Schwertschwingen und angestrengtes Keuchen zu hören. Ich lasse mich nicht davon beirren und steige die Treppen hinunter. Unten angekommen finde ich die Vampirschwester Kayla mit einem Schwert in ihrer Hand trainieren. Sie ist allein und fuchtelt das Schwert im Kreis um sich herum gegen einen unsichtbaren Gegner. Da sie mein Erscheinen nicht bemerkt, lehne ich es ab sie zu grüßen und laufe bestrebt zur Wand, an welche die vielen Waffen hängen. Wie hypnotisiert greife ich nach einem Schwert, das zwei Köpfe über mir hängt. Vorsichtig nehme ich es von der Wand und inspiziere es mit Argusaugen.

Das Heft ist aus gebogenem Metall und besitzt eine detaillierte Verzierung mit allerlei Schwingen. Der Pommel hat die Form eines Herzes, womit die Hand nicht ausrutscht und am Haft halten kann. Die Klinge ist lang und an sich ist das Schwert auch nicht so schwer, wie üblich. Was mir aber sofort auffällt ist, dass die Klinge das Licht des hellen Kronleuchters reflektiert, worauf ich schließen kann, dass es stumpf ist. Ein kurzes Berühren der Klinge bestätigt meine Ahnung.

„An deiner Stelle würde ich ein anderes nehmen“, meldet sich eine weibliche Stimme hinter mir. „Das Ding hielt schon lange niemand mehr in den Händen.“

Mit einem interessierten Blick drehe ich mich zu Kayla um. Leicht außer Puste steht sie inmitten der Trainingshalle, ihre roten Haare hat sie zu einem Zopf zusammengebunden. Vor Kayla habe ich noch nie jemand mit roten Haaren gesehen. Für Menschen sind rote Haare sehr unüblich, weswegen es mich auch nicht wundert, dass eine Vampirin welche hat. Trotzdem ist die satte, knallige Farbe für mich neu und ähnelt dem roten Gras. Ihr Blick ist abschätzend, ihre Augen sind schlitzenartig, aber im Vergleich die der Menschen trotzdem größer.

„Es lässt sich gut in der Hand halten“, verteidige ich das Schwert. „Wenn die Klinge etwas geschliffen wird, könnte es wieder problemlos eingesetzt werden.“

„Einmal in vier Vollmonde kommt ein Schmied zu uns und pflegt die wichtigsten Schwerter“, erklärt sie schulterzuckend. „Für die kurze Zeit, die er hier ist, schafft er es nicht, sich um die anderen hier im Raum zu kümmern.“

„Das heißt, ihr habt hier Werkzeuge zum Schweißen?“, frage ich hellhörig und neugierig.

Mittlerweile hat sie ihr Atem wieder unter Kontrolle und blickt mich verwundert an. Es scheint, als hätte sie mein Interesse bezüglich Schwerter nicht erwartet.

„Ja, schon“, antwortet sie verunsichert und blickt mich mit großen Augen an. „Bist du etwa ein Schmied?“

Mit schwerem Herzen erinnere ich mich an meine Arbeit als Schmied im Dorf. Damals habe ich Metallrüstungen zusammengestellt, Schwerter geschweißt und viele andere Waffen. Durch die Arbeit konnte ich abschalten und all die Probleme für eine kurze Zeit zur Seite legen. Armut, Druck, Gewalt, Gefangenheit und Tod waren alltägliche Probleme in unserem Dorf. Eine der Gründe, weswegen ich das Dorf verlassen wollte. Als ich schließlich den Auftrag erhielt, hunderte von Schwertern herzustellen, wurde mir erst richtig bewusst, wo ich mich befinde und was die Zukunft mit sich trägt. Die Schwerter wurden für den Krieg benötigt, heißt noch mehr Gewalt und Tod. Also gab ich meine Arbeit auf, entschied mich für die Freiheit und verließ das Dorf.

„Das war ich damals im Dorf“, antworte ich und muss mich davor räuspern.

Kaum habe ich über meinen Beruf nachgedacht, schon schießen alte Erinnerungen an das Leben im Dorf in meinen Kopf. Die Zeit mit meiner Mutter, das alleinige Überleben danach, die Rettung durch die Familie meines besten Freundes Joreks. Wie es Jorek und seiner Familie wohl gerade geht? Um Kayla meine kurze Verunsicherung und Traurigkeit nicht offen zu zeigen, drehe ich mich gespielt nachdenklich zur Wand um, an denen die restlichen Schwerter hängen. Trotzdem spüre ich den aufmerksamen Blick von Kayla auf meinem Rücken.

„Wir würden uns freuen, wenn du ein paar dieser Prachtstücke wieder in Form bringen könntest“, meldet sich Kayla nach einiger Zeit.

Verwundert über ihre Äußerung, drehe ich mich zu ihr um und vergesse meine traurigen Gedanken für einen Moment. Meint sie das ernst? Meine Verwunderung und Überraschung steigt, als ich ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen entdecke. Die sonst kratzbürstige Vampirschwester wirkt auf einmal freundlich und zuvorkommend. Ist das ihr wahres Gesicht?

„Sehr gerne“, antworte ich leise und präge mir ihr Lächeln ein.

Schließlich sucht sie sich vier Schwerter von der Wand aus, welche sie mir dann übergibt. Ein kurzer Blick auf die Klingen reicht aus, um sagen zu können, dass auch diese lange Zeit vernachlässigt wurden. Im Anschluss verlassen wir die Trainingshalle und laufen ein wenig durch das Schloss, bis wir vor einer Holztür ankommen. Zielstrebend öffnet Kayla die knarrende Holztür und durch das kleine Fenster im Zimmer sieht man den Staub durch die Luft fliegen. Hier hat wohl schon lange niemand mehr gearbeitet oder aufgeräumt. Etwas verärgert über die Vernachlässigung der Werkzeuge, beiße ich meine Zähne zusammen und blicke mich im Zimmer um. An Werkzeuge fehlt es hier jedenfalls nicht.

„Falls dir etwas fehlen sollte, weißt du, wo du mich findest“, sagt Kayla, die sich am Türrahmen angelehnt hatte, während ich mich im Raum umsah.

„Kayla“, rufe ich schnell und halte sie auf, bevor sie verschwindet.

Mit einem überraschten Blick dreht sie sich zu mir um. Sie hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich sie bei ihrem Namen nenne.

„Danke“, sage ich und lächele sie leicht an.

Ich glaube genauso überrascht ausgesehen zu haben wie sie, als sie mich in der Trainingshalle mit einem Lächeln überrascht hatte. Seitdem wir in dem Schloss angekommen sind, ist es das erste Mal, dass ich wieder ehrlich gelächelt habe. Zugegebenermaßen fühlt sich das Lächeln auch ungewohnt an. Angestrengt überlege ich, wann ich das letzte Mal glücklich gewesen bin, doch ich kann mich nicht erinnern.

Als Kayla schließlich verschwindet, beginne ich zuerst mit der Ordnung der Werkzeuge. Ich suche alles zusammen, was ich benötige und säubere die Werkzeuge mit einem nassen Tuch. Mit meinem Tun lasse ich mir genügend Zeit und haste nicht. Stumm konzentriere ich mich auf meine Arbeit und tauche damit in meine altbekannte, sehnsuchtsvolle Arbeitsruhe ein. Ich verdränge meine Sehnsucht nach meinem Dorf und Freunden, meine Sorge über die Zukunft und den Problemen mit Solveig. Der Tag vergeht somit rasend schnell für mich, das erkenne ich irgendwann daran, dass das Licht aus dem Fenster immer dunkler wird und ich die Kerzen im Raum anzünden muss, um etwas zu sehen. Irgendwann werden schließlich auch meine Augen und Arme müde, also beschließe ich mit der Arbeit aufzuhören und die nächsten Tage weiterzumachen. Ausgeglichen und glücklich verlasse ich das Schmiedszimmer und laufe zu meinem Schlafzimmer. Ich könnte schwören, ein leichtes Lächeln auf meinen Lippen zu spüren, während ich durch den mäßig beleuchteten Flur laufe.

 

Am nächsten Morgen werde ich von den Sonnenstrahlen geweckt, die durch mein Fenster hindurch scheinen. Langsam habe ich mich an das Zimmer gewohnt und wache nicht mehr panisch und verschreckt auf. Ich erinnere mich, dass ich nach der ersten Nacht in diesem Schloss solch einen Schrecken bekomme habe, als ich in dem ungewohnten Zimmer aufgewacht bin. Aus dem Wald war ich es gewohnt draußen zu schlafen, im feuchten Gras und im Hintergrund das Rascheln der Bäume. Es war nicht einfach sich an das Zimmer zu gewöhnen und fremden Fabeln zu vertrauen, nicht mitten in der Nacht umgebracht zu werden. Doch nach zwei, drei Monde fiel es mir immer leichter. Nun schlafe ich ruhig und bin auch erleichtert, nicht mehr im Wald zu sein. Dort war ich selbst im Schlaf aufmerksam und reagierte auf jedes Rascheln in meiner Umgebung.

Bevor ich hinunter ins Esszimmer laufe, mache ich mich erst im Badezimmer frisch. Als ich mein Gesicht mit frischem Wasser befeuchte, merke ich auch hier, dass ich mich für immer daran gewöhnen könnte. In meinem alten zu Hause hatten wir nie solch frisches Wasser. Bevor wir uns wuschen, mussten wir welches mit einem Eimer aus dem Brunnen auf dem Marktplatz holen. Bei Regentagen war der tiefe Brunnen so voll, dass jeder Dorfbewohner sich waschen konnte. In der Trockenzeit war das schon viel heikler und es vergingen Tage, bis man an der Reihe war, Wasser aus dem Brunnen zu erhalten. Also genieße ich hier das Wasser in vollen Zügen.

Irgendwann habe ich genug Wasser getankt, ziehe mir mein Hemd und eine lockere Hose an, und verlasse das Zimmer. Im Esszimmer angekommen, bleibe ich überrascht am Türrahmen stehen. Die letzten Tage saß immer eines der Vampirgeschwister am Tisch, heute nicht. Liegt es an den gestrigen Ausflug von Ashram und Solveig? Gerade wollte ich mich umdrehen, als plötzlich die Zashiki-Warashi Drillinge aus der Nebentür in das Esszimmer kommen, zwei Wunschglocken auf den Tisch stellen und sich schließlich in eine Reihe vor mich stellen, um sich daraufhin zu verbeugen.

„Der Hausherr und die legendären Vampirgeschwister halten eine wichtige Besprechung“, spricht der linke Hausgeist.

„Sie richten Euch aus, ohne sie zu essen und hoffen, dass auch die legendäre Kriegerin etwas zu sich nimmt“, erklärt der Hausgeist in der Mitte.

„Bitte setzt Euch“, sagt schließlich der dritte Hausgeist der Drillinge und zeigt demonstrativ auf den großen, langen Tisch.

Da Solveig nicht hier ist, gehe ich davon aus, dass sie noch schlafen muss. Schnell kommt mir ein Gedanke in den Kopf, weswegen ich vor den Drillingen stehenbleibe und sie hoffnungsvoll mustere.

„Wäre es möglich eine Wunschglocke hoch zur Kriegerin zu bringen?“, frage ich höflich und blicke jeden einzelnen Hausgeist an.

Kurz bleibt es stumm und die Drillinge blicken sich verblüfft an. Ohne etwas zu sagen, kommunizieren sie allein mit Blicken miteinander und wägen die Situation ab.

„Wenn das die einzige Möglichkeit ist, dass die legendäre Kriegerin etwas isst, sind wir damit einverstanden“, meldet sich schließlich der Hausgeist in der Mitte.

„Ich werde dafür sorgen“, versichere ich den Zashiki-Warashi Drillingen.

Mit schnellen Schritten schnappe ich mir eine Wunschglocke von dem Tisch und laufe damit die Treppen hoch zu Solveig. An ihrer Tür angekommen, klopfe ich zaghaft und warte erwartungsvoll, dass sie sich öffnet. Als sich nichts tut und von der anderen Seite auch nichts zu hören ist, klopfe ich noch einmal, dieses Mal kräftiger. Da ich immer noch nichts höre, klopfe ich erneut schwungvoll und runzele die Stirn. Kann jemand so tief schlafen? Ich wäge ab ein Terrorklopfen zu veranstalten, oder die Tür einfach selbst zu öffnen. Da sich das aber nicht schickt, entscheide ich mich für das erste und hoffe, dass Solveig irgendwann auf mein Klopfen reagiert.

„Solveig?“, frage ich schließlich irgendwann besorgt gegen die Tür.

Da sich meine Stimme im Vergleich zum Klopfen leiser angehört hat und von der Holztür eher abgeprallt ist, räuspere ich mich und rufe ihren Namen noch einmal lauter.

„Solveig? Ich mache mir Sorgen, dass dir etwas geschehen ist, wenn du die Tür nicht öffnest“, erkläre ich und halte mein Ohr gegen die Tür. „Du musst mich nicht hereinlassen, zeige dich nur kurz und ich lasse dich in Frieden.“

„Ich bin’s Mehmet übrigens“, füge ich noch verunsichert hinzu und muss mich wieder räuspern.

Als die Tür plötzlich schwungvoll geöffnet wird, schrecke ich so schnell zurück, dass mir die Wunschglocke fast aus den Händen fällt. Solveig hat ihre Tür sperrangelweit geöffnet und steht mit einem weißen Hemd, einer lockeren Hose und nassem Haar vor mir. Schnell entdecke ich ihr leichtes Lächeln auf den Lippen und meine Sorgen sind dahin.

„Ich wusste beim ersten Klopfen schon, dass du es bist“, lacht sie heiter. „Da ich aber in der Wanne war, konnte ich nicht schneller herauskommen. Tut mir leid dir Sorgen bereitet zu haben.“

„Schon gut“, hauche ich immer noch mit schnellem Herzklopfen.

„Komm rein“, heißt sie mich willkommen und tritt zur Seite, um mich hereinzulassen.

Zögerlich laufe ich an ihr vorbei und bleibe verloren mitten im Zimmer stehen. Das erste, was ich erblicke, ist Vento auf dem Bett auf allen seinen vier Beinen stehen. Seine schwarzen Augen treffen in sekundenschnellen die meine und ich habe das Gefühl, er würde durch mich hindurchsehen. Sein Körper ist zwar klein, doch seine Augen wirken alt. Noch bevor Solveig die Tür hinter mir geschlossen hat, springt Vento vom Bett herunter und läuft auf mich zu. Unsicher habe ich die Wunschglocke in der Hand und blicke gebannt auf das stärkste Wesen auf der Welt. Bei mir angekommen sehe ich hypnotisiert und festgefahren zu, wie er eines seiner bordeauxroten Fühler auf mein Bein legt.

„Du hast dein Versprechen gehalten“, höre ich eine tiefe, beruhigende Stimme in meinem Kopf.

Ich merke, wie mein Mund offensteht und, ich ohne mit den Wimpern zu zucken, Vento anstarre. Als meine Augen nach kurzer Zeit trocken werden, fange ich mich wieder, bekomme meine Atmung unter Kontrolle und blinzele wie verrückt. Hat Vento soeben mit mir gesprochen? War das seine Stimme?

„Vento scheint dir etwas gesagt zu haben“, höre ich Solveigs feststellende Stimme hinter mir.

„Er spricht auch so mit dir?“, frage ich erstaunt und drehe mich mit großen, neugierigen Augen zu ihr um.

„Nein, dafür braucht er mich nicht zu berühren“, erklärt sie kurz und lächelt zuerst mich, dann Vento an.

„Wie macht er das?“, frage ich fassungslos.

„Komm, lass uns hinsetzen und etwas essen, dann erkläre ich dir alles in Ruhe“, antwortet Solveig heiter.

Mit einer Geste setzt sie mich in Kenntnis, sie auf den Balkon zu begleiten. Dort finden sich einige Kissen auf dem Boden, worauf wir es uns gemütlich machen. Dann reiche ich ihr die Wunschglocke zu und blicke neugierig zu Vento, der es sich neben Solveigs ausgestreckten Füßen gemütlich gemacht hat und seine Augen geschlossen hält. Um Solveig nicht unter Druck zu setzen, warte ich bis sie sich überlegt hat, was sie essen möchte, es sich wünscht und die Glocke entfernt. Unter der Glocke befindet sich ein Teller mit einer weißen, glibbrigen Konsistenz mit einem leckeren, süßen Duft. Als Solveig meinen fragenden Gesichtsausdruck erblickt, muss sie kurz lachen, bevor sie mir erklärt, um was es sich bei ihrem Essen handelt.

„Das nennt sich bei uns Haferbrei.“

„Interessant“, antworte ich nur und hebe eine Augenbraue hoch.

Während Solveig genüsslich ihren Brei löffelt, mustere ich nachdenklich den schlafenden Vento. Das ist das erste Mal, dass ich ihn aus nächster Nähe in Ruhe ansehen kann. Mit seiner Größe und seinem niedlichen Auftreten sieht er nicht furchterregend aus. Man würde nie auf die Idee kommen, dass er das stärkste Wesen auf der ganzen Welt ist. Doch das hätte man bei dem Pixie auch nicht gedacht. Das Pixie sieht von außen niedlich aus, besitzt aber eine ungeheuerliche Kraft. Ob Vento wohl noch seine Gestalt ändern wird?

„Er braucht viel Schlaf, um Energie zu tanken“, meldet sich Solveig plötzlich.

Ich hatte gar nicht gemerkt, dass sie mit dem Essen fertig ist und mich aufmerksam mustert. Überrascht blicke ich sie an und sehe dann wieder zu Vento.

„Vento ist es noch nicht gewohnt die Energie über den Tag zu verteilen und muss lernen, so wenig wie möglich zu verlieren“, erklärt sie und blickt nun ebenfalls zu Vento. „Er ist noch wie ein kleines Kind und muss erst wachsen.“

„Erstaunlich“, hauche ich nur und blicke ihn gebannt an.

Schwer zu fassen, dass die Kindergeschichten, die geheimen Lieder über das Ei und der Vorstellung von Frieden, der Wahrheit entsprachen. Es waren keine Lügen, kein Aberglaube, sondern wahre Sagen. Willkürlich folge ich meinem Impuls und beginne die Melodie des geheimen Liedes zu summen. Das Lied, das mir meine Mutter damals einmal heimlich zu Hause vorgesungen hat. Dasselbe Lied, womit mich die Banshee auch in die dunkle Gasse gelockt hat. Das Lied über das stärkste Wesen der Welt, das aus dem Ei schlüpfen wird, um den König von seinem Thron zu stürzen und Frieden herbeizuführen. Irgendwann steige ich auf den Text ein und spüre Solveigs gebannten Blick auf mir. Vento ist ebenfalls wach geworden und blickt mich mit ruhigen Augen und gewisser Neugierde an. Als ich fertig gesungen habe, bleibt es erst einmal still.

„Er kennt dieses Lied“, spricht Solveig und nickt zu Vento.

„Es ist ein gefährliches Lied. Jeder, der das Lied in der Öffentlichkeit singt, wird dafür gehängt. Es ist ein Tabu“, meine ich bedrückt und blicke in die schwarzen Augen von Vento.

„Er sagt, er sei viel durch die Welt gewandert und habe auf dieser Seite der Welt das Lied oft gehört“, spricht Solveig wieder für Vento und ich nicke bestätigend.

„Am Anfang war es eine Vorhersage“, schlucke ich schwer und versuche die vergangene Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit in Worte zu fassen. „Die Menschen haben lange auf dich gewartet. Solange, bis die Sage zu Gerüchten, Geschichten, Lieder und Träume wurden. Keiner hat wirklich damit gerechnet, dass es dich gibt.“

„Was ist mit dir?“, fragt Solveig. „Hast du damit gerechnet?“

„Ich habe so viele Freunde sterben sehen“, flüstere ich und blicke sie mit gerunzelter Stirn an. „Irgendwann habe ich nicht mehr dran glauben können.“

„Jetzt, wo du weißt, dass es ihn gibt“, beginnt sie und zeigt auf Vento. „Wirst du auch in den Krieg ziehen wollen?“

Ich atme tief durch, da ich bereits mit dieser Frage gerechnet habe. Ich wusste, dass die Frage früher oder später aufkommen würde. Da ich lange darüber nachgedacht habe, blicke ich sie mit ernstem Gesicht an und grabe tief in meine Erinnerungen.

„Als ich noch jung war, traf ich einst die Banshee“, beginne ich und sehe schon ihren fragenden Blick. „Niemand trifft einfach zufällig die Banshee. Nur die Menschen, die kurz davor sind zu sterben, hören ihr Wimmern, Weinen und Schreien. Nicht umsonst ist sie die Todesfee. Niemand hat sie jemals zu Gesicht bekommen, nun ja, vielleicht die Menschen, die kurz darauf gestorben sind. Jedenfalls traf ich sie als ich noch jung war in einer Gasse, sie lockte mich an, indem sie das Lied des Eies sang. Sie offenbarte mir damals, dass es mein Schicksal sei, dem Krieger zu helfen.“

In Solveig stehen hunderte Fragen in den Augen, doch die müssen warten. Mit gerunzelter Stirn blickt sie mich an und drängt mich wortlos, weiterzusprechen.

„Ich hätte mir niemals erträumt, dass es das Ei und den Krieger tatsächlich gibt. Da ich aber im Moment nicht träume und die Vorhersage der Wahrheit entspricht, werde ich mich meinem Schicksal fügen“, erkläre ich nickend. „Ich folge dir überallhin Solveig. Sei es in den Süden, auf den Mond oder in den Krieg.“

Traurig blickt Solveig mich an und presst ihre Lippen aufeinander. In diesem Moment sieht sie viel älter aus, im Vergleich zu den Momenten, in denen sie lächelt. Sie wirkt bekümmert, besorgt und ängstlich.

„Du fügst dich deinem Schicksal?“, wiederholt sie und wirkt, als würde sie gleich anfangen zu weinen. „Dann sind wir also schon drei Lebewesen, mit denen das Schicksal oder eine höhere Gewalt ein Spiel spielt.“

Noch bevor ich sie fragen kann, was sie damit meint, fährt sie fort.

„Du würdest also in deinen sicheren Tod laufen, nur um an meine Seite zu bleiben?“, fragt sie und blickt mich bekümmert an.

„Wer spricht denn hier vom sicheren Tod? Ich bin doch nicht lebensmüde“, lache ich und versuche sie aufzumuntern.

Ein leichtes Lächeln entspringt ihren Lippen, doch vergeht er schneller als gehofft. Ehe sie wieder darauf eingeht, dass ich mit ihr zusammen vorhabe zu sterben, lenke ich mit meiner Frage schnell ein.

„Du hast dich also entschieden zu kämpfen?“, frage ich sie neugierig.

In den letzten Tagen konnte sie niemand davon überzeugen, ihre Meinung zu ändern. Sie wollte partout nicht lernen zu kämpfen. Die Tatsache, dass sie nun Andeutungen darauf macht, ob ich sie in den Kampf begleiten würde, zeigt, dass sie ihre Meinung eventuelle geändert hat. Liegt das etwa an ihrem Ausflug mit Ashram?

„Während ich hier Däumchen drehe, sterben draußen hunderte von Menschen, die derselben Sage glauben und dieselben heimlichen Lieder singen, wie du damals“, erklärt sie nachdenklich und wird blass um die Nase. „Der König macht vor niemandem Halt, selbst Kinder werden nicht verschont.“

Sie schluckt schwer und ihr Blick richtet sich verzweifelt in die Ferne. Es wirkt, als würde sie etwas Fürchterliches vor Augen sehen, das sich aber lediglich in ihrem Kopf abspielt.

„Was hat Ashram mit dir gemacht?“, flüstere ich besorgt und presse die Lippen streng aufeinander.

„Er hat mir die Auswirkungen des Krieges gezeigt“, haucht sie und ich sehe, wie ihre Augen glasig werden.

Niedergeschlagen zieht sie ihre Beine an ihren Bauch und legt ihr Kinn auf das Knie. Ihre Augen sehen traurig zu Vento, welcher wieder eingeschlafen ist.

„Willst du darüber reden?“, frage ich, doch sie schüttelt schnell mit dem Kopf.

„Ein anderes Mal“, antwortet sie leise und blickt dann zu mir herüber. „Danke.“

Dann atmet sie tief ein und seufzt laut.

„Jedenfalls habe ich mich entschieden zu lernen mich mit einem Schwert und meinen Fäusten selbst verteidigen zu können“, erklärt sie sicher. „Ich möchte nicht lernen Menschen vorsätzlich zu töten, sondern mich durchzukämpfen und so wenig wie möglich zu verletzen, um letztendlich an König Lennard heranzukommen.“

Die brennende Frage darauf, was sie mit dem König vorhat, wenn sie dann bei ihm angelangt ist, belasse ich bei mir. Vermutlich weiß sie es selbst noch nicht.

„Das ist eine weise Entscheidung“, nicke ich ehrlich. „Dann werde ich dich bei deinem Vorhaben unterstützen.“

Wir schließen dieses Thema vorerst wortlos ab und wechseln zu Vento. Solveig berichtet von den letzten Tagen mit Vento, beschreibt ihre Gefühle ihm gegenüber und den vertrauten Gesprächen zwischen ihnen. Sie erklärt, dass sie telepathisch miteinander kommunizieren und er seine Gestalt zwar ändern kann, aber nicht wüsste in welche Form. Nach meinem fragenden Blick erzählt sie, dass er lange Zeit im Ei bloß der Welt lauschen, aber nichts sehen oder sich bewegen konnte. Solveig meint, Vento müsse erst Inspiration finden, bevor er seine Gestalt ändert. Außerdem würde dies viel Kraft kosten, doch er wolle es unbedingt ausprobieren.

Als es plötzlich laut an der Zimmertür klopft, unterbrechen wir schlagartig unser Gespräch und blicken uns fragend an. Keiner von uns hat jemanden erwartet. Solveig steht als erste überrascht auf und läuft mit schnellen Schritten zur Tür. Dahinter finden wir Bahar mit Kleidung und ein Paar Schuhe stehen.

„Guten Morgen“, begrüßt Bahar zuerst Solveig und mich im Anschluss, als sie mich hinter Solveig entdeckt.

„Morgen“, grüßt Solveig zurück und blickt Bahar fragend an.

„Ashram hat mir die Aufgabe erteilt, für deine Ausdauer zu sorgen“, beginnt Bahar zu erklären und zeigt auf die Kleidung in ihren Händen. „Draußen ist gutes Wetter, darum fände ich es gut, wenn wir dort ein paar Runden um das Schloss laufen.“

„Sport?“, fragt Solveig, dabei wird ihre Stimme am Ende hoch und ihr Gesicht sieht danach aus, als hätte sie etwas Ekliges gegessen.

„Das gehört zu einem Training dazu“, meint Bahar kleinlaut und zuckt entschuldigend mit den Schultern.

„Das habe ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht“, schmunzelt Solveig. „Keine Ahnung, ob ich dazu überhaupt noch imstande bin.“

„Keine Sorge, wir fangen leicht an“, lächelte Bahar ihr aufmunternd zu und reicht ihr die Kleidung und Schuhe. „Hier meine Trainingskleidung zum Laufen und ein Paar bequeme Schuhe, ich hoffe sie passen dir.“

„Danke“, sagt Solveig etwas unglücklich, nimmt aber die Kleidung entgegen.

Mit grimmigem Gesicht dreht sich Solveig zu mir um, blickt mich vielsagend an und läuft schließlich ins Badezimmer, um sich umzuziehen.

„Du kannst dich uns gerne anschließen Mehmet“, richtet sich Bahar motiviert an mich, noch bevor Solveig verschwunden ist.

„Schon gut“, verwerfe ich das Angebot mit einem kurzen Lachen.

„Das ist eine wunderbare Idee“, ruft Solveig gleichzeitig mit einem lauten Lachen und bleibt an der Tür zum Bad stehen.

„Wie war das noch einmal?“, fragt sie frech und richtet sich an mich. „Du folgst mir überallhin?“

Schmunzelnd verdrehe ich die Augen und nicke dann zögerlich. Wo sie recht hat, hat sie recht. Das habe ich mir wohl selbst eingebrockt.

 

ASHRAM

 

Es ist ein Mond vergangen und ihre Worte liegen noch immer wie Steine in meinem Magen. „Das war grausam. Genauso wie die Tat des Königs.“ Ihre Stimme glich einem Hauch, so weich und leicht wie ein Seidentuch, und doch schleuderte der Wind diese Worte auf mich wie ein Peitschenhieb. Das Gesagte erteilte mir eine kräftige Ohrfeige und ihre Reaktion ein Stich in der Brust, wie ich schon lange nicht mehr gefühlt habe.

Unbewusst legt sich meine Hand auf meine linke Brusthälfte und drückt behutsam gegen mein Leinenhemd. Ihre trostlosen, leeren Augen, nachdem sie den Tod zum ersten Mal in die Augen geblickt hat. Ihre blasse, fast schon graue Haut, als wäre jegliches Leben aus ihr gewichen. Ihre unglücklichen, zitternden Lippen, als könne sie nie wieder lächeln. Ihre hängenden Schultern und schwachen Beine, die kraftlos zu Boden glitten. „Das war grausam. Genauso wie die Tat des Königs“, erinnere ich mich wieder. Und da ist es erneut! Nach Luft schnappend krallen sich meine Finger in meine linke Brust und versuchen mein Herz zu ergreifen. Ein langanhaltender Stich durchfährt mein Herz, als würde ein Schwert es durchbohren, nur dass von der Waffe jegliche Spur fehlt.

Das letzte Mal, als ich solch ein Schmerz verspürt hatte, war nach dem Tod von Madleen, die fünfte Vampirschwester. Sie starb meinetwegen, die Schuldgefühle und der Schmerz hielt lange an. Welche Verbindung könnte es zwischen dem Mädchen und Madleen geben? Ich merke, wie ich mir auf die Unterlippe beiße und angestrengt nachdenke. Könnte ich Mitleid mit dem Mädchen verspüren? Könnte das der Stich im Herzen bedeuten? Als sie regungslos auf dem Boden lag, hob ich sie schließlich hoch und trug sie zu Zander. Meine Reaktion erklärte ich vorschnell damit, dass ich nicht auf sie warten und wieder zurückfliegen wollte. Bei dieser Ausrede schreit alles in meinem Kopf und ich muss mir eingestehen, dass es einen anderen Grund gegeben haben muss. Wieder taucht das Bild ihres leeren Gesichtsausdrucks und ihrer tiefen Trauer vor meinen Augen auf und ich muss tief seufzen. Es ist eindeutig, dass sie mir leidtun muss, weswegen der Stich im Herz immer wieder auftaucht.

Ich bin zu weit gegangen, erkenne ich und starre ohne zu blinzeln auf die Tischplatte. Schließlich ist sie ein naives, dummes Mädchen. Wie hätte sie mit so viel Tod umgehen können, wenn sie das noch nie gesehen hat? Ich merke, wie ich mir selbst widerspreche. Sie musste das gesehen haben, um zu verstehen, was hier vor sich geht. Das Gesehene war vielleicht schmerzhaft, doch sie weiß nun, worüber wir sprechen, wenn sich unsere Gespräche um Krieg handeln. Lieber ein traumatisiertes Mädchen als hunderte von Toten. Aber auch dieser Gedanke stimmt mich nicht zufrieden und lässt mich erneut seufzen.

„Ashram, glaubst du das war im Nachhinein eine gute Idee? Du bist so schweigsam“, höre ich die sorgenvolle Stimme von Bahar und blicke hoch.

Früh am Morgen habe ich bereits meine treuen Freunde geweckt und sie in ein Arbeitszimmer gerufen. Gillis und Bahar sahen sehr besorgt aus und wollten sofort wissen, wo die Kriegerin ist. Ich versicherte ihnen, dass sie wieder körperlich wohlbehalten im Schloss zurück ist. Kayla musste sich bei meiner Wortwahl ein Grinsen verkneifen und Indigo verdrehte nur seine Augen. Lediglich Tjard blieb neutral und wollte wissen, was ich mit ihr unternommen hatte. Also erzählte ich ihnen, wohin ich mit dem Mädchen geflogen bin und, was sie gesehen hatte. Am Ende begannen sie untereinander zu diskutieren, ob das gut oder schlecht war und ich wurde nachdenklich und schweigsam.

„Natürlich war das eine gute Idee“, giftet Kayla Bahar verständnislos und kopfschüttelnd an.

Um meine Freunde nicht zu verunsichern und zu meiner Tat zu stehen, wende ich mich mit ernstem Gesicht der Runde zu.

„Letztendlich hat sie dem Kampftraining zugestimmt und wird daran teilnehmen“, antworte ich Bahar.

„Trotzdem trägst du etwas Reue in dir mit“, meldet sich nun Gillis mit finsterem Blick.

Gillis würde niemals vor großer Runde meine Gefühle preisgeben, weswegen ich mein Blick langsam auf ihn richte und ihn aufmerksam ansehe. Noch nie habe ich Gillis wütend erlebt, sonst ist er immer barmherzig, rücksichtsvoll und ruhig. Nun sind seine Lippen zu einem Strich verzogen, seine Augen funkeln und seine Nasenflügel sind aufgebläht.

„Sie wird lernen zu kämpfen, wollten wir das nicht alle erreichen?“, frage ich ihn und ziehe eine Augenbraue hoch.

„Klar wollten wir das“, antwortet er unbeherrscht laut und beginnt mit der Schuldzuweisung. „Aber war deine Entführung dafür notwendig? Hätte es nicht vielleicht auch einen anderen Weg gegeben? Du hast sie unverantwortlich einem grausamen Szenario ausgesetzt. Wenn wir Pech haben, wird sie durch das Gesehene dermaßen traumatisiert sein, dass sie nicht mehr fähig sein wird irgendetwas zu tun.“

Sofort schallen ihre Worte wieder in meinen Kopf „Das war grausam. Genauso wie die Tat des Königs.“, und ich verziehe kurz mein Gesicht, da ich erneut einen kräftigen Stich im Herz verspüre. Ein Blick zu Gillis und mir wird klar, dass er mein Gefühl in der Sekunde als ich den Stich verspürt habe, erkannt hat. Seine Augen weiten sich überrascht und sein Mund öffnet sich sprachlos. Glücklicherweise handelt es sich dabei nur um Sekunden und Gillis fängt sich schnell wieder, bevor es irgendjemand sehen konnte. Mal wieder weiß Gillis besser Bescheid über meine Gefühle als ich selbst. Mit strengem Gesicht blicke ich zu Gillis, versetze ihm eine stumme, aussagekräftige Drohung, dass es mit seiner Mitteilungsbedürftigkeit in großer Runde ausreicht. Als Antwort ist seine Wut verraucht und er blickt nachdenklich auf die Tischplatte.

„Es ist jetzt, wie es ist“, meldet sich Tjard ernst. „Wie geht es weiter Ashram?“

Ich bin erleichtert, dass Tjard das Wort übernommen und das unangenehme Schweigen gebrochen hat und wende mich unweigerlich der Runde zu.

„Wir müssen nun den Trainingsplan organisieren und die Arbeit untereinander aufteilen“, erkläre ich und blicke jeden einzeln hintereinander an.

„Ich wäre bereit, mich um ihre Ausdauer zu kümmern“, spricht Bahar als erste.

„Das klingt gut“, nicke ich ihr zu und blicke weiter in die Runde. „Wer lehrt ihr die Schwertkunst?“

„Ich bezweifle, dass ich dafür in Frage kommen sollte“, meint Kayla und knirscht mit den Zähnen. „Ich fürchte sie aus Versehen umbringen zu können.“

Tief ausatmend sehe ich Kayla tief in die Augen. Sie ist eine wunderbare Schwertkämpferin und insgeheim hatte ich gehofft, dass sie mit dem Mädchen besser auskommen könnte wegen dem Geschlecht. Doch ihre Befürchtung nehme ich ernst, denn was Kayla eindeutig nicht hat, ist Geduld.

„Kannst du dir vorstellen, dich immerhin um ihren Freund zu kümmern?“, frage ich Kayla.

Der Lehrer von dem Mädchen sollte sich ausschließlich auf sie konzentrieren, und nicht noch ihren Freund im Auge haben. Außerdem wird sie sich weniger weigern am Kampftraining teilzunehmen, wenn ihr Freund ebenfalls trainieren wird. Schließlich gehe ich davon aus, dass er auch im Krieg kämpfen wird. Also wird es ihm nicht schaden eine Auffrischung mit der Schwertkunst zu erhalten.

„Wenn es sein soll“, antwortet Kayla und verdreht ihre Augen.

„Gillis, kannst du dir das mit dem Mädchen vorstellen?“, frage ich und kenne eigentlich bereits die Antwort.

„Ehrlich?“, meldet sich Indigo schallendlachend. „Du fragst eher Gillis, als mich?“

Gillis ist der schlechteste Kämpfer unter uns allen, da er dies lange Zeit abgelehnt hatte und nun nur kämpft, um sich selbst zu schützen. Tjard konnte ich nicht fragen, weil er schon längst die Aufgabe erhielt König Lennard und seine Machenschaften zu beschatten. Indigo wollte ich ursprünglich nicht fragen, weil er immer noch unter dem Verlust seiner Seelenverwandten leidet.

„Ich wollte dich nicht kränken“, entschuldige ich mich bei meinem Freund, blicke ihn aber ernst an. „Bist du in der Lage dich mit dieser Aufgabe auseinanderzusetzen? Sie auf den Krieg vorzubereiten? Kannst du in den Stunden des Trainings deine Vergangenheit ruhen lassen und dich voll und ganz auf sie konzentrieren?“

Seinen Seelenverwandten in dieser großen Welt zu finden, passiert nicht allzu oft. Ich würde solch ein Treffen Zufall nennen, denn die Menschen, die ich kenne und jemals ihren Seelenverwandten gefunden haben, kann ich an meiner Hand abzählen. Hat man diesen jedoch gefunden, bleibt die Person für immer im Herzen. Verliert man sie, verliert man die Fähigkeit danach jemals wieder zu lieben. Ein Seelenverwandter ist die größte Liebe, die echte und einzige Person, die zu einem genau passt. Dieser Seelenverwandter versteht die andere Person nur mit einem Blick, kennt dessen Ecken und Kanten und liebt sie dennoch. Beide sind füreinander bestimmt, beide würden ohne Diskussion für den anderen sterben. Als Indigo seine Seelenverwandte verlor, lag er erstmal wochenlang im Koma und als er wiedererwachte, durchlitt er unerträglichen Kummer. Er ist seitdem nicht mehr wer er einmal war und hat sehr lange gebraucht sich wieder aufzurappeln. Sein Kummer ist bis heute nicht verschwunden.

Die Erwähnung seiner schmerzlichen Vergangenheit versetzt Indigo kurz ein Schlag in die Magengrübe, weswegen er leicht zusammenzuckt und sich sofort an den linken Armen fasst. An diesem Arm waren damals die Zeichen seiner Beziehung zu seiner Seelenverwandten markiert. Zurückgeblieben ist eine vernarbte, verstorbene Haut. Sein Blick haftet in Gedanken versunken auf seinen Unterarm, seine Stirn ist gerunzelt und seine Wangen eingezogen. Indigo scheint ernsthaft darüber nachzudenken. Auch wenn Indigo sich oft gleichgültig aus den Diskussionen entzieht, gelassen wirkt und manchmal auch überheblich und draufgängerisch ist, verdrängt er seine Schicksalsschläge nicht und nimmt Aufgaben nur entgegen, die er sich auch wirklich leisten kann.

„Ich würde alles tun, um Solveig auf den Krieg vorzubereiten. Ich werde hart mit ihr trainieren und sie lehren mit dem Schwert umzugehen, als wäre es eine dritte Hand“, spricht Indigo schließlich ernst und blickt mich entschieden an.

„Wenn du das sagst, werde ich keinen Moment daran zweifeln“, antworte ich zufrieden und hebe meine Mundwinkel etwas in die Höhe. „Dann spricht für mich nichts dagegen, dass du dich der Aufgabe widmest.“

Ein kurzer Blick in die Runde genügt, um zu wissen, dass die anderen meiner Meinung sind. Bahar hat ein dickes Grinsen im Gesicht und sieht Indigo mit stolzen Augen an. Selbst Gillis hat sein Kopf wieder erhoben und blickt Indigo seufzend glücklich an. Es ist eine Ewigkeit her, dass Indigo uns sein immer noch vorhandenen Kummer gezeigt hat und ich glaube alle sind erleichtert, dass er damit offen umgehen kann und nicht mehr in sich zusammenfällt. Vor allem traut er sich selbst zu, das Mädchen zu trainieren und davon hängt alles ab. Wenn sie nicht fit mit dem Schwert und eine leichte Beute im Krieg sein wird, werden wir schneller verlieren, als dass wir König Lennard erblicken können.

„Dann hätten wir jetzt alles geklärt“, stelle ich erleichtert fest. „Um keine Zeit zu verlieren, sollten wir heute bereits mit dem Training beginnen.“

Nachdem alle zugestimmt haben, sprechen wir kurz über die Gestaltung der Trainingseinheiten. Bahar und Indigo nehmen die Ratschläge der anderen zustimmend auf und überlegen gemeinsam, welche Übungen sie aufeinander aufbauen. Ich ziehe mich wie üblich als erster aus der Gruppe, verlasse den Raum und laufen über den Flur in Richtung meines Zimmers. Bereits als ich den Flur erreicht hatte, spürte ich, dass das Gespräch noch nicht ganz beendet wurde. Eine Sache war noch offen, das spürte ich sehr deutlich. Je weiter ich durch den Flur laufe, desto leiser wird das Stimmgewirr meiner Freunde und desto deutlicher werden die Schritte hinter mir. An der Gangweise, dem Tempo und der Lautstärke, wie die Person auf den Boden tritt, erkenne ich sofort, dass mir Gillis folgen muss. Vor meiner Tür bleibe ich stehen, drücke aber nicht die Klinke herunter, sondern warte, dass er etwas sagt.

„Du weißt nicht was es zu bedeuten hat, dass dein Herz sich zusammenzieht, wenn du darüber nachdenkst, was du Solveig angetan hast. Habe ich Recht?“, höre ich Gillis hinter mir fragen.

Ich seufze laut, da ich bereits befürchtet hatte, dass das Thema noch einmal aufkommen würde. Wie üblich möchte Gillis meine Gefühle ausdiskutieren, auch wenn ich das nicht möchte.

„Wie einfach mein Leben wäre, wenn du nicht immer versuchen würdest, jede Gefühlsregung in mir zu analysieren“, beschwere ich mich wütend und drehe mich mit geballten Fäusten um.

„Seit ich dich kenne, habe ich dieses Gefühl in dir noch nie gesehen“, verteidigt sich Gillis. „Ich schwöre, ich halte mich oft zurück. Aber hier geht etwas vor sich, dass du nicht aus den Augen verlieren solltest.“

„Wovon sprichst du?“, frage ich aufgebracht und runzele die Stirn.

„Deine Gefühle, wenn du daran denkst, was du ihr angetan hast“, wiederholt er und blickt auf meine Brust, als würde er versuchen darin etwas abzulesen. „Siehst du, da war es gerade wieder.“

Es stimmt, dass ich gerade wieder ein Schmerz verspürt habe. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich darüber sprechen möchte.

„Was willst du von mir hören?“, frage ich nun verärgert. „Ja, es tut mir leid, dass sie durch das Geschehen gequält wurde. Das dumme Ding ist vermutlich für ihr Leben damit geprägt und ich bin schuld daran. Aber diese Last nehme ich gerne auf mich, wenn damit der Frieden herbeigeführt werden kann.“

„Schuldgefühle und Mitleid?“, fragt Gillis und stoßt ein verbittertes Lachen aus. „Wenn es das wäre, würde ich nicht hier stehen und dich verärgern.“

„Was soll es denn sonst sein?“, frage ich völlig verwirrt und hebe verständnislos die Arme in die Luft.

„Dieser tiefe, heiße Schmerz in deinem Herzen wird nicht durch Schuldgefühle oder Mitleid ausgelöst Ashram“, erklärt Gillis mit großen Augen. „Es ist Sorge.“

Ich blicke Gillis lange an, um ihm zum Verstehen zu geben, dass ich nicht verstehe, weswegen er nun so ein Trubel veranstaltet.

„Seitdem ich dich kenne, und das ist nun schon eine Ewigkeit, hast du noch nie für irgendeine Seele auf dieser Welt Sorge empfunden. Du hast Solveig in dein Herz geschlossen, sonst würde dich die Erinnerung daran, wie du sie gequält hast nicht so schmerzen. Die Tatsache, dass das Gefühl auch nicht verschwindet, liegt daran, dass du keine Ahnung hast, wie es ihr gerade geht, und ob sie wohl immer noch leidet.“

Seine Worte schockieren mich zutiefst, weswegen ich zuerst kein Wort aus meinem Mund herausbekomme. Alles, was er gesagt hat, ergibt in meinem Kopf keinen Sinn und es fällt mir schwer ihm zu glauben, dass er tatsächlich davon ausgehen kann.  

„Das ist Blödsinn“, entgegne ich ihm und werde wieder wütend. „Du interpretierst mal wieder viel zu viel in alles rein. Ich kenne das Mädchen doch gar nicht, wieso sollte ich sie also in mein Herz schließen? Hör auf dich in etwas reinzusteigen, was gar nicht vorhanden ist. Belass es einfach dabei, dass es sich um Mitleid gehandelt hat und verschone mich mit deinen weiteren Analysen.“

Das sind meine letzten Worte für heute an Gillis, ehe ich die Tür aufreiße, hineingehe und sie hinter mir wütend zuknalle.

 

Solveig

 

„Es ist wichtig, dass ihr auf eure Atmung achtet und nicht stehenbleibt“, erklärt Bahar Mehmet und mir aufmerksam. „Fangt langsam an und steigert dann euer Tempo.“

Mit gerunzelter Stirn und den Händen auf unseren Hüften stemmend blicken Mehmet und ich Bahar nickend an. Wir stehen auf der roten Wiese vor dem Haupttor zum Schloss. Noch haben wir mit dem Sporttraining nicht begonnen, doch Bahar hat uns bereits ihren Trainingsplan vorgestellt, worauf ich stutzend reagierte und Mehmet aussah, als wünschte er sich zurück in sein Bett. Ich war noch nie eine Sportskanone, eine halbe Stunde Laufen war bisher das Maximum, das ich zustande brachte. Aber laut Bahars Trainingsplan stellt die halbe Stunde Laufen nur die Aufwärmung dar. Danach folgen Sportsübungen, inklusive Situps, Sprint mit Zwischenübungen und vieles mehr. Bahars Augen leuchteten regelrecht während ihrer Erzählung über das bevorstehende Training und den Herausforderungen. Ich musste mich zwingen ein glückliches Lächeln aufzubringen, um sie nicht schon von Vornherein zu enttäuschen.  

„Nicht den Mut verlieren“, höre ich Ventos aufmunternde Stimme in meinem Kopf.

„Du hast leicht sagen“, antworte ich ihm, ohne es tatsächlich auszusprechen.

Mit vielsagendem Blick sehe ich zu ihm hinunter, welcher direkt neben mir auf der roten Wiese sitzt. Seine schwarzen Augen blicken ebenfalls zu mir hoch und wirken plötzlich herausfordernd.

„Wetten ich laufe schneller als du?“, fragt er und seine Stimme klingt neckend.

„Du hast zwar vier Pfoten und ich nur zwei Beine, dafür bin ich aber schon länger mit denen unterwegs als du mit deinen“, kontere ich und sehe ihn kritisch an, als könnte ich die Wette nicht ernst nehmen.

„Du glaubst also wirklich, du bist schneller?“, fragt er amüsiert.

„Klar“, antworte ich laut und muss über seine Selbstüberzeugung lachend schnauben.

„Was auch immer ihr gerade besprecht, muss es in sich haben“, meldet sich Bahar neugierig und entzückt. „Ich spüre einen Motivationsstub aufkommen.“

„Wir sind bereit“, melde ich mich nun ungeduldig und dehne zügig meine Beine.

Von der Seite spüre ich einen überraschten Blick von Mehmet und auch Bahar muss kurz stutzen, ehe sie freudig in die Hände klatscht.

„Toll, dann kann es ja losgehen“, spricht Bahar motiviert und zeigt zur Seite. „Wir beginnen hier und umringen das Schloss. Ihr seid also Start bereit?“

Ihr fragender und teils sichergehender Blick streift mich und Mehmet, ehe sie hinunter zu Vento sieht. Ungeduldig nicke ich ihr zu und knie mich in die Hocke, um nach dem Startschuss direkt locker loslaufen zu können. Von der Höhe bin ich in derselben wie Vento und muss nur zur Seite sehen, um in seine knopfschwarzen Augen zu blicken, die mich kampflustig begegnen.

„Bist du bereit?“, frage ich Vento belustigt laut.

Von diesem ist nur ein lautes Knurren zu hören, während sein Körper dieselbe Stellung annimmt wie meine. Seine Hinterbeine sind bereit zum Abspringen und seine Vorderbeine stützen seinen Oberkörper, wie es für mich meine Hände tun. Er ist bereit zum Rennen und ich bin begierig herauszufinden, wie viel er schafft.

„Los geht’s“, gibt Bahar den Startschuss.

Sofort drücken wir uns alle drei gleichzeitig vom Boden ab und beginnen zu rennen. Während Mehmet die Worte von Bahar ernst genommen hat und langsam beginnt sein Tempo zu steigern, haben Vento und ich ihn in binnen zehn Sekunden weitaus überholt und halten dasselbe schnelle Tempo. Verblüfft merke ich, dass Vento mir standhalten kann und noch gar nicht erschöpft aussieht. Doch da es sich hier um eine Langstreckenübung handelt, werden sich seine hohen Sprüche erst zeigen, wenn wir die halbe Stunde erreicht haben. Bis dahin muss ich dringend selbst darauf achten, standhalten zu können und nicht früher abzubrechen. Kurz bereue ich es nicht auch langsamer angefangen zu haben wie Mehmet, doch dann hätte Vento ein leichtes Spiel gegen mich gehabt. Also beiße ich angestrengt meine Zähne zusammen, versuche mein Atem zu kontrollieren und mich von meiner Demotivation abzulenken.

Versuche ich auf andere Gedanken zu kommen, schweife ich immer wieder auf gestern zurück. Dabei zieht sich wieder mal alles in mir zusammen. Mein Herz fühlt sich schwerer an als sonst, meine Beine werden zu Blei, meine Fingerspitzen werden taub und in meinem Hals bildet sich ein großer, schmerzhafter Kloß, der es mir unmöglich macht zu schlucken. Nachts bin ich immer mal wieder aufgewacht, hatte Albträume mit den Bildern des verbrannten, zerstörten Dorfes und der vielen Leichen. Trotzdem hatte ich jedes Mal gehofft, dass es wirklich nur Albträume waren und nicht die Wirklichkeit. Je länger ich darüber nachdachte, desto schlimmer wurde die Erkenntnis, dass ich das tatsächlich gesehen hatte. Ich bin mir sicher, dass ich das niemals vergessen werde und daran ist allein Ashram schuld. Wieder spüre ich eine Wut in mir aufkommen und merke, wie meine Füße schneller werden und sich das Laufen leichter anfühlt. Es ist fast so, als würde ich vor den schlechten Gedanken davonrennen.

Meine Gefühle durchleben immerzu eine reine Achterbahn. Mal bin ich todunglücklich, wünsche mir die Bilder in meinem Kopf vergessen zu können. Dann werde ich stinksauer, weil daran nur Ashram schuld ist und ich stelle mir vor, wie ich ihm das heimzahlen könnte. Wenige Sekunden später schleicht sich aber eine Stimme in meinen Kopf und flüstert mir zu, dass es nötig war mir diese Bilder zu zeigen, damit ich meine Meinung ändere. Schließlich sind diese Menschen nur tot, wegen dem egoistischen König und es benötigt ausgerechnet mich, die auserwählte Kriegerin, die weiß, wie man kämpft, um den Krieg beenden zu können. Über die Ironie hinwegsehend lassen diese Stimmen in meinem Kopf die Schuldgefühle von meinen Füßen bis hin zu meinen Haarspitzen wachsen. Ich merke, dass wenn ich nicht so bockig und egoistisch gewesen wäre, ich schon viel früher mit dem Kampftraining hätte beginnen können und vielleicht… ja vielleicht hätte ich diese armen Menschenseelen retten können. Also beiße ich meine Zähne zusammen und versuche in meinen depressiven Gedanken Optimismus einzupflanzen.

„Du wirst langsamer“, höre ich eine belustigte Stimme in meinem Kopf.

Als würde ich aus meinen Gedanken erwachen, sehe ich verträumt auf und blicke mich um. Wir haben das Schloss zur Hälfte umrundet und das innerhalb zehn gefühlter Minuten. Erstaunt darüber, dass Vento immer noch locker neben mir herrennt, blicke ich mit großen Augen zu ihm hinunter.

„Wie kommt es, dass du so fit bist?“, frage ich ihn laut und merke, wie angestrengt meine Stimme klingt.

„Ich habe meine Energie aufgespart“, antwortet er in meinem Kopf und atmet gleichmäßig.

„Um zu Laufen?“, frage ich skeptisch und runzele die Stirn.

„Nein“, sagt er und lacht leise in sich hinein. „Sieh zu.“

Ratlos blicke ich zur Seite zu ihm und achte darauf, mein Tempo nicht zu drosseln. Im Gegensatz zu mir beginnt Vento jedoch an Geschwindigkeit zuzunehmen und mich zu überholen. Aufmerksam sehe ich zu, wie er immer schneller wird, sodass er bereits ein Meter Entfernung zwischen uns gebracht hat. Ich muss wieder meine Stirn runzeln, weil ich nicht verstehe, was er mir zeigen möchte. Gerade wollte ich ihm etwas amüsiert und kopfschüttelnd zurufen, als ich merke, dass sich seine schwarzen Pfoten verfärben.

Zuerst dachte ich, dass ich mich versehen habe oder mir das Rennen in den Kopf steigt. Doch als seine Pfoten sich nicht nur senfgelb verfärben, sondern auch regelrecht zu langen Tatzen mit Krallen werden, merke ich, dass ich richtig sehe. Nach jedem Schritt von ihm verfärbt sich sein kurzes, schwarzes Fell immer mehr und nimmt eine Senfgelbe Farbe an. Schließlich ändert sich nicht nur seine Farbe, sondern auch seine Beine werden länger und kräftiger. Vorher wirkten sie dünn und zerbrechlich, nun sehen seine Beine robust und muskulös aus. Als seine Beine ein Ende finden, beginnt sich auch sein schwarzer Schwanz zu verfärben sowie sein Rücken. Von der Höhe reicht Vento mir nun bis zu den Knien, davor erreichte sein Kopf im Sitzen gerade so diese Stelle. Als sich auch sein Kopf beginnt zu verfärben und eine lange, schwarze Löwenmähne hinterlässt, staune ich laut auf. Noch bevor ich etwas sagen kann, verblassen seine zwei schwarzen, langen, aufstehenden Fühler auf den Kopf und tauchen gleichzeitig in derselben Farbe seines Felles neben seinem Schwanz am Hinterteil auf.

Perplex über seine Wandlung geht mir die Puste aus und ich bleibe unwillkürlich stehen. Keuchend stoßen sich meine Hände an meinen Knien ab und ich blicke abwechselnd kopfschüttelnd auf den Boden und dann zu Vento. Er hat nach wenigen Sekunden gemerkt, dass ich stehengeblieben bin und hat sich schließlich zu mir umgedreht, um zu mir zulaufen. Als mein Blick sein neues Gesicht begegnet, stockt mir der Atem und ich spüre eine Gänsehaut auf meinem ganzen Körper aufkommen.

„Bist du’s?“, höre ich die Worte leise und unsicher über meine Lippen kommen.

Ich spüre meine verzweifelte, gerunzelte Stirn und wie trocken meine Lippen und Lunge sind. Damit, dass sich sein Körper verändert hat, seine Größe und Farbe, komme ich gut klar. Aber sein Gesicht ist mir fremd und das macht mir eine Heidenangst. Das erste, woran ich denken muss, als ich sein Gesicht gesehen habe, war an einen Tiger. Er hat ein langes, plattgedrücktes Nasenbein und die Nase selbst ist dreiförmig wie die einer Katze. Wären da nicht seine altbekannten, schwarzen Knopfaugen, an die ich wie hypnotisiert hänge, hätte ich vermutlich schon längst das Weite gesucht. Denn wie ist es möglich, dass jemand oder ein Tier seine vollkommene Gestalt binnen einer Minute ändert?

„Hast du Angst?“, höre ich die bekannte, dunkle, aber wie Salbei klingende Stimme in meinem Kopf.

Seine Stimme und seine Augen beruhigen mich, dennoch steht eine ganz andere Gestalt vor mir als noch heute Morgen. Das soll immer noch Vento sein? Ich erinnere mich daran, dass er mir erzählt hatte, er könne seine Gestalt ändern, kurz nachdem er aus dem Ei geschlüpft ist. Wenige Tage später erst meinte er, er müsse dafür Inspiration finden. Doch diese Informationen habe ich bisher ganz nach hinten in meine Gedanken verdrängt, zu viele andere Sachen spukten in meinem Kopf herum.

„Ein wenig, ja“, gebe ich kleinlaut zu und beiße mir auf Wangeninnenseite.

„Das tut mir leid“, meint Vento und klingt niedergeschlagen. „Ich wollte dich nicht erschrecken und hatte den Eindruck, dass dir bewusst war das es irgendwann dazu kommen würde.“

„Du hast erzählt, dass du das kannst“, erkläre ich ruhig und merke immer noch, wie zittrig meine Stimme ist. „Aber ich hatte keine Ahnung, dass du es wortwörtlich meintest.“

„Wenn du willst, nehme ich wieder die andere Gestalt ein“, meldet sich Vento schuldbewusst.

„Nein“, halte ich ihn auf, wie aus der Pistole geschossen.

Mehrmals mit dem Kopf schüttelnd, raffe ich mich zusammen, atme tief durch und laufe zu Vento hin. Mein Blick haftet an seinen Augen und ich sammle Mut sowie Sicherheit. Das ist immer noch Vento! Er sieht zwar anders aus, doch sein Herz und seine Seele sind gleichgeblieben.

„Ich habe mich nur kurz erschrocken“, beginne ich schuldbewusst und knie mich zu ihm runter, um ihm direkt in die Augen zu blicken. „Aber deine Stimme und deine Augen haben mich sofort beruhigen können.“

Mit einem Lächeln lege ich meine Hand auf seine weiche, fellbedeckte Wange. Sofort schmiegt er sein Gesicht näher an mich ran und all die Anspannung fällt von mir ab.

„Findest du es gelungen?“, fragt Vento neugierig.

„Auf jeden Fall“, versichere ich ihm und blicke ihn dann fragend an. „Aber woher kam dir die Inspiration?“

„Eines Nachts landete ich in einen deiner Träume und sah dort ein Tier, das eine ähnliche Gestalt hatte“, erklärt er. „Die Streifen gefielen mir nicht, also habe ich sie weggelassen.“

„Ich habe von einem Tiger geträumt? Und du kannst meine Träume sehen?“, frage ich perplex.

„Das wusste ich auch nicht und war ebenfalls erstaunt“, gibt Vento zu.

Ich nehme mir später vor darüber nachzudenken, ob es mir gefällt, dass Vento freien Zugang zu meinen Träumen hat oder nicht. Jetzt muss ich erst einmal verdauen, dass er seine Gestalt nach Belieben ändern kann.

„Tiger haben aber keine schwarze Mähne“, stelle ich kritisch fest und überlege von welchem Tier er sich das abgeschaut haben könnte.

„Diese Inspiration habe ich ja auch von Indigo“, sagt Vento und ich muss darauf schallendlaut lachen.

„Solveig“, höre ich die aufgeregte, alarmierende Stimme von Mehmet hinter mir. „Ist alles in Ordnung? Wer ist das?“

Verschwitzt und schnaufend kommt Mehmet bei mir an und wirkt hin und hergerissen, ruhig zu bleiben oder mich von Vento wegzuziehen.

„Alles gut“, beruhige ich ihn schnell und halte ihn bei all seinen Vorhaben auf. „Vento hat zum ersten Mal seine Gestalt geändert.“

Mit weit aufgerissenen Augen sieht Mehmet Vento nun genauer an und versucht nebenbei, sein Atem nach dem Laufen wieder unter Kontrolle zu bringen.

„Er ist so groß geworden“, staunt Mehmet perplex und lässt sich wie einen nassen Lappen auf den Boden fallen.

„Dann ist es also wahr“, meint er und kommt aus seinem Staunen gar nicht mehr raus. „Ein Gestaltwandler.“

Mit zaghaften Schritten tapst Vento zu Mehmet, worauf dieser im ersten Moment verunsichert zu mir blickt. Mit einem vielsagenden Nicken mache ich ihm klar, dass er sich keine Sorgen machen muss und alles gut ist. Als Vento bei ihm ankommt, legt er eines seiner am Hinterteil hängenden Fühler an Mehmets Bein. Mehmets Blick liegt ohne Umschweif auf Ventos Augen und sieht sehr konzentriert aus. Die Fühler von Vento scheinen immer noch das Sprachrohr für ihn zu sein, um mit anderen zu kommunizieren. Während Vento mit mir telepathisch sprechen kann, bedarf es für andere seine Fühler. Was Vento Mehmet wohl zu sagen hat?

„Das bezweifle ich“, meint Mehmet plötzlich mit einem Grinsen im Gesicht und steht schnurstracks wieder auf.

„Was habt ihr beredet?“, frage ich neugierig und verstehe nicht, wieso Mehmet aufgestanden ist.

Herausfordernd blickt Mehmet zu Vento herunter, sein Körper ist in Richtung des Laufweges gerichtet.

„Jetzt“, ruft Mehmet wieder aus dem Nichts und beide sprinten los.

Ahnungslos lassen sie mich auf dem Boden sitzend zurück. Wie bestellt und nicht abgeholt sehe ich den zwei hinterher und schüttele nur seufzend den Kopf. Schließlich entscheide ich mich es ihnen gleichzutun, stehe auf und beginne ebenfalls zum Start zu laufen. Nach einigen Minuten erkenne ich Vento, Mehmet und Bahar am Startpunkt stehen. Bahar springt vor Freude in die Luft, klatscht begeistert in die Hände und kann ihren Blick nicht von Vento nehmen. So wie Bahar reagiert, könnte man meinen Vento hätte gerade ein Fohlen zur Welt gebracht.

„Das habe ich genau gehört“, höre ich plötzlich Ventos schnippische Stimme in meinem Kopf, zeitgleich schnellt sein Kopf in meine Richtung und seine schwarzen Knopfaugen verengen sich zu Schlitzen.

„War nicht für deine Ohren gedacht“, antworte ich frech und strecke ihm kurz die Zunge raus.

Als ich bei den drei ankomme, entscheidet Bahar uns nicht weiter mit der Aufwärmung zu quälen, sondern gleich zum Eingemachten zu kommen. Während Vento im hohen, roten Gras liegt und gemütlich seine Pfoten mit seiner Zunge putzt, ahmen Mehmet und ich Bahars Sportübungen angestrengt nach. Früher fand ich den Sportunterricht schon sehr anstrengend, doch im Vergleich zu Bahars Training liegen Welten dazwischen. Nach einiger Zeit zittert jeder einzelne Muskel in mir und ich weiß nicht, ob ich lieber stehen oder sitzen möchte, beides schmerzt. Mein zu Anfang noch nettes Lächeln für Bahar verschwand nach der fünften anstrengenden Übung.

„Reicht das nicht für heute?“, stöhne ich im Liegen und blicke hoffnungsvoll in den violetten Himmel.

„Ich würde mir das jedenfalls wünschen“, höre ich Mehmet neben mir krächzen.

Das Einzige was mich noch motivierte weiterzumachen war Mehmet, welcher nämlich genauso geschafft war nach jeder Übung wie ich. Nach jeder neu gezeigten Übung blickten wir uns kurz an und schafften uns so gegenseitig Motivation.

„Vermutlich habt ihr recht“, meint Bahar seufzend. „Das war wohl zu viel für das erste Mal.“

Hoffnungsvoll stütze ich mich auf und sehe zu ihr. Ich kann gar nicht glauben, dass sie uns zustimmt. Es fühlt sich fast so an, als hätte meine Mathelehrerin entschieden, die letzte Stunde ausfallen zu lassen.

„Das heißt wir können duschen gehen?“, frage ich und meine Augen funkeln regelrecht.

„Ja, ihr könnt euch noch etwas ausruhen und werdet später zum Kampftraining abgeholt“, erklärt Bahar heiter.

Die Andeutung auf das Kampftraining lässt mein Magen kurz rumoren. Ich habe immer noch Bangen den Umgang mit dem Schwert zu erlernen, doch ich habe mich dafür entschieden und werde nun keinen Rückzieher machen.

„Wer wird uns denn trainieren?“, frage ich vorsichtig.

Ich gebe ein kurzes, heimliches Stoßgebet in den Himmel, dass es nicht Ashram sein wird, der mich trainieren wird. Ehrlich gesagt, ist das meine größte Befürchtung. Alles an ihm macht mich nervös und hinterlässt ein Angstschweiß zurück. Ich könnte mir nicht vorstellen, wie er mir etwas mit einem Schwert beibringen könnte. Vermutlich hätte ich die ganze Zeit über Angst, ihm würde „aus Versehen“ sein Schwert ausrutschen und in mich einstechen. Ich schüttele den Gedanken weg, denn das würde er bestimmt nicht tun. Dafür bin ich mit meiner Rolle als langersehnte Kriegerin viel zu kostbar für ihn. Wäre ich ein einfaches Mädchen, hätte er mich vermutlich schon am ersten Tag nicht ins Schloss gelassen und mich von der Klippe gestoßen. Grummelnd beiße ich mir auf die Unterlippe und hoffe einfach, dass mir die Sache nicht unnötig erschwert wird.

„Das werdet ihr später erfahren“, zwinkert Bahar mir zu und verschränkt ihre Arme hinter dem Rücken.

Seufzend stehe ich auf, bedanke mich bei Bahar für das Sporttraining, auch wenn ich nicht ausspreche, wie wenig ich es genossen habe, und laufe mit Vento und Mehmet an meiner Seite in das Schlossinnere.

„Und das kommt nun jeden Tag auf uns zu?“, fragt Mehmet stöhnend und mit gerunzelter Stirn.

„Ich befürchte, ja“, antworte ich skeptisch und schlucke schwer.

Mit schmerzenden Muskeln und schweren Beinen laufen wir die Treppen hoch. Keiner sagt ein Wort, weil wir beide zu erschöpft sind. Erst als sich unsere Wege aufgrund unserer Zimmer trennen, verabschieden wir uns kurz voneinander und wissen, dass wir uns später erneut für das Kampftraining sehen werden. In meinem Zimmer angekommen, springt Vento blitzschnell auf das Bett, legt sich hin und schließt sofort müde die Augen. Ich laufe mit hängenden Schultern und erschöpften Seufzer ins Badezimmer, lasse Wasser in die Wanne laufen, befreie mich von meiner Kleidung und steige dann in die Wanne rein. Selbst zum Waschen bin ich zu müde, weswegen ich mein Vorgang beschleunige und mich nach geschlagenen zehn Minuten freue, neben Vento im Bett zu liegen und die Augen zu schließen. Ich schlafe schnell ein und kann mich für eine kurze Zeit entspannen.

Das Klopfen an meiner Zimmertür lässt mich seufzend meine Augen öffnen. Es fühlt sich an, als hätte ich fünf Minuten geschlafen, doch da der Himmel draußen schon um einiges dunkler geworden ist, merke ich schnell, dass es ein längeres Schläfchen gewesen sein muss. Vento neben mir schläft immer noch seelenruhig, das Klopfen hat ihn nicht annährend geweckt. Als es erneut zaghaft an der Tür klopft, frage ich mich wer das sein könnte und stehe langsam aus dem Bett auf. Sofort meldet sich jeder Muskel in mir und ich muss aufgrund der Schmerzen scharf die Luft einziehen. Wer hätte gedacht, dass mich das Sporttraining heute so erschlagen würde. Auf dem Weg zur Tür erinnere ich mich, dass das Kampftraining noch bevorsteht. Vermutlich holt mich nun jemand dafür ab. Eine kleine, hoffnungsvolle Stimme in meinem Kopf flüstert mir zu, dass ich das Training vielleicht verschlafen habe und sie heute auf mich verzichtet haben. Den Gedanken schüttele ich aber schnell weg, da das eher unrealistisch ist.

Bevor ich meine Hand auf die Türklinke lege, massiere ich noch schnell meine Augen, um wacher zu werden. Dann unterdrücke ich ein Gähnen und öffne neugierig die Tür. Wen ich vor meiner Tür erblicke, lässt jedes Haar auf meinem Körper aufsteigen und mein Herz für wenige Sekunden stehenbleiben, die Müdigkeit ist wie weggeblasen. Ashram steht mit verschränkten Armen an meinem Türrahmen und blickt mir ausdruckslos entgegen. Rein instinktiv schreit alles in mir ums Überleben und ich knalle die Tür ohne darüber nachzudenken zu. Das Blut strömt durch meine Adern, ich höre es buchstäblich in meinen Ohren rauschen. Trocken schluckend merke ich, dass die Tür gegen etwas abprallt und sich nicht schließen lässt. Mit weit aufgerissenen Augen sehe ich zu Boden und sehe Ashrams Schuh zwischen der Tür und dem Türrahmen stehen, was das Zuknallen verhindert hat.

„Öffne die Tür“, höre ich ihn behutsam, aber trotzdem fordernd gegen die Tür sprechen.

Wieder spüre ich eine Gänsehaut auf meinem ganzen Körper und höre mich selbst laut atmen. Die Panik breitet sich in mir aus und ich spüre Tränen in meinen Augen aufkommen. Was hat er mit mir vor? Wird er mir etwas antun? Oder noch schlimmer, entführt er mich wieder gegen meinen Willen in ein Dorf voller Leichen? Genau dieser Gedanke und die damit verbundene Angst lässt heiße Tränen meine Wange hinablaufen. Als eine Träne auf meiner Hand landet, die immer noch wie versteinert an der Türklinke hängt, erwache ich aus meiner Angststarre. Ich darf nicht weinen, jedenfalls nicht vor Ashram. Dieser wird jede Sekunde selbst in mein Zimmer hereinbrechen, wenn ich ihn nicht freiwillig reinlasse. Auf keinen Fall darf er sehen, dass ich weine. Womöglich würde er mich dann sofort wieder auf den Turm schleifen, um mir Emotionslosigkeit und Kälte beizubringen. Doch ich kann die Tränen auch nicht stoppen, sie fließen wie ein Fluss meine Wangen hinab.

Kurzerhand entscheide ich in meinem Dilemma, die Klinke loszulassen, mich sofort umzudrehen und in Richtung des Balkons zu laufen. Mein Herz pocht wild gegen meine Brust und ich höre, wie Ashram die widerstandlose, knarrende Tür öffnet und mein Zimmer betritt. Ich spüre sein Blick auf meinem Rücken haften. Es fühlt sich an, als wäre er direkt hinter mir und in mein Nacken atmen. Die Panik schnürt mir wieder die Kehle zu und ich öffne die Tür zum Balkon, um hinauszutreten. Sofort schnappe ich nach Luft, als wäre ich beinahe im Wasser ertrunken. Die Tränen auf meinen Wangen wische ich sekundenschnell mit meiner Hand ab und hoffe, dass die kühle Brise meine Augen trocknen wird, bevor Ashram sie erblickt. Um mein Zittern und Aufgeregtheit zu kaschieren, kralle ich mich am Geländer fest und konzentriere mich auf einen Punkt in der Landschaft. Als ich höre, wie er die Tür des Balkons schließt, nachdem er ebenfalls zu mir rausgekommen ist, zwinge ich mich ruhig zu atmen.

„Versuchst du vor mir wegzurennen?“, fragt er mich und ich schwöre, ein Hauch von Belustigung in seiner Stimme zu hören.

„Hätte ich denn eine Chance?“, frage ich und staune, wie fest meine Stimme klingt.

„Niemals“, antwortet er herb.

In mir breitet sich ein Gefühl aus, dass diese Konversation nicht auf Spaße beruht, sondern Ernsthaftigkeit. Jedenfalls hinterlässt mir seine Antwort einen bitteren Nachgeschmack. Tief einatmend sammele ich mein Mut für die nächsten Minuten zusammen.

„Willst du mich wieder entführen?“, frage ich klagend und unterdrücke die Tränen in meinen Augen.

Starr und auf meine Zunge beißend blicke ich in die Ferne und konzentriere mich darauf ruhig zu bleiben. Weit in der Ferne erblicke ich einen großen Vogel mit langen schwingenden Flügeln gen den Sonnenuntergang fliegen. Ich achte auf das regelmäßige Schwingen und versuche daran meine Atmung anzupassen.

„Das war eine einmalige Sache“, wehrt er sich aufbrausend, da ich daraufhin zusammenzucke, wird seine Stimme wieder ruhig. „Es wird nicht wieder vorkommen.“

Ashram wirkt, wie ein Mann, der nicht lügt, der nicht feige ist die Wahrheit zu sagen, der zu ungeduldig und erschöpft ist etwas nicht so zu meinen, wie er es sagt. Doch kann ich ihm vertrauen? Reicht es mir aus, dass er plump meint, er würde mich nicht noch einmal entführen? Ich kann mir schon fast vorstellen, wie er dabei mit den Achseln gezuckt hat. Als wollte er das Thema schnell hinter sich bringen. Als wäre all mein Drama der Sache nicht Wert. Würde es hier um etwas anderes gehen, etwas Harmloseres, dann hätte ich wohl darüber hinweggesehen. Doch er hat mich gegen meinen Willen mitgeschliffen, war gewalttätig und hat mir tiefe psychische Narben verpasst, die ich nie wieder los werde.

„Gibst du mir dein Wort?“, höre ich mich leise fragen.

Da ich daraufhin einige Sekunden nichts von ihm höre, merke ich die Wut in mir aufkochen. Wenn er mir nicht sein Wort geben kann, wie soll ich ihm dann vertrauen, dass er mir dasselbe nicht noch einmal antut? Wie soll ich mit jemand an meiner Seite im Krieg kämpfen, wenn ich vor ihn Angst habe? Geht es im Krieg denn nicht auch darum, Seite an Seite mit den Menschen zu kämpfen, die einen nicht in den eigenen Rücken stechen würden? Jeder beschützt jeden? Wie soll ich ihm denn mein Leben anvertrauen, wenn er es nicht einmal schafft mir dieses Versprechen zugunsten meines Wohlergehens zu geben? Es macht mich stinkwütend, dass er mich nicht ernst nimmt!

Wacker drehe ich mich zu ihm um und recke mein Gesicht stolz hoch. Ich beiße meine Zähne schmerzhaft zusammen und spüre, wie sich meine Fingernägel in meine Hand einkrallen. Mit zusammengezogenen Augenbrauen blicke ich in seine dunklen Augen und zwinge mich standzuhalten. „Ich habe keine Angst vor dir!“, sage ich mir die ganze Zeit und denke an nichts anderes. Dabei mustern mich seine Augen scharf, jede Bewegung von mir fängt er auf. Er wirkt nicht danach, als würde er gerne etwas sagen. Viel eher scheint er gespannt auf meine Reaktion zu sein, was mich noch viel wütender macht.

„Ist das dein ernst? Hast du deine Zunge verschluckt, oder wieso fällt es dir so schwer mir dein Wort zu geben?“, zische ich wutentbrannt in den Himmel. „Ich gebe so viel und du schaffst es nicht einmal ein kleines Versprechen abzugeben?“

Als seine ausdrucklose Miene sich nicht ändert, brennen endgültig alle Sirenen in mir durch. Kein Zucken auf seinen Lippen, keine Bewegung auf seiner Stirn, kein Hochschellen seiner Augenbrauen und auch kein Weiten seiner Augen. Meine wütende Reaktion hat bei ihm nichts bewirkt. Ich merke, wie mein Puls zu rasen beginnt und meine Wangen heiß vor Wut werden. Es ist fast so, als würde sich der Ärger, der sich schon lange in mir aufgestaut hat, endlich rausplatzen. Und ich scheue mich auch nicht davor dies zu tun, denn was wird er schon tun? Ich erwarte regelrecht, dass er mich entweder weiterhin ausdrucklos anblicken wird oder mir eine Ohrfeige verpasst. Das nehme ich gerne in Kauf.

„Alle verlangen etwas von mir, jeder will das ich etwas bin und mich ändere“, beginne ich verbittert und meine Brust beginnt vor Aufregung zu zittern. „Zuerst wollten sie, dass ich ein Mann, ein Krieger bin. Dann, dass ich aufhöre zu weinen, stark bin und somit die Welt retten kann. Und schließlich wollten alle, einschließlich dir, dass ich lerne zu kämpfen. Damit ich im Krieg gut gewappnet bin und ich nicht schon nach zwei Minuten abkratze.“

„Denn laut dieser Sage…“, erkläre ich, werde laut und werfe verärgert meine Hände in die Luft. „Die wohl keiner hier hinterfragen möchte, können nur Vento und ich den Frieden herbeiführen. Ist einen von euch mal die Idee gekommen mich zu fragen, was ich will?“

„Nein“, antworte ich mit aufgeblähten Nasenflügeln selbst. „Noch besser, die Liste an Wünsche an mir wird immer länger und länger.“

„Und wie gehen wir am besten damit um, wenn ich zu etwas Nein sage?“, frage ich rhetorisch und ziehe meine Augenbrauen hoch. „Wir ziehen mich vielleicht mal zur Seite und reden in Ruhe? Nein! Wir zerren mich gleich ohne Worte, ohne Diskussion, gegen meinen Willen in ein Dorf voller Toten. Dass ich daraus lerne. Dass ich erkenne, wie wichtig es ist zu wissen, wie man kämpft. Dass ich mich nicht mehr weigere. Dass mein Willen gebrochen wird. Dass ich nur noch eine Marionette werde und tue, was alle von mir verlangen.“

Nach diesem Ausbruch muss ich tief Luft holen und merke, wie schnell mein Herz pocht. Solch einen Wutanfall hatte ich das letzte Mal, als meine Eltern gestorben sind und ich den Gedanken nicht ertragen konnte. Sofort fällt mir wieder ein, dass es Ashram ist, der vor mir steht und dem ich mein Frust mitgeteilt habe. Ich bin erstaunt, dass ich kein Bedauern in mir fühle, sondern Erleichterung. Es macht mir nichts aus, jetzt eine Schelle von Ashram zu kassieren. Denn ich konnte mich ihm gegenüber behaupten und das macht mich klein wenig stolz auf mich selbst.

„Vielleicht kommt es bald in deinen Kopf, dass im Krieg nicht nur Stärke und Schnelligkeit wichtig sind, sondern auch das Vertrauen zu den Verbündeten“, erkläre ich atemlos und blicke ihn eindringlich an. „Du machst mir Angst, du tauchst in meinen schlimmsten Albträumen auf. Ich fürchte mich mehr vor dir als vor diesen irren König. Wie soll ich so mit dir an meiner Seite kämpfen?“

Auf mein verzweifeltes Gesicht und meinem Argument reagiert Ashram mit Irritation. Es scheint, als hätten meine Worte ihn elektrisiert. Die Ausdruckslosigkeit ist dahin, zu sehen ist Überraschung und Schock. Ashram verliert regelrecht sein Halt und tappt ein Schritt zurück. Seine dunklen Augen blicken nachdenklich umher, seine Lippen sind zu einem ernsten Strich verzogen.

„Ich gebe alles, was man von mir verlangt. Dann kann ich das jetzt auch von dir verlangen“, bleibe ich weiterhin streng und ziehe mein Blick nicht weg von ihm.

Mit knirschenden Zähnen und aufgerissenen Augen sieht Ashram mich an. Seine Reaktion deute ich mit Unzufriedenheit und ich habe keine Ahnung, was er gleich tun wird. Ashram ist die unvorhersehbarste und undurchschaubarste Person, der ich je begegnet bin. Wieso fällt es ihm so schwer, mir einfach ein Versprechen zu geben? Meine Schultern sacken verzweifelt und hoffnungslos herunter und ich fühle mich erschlagen. Ich habe alles versucht und habe vieles riskiert, dafür dass er mich ernst nimmt und anfängt mich zu respektieren. Das war wohl zu viel verlangt. Meine Wut ist verraucht, geblieben ist eine Enttäuschung. Gerade als ich mich entschieden von ihm wegdrehen möchte und ihm noch das letzte Mal in die Augen blicken möchte, erkenne ich, dass sich etwas geändert hat. Der Ausdruck in seinen Augen ist auf einmal weicher und er strahlt eine Entschlossenheit aus, sein Körper wirkt auch nicht mehr angespannt. Innerlich merke ich die Hoffnung wiederaufkommen und atme erleichtert auf.

„Einverstanden“, antwortet er grimmig und reicht mir seine rechte Hand. „Wenn das dein Wunsch ist.“

Stutzend und überrascht blicke ich seine mir entgegenstreckende Hand an. Ich bin davon ausgegangen, dass er mir einfach mündlich sein Wort gibt. Wozu also die Gestik? Schon allein der Gedanke Ashram zu berühren, lässt mich erschaudern. Kurz dachte ich, dass es daran liegt, dass ich Angst vor ihm habe, doch ein flüchtiger Gedanke in meinem Kopf flüstert mir zu, dass es eher an Sympathie liegt.

Da ich mir nicht sicher bin, ob ich seine Hand annehmen soll, blicke ich ihn prüfend an. Ashram sieht mir ungeduldig und auffordernd entgegen, schüttelt noch einmal seine Hand, damit ich sie endlich annehme. Vermutlich ist das wieder etwas, dass hier üblich ist und in meiner Welt veraltet. Wie vor einem Kampf atme ich tief ein, ehe ich meine rechte Hand in seine lege. In dem Moment, als sich unsere Hände berühren, breitet sich ein wohliger Schauer in mir aus und ich muss vor Staunen nach Luft schnappen. Ashrams Hand ist einerseits rau und hart, andererseits warm und groß genug, um meine passgenau zu umschließen. Noch ehe ich zu Ashram aufblicken kann, taucht eine Erinnerung von gestern auf. Kein Tod, kein Blut, sondern die Wärme und Nähe von Ashram, als er mich zu sich hochgezogen hat und mich in seinen Armen zu Vento und Zander getragen hat. Das war das erste Mal, dass ich bei Ashram eine Art von Zärtlichkeit beobachten konnte und mein Blick auf ihn entzerrte.

Als Ashram mich plötzlich mit einem Ruck zu sich zieht, japse ich vor Überraschung auf und blicke mit weit aufgerissenen Augen zu ihm hoch.

„Was?“, höre ich mich nur schockiert sagen und merke, wie mir die Hitze in die Wangen schießt.

Mit Ashrams Reaktion hatte ich nicht gerechnet und auch nicht damit, wie verlegen ich darum werde. Am liebsten würde ich nun selbst von dem Balkon springen. Ich kann nur hoffen, dass es Ashram nicht besonders auffällt. Aber was hat er eigentlich vor?

„Wenn du mein Wort verlangst, machen wir es auch richtig“, erklärt Ashram, da er wohl gemerkt hat, wie verwirrt ich bin. „Du legst deine Hand auf meine Brust, auf die Seite meines Herzes und ich werde dasselbe bei dir tun.“

In meinem Kopf tauchen hunderte Szenarien auf, was gleich passieren könnte. Neben den Vorstellungen habe ich auch so viele Fragen und bin mit seiner Anweisung vollkommen überfordert. Da ich keine Reaktion zeige, zu Eis erstarrt bin, sehe ich gebannt zu, wie Ashram meine Hand leicht und sorgsam hochzieht, und die Handfläche sachte auf seine linke Brust drückt. Er trägt nur ein dünnes, enganliegendes Sweatshirt, wodurch ich seine Wärme sofort auf meiner Hand spüren kann. Sein Herz schlägt langsam und regelmäßig, als würde er gemütlich schlafen. Einerseits ist es mir unangenehm, ihm auf einmal so nah zu sein, da ich vor wenigen Minuten noch eine höllische Angst vor ihm hatte. Andererseits würde ich im Moment mit niemandem auf der Welt mein Platz tauschen und sauge seine seltene Nähe regelrecht in mir ein. Als seine Hand auf einmal leicht und ohne Druck auf meiner Brust, direkt über meinem Herzen liegt, sehe ich aufgeregt zu ihm hoch. Mein Herz schlägt so schnell, er wird denken ich falle gleich um.

„Keine Angst“, sagt er sofort, als er mein Herzflattern spürt und sieht mich verblüfft an. „Das wird nicht wehtun.“

Kurz bin ich erleichtert, dass er denkt mein Herz würde aus Angst so schnell schlagen und nicht vor Verlegenheit.

„Was passiert jetzt?“, frage ich mit gerunzelter Stirn und blicke in seine dunklen Augen.

„Ich gebe dir gleich offiziell mein Wort und leiste ein Schwur“, erklärt er ruhig. „Wenn ich diesen jemals brechen sollte, hast du das Recht über mein Herz zu urteilen.“

„Aber?“, frage ich schockiert und will meine Hand sofort von seiner Brust nehmen, als er sie schon mit seiner freien Hand aufhält und sie willenssicher weiter gegen seine Brust hält.

„Du gibst alles, was man von dir verlangt“, wiederholt er meine Worte von vorhin und sieht mich ernst an. „Dann kannst du das jetzt auch von mir verlangen.“

„Nicht, wenn du dabei sterben könntest“, widerspreche ich schockiert und will meine Hand wieder von seiner Brust ziehen, doch seine Hand liegt weiterhin wohlüberlegt auf meine.

„Dann werde ich wohl schlau genug sein, mein Wort nicht zu brechen“, antwortet er und lächelt frech.

Das ist das erste Mal, dass mich Ashram anlächelt. Als sich seine Mundwinkel nach oben ziehen und sich feine Grübchen auf seinen Wangen bilden, setzt mein Herz für einige Sekunden aus und ich glaube vergessen zu haben, wie man atmet. Der sonst immerzu grübelnde, wütende, angstverbreitende Ashram kann lächeln. Wer hätte das jemals gedacht? Und dabei hat er ein solch schönes Lächeln.

„Ich gebe dir nun mein Wort, dass ich dich nie wieder gegen deinen Willen irgendwohin entführen werde“, spricht er klar und deutlich.

Ich spüre ein Kribbeln unter seiner Brust, genau da wo sich sein Herz befindet. Dieser geht durch meine Hand hindurch, wandert von meinem Arm in meinen Körper, durchfährt mein Herz und schleicht schließlich in Ashrams Hand. So halten die Menschen hier in dieser Welt also ein Versprechen fest. Ein Schauer durchfährt mich wieder, als ich daran denke, dass ich über das Schlagen Ashrams Herzens entscheiden darf, wenn er sein Wort brechen sollte. Ich könnte ihn sterben lassen, oder ihm verzeihen. Eine ungeheuerliche, verantwortungsvolle und gleichzeitig wohlüberlegende Entscheidung, die es dann zu treffen gilt. Könnte ich jemandem jemals auch mein Wort auf diese Weise geben? Bei einem Fehltritt, jemand über mein Schicksal entscheiden zu lassen? Ich weiß es nicht. Jedenfalls beweist seine Tat, dass er mein Wunsch ernst nimmt und mir das nie wieder antun möchte. Seine Geste berührt mich, denn ich hätte niemals damit gerechnet.

Als Ashram seine rechte Hand von meiner Brust nimmt, präge ich mir noch sein Herzschlag unter meinen Fingern ein, ehe ich meine Hand ebenfalls zu mir zurückziehe. Wie in Trance halte ich die rechte Hand in meiner anderen und spüre noch immer die Wärme von Ashram. Wie ein helles Licht durch einen Nebel, kommt mir ein Gedanke durch den Sinn, den ich noch erfragen muss.

„Dein Herz schlägt“, flüstere ich nachdenklich und blicke mit gerunzelter Stirn auf meine Hand. „Wenn du kein Fabel bist und auch kein Mensch, was bist du dann?“

Schluckend blicke ich zu ihm auf und stoße auf eine missbilligende Miene. Sofort erkenne ich, dass ich den lächelnden Ashram verloren habe und der alte, geheimnisvolle und wütende Ashram wieder zurück ist. Seine Augen sind dunkler, sein Mund nach unten gezogen und seine Haltung bedrohlich.

„Das geht dich nichts an“, antwortet er und seine Worte schlagen auf mich ein, wie eine Peitsche. „Ich bin hierhergekommen, um dich für das Kampftraining abzuholen. Nicht, um mit dir ein Pläuschchen zu halten.“

„Ich frage das nicht, um besser mit dir klarzukommen“, schlage ich mit denselben missbilligenden Worten zurück, um seine Ablehnung zu verkraften. „Sondern weil ich versuche, diese Welt besser zu verstehen.“

„Diese Welt können dir auch die anderen erklären“, gibt er nur wegwerfend an und dreht sich entschieden, diese Konversation damit beendet zu haben, um.

Perplex sehe ich ihm zu, wie er mit großen Schritten an der Balkontür ankommt und sie sperrlangenweit öffnet. Dann stellt er sich vor dir Tür, hält sie auf und blickt mich auffordernd an. Ashram Augenbrauen schellen in die Höhe und seine Hände zeigen ungeduldig in das Innere meines Zimmers.

„Die anderen weigern sich mir etwas über dir zu erzählen“, erkläre ich entrüstet und verschränke meine Arme, um ihm zu zeigen, dass ich nicht gehe, ehe er mir antwortet. „Was bleibt mir also übrig, als dich persönlich zu fragen?“

Als Ashram merkt, dass ich mich nicht vom Fleck bewegen werde, verdreht er schnaufend seine Augen. Seufzend und verärgert fährt seine Hand durch seine schwarzen Haare, ehe er mich mit ernstem und durchdringendem Blick ansieht.

„Was ich bin, geht nur mich etwas an“, antwortet er eindrucksvoll, dabei schluckt er schwer.

Anhand seiner Reaktion spüre ich, dass er es bitterernst meint und nicht darüber sprechen möchte. Was auch immer sein Geheimnis ist, er will es für sich behalten. Ich könnte hier angewurzelt alt werden, er würde nicht mit der Sprache rausrücken. Schuldbewusst beiße ich mir auf die Lippen, da ich mit meiner Frage wohl zu persönlich wurde und zu viel verlangt habe. Das Thema muss warten, irgendwann werde ich es erfahren, nur nicht jetzt. Also blicke ich nickend und nachgebend zu Boden und laufe an Ashram vorbei in mein Zimmer. Dort blicke ich sofort zum Bett und finde Vento seelenruhig aufrechtsitzend wieder. Er blickt aufmerksam und mit genauem Blick zu mir, sagt aber nichts. Stumm gebe ich ihm zu verstehen, dass er uns folgen soll. Erst als ich an der Zimmertür ankomme, bemerke ich, dass mir keiner der beiden gefolgt ist. Verwirrt drehe ich mich zu ihnen um und finde Vento ein Meter vor Ashram stehen. Beide blicken sich stumm und ernst an. Da Vento seine Fühler nicht auf Ashram liegen hat, sprechen sie wohl auch nicht miteinander. Kommunizieren sie etwa nur mit Blicken miteinander?

„Vento?“, nenne ich mit lauter und unsicheren Stimme seinen Namen.

Weder Vento noch Ashram blicken zu mir, beide sehen sich immer noch ernst an. Ich weiß nicht, wie ich die Situation deuten soll. Vento sieht nicht böse aus, sein Körper ist nicht angespannt, also wird er Ashram nicht angreifen. Ashram steht hochgewachsen vor ihm und sieht Vento immerhin friedvoller an als mich die meiste Zeit. Als Ashram sich ohne Vorwarnung auf ein Bein niederlässt und sich auf sein linkes Knie anlehnt, staune ich überrascht. Ashram und Vento sind jetzt auf einer Höhe zueinander und blicken sich immer noch nur an. Mehrmals blinzelnd beobachte ich die Situation angespannt und halte mich weiterhin raus. Nach etwa einer Minute schwebt ein senfgelber Fühler von Vento zu Ashram rüber. Vento neigt dabei kein einziges Mal sein Blick ab, sondern beobachtet Ashram aus neugierigen Augen. Als sein Fühler auf Ashrams Knie liegt, weiß ich, dass beide endlich miteinander sprechen. Das ist das erste Mal, dass Ashram mit Vento spricht und ihn gar wahrnimmt. Was sie beide wohl besprechen?

Jedenfalls vergeht eine lange Zeit, bis Vento sich von Ashram löst und dieser wieder aufsteht. Dann laufen beide wortlos zu mir und wirken so, als wäre nichts besonderes passiert. Mir liegen wieder hunderte Fragen auf der Zunge, doch ich weiß, dass keine davon momentan von Vento beantwortet werden, geschweige denn von Ashram. Also öffne ich seufzend die Zimmertür und trete in den Flur hinaus. Schweigsam folgen Vento und ich Ashram den Weg zur Trainingshalle. Während ich innerlich sehr aufgeregt auf das Kommende bin, versuche ich von außen locker zu wirken und achte auf meine Atmung. Ich spüre sorgenvolle Blicke von Vento auf mir, doch ich ignoriere sie und konzentriere mich nur auf mich selbst. Als wir die Treppen zur Trainingshalle hinunterlaufen, finden wir unten angekommen Mehmet bereits mit einem Schwert in der Hand mit Kayla trainieren. Unsere Blicke treffen sich sofort und er sieht schließlich fragend und besorgt von mir zu Ashram. Am liebsten würde ich erst mit Mehmet sprechen, doch ich bin so aufgeregt, dass ich keine Aufruhr verursachen möchte und lieber geduldig abwarte, was gleich passieren wird.

„Du hast dich sicher schon gefragt, wer dich trainieren wird“, höre ich Ashram zu mir sagen.

Erst jetzt merke ich, dass ich verträumt die Schwerter an den Wänden betrachtet habe. Die Geräusche um mich herum hatte ich ausgeblendet, erst als ich seine Stimmer höre, sehe ich aufgeweckt auf.

„Ja, mehrmals“, gebe ich aufgeregt zu.

Nachdem ich Kaylas vernichtenden Blick gesehen habe, stöhne ich innerlich auf und hoffe, dass weder sie noch Ashram mich trainieren werden. Da sie aber bereits hier ist, ist meine Befürchtung groß, dass ich Pech haben werde. Unglücklich und besorgt krallen sich meine Fingernägel in meine Hände rein.

„Wir haben uns das gut überlegt und entschieden, dass Indigo mit seiner Geduld dir den Umgang mit dem Schwert am besten beibringen kann“, erklärt Ashram.

Erleichtert atme ich laut auf und all die Anspannung fällt von mir ab. Ich spüre den belustigen Blick von Mehmet, da er meine Gedanken wohl lesen konnte. In Ashrams Gesicht zuckte nur kurz seine Augenbraue hoch, doch diese hatte er schnell wieder unter Kontrolle.

„Ich habe für heute auch bereits das perfekte Schwert für dich gefunden“, taucht plötzlich die Stimme von Indigo auf.

Ich drehe mich zur Stimme um und finde Indigo unter den Treppen vor. Unter den Treppen befindet sich noch ein kleines Nebenzimmer mit einem großen Tisch darinstehen. Was sich in dem Zimmer genau befindet, konnte ich bisher nicht herausfinden. Sonst habe ich diese Trainingshalle immer vermieden und hatte mich schnell aus dem Staub gemacht. Mit einem Schwert in der Hand läuft der hochgewachsene und gut gebaute Indigo auf uns zu. Mit einem verschmitzten Lächeln legt er das Schwert auf seine Hände und hebt mir diesen hoch, damit ich es besser betrachten kann. Da ich mich nicht besonders mit Schwertern auskenne, lächele ich Indigo nur dankbar an und nicke heftig. Die Klinge ist im Vergleich der anderen Schwerter an den Wänden nicht so lang. Ob das nun gut oder schlecht ist, weiß ich nicht.

„Da du noch nie ein Schwert in der Hand hattest, wird dich dieser nicht überfordern“, erklärt Indigo und lächelt zuversichtlich.

Seine braunen, langen Haare sind hinten in einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Indigo ist zwar fast genauso groß wie Ashram und wirkt ebenfalls gut trainiert, trotzdem kann er mit Ashram nicht standhalten. Nicht, dass das wichtig wäre…

„Es ist hübsch“, antworte ich dankbar und zucke leicht lächelnd mit den Schultern.

Das ist das Einzige was ich zu dem Schwert sagen kann. Indigo wirkt nämlich so, als hätte er sich lange Gedanken drum gemacht und, als wäre es ihm sehr wichtig, dass es mir gefällt. Als er mir das Schwert entgegenstreckt, springen meine Augen sofort auf seinen linken Unterarm. Dieser ist nämlich vollkommen vernarbt und sieht übel geschwollen aus, als hätte er sich vor langer Zeit irgendwo verbrannt und die Wunden wären nicht gut verheilt. Schnell sehe ich zum Schwert, da ich das Gefühl habe, dass er seine Verletzung nicht mit Absicht zeigen wollte. Trotzdem ist mir nicht entfallen, dass sein linker Unterarm heil aussieht. Was wohl geschehen war? Um Indigo nicht zu enttäuschen greife ich mit der rechten Hand nach dem roten Heft und erkenne stumm an, wie gut meine Hand sich daran anpasst.

„Genauso wie die Frau, die es in den Händen hält“, gibt Indio mit einem frechen Grinsen im Gesicht von sich.

Sofort spüre ich, wie mir die Hitze wieder in die Wangen schießt und starre schmunzelnd auf das Schwert. Schüchtern ist Indio jedenfalls nicht, das kann ich schon mal sagen. Das kann heiter werden.

„Du sollst mir ihr trainieren und dich nicht an sie ranmachen“, höre ich Ashram von der Seite unzufrieden schimpfen.

Überrascht blicke ich zu Ashram auf, da seine Reaktion auch anders gedeutet werden konnte. Doch auf seinem Gesicht ist keinerlei Sorge oder Eifersucht zu erkennen, sondern Ernsthaftigkeit und Ungeduld. Ich ärgere mich über mich selbst, dass ich überhaupt eine mögliche Zweideutigkeit darin hören konnte. Also nehme ich mir vor die Nähe auf dem Balkon zu vergessen, bevor ich zu viel darin rein interpretiere.

„Selbstverständlich“, meint Indigo zu Ashram wegwerfend und zwinkert mir gleichzeitig vergnügt zu.

„Ich werde ein paar Mal dazukommen, um zu beobachten, welche Fortschritte sie gemacht hat“, fügt Ashram wachsam hinzu. „Enttäusch mich nicht.“

Schließlich wendet Ashram sich zu Mehmet, welcher immer noch neben der einschüchternden Kayla steht.

„Da das Mädchen nur alles mit dir zusammen machen möchte, entschieden wir uns, dass Kayla dich trainieren wird. Bist du damit einverstanden?“, fragt Ashram ihn.

Erst jetzt wird mir bewusst, dass Ashram mich noch nie bei meinem Namen genannt hat. Weiß er denn nicht, wie ich heiße? Verärgert plustere ich meine Wangen auf und stelle für mich fest, dass er es einfach nicht für wichtig hält, mich Solveig zu nennen. Vermutlich ist er zu stolz dafür eine Frau ernst zu nehmen. Augen verdrehend löse ich mich von Ashrams Seite und laufe zu Indigo hinüber.

„Sicher“, antwortet Mehmet klar und nickt.

„Gut, dann viel Erfolg“, höre ich Ashram noch hinter meinem Rücken sagen.

Ich drehe mich mit Absicht nicht zu Ashram um und blicke gewappnet zu Indigo. Schwer schluckend halte ich das Schwert in meiner Hand und versuche mich an das Gefühl zu gewöhnen, eine Waffe in der Hand zu halten. Das zuversichtliche, freundliche Lächeln von Indigo heitert mich auf und gibt mir die Hoffnung, dass ich es schaffen kann. Vielleicht werde ich nicht allen Erwartungen hier gerecht, aber ich werde das beste versuchen!

 

MEHMET

 

Es sind bereits drei Monde vergangen. Jeden Morgen erhielten Solveig und ich das Training von Bahar, das von Tag zu Tag anstrengender wurde. Bahar hat das Talent, mit ihrer guten Laune und Motivation mehr aus uns herauszuholen, als wir ursprünglich bereit waren zu geben. Ich lernte eine verbissene Ausdauer an mir kennen, dass ich mir zuvor nicht vorstellen konnte. Schließlich motivierten Solveig und ich uns gegenseitig, indem niemand zu leicht aufgab und wir solange mit Bahar mithielten, bis einer tatsächlich nicht mehr konnte. Die erste Nacht war die schlimmste, da jeder Muskel sich durch die kleinste Bewegung schmerzvoll meldete. Langsam gewöhne ich mich jedoch an das Ziehen und habe akzeptiert, dass das Training mit Bahar wichtig ist.

Denn gerade im Kampftraining beweist sich die Wichtigkeit der Ausdauerübungen. Kayla treibt mich schier in den Wahnsinn, da sie viel verbissener in ihrem Training hantiert als Bahar. Pausen sind für Kayla etwas für Schwächlinge, damit hatte sie mir bereits das erste Kampftraining zur Hölle gemacht. Für kurze Zeit fühlt sich ein Schwert nicht schwer an, doch hält man es fast den ganzen Abend in einer Hand und muss damit kämpfen, fällt der Arm nach dem Training gefühlt ab. Es bleibt nie Zeit, ein Blick auf Solveig und Indigo zu werfen, da Kayla mir mit ihrem Schwert jederzeit in den Rücken stechen könnte. Also liegt meine ganze Konzentration auf Kayla, um nicht nur etwas über die Schwertkunst zu lernen, sondern auch um zu überleben.

„Du bist zu langsam“, kommentiert Kayla missgelaunt. „Ich hätte dich schon dreimal schneiden können.“

Wieder mal befinden wir uns in der Trainingshalle. Kayla griff zu Beginn sofort nach den Schwertern und schwört auf das praktische Training. Dahingegen hörte ich von der Seite oftmals Indigo Solveig erklären, welche Technik wann angewendet werden sollte und, wo sie den Gegner am schmerzhaftesten trifft. Solveig und Indigo haben noch kein einziges Mal mit einem Schwert gegeneinander gekämpft. Zwar hielten beide mal ein Schwert in der Hand und standen sich gegenüber, doch nur um die Schritte und die Haltung zum Angreifen zu lernen. Manchmal, so wie heute, verbringen sie Zeit in dem kleinen Zimmer unterhalb der Treppen. Über was sie sprechen, kann ich zwar nicht hören, doch ich konnte nach einem kurzen Seitenblick erkennen, dass Indigo ihr auf dem Tisch etwas aufzeichnet und erklärt. Wieso kann mein Kampftraining nicht auch so friedlich erfolgen?

„Das liegt daran, dass meine Arme eine Pause benötigen“, antworte ich zischend.

„Im Krieg gibt es keine Pausen“, entgegnet sie trocken.

Erschöpft lasse ich das Schwert sinken und seufze laut auf. Kayla umringt mich wie ein hungriges Tier und wirkt ungeduldig. Da sie einen schmalen Körper besitzt, berührt sie leichtfüßig den Boden und wirkt wie eine Katze. Regt sie etwas auf, faucht sie regelrecht. Kurz bevor sie ihr Schwert zuckt, geht sie ebenfalls in die Hocke, hebt ihre Schultern hoch und blickt aufmerksam umher wie eine Katze. Ihr entgeht nichts, als hätte sie einen fünften Sinn. Schließlich kann sie sich ihrem Gegner mühelos und unauffällig nähern, da ihre Füße wie leichte Tatzen hantieren und kaum zu hören sind.

„Wie gut, dass wir uns noch in keinem Krieg befinden“, meine ich außer Atem.

„Pah ihr Menschen“, stoßt Kayla angewidert aus. „Wieso seid ihr so schwach und immerzu am Jammern?“

Es ist nicht das erste Mal, dass Kayla mir ihre Abneigung gegen Menschen zeigt. Immer, wenn meine Leistung nach einer gewissen Zeit nachlässt und ich das Pausenwort fallen lasse, fängt ihre Antipathie-Leier gegen Menschen an.

„Vielleicht liegt es ja daran, dass wir am Leben sind und keine unendliche Energie besitzen, wie ihr Vampire.“

Seit Tagen liegen bösartige Sätze und Worte gegen Kayla auf meiner Zunge, doch habe ich mich immer eines Besseren besinnt und mich zurückgehalten. Heute halte ich ihre Missgunst gegen meine Art jedoch nicht mehr aus und habe genug von dem Foltertraining.

„Typisch, dass ihr schwachen Menschen glaubt, dass uns Vampiren die Kraft in die Hände gefallen ist“, sagt Kayla nun abfällig und stellt sich mit verschränkten Armen vor mich.

Ihre großen Augen mustern mich abschätzig und ihre Lippen sind gekräuselt. Sie wirkt vom Training gar nicht erschöpft, während ich voll geschwitzt und schwer atmend vor ihr stehe. Ich bin für jede Sekunde dankbar, in der wir nicht kämpfen, ich nach Luft schnappen und meine Arme runter baumeln lassen kann.

„Es ist doch kein Geheimnis, dass ihr dank dem Vampirgift jene Menge Stärke und Energie erlangt habt“, meine ich schulterzuckend und versuche die Sekunden in die Länge zu ziehen.

Als sie plötzlich zurückschreckt und ihre bissige Miene verschwindet, muss selbst ich stutzen. Habe ich etwas Falsches gesagt? Denn sie wirkt, als hätte ich ihr ins Gesicht geschlagen.

„Dank dem Vampirgift“, wiederholt sie die Worte benommen und ihr Blick schweift zu Boden.

Ich stehe unsicher vor ihr und weiß nicht, was ich denken oder, wie ich reagieren soll. Da sie ihr Kopf tief gesenkt hält, kann ich ihr Gesicht nicht mehr sehen. Mir ist klar, dass ich sie mit den Worten gekränkt habe, doch ich verstehe nicht inwiefern. Als ihre Schultern zu beben beginnen, befürchte ich, dass ich sie zum Weinen gebracht habe. Noch bevor ich schockiert tröstend meine Hand auf ihre Schulter legen kann, beginnt sie aus heiterem Himmel schallendlaut zu lachen.

„Dank dem Vampirgift“, lacht sie laut und betont das erste Wort.

Noch nie hat mich eine Situation so überfordert, wie diese. Kayla ist keine gewöhnliche Frau, das war mir von Vornherein klar. Davon abgesehen, dass sie eine Vampirin ist und ihr überaus attraktives Aussehen sie von den gewöhnlichen, menschlichen Frauen unterscheidet, ist da noch mehr. Ihr Charakter ist nämlich verschlossen, abweisend und kühl. Ein Lächeln habe ich bisher nur einmal an ihr gesehen, als wir uns das erste Mal über Schwerter unterhalten haben, danach nie wieder. Sie gibt kaum etwas über sich preis und ist kein offenes Buch, wie die meisten Frauen aus meinem Dorf. Vermutlich würde sie auch nie vor meinen Augen weinen. Wie dumm von mir, gedacht zu haben, Kayla könnte emotional werden. Wobei sie nun auch eine Art von Emotion zeigt, zwar in Richtung von Hysterie, dennoch ein Zeichen von Leben.

„Deinen Worten nach zu urteilen, klingt das Vampirgift nach einem Geschenk“, zischt sie mich an, als sie sich beruhigt hat.

Kaylas Lippen sind nun zu einem dünnen Strich gezogen. Ihre Nasenflügel sind aufgebläht und sie atmet schwer, worauf ich deuten kann, dass sie wütend auf mich sein muss. Bei dieser Erkenntnis muss ich schwer schlucken. Es ist nie gut, Vampire zu verärgern. Jedenfalls wurde uns das als wir klein waren mehrmals eingetrichtert. Vampire sind so viel stärker und schneller als Menschen. Neben der Gefahr, dass sie uns Menschen innerhalb weniger Sekunden blutleer trinken können, ist es für sie ein leichtes, uns mit einem Klaps das Genick zu brechen.

„Es ist sicherlich keine Bestrafung“, meine ich unsicher und muss mit den Schultern zucken.

Es gibt nicht so viele Vampire, wie Menschen auf der Welt. Das liegt daran, dass die Fortpflanzung derer geringer ist. Ein Vampir wird man schließlich nicht durch einen Biss. Ein Vampirbiss kann man nicht mit einem Werwolfsbiss vergleichen, welchen einen Menschen verwandeln kann. Man kann nur als Vampir geboren werden und auch nur, durch menschliche Frauen, dessen Organe lebendig sind. Eine Vampirin ist unfruchtbar und kann keine Kinder bekommen, heißt, dass nur männliche Vampire zur Fortpflanzung beitragen können. Aus diesem Grund gibt es auch nicht viele Vampire auf der Welt und die Anzahl wird von Jahr zu Jahr geringer. Schließlich sterben viele Vampire täglich aufgrund der Werwölfe und es bietet sich immer weniger Chancen für männliche Vampire sich fortzupflanzen.

Ein Vampir zu sein, bringt viele Vorteile. Man ist zum Beispiel schnell, sehr stark, attraktiv und lebt lange. Warum sollte das Vampirgift also kein Geschenk sein? Der einzige Nachteil wäre wohl die Gier nach Blut, doch das scheinen die Vampirgeschwister gut unter Kontrolle zu haben.

„Glaubst du, ich wollte eine Vampirin sein?“, fragt sie und blickt mich mit gerunzelter Stirn an.

Ich muss tief einatmen, ehe ich Kayla entschlossen anblicke. Ihr Blick strahlt Unsicherheit und Schock aus, doch ich werde sie nicht belügen, egal, ob ihr meine Antwort gefallen wird oder nicht.

„Du scheinst es vielleicht nicht nachvollziehen zu können“, erkläre ich, aber gehe mit Absicht nicht auf ihre Frage ein. „Aber wir Menschen haben viel mehr Hürden und Gefahren in unserem kurzen Leben, als ihr Vampire euch vorstellen könnt, weswegen aus unseren Augen das Vampirgift einige Vorzüge mit sich bringt.“

Ich kenne Kayla viel zu wenig, um urteilen zu können, wie sie mit ihrer Rolle als Vampirin umgeht. Wie soll ich wissen, ob es sie stolz macht oder sie quält, Vampirin zu sein, wenn ich nur allgemeine Vorteile darin sehe?

„Nenn mir einen Vorzug“, verlangt sie nun, stellt sich zum Angriff bereit in die Hocke und richtet ihr Schwert auf mich.

Das ist ihr Stichwort darauf, dass es mit dem Training weiter geht. Meine Muskeln pochen schmerzhaft, als ich das Schwert ebenfalls in die Höhe hebe und es gegen sie richte. Immerhin hatte ich eine kurze Verschnaufpause.

„Ihr seid überaus stark“, argumentiere ich und beginne mit dem Kampf.

Mit einem Schritt schnelle ich zur Seite, um sie abzulenken und greife sie schließlich aus dem Nichts an. Kayla wendet den Angriff ahnend und wütend ab, indem sie mit beiden Händen den Heft ihres Schwertes umfasst und ihre Klinge gegen mein Schwert schlägt.

„Bloß ein Gerücht von euch neidvollen Menschen“, entgegnet sie und blickt mich besserwisserisch an. „Wir sind nur so stark, weil wir hart trainieren. Ihr könntet euch mal etwas von unserem Ehrgeiz abschauen.“

Irritiert blicke ich sie an und muss die Information erst verinnerlichen. Kann das wirklich sein, sagt sie die Wahrheit? Vampire sind nur so stark, weil sie hart trainieren? Dann haben wir uns Menschen das nur ausgedacht, weil wir womöglich auf ihre Art eifersüchtig waren? Kayla ist keine Person, die lügen würde, so habe ich sie die letzten Tage jedenfalls kennenglernt. Sie gibt sich keine Mühe Dinge gut zu reden oder etwas zu verheimlichen, sondern spricht die Dinge unbekümmert offen aus. Wieso sollte sie also deswegen lügen?

„Wie lange trainierst du schon?“, frage ich und runzele die Stirn.

Kayla erhebt wieder ihr Schwert, wartet dieses Mal jedoch nicht auf mich, sondern eilt mit schnellen Schritten auf mich zu. Perplex springe ich zur Seite und unsere Schwerter prallen gegeneinander ab. Während sie immer wieder versucht eine ungeschützte Stelle zu treffen, verteidige ich mich. Es bleibt keine Zeit für mich gegen sie zu schlagen, da ich mit meiner Verteidigung beschäftigt bin. Nach einigen Sekunde zische ich genervt auf und schlage mit einer wütenden Wucht gegen ihr Schwert, das daraufhin von mir ablässt und zu Boden sinkt.

„Seit ich ein kleines Mädchen bin“, antwortet sie, ihre Mundwinkel verziehen sich nach unten und sie sieht verbittert aus.  

Da ich sie daraufhin fragend, aber stumm anblicke, liest sie meine nächste naheliegende Frage von meinem Gesicht ab.

„Das müssen etwa hundert Jahre her sein“, fügt sie hinzu und geht meinen Blicken aus.

Kayla wirkt unglücklich über ihre Antworten und sieht mir mit Absicht nicht in die Augen. Als würde sich alles in ihr sträuben, mir einen Anflug von Schmerz oder Trauer zu zeigen. Ich gehe mit Absicht nicht auf ihre Gefühle ein und ignoriere ihre Stimmungsschwankung, da sie sowieso nicht mit mir darüber sprechen würde.

„Da nennst du schon den nächsten Vorteil eurer Art“, meine ich aufbauend. „Ihr habt ein unendlich langes Leben vor euch.“

Nun sieht sie interessiert hoch. Ihr Blick deutet alles auf Missverständnis und Unglauben hin. Ihre Augen blicken mich entgeistert an und sie blinzelt mehrfach, als müsse sie meinen Satz noch einmal im Kopf wiederholen, um es zu verstehen.

„Das nennst du ein Vorteil?“, fragt sie und schüttelt ungläubig den Kopf.

Da ich daraufhin schweige und sie schulterzuckend anblicke, schüttelt sie weiterhin den Kopf, ehe sie leise zu Lachen beginnt.

„Es scheint, als wolle man immer das, was man nicht haben kann.“

Mit diesen Worten beendet Kayla das Kampftraining für heute, legt ihr Schwert zur Seite und verlässt den Trainingsraum, ohne noch einmal zu mir zu sehen, oder sich zu verabschieden. Es scheint, als wären ihre letzten Worte eine klares Schlussplädoyer gewesen. Ich bleibe verdattert zurück und sehe noch ein leichtes Lächeln auf Kaylas Lippen, ehe sie verschwindet. Dieses Lächeln breitet eine Gänsehaut in mir aus, da ihre letzten Worte sofort in mein Kopf widerhallen. Nach einiger Zeit muss ich ihr Recht geben und verstehe nun, warum sie gelächelt hat. Würde sie mir die Vorteile aufzählen, ein Mensch zu sein, würde ich vermutlich auch ungläubig lächeln. Denn mir fallen keine ein.

 

Kapitel 9

Es gibt kein Zurück, nur die Sehnsucht danach.

 

Lisz Hirn (*1984), österreichische Philosophin und Künstlerin

 

SOLVEIG

 

Meine Finger gleiten verträumt durch sein dicht stehendes, senffarbenes Fell und können nicht genug von dem seidigen Gefühl haben. Vor allem seine lange Mähne bereitet mir ein beruhigendes Gefühl. Vento und ich sitzen seit geraumer Zeit an unserer Lieblingsstelle und blicken dem Farbschauspiel des Sonnenuntergangs entgegen. Während ich im Schneidersitz dasitze, liegt Ventos Kopf auf meinem Schoß. Ab und zu frage ich ihn in Gedanken versunken etwas aus dieser Welt und er stellt eine Gegenfrage. Vento kann sich meine Welt nur schwer vorstellen, obwohl ich schon öfter versucht habe, sie ihm zu erklären. Für ihn scheint es schwer daran zu glauben, dass wir in Großteilen meiner Welt in Demokratie und Gleichberechtigung leben. Er will wissen, wie wir Menschen gekleidet sind, wie unser Tagesablauf aussieht und am aller liebsten fragt er nach den Tieren in unserer Welt. Die Tatsache, dass die Tiere in unserer Welt nicht sprechen können, machte Vento sprachlos und bekümmerte ihn regelrecht.

Neben den Gesprächen genieße ich aber größtenteils die Ruhe und atme die süße, frische Luft begierig ein. In den letzten Tagen habe ich viel mit Bahar und Indigo trainiert. Der Sport machte mit anfangs sehr zu schaffen, doch langsam gewöhne ich mich an den Rhythmus und steigere jeden Tag die Anzahl an Übungen. Wäre Bahar nicht an unserer Seite, hätte ich vermutlich schon nach dem zweiten Tag aufgehört mit dem Zirkus, doch sie motiviert und redet lange auf einen ein, bis man sich lieber dem Sport widmet als den Diskussionen mit ihr. Denn eine Diskussion mit Bahar, die mit ihrem zarten, scheinheiligen Engelsgesicht und warmherzigen Lächeln auf einen einredet, hat man schnell verloren. Allein der Gedanke, ich könnte sie mit meinen Worten verletzen oder sie enttäuschen, versetzt mir ein Stich im Herzen. Dafür ist sie eine zu herzensgute Person.

Nach dem Sport folgt dann das Kampftraining mit Indigo. Meiner Meinung nach drückt Indigo bei mir im Umgang mit dem Schwert ein Auge zu, denn bisher hatten wir nur viel Theoretisches besprochen, und das Gesagte nie in die Praxis umgewandelt. Entweder ist das tatsächlich seine Strategie mir etwas beizubringen, oder er zweifelt daran, dass ich es emotional aushalte ein Schwert zwischen meinen Händen zu halten. Ich befürchte eher es ist das Letztere. Eigentlich sollte ich mit Indigos Lehrweise überglücklich sein, doch ein Gedanke bekümmert und macht mich nervös. Was, wenn Ashram mal dazukommt und sehen möchte, welche Fortschritte ich gemacht habe? Sicher, ich könnte ihm stundenlang erzählen, wie ein Schwert in der Hand gehalten werden sollte und, welche Angriffstechniken es gibt. Doch ich könnte sie vermutlich gar nicht anwenden.

Kaum taucht der Name Ashram in meinem Kopf auf, werde ich ihn auch nicht mehr los. Ich habe ihn seit Tagen weder gesehen noch etwas von ihm gehört. Keine Ahnung, ob er überhaupt im Schloss ist. Indigo und Bahar haben ihn jedenfalls mit keinem Wort erwähnt und ich wollte auch nicht nachfragen. Der Tag, an dem er auf meinem Balkon stand und meine Hände in seinen hielt, um eine davon auf seine Brust zu legen, kommt mir vor, als wäre es Wochen her. Das war das erste Mal, dass ich ihn lächeln gesehen hatte. Es war das erste Mal, dass ich in seiner Anwesenheit für ein paar Minuten keine Angst vor ihn hatte. Und es war das erste Mal, dass er mit Vento gesprochen hatte. Bei dem Gedanken blicke ich auf meinen kleinen Freund runter.

„Sag mal“, beginne ich nachdenklich. „Über was hast du und Ashram letztes Mal eigentlich gesprochen? Als er unangekündigt in unserem Zimmer erschien und uns für das Kampftraining abholen wollte.“

Seine schwarzen Knopfaugen richten sich sofort auf und blicken mich überrascht an. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich ihn nach den vergangenen Tagen noch darauf ansprechen würde.

„Wir haben nicht miteinander gesprochen“, meint er kurzangebunden und schließt wieder seine Augen, als wäre das Thema beendet.

„Wie meinst du das?“, frage ich und runzele dir Stirn, denn ich bin noch lange nicht fertig. „Er hat sich zu dir runtergekniet und du hast dein Fühler auf ihn gelegt, um mit ihm zu reden.“

„Das stimmt, aber wir haben nicht miteinander gesprochen.“

„Das verstehe ich nicht“, stutze ich ungeduldig. „Dann habt ihr euch also nur angestarrt?“

Ich liebe Vento, doch manchmal spricht er in Rätsel. Egal, über was wir reden, seine Sätze sind so kurz, wie möglich und so wenig mit Adjektiven beschmückt, dass er manchmal danach wirkt, als wolle er nicht viel sagen. Seine Gefühle müssen zwischen den Zeilen und seine Meinung in seinen Augen gelesen werden. Vento ist geheimnisvoll und ich kenne noch lange nicht all seine Seiten, trotzdem weiß ich, dass er mich nie belügen oder hintergehen würde.

„Wieso interessiert dich das?“, fragt er und wieder blicken seine Knopfaugen mich an, als würde er durch mich hindurchsehen.

Während Vento ein reines Rätsel für mich ist, kommt es mir vor, als wäre ich ein offenes Buch für ihn. Immer wenn er mich ansieht, habe ich das Gefühl, er wüsste genau was ich denke oder fühle, ohne dass ich ihn in meine Gedanken reinlasse. Denn das habe ich mittlerweile gelernt. Binnen kurzer Zeit konnte ich meine Gedanken vor ihn bewahren, so ähnlich, als könnte ich die Tür zu meinem Kopf schließen und nach Belieben öffnen. Ich habe zwar keine Geheimnisse vor Vento, trotzdem wünsche ich mir manche Gedanken für mich selbst behalten zu können. Das hindert ihn dennoch nicht zu erkennen, wenn ich etwas nicht so meine, wie ich eigentlich fühle. Vento hat ein Gespür dafür, wann ich meine wahren Emotionen verdränge und Dinge schöner rede, als sie sind und dafür braucht er gar nicht meine Gedanken zu lesen. Wenn er mich dabei erwischt, reden wir oft darüber und er lehrt mich die Dinge so zu sehen, wie sie sind und nicht zu ignorieren oder zu verschönern. Ich kann mit ihm über alles reden, aber bloß nicht über Ashram!

„Reine Neugierde“, sage ich schulterzuckend und versuche unschuldig auszusehen. „Außerdem hat keiner von euch beiden danach ein Wort gesagt, das fand ich seltsam.“

Er blickt mich lange mit aufmerksamen Augen an, ehe er sein Kopf wieder auf meinen Schoß legt und seine Augen schließt. Ich weiß sofort, dass er eine Erkenntnis gewonnen hat und kurz befürchte ich, dass er mich damit an den Pranger stellen wird.

Wir haben uns nicht nur angesehen“, beantwortet Vento schließlich meine Frage von vorhin. „Ich habe ihm Bilder aus meinem Gedächtnis gezeigt.

„Hm?“, sage ich nur und bin erleichtert, dass er mir keine Fragen wegen meiner Neugier stellt.

Bilder von dir.

Es bleibt einige Minuten still, da ich geduldig darauf warte, bis Vento weiterspricht. Natürlich gehen mir hundert Fragen durch den Kopf, wie zum Beispiel, warum Vento Ashram ausgerechnet Bilder von mir gezeigt hat? Welchen Grund könnte er dafür haben? Was wollte er damit erreichen? Und welche Bilder hat er ihm gezeigt?

Ich habe Ashram das erste gezeigt, was ich gesehen habe, als ich aus dem Ei geschlüpft bin. Dann zeigte ich ihm die freudigen Gesichter seiner Freunde, als sie mich kennenlernten. Schließlich dein Blick, als er die Treppe der Trainingshalle herunterkam und dich mit sich auf den Turm zog. Und zuletzt deine leeren Augen, am Tag nach dem Schreckensdorf.

„Wieso?“, frage ich nach mehren Minuten verwirrt und mit brüchiger Stimme.

Du bist mein Leben, der Grund wieso ich hier bin. Wenn du lachst, bin ich glücklich. Wenn du nörgelst, bringst du mich zum Lachen. Und wenn du weinst, bin ich verzweifelt und machtlos. Wenn er dir weh tut, erwischt es mich gleichzeitig, das habe ich ihm zeigen wollen. Wir beide sind für den Weltfrieden von Nöten, darum sollte er mehr Acht auf dich geben, sodass wir ihnen nicht zusammen den Rücken kehren werden.

„Das würdest du tun?“, frage ich und schlucke schwer. „Mit mir von hier verschwinden?“  

Ich würde alles für dich tun.“

Sein Satz breitet eine Gänsehaut bei mir aus und echot in meinem Kopf hin und her. Vor allem das Wort „alles“ macht mich sprachlos. Ich verbinde mit dem Wort das extremste, was ich mir zu vorstellen vermag. Wenn er schon zugibt, mit mir alle zu verlassen, die ihre Friedenshoffnung in uns stecken, dann meint er wohl auch, dass er für mich sterben würde. Denn das würde ich mit dem Wort „alles“ verstehen. Doch die wichtigere Frage ist, will ich denn, dass er alles für mich tut? Die Angst, er würde für mich sterben, schnürt meine Kehle zu. Wie kann das kleine Wesen, das erst kürzlich das Weltlicht erblickt hat, bereit sein für mich alles aufzugeben oder sich gar für mich zu opfern?

Seine Liebe zu mir berührt mich und ich wünschte, ich könnte denselben Satz zu ihm sagen. Doch es kommt nicht über meine Lippen, ich bin noch nicht bereit dafür. Ich weiß, dass ich ihn ungeheuerlich gernhabe, doch gleichzeitig versuche ich mich von dem Gedanken fernzuhalten. Denn wie lange werde ich noch hier sein? Ich bin doch nur Gast in dieser Welt und gehöre woanders hin. Mal davon abgesehen, würde ich wohl sofort wieder in meine Welt zurückkehren, wenn ich die Möglichkeit dazu hätte. Was wird dann aus Vento? Die Trennung bereitet mir jetzt schon ein Stich im Herzen. Wie werde ich also damit umgehen, wenn ich mir meine Liebe zu ihm eingestehe und die Welt verlasse? Es würde mich wohl zerreißen und das Gefühl möchte ich nicht noch einmal erleben. Ich habe schon einmal Personen verloren, die ich über alles geliebt habe. Das werde ich nicht erneut ertragen können.

„Welch schöne Farben der Sonnenuntergang hat, nicht wahr?“

Mein Herz setzt für einigen Sekunden aus, panisch blicke ich mich um. Die Stimme ist mir fremd, niemand im Schloss hat dieselbe Klangfarbe. Während ich umherblicke, wie ein aufgeschrecktes Huhn, hat sich Vento in sekundenschnelle auf seine vier Beine gestellt, den Rücken gekrümmt und die Zähne gefletscht. Mit schockiert, geöffnetem Mund blicke ich immer noch umher und verstehe nicht, woher die Stimme herkommt. Denn ich könnte schwören, dass sie direkt neben mir ertönte, doch es ist niemand zu sehen.

„Wer spricht hier?“, frage ich aufgeregt und versuche eine ernste Miene aufzusetzen.

Mein Kopf ist wie leergefegt, als ich versuche mich an die gelernte Verteidigungskünste von Indigo zu erinnern. Auch wenn diese Verteidigungen ein Schwert beinhalten, würde es nicht schaden, sie mit Fäusten anzuwenden. Doch ich spüre nur die Gefahr und mein viel zu schnell schlagendes Herz. Als ich merke, dass Vento sich nicht mehr umherblickt, sondern die Luft vor sich gefährlich anknurrt, sehe ich mit gerunzelter Stirn zu ihm.

„Siehst du jemand?“, frage ich ihn telepathisch.

Sieh genau hin“, höre ich seine bedrohliche Stimme.

Krampfhaft versuche ich jemand vor Vento zu erkennen und muss mehrmals mit den Augen blinzeln, um mich auf einen Fleck in der Luft zu konzentrieren. Dann erkenne ich auf einmal eine Unebene, wenige Meter vor Vento. Als würde das Bild dort etwas verschwommener sein.

„Ihr scheint eindeutig die Kriegerin und das Wesen aus der Legende zu sein, sonst könntet ihr mich nicht erkennen“, ertönt die männliche Stimme wieder.

Plötzlich wird von der Gestalt immer mehr sichtbar. Um meine Angst und Unsicherheit zu kaschieren, bilden sich meine Hände zu Fäusten und meine Lippen pressen sich aufeinander. Zuerst sind nur die Konturen einer Person zu erkennen, die etwas größer ist als ich. Dann wird mehr sichtbar. Ein langer, bis zum Boden hängender bunter Stickumhang mit unterschiedlichen Mustern, langen Ärmel und zugeknöpft bis zum Hals. Die Hände schrumpelig, wie die eines alten Mannes, lange, spitze Fingernägel. Schließlich wird auch der Kopf des Mannes sichtbar. Er besitzt lange, graue Haare, sowie einen langen, grauen Bart, das ihm bis zum Bauch reicht. Seine Augenbrauen sind ebenfalls gräulich und stehen wüst umher. Lippen scheint er keine zu haben, jedenfalls sind sie so dünn, dass man sie nicht sehen kann, oder sie sind durch den Bart bedeckt. Seine Wangenknochen stehen stark hervor, doch es scheint, als liege dies daran, dass er so mager ist. Seine Augen stehen im totalen Kontrast zu seinem dünnen, krankhaften, alten Körper. Diese sind nämlich hellwach, aufmerksam und wachsam. Der alte Mann besitzt eine warme, braune Augenfarbe und dichte Wimpern. Es scheint, als würden die Augen nicht zum Rest seines Körpers passen.

„Wer sind Sie?“, schaffe ich endlich zu sagen und lasse ihn nicht aus meinen Augen.

Vento hat sich ebenfalls nicht vom Fleck bewegt, sein Fell am Rücken steht immer noch ab, wie die einer verschreckten, bösen Katze. Mir wird klar, dass Vento und ich uns vermutlich in Gefahr befinden. Keiner weiß, dass der Mann hier bei uns ist. Ashram hätte nie zugelassen, dass uns jemand nähert, aus Angst wir könnten für den Krieg verloren gehen. Wer ist dieser Mann also? Ist er denn ein Mensch? Nein, er konnte sich unsichtbar machen. Also ein Fabel?

„Du muss gehen und Hilfe suchen“, sage ich in Gedanken zu Vento.

Und dich mit ihm zurücklassen?“, fragt er sofort schockiert. „Niemals.

„Wenn wir beide hierbleiben, verlieren wir Zeit und er könnte uns gefährlich werden“, erkläre ich gefasst und blicke den alten Mann immer noch fragend entgegen. „Du musst gehen, denn du bist viel schneller als ich.“

Ich bleibe und beschütze dich“, antwortet er stur.

„Und ich dachte Ältere sind immer schlauer als die Jüngeren“, kritisiere ich ihn aufgebracht, werde böse und ungeduldig. „Du hast noch lange nicht die Kraft, von der alle hier sprechen. Wer weiß, wie stark der Alte vor uns ist. Also hör auf uns in Gefahr zu bringen und geh Hilfe holen.“

Das scheint sich Vento nicht zweimal sagen zu lassen. Ehe er sich aus seiner Starre befreit, schnaubt er verärgert und blickt gefasst in den Himmel. Meine Augen liegen unablässig auf dem alten Mann, weswegen ich nur von der Seite erkenne, dass Vento wieder seine Gestalt ändert. Unter anderen Umständen hätte ich Vento erstaunt hinterhergesehen, als er in Gestalt eines dunkelvioletten Vogels den Mauern des Schlosses hochfliegt. Durch seine Farbauswahl gleicht er fast dem Himmel, weswegen er geschützt wegfliegen kann. Der alte Mann versucht mit blinzelnden Augen Vento in der Luft zu verfolgen, doch seine gerunzelte Stirn lässt darauf hindeuten, dass er ihn verloren hat.

„Das wäre wirklich nicht nötig gewesen“, spricht der alte Mann seufzend und blickt mich kopfschüttelnd an.

„Wer sind Sie?“, wiederhole ich meine Frage von vorhin.

Mein Gesicht fühlt sich langsam verkrampft an. Seit mehreren Minuten hält sich meine ernste Miene, mit zugezogenen Augenbrauen und den Lippen, die aufeinandergepresst sind.

„Wie hast du dich hier eingelebt, Solveig?“, fragt er, setzt ein ausgelassenes, freundliches Gesicht auf und ignoriert meine Frage.

„Woher kennen Sie meinen Namen?“, frage ich wie aus der Pistole geschossen und wünschte, Vento wäre doch wieder hier.

„Der hat sich seit deiner Ankunft hier schnell herumgesprochen“, antwortet er. „Wie gefällt dir diese Welt?“

Ich merke wie mein ernstes Gesicht verloren geht und ich sprachlos werde. Hat sich das etwa ebenfalls herumgesprochen? Dass ich aus einer anderen Welt komme? Mein Bauchgefühl sagt mir, dass der alte Mann alles weiß, obwohl ihm keiner davon erzählt hat. Irgendwas an ihm ist gefährlich und ich hege den großen Verdacht, dass er sehr stark ist. Gleichzeitig bin ich mir sicher, dass er nicht hier ist, um mir etwas anzutun. Doch das ist nur ein Bauchgefühl…

„Sie wissen, woher ich ursprünglich herkomme?“, frage ich unsicher und runzele die Stirn.

„Ich bin der Einzige hier, der weiß, aus welcher Welt du tatsächlich stammst“, antwortet er selbstsicher.

„Dann sind Sie dafür verantwortlich, dass ich hier bin?“, frage ich und merke, wie meine Stimme vor Anspannung zittern.

„Nein“, antwortet er sofort und schüttelt kräftig mit dem Kopf. „Ich bin kein Freund vom Schicksal und habe nichts damit zu tun, dass du in unsere Welt eintreten durftest.“

Mir schwirren von einer Sekunde zur nächsten hunderte Frage durch den Kopf und ich kann mich nicht entscheiden, welche ich zuerst stellen soll. Die Verunsicherung und Aufregung machen mich sprachlos und ich wünschte, er würde von selbst erzählen, wer er ist und was er alles weiß.

„Woher wissen Sie das dann alles? Wer sind Sie?“, höre ich meine verzweifelte Stimme.

„Mein Name ist Garun“, stellt er sich vor. „Ich bin ein alter Freund von Ashram.“

Kurz spüre ich die Anspannung von meinen Schultern fallen und atme erleichtert aus. Wenn er ein Freund von Ashram ist, wird er mir auch nichts antun. Dennoch…

„Wieso haben Sie uns dann unsichtbar überrascht und uns in Schrecken versetzt, wenn sie uns auch als Freund von Ashram im Schloss besuchen hätten können?“, zweifle ich und runzele wieder meine Stirn.

„Ich sagte, ich bin ein alter Freund“, wiederholt er bedacht und blickt mich belehrend an. „Nicht, dass wir aktuell noch befreundet sind.“

„Wollten Sie uns aus dem Hinterhalt angreifen?“, frage ich ernst und verärgert.

Was auch immer der alte Mann vor hat, ich muss versuchen die Zeit zu schinden. Vento wird bereits jemand gerufen haben und sie sind auf dem Weg zu mir.

„Das würde ich niemals tun“, antwortet er beleidigt. „Ich war unsichtbar, weil ich seit geraumer Zeit nicht mehr willkommen bin auf Ashrams Schloss.“

„Was haben Sie denn verbrochen, dass Ashram Sie hier nicht mehr sehen möchte?“, frage ich herausfordernd, da ich mir immer noch nicht sicher bin, ob der alte Mann eine Gefahr ist oder nicht.

„Ich habe mein Versprechen gebrochen“, gibt er zögerlich zu und blickt zu Boden.

Meine nächste Frage liegt mir schon auf der Zunge, doch ich halte mich augenblicklich zurück, da ich Garun bereits mit Fragen durchlöchert habe und die letzte ihm wohl nicht gutgetan hat. Was auch immer zwischen Ashram und Garun vorgefallen sein mag, Garun scheint sein Fehler zu bedauern, da er auf die Frage hin schwächer und älter wirkt, als seine Augen davor preisgaben. Zu Beginn hatte ich den Verdacht, dass das nicht der Körper des Mannes sein konnte, da seine Augen jung und aufgeweckt wirkten, im totalen Widerspruch zu seiner gebrechlichen Haltung. Seine letzten Worte machen ihn jedoch niedergeschlagen und die Falten um seine Augen wirken nun real.

„Sie scheinen es zu bereuen“, merke ich an.

„Das tue ich“, nickt er Garun müde. „Aber es ist noch nicht genug Zeit vergangen, dass er mir verzeihen könnte.“

Natürlich würde ich gerne wissen, welches Versprechen er gebrochen hat. Doch andere Fragen stehen im Vordergrund und ich bin mir sicher, dass er mir diese eher beantworten würde als die über Ashram.

„Wie konnten Sie sich unsichtbar machen?“, frage ich neugierig und verschränke meine Arme. „Sind Sie ein Fabel?“

„Nein, ich bin kein Fabel“, antwortet er verzückt. „Ich bin ein Mensch, das mit Magie beschenkt wurde.“

„Aber wenn Sie ein Magier sind, können Sie doch nicht gleichzeitig ein Mensch sein. Menschen besitzen solche Fähigkeiten üblicherweise nicht, oder hier etwa doch?“, frage ich verwirrt.

„Da hast du Recht“, lacht er leise in sich hinein. „Bevor ich aber in diese Welt kam, war ich ein normaler Mensch ohne irgendwelche magischen Kräfte.“

Für etwa zwei Sekunden setzt mein Herz aus und ich blicke dem alten Mann schockiert entgegen. Er kommt ursprünglich aus einer anderen Welt! Vielleicht kommt er aus meiner Welt? Könnte es sein, dass er womöglich weiß, wie ich wieder von hier wegkomme? Ich bin sprachlos und meine Kehle fühlt sich trocken an. Ehe ich auf seine Offenbarung reagieren kann, höre ich schnelle Schritte hinter mir. Garuns erstauntem Blick zu deuten, hat er nicht mit der Person gerechnet, die auf uns zukommt. Überrascht drehe ich mich also ebenfalls um und merke, wie mein Herz beginnt, schneller zu schlagen.

Mit schnellen, großen Schritten läuft Ashram auf uns zu und sieht überhaupt nicht erfreut aus. Ich sollte Angst haben, denn sein Blick ist eisig und wütend. Seine Augenbrauen liegen tief, seine Nasenflügel sind aufgebläht und seine Lippen zu einem erbarmungslosen Strich gezogen. Ashram ist wie eine tickende Zeitbombe, ein unberechenbares Monster, gleichzeitig aber auch ein wunderschönes, einzigartiges Wesen. Sein Gang und seine Haltung sind selbstsicher und machtvoll, seine breiten Schultern stark und seine Gesichtszüge zum Fürchten, zur selben Zeit aber bezaubernd. Ja, ich sollte eigentlich Angst haben, weswegen mein Verstand nicht versteht, wieso ich mich über sein Auftreten freue, erleichtert aufseufze und sich ein warmes Gefühl in meiner Brust ausbreitet. Die einzige Erklärung ist die, dass er dieses Mal nicht wütend auf mich ist, sondern seine Aufmerksamkeit vollkommen auf Garun liegt.

„Du wagst es“, höre ich Ashram bedrohlich zischen.

Als er nur noch wenige Meter von uns entfernt ist, trete ich drei Schritte zurück, um nicht in seine Quere zu kommen, wenn er sich auf Garun stürzt. Denn Ashrams Schritte werden schneller und ich werde das Gefühl nicht los, dass er sich auf den alten Mann werfen wird, wie ein hungriger Wolf. Nun wird mir klar, wieso Garun nicht ins Schloss gekommen ist, sondern sich unsichtbar gemacht hat. Das Versprechen von Garun muss enorm gewesen sein, sonst würde Ashram nicht dermaßen außer sich sein. Erschrocken lege ich meine Hände auf den Mund, um ein Schrei zu unterdrücken, wenn Ashram Garun erreicht. Garun hingegen scheint sich der Gefahr überhaupt nicht bewusst zu sein. Gelassen hebt er seine rechte, flache Hand hoch, als Ashram nur noch drei Meter von ihm entfernt ist. Ich kneife meine Augen zu und möchte nicht sehen, wie Ashram seine Wut an dem alten Mann rauslässt. Als ich nach einigen Sekunden nichts höre, obwohl Ashram ihn schon längst hätte erreichen müssen, öffne ich mit gerunzelter Stirn die Augen. Verblüfft stocke ich zurück, da Ashram im Laufen erstarrt ist, als wäre die Zeit stehengeblieben. Mit offenem Mund entdecke ich auch Vento neben Ashram, der sich in der Luft nicht bewegt und dessen Flügel weiterhin ausgebreitet sind.

„Was?“, höre ich mich selbst sagen und laufe langsam auf Ashram und Vento zu.

„Das musste leider sein“, höre ich die Stimme von Garun, der sich bisher nicht vom Fleck bewegt hat.

„Was haben Sie getan?“, frage ich schrill und merke, wie sich meine Stimme vor Schock überschlägt.

Verzweifelt stehe ich vor Ashram, doch seine Augen blicken starr geradeaus zu Garun. Vorsichtig und unglaubwürdig berühre ich Ashrams warme Wangen mit meinen Fingerspitzen. Trotz meiner Berührung bewegt er sich nicht, selbst als meine Hände von seinem Hals seine Brust runterfahren. Beängstigt löse ich mich von Ashram und drehe mich schwungvoll mit einem Kloß im Hals und Tränen in den Augen zu Garun um.

„Ich wiederhole mich nur einmal“, drohe ich Garun zischend. „Was haben Sie mit ihnen gemacht?“

„Ich habe lediglich die Zeit angehalten“, spricht er ruhig auf mich ein. „Sie spüren keinen Schmerz, sie bekommen das nicht einmal mit. Sollte ich die Zeit weiterlaufen lassen, werden sie von unserem Gespräch hier keine Ahnung haben.“

„Was ist mit mir? Wieso bin ich nicht eingefroren?“, frage ich verwirrt und weiß nicht, ob ich Garun trauen kann oder nicht.

„Weil du wie ich bist. Du wirst von der Magie nicht getäuscht oder verletzt“, antwortet er seelenruhig.

„Ich verstehe nicht“, sage ich perplex und schüttele den Kopf. „Ich bin auch eine Zauberin?“

„Eigentlich ja, du solltest eine sein, kannst es aber momentan nicht.“

Mit gerunzelter Stirn blicke ich den alten Mann vor mir an und werde langsam wütend. Kann er nicht einfach Klartext sprechen? Ich verstehe kein bisschen, was er damit meint. Außerdem wird das gerade alles zu viel für mich. Er erscheint aus dem nichts vor Vento und mir, Ashram eilt zur Hilfe, Garun lässt die Zeit stillstehen und beginnt in Rätsel über mich zu sprechen. Mein Kopf platzt und ich wünschte, Vento wäre hier und könnte mich beruhigen. Denn die wichtigste Sache ist immer noch nicht geklärt. Ist Garun eine Gefahr für mich? Wird er mir etwas tun? Vor allem, da er nun Ashram außer Gefecht gesetzt hat, ohne, dass er überhaupt Wind davon bekam.

„Das alles ist gerade nicht einfach für mich“, sage ich ehrlich, atme tief durch und versuche Ruhe zu bewahren. „Erklären Sie es mir, bitte.“

„Das war nicht meine Absicht, ich versuche es nun etwas langsamer und übersichtlicher“, entschuldigt er sich glaubwürdig und beginnt zu erklären. „Auch ich kam aus einer anderen Welt, wurde nicht hier, sondern woanders ohne Magie geboren. Durch ein Portal gelangte ich in diese Welt. Sie hat mich auserwählt und es war mein Schicksal hier eine Aufgabe zu bewältigen. Als ich in dieser Welt ankam, bemerkte ich, dass ich die Fähigkeit erhielt, zu zaubern. Es hat mich viele Jahre gekostet die Magie zu kontrollieren. Und nun bist du hergekommen, um dein Schicksal zu verfolgen.“

Ich ignoriere die Aussagen über mein Schicksal und der Aufgabe, die ich hier zu bewältigen habe. Das kenne ich nun schon in und auswendig und habe keine Lust, mir die Leier noch einmal anhören zu müssen.

„Okay, aber wie kommen Sie denn darauf, dass ich ebenfalls zaubern könnte?“, frage ich.

„Nach vielen Jahren machte ich mich auf die Suche nach dem Grund, wieso ich hier bin und, wie das überhaupt sein konnte. Es hat lange gedauert, doch ich fand heraus, dass jede Welt nur einen Gast aus einer anderen Welt erlaubt. Dieser Gast darf nicht umsonst kommen, sondern erhält eine Aufgabe und eine Fähigkeit, um die Aufgabe besser erreichen zu können.“

In meinem Kopf rattert es, bis ich merke, dass etwas nicht in seiner Erzählung stimmen kann.

„Wenn diese Welt nur einen Gast zulässt, wie kommt es, dass Sie und ich hier sind? Wir beide stammen aus einer anderen Welt“, erkläre ich heiser.

„Das ist ein Phänomen, das ich ebenfalls nicht verstehe“, meint Garun nickend. „Ich kann mir das nur so erklären, dass ich entweder zu lange mit meiner Aufgabenbewältigung gebraucht habe oder die Welt sich entschied, zwei Gäste eintreten zu lassen, um das Ziel zu erreichen das die Welt benötigt, um zu überleben. Die Fähigkeit zu zaubern habe nur ich, weil sie nur einmal vergeben werden kann und ich zuerst kam.“

„Und welche Aufgabe müssen Sie bewältigen? Was passiert, wenn Sie es erreicht haben?“, frage ich und merke, wie aufgeregt ich werde.

„Ich werde zurück in meine Welt gehen müssen“, beantwortet er lediglich die zweite Frage.

„Das heißt, ich muss so lange hierbleiben, bis wir den Krieg gewonnen haben?“, frage ich verzweifelt und meine Augen werden groß.

„Ich befürchte, du wirst die Welt so wie ich verlassen müssen, sobald du dich deinem Schicksal gefügt hast.“

Jedes einzelne Wort hat der alte Mann mit Sorgfalt ausgesucht, das merke ich sofort. Die Betonung auf das Wort „müssen“ lässt mich stutzen und macht mich gleichzeitig wütend.

„Sie mögen es sich hier vielleicht gemütlich gemacht haben, doch ich möchte nicht hier sein. Die Aufgabe, die mir zugeteilt wurde, kann ich unmöglich erfüllen. Alles, was ich möchte, ist wieder nach Hause zu gehen und diese Welt hinter mir zu lassen.“

„Das ist erst der Anfang für dich“, meint Garun und wirkt plötzlich betrübt. „Die Welt hat so viele schöne Facetten, Menschen sowie Fabeln, die es dir erschweren werden, sie zu verlassen. Wenn du erst gehen musst, wirst du dich an meine Worte erinnern.“

„Sie irren sich“, widerspreche ich stur.

„Wie du meinst“, antwortet er und zuckt mit den Schultern. „Du solltest nun lieber zur Seite, ich werde die Zeit wieder weiterlaufen lassen.“

Überrascht drehe ich mich noch einmal zu Ashram um und blicke in seine wütenden Augen. Dann gehe ich mehrere Schritte zur Seite und verschränke nachdenklich und erschöpft die Arme.

„Es war schön dich kennenzulernen, Solveig“, meint Garun und sieht mich dankbar an. „Richte Ashram bitte aus, dass ich drinnen auf ihn warte und ihn nicht verärgern wollte. Bis zum nächsten Mal.“

„Warte“, rufe ich, doch zum selben Zeitpunkt ist Garun verschwunden und Ashram sowie Vento bewegen sich wieder vorwärts.

„Was zum?“, höre ich Ashram verärgert ausrufen.

Mit herabgesunkenen Schultern blicke ich auf das rote Gras, auf dem Garun vor wenigen Sekunden noch stand und mir mitteilte, dass ich die Welt erst verlassen kann, wenn wir den Krieg gewonnen haben. Den Krieg mit mir zu gewinnen, ist genauso unmöglich, wie plötzlich fliegen zu können. Wie soll ich das anstellen? Selbst wenn ich mir Mühe beim Training gebe, kann ich doch noch lange nicht bewirken, dass wir gewinnen. Das ist unfair! Und wieso ist er nun gegangen? Ich hatte noch so viele Fragen an ihn.

„Wo ist er?“, höre ich Ashram wütend fragen.

Erst jetzt wird mir bewusst, dass die Zeit tatsächlich weiterläuft und Ashrams Frage an mich gerichtet ist. Als würde ich aus einem Traum erwachen, blicke ich auf und kassiere einen bösen Blick von Ashram. Vorhin war ich noch erleichtert, dass er mich nicht so angesehen hat, doch da habe ich mich wohl zu früh gefreut.

„Im Schloss“, antworte ich kurz angebunden und hoffe, dass er sich umdreht und sofort zum Schloss geht.

Doch sein wütender Blick verschwindet plötzlich und er beginnt mich mit leicht zugekniffenen Augen zu bemustern. Mit gerunzelter Stirn läuft er auf mich zu, weswegen mein Herz beginnt wie wild zu klopfen. Überrascht und ängstlich laufe ich rückwärts von ihm weg und hebe schützend meine Hände vor mich. Was hat er vor? Nach nur wenigen Schritten stoßt mein Rücken gegen die Blocksteine des Schlosses und es gibt kein Versteck mehr vor Ashram. Etwa ein Meter vor mir bleibt er stehen, verschränkt seine Arme und blickt mich fragend an.

„Hat er die Zeit angehalten?“, fragt er mich mit ruhiger Stimme, aber durchdringendem Blick.

Ich schaffe es nicht ein Ton herauszubekommen, weswegen ich nur nicke und meine Hände immer noch schützend vor meiner Brust halte. Das scheint er ebenfalls zu bemerken, weswegen er mit gerunzelter Stirn meine Hände betrachtet.

„Hast du gerade mehr Angst vor mir als vor Garun?“, fragt er leise und sieht mir wieder in die Augen.

Mit Mühe kann ich seinem Augenkontakt standhalten und erinnere mich daran, wie ich unbekümmert seine Wangen berühren konnte, als noch die Zeit stillstand. In dem Moment hatte er mir keine Angst gemacht und ich konnte ihn ansehen und berühren, ohne zu fürchten, dass er mir etwas antut.

„Du bist so wütend“, stottere ich und zucke mit den Schultern, weil ich nicht anders erklären kann, woher die Angst kommt.

„Auf Garun“, antwortet er barsch und räuspert sich, um seine Stimme wieder zu beruhigen. „Nicht auf dich.“

Die Wendung des Gespräches hätte ich nicht erwartet. Die Tatsache, dass es ihn interessiert, ob ich Angst vor ihm habe und dann versucht zu erklären, dass ich eigentlich keine haben sollte, erstaunt mich. Nun merke ich, wie die Furcht von meinen Schultern weicht und ich mir sicher bin, dass er mir nichts tun wird. Aus diesem Grund lasse ich meine Hände wieder sinken und stelle mich aufrecht hin, um wacker zu wirken.

„Deine Wut ist unberechenbar“, versuche ich meine Gefühle zu erklären. „Es hätte mich nicht gewundert, wenn du sie an mir rausgelassen hättest, da Garun verschwunden ist.“

Als ich nach meiner Antwort vorsichtig sein Gesicht betrachte, erkenne ich wieder eine Wut in ihm aufkommen. Neben dem Wunsch, meine Worte verschwinden zu lassen, hege ich auch das Bedürfnis laut stöhnend meine Augen zu verdrehen. Himmel, der Typ ist eine laufen Wutmaschine! Vermutlich kennt er nur dieses Gefühl und kann keine anderen zeigen. Ich ermahne mich mehrmals wieder meine Hände schützend hervorzuheben, denn das würde Ashram wohl noch mehr verärgern. Also kralle ich meine Fingernägel in meine Innenflächen der Hände, um so meine Angst und Verärgerung über Ashram rauszulassen.

„Ich bin gekommen, um dich von ihm wegzuholen“, zischt er und ich höre seine Fingerknochen knacken.

„Das habe ich schon verstanden und bin dankbar dafür“, zische ich verärgert zurück und blicke ihn eindringlich an. „Das ändert aber nichts daran, dass Angst eine normale menschliche Reaktion darauf ist, wenn jemand mit schnellen, wütenden Schritten auf einen zustürmt und seine Fingerknochen knacken lässt.“

Gerade will er etwas erwidern, öffnet den Mund, schließt ihn aber wieder. Ashram atmet mehrmals tief ein und aus, während er seine Augen geschlossen hält. Als er sich zu beruhigen scheint, öffnet er wieder seine Augen und blickt mich mit gehobener Augenbraue an.

„War nicht meine Absicht“, meint er und spricht voller Mühe mit ruhiger Stimme.

„Ist keine Entschuldigung“, kommt es schneller über meine Lippen, als ich es aufhalten kann.

Ehe ich mit der Wimper zucken kann, knallt seine Hand gegen die Steinwand neben meinem Gesicht. Ich erschrecke mich so sehr, dass ich aufschreie und meine Hände schützend auf meinen Kopf lege.

„Du machst es mir wirklich nicht einfach“, höre ich seine wütende Stimme dicht neben mir.

Einerseits schreit alles in mir von ihm wegzurennen, andererseits beginnt mein Herz wegen seiner Nähe wieder schneller zu schlagen. Ich könnte mich dafür selbst schlagen. Nein, wenn ich darüber nachdenke, wäre es eigentlich besser, wenn er mich wirklich schlagen würde, dann würde die Sympathie ihm gegenüber immerhin verschwinden. Die Gefühlsachterbahn macht mich wahnsinnig und letztendlich sogar wütend. Wieder wollte er mir Angst machen, obwohl er doch wenige Minuten davor noch meinte, dass er deswegen nicht gekommen sei. Kann er sich bitte mal entscheiden?

„Und du glaubst mit dir habe ich es leicht?“, frage ich wutentbrannt, als ich meine Hände sinken lasse und ihn verärgert ansehe.

Ashrams Gesicht ist nur wenige Zentimeter von meinem entfernt und wäre er ein Hund, hätte er auf jeden Fall zugebissen, da bin ich mir sicher. Seine Hand neben meinem Kopf an der Wand bildet sich zu einer Faust und seine Augen sind Feuer und Flamme mir eine zu scheuern. Provokant blicke ich ihn an und warte nur darauf, dass er endlich zuschlägt. Ich weiß, wie verrückt das ist. Aber wenn er mir einmal etwas antun würde, würde es mir leichter fallen ihn zu hassen.

Aufhören“, höre ich plötzlich Ventos aufgeregte Stimme in meinem Kopf.

Sofort erscheint Vento, immer noch in Gestalt eines violetten Vogels, und lässt sich auf Ashrams Hand sinken. Verwundert über sein Auftreten, denn Vento hatte ich schon ganz vergessen, blicke ich ihn an. Seine schwarzen Knopfaugen sind nur auf Ashram gerichtet und auch dessen Augen blicken zu Vento. Sie scheinen miteinander zu sprechen, Vento bezieht mich jedoch in das Gespräch nicht mit ein. Es vergehen mehrere Sekunden, bis Ashram seufzend die Hand von der Wand nimmt und Abstand von mir nimmt. Vento fliegt schließlich auf meine Schulter und sagt kein Wort zu mir.

„Ist ja gut“, meint Ashram wohl zu Vento und dreht sich um, um zu gehen.

Nach etwa drei Schritten bleibt Ashram noch einmal stehen. Kurz befürchte ich, dass er es sich anders überlegt hat und wieder auf mich losgehen wird. Er zischt kurz zur Seite, stemmt seine Arme auf seine Hüfte und scheint verärgert und unentschlossen auszusehen, auch wenn ich sein Gesicht nicht sehen kann.

„Hat Garun dich verletzt?“, fragt er plötzlich, mir immer noch den Rücken zugewandt.

Über die Frage bin ich überrascht und mein erster Reflex ist, mein Schuh auszuziehen, um ihn auf ihn zu werfen. Was fällt ihm ein, mich erst zu bedrohen und sich dann zu sorgen, ob ich von dem alten Mann verletzt wurde? Ich merke, wie mich sein Verhalten aufregt und das nur deswegen, weil er mich verwirrt und ich nicht weiß, ob ich Ashram hassen muss oder mögen darf. Am liebsten würde ich etwas freches, provokantes äußern.

Nicht“, hält mich Vento auf, da er wohl schon gespürt hat, was ich vorhabe. „Auch wenn du es nicht glaubst, seine Sorge stand klar in seinen Augen geschrieben und seine Wut galt allein Garun.

Damit redet mir Vento ein schlechtes Gewissen ein und ich verdrehe meine Augen, weil er es mir sozusagen verbietet, Ashram nun frech zu werden.

„Er hat mich nicht berührt“, antworte ich unzufrieden und verschränke beleidigt meine Arme.

„Gut“, sehe ich ihn nicken, dann läuft er weiter, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Erschöpft lasse ich meine Schultern sinken und frage mich, was mich heute mehr aus der Bahn geworfen hat. Garun oder Ashram?

 

ASHRAM

 

Der Tag hätte nicht besser laufen können, denke ich seufzend und fluche leise. Bahar und Gillis sitzen mir seit mehreren Tagen wegen dem Blutball im Nacken. Schon am Morgen haben sie sich zu mir an den Tisch gesetzt und versucht mich davon zu überzeugen, den Blutball dieses Jahr nicht ausfallen zu lassen. Der Blutball ist ein jährliches, festliches Zusammentreffen vieler Vampire aus allen Ecken der Welt. Das Fest ist eine Tradition für Bahar, Indigo, Tjard, Kayla und damals auch für Madleen. Nur die wichtigsten, hoch angesehene Vampire werden zu diesem Ball eingeladen, denn sie unterstützen und schützen die Vampirart und beratschlagen sich regelmäßig über die Arthaltung. Der Blutball ist also eine Art Fest dafür, dass es Vampire gibt und sie zusammenhalten. Letztes Jahr haben die Vampirgeschwister mit meiner Zustimmung verkündet, dass der Ball bei uns im Schloss stattfinden würde. Denn jedes Jahr wird der Ball an einem anderen Ort veranstaltet und die Vampirgeschwister reisen dafür sogar um die Welt, um daran teilnehmen zu können. Seitdem das Mädchen und Vento aber nun im Schloss sind, habe ich mit der Veranstaltung gezögert. Einerseits sagt mir mein Gefühl, dass das Mädchen in großer Gefahr schweben könnte, wenn hunderte Vampire im Schloss anwesend wären. Sie wäre eine reizende, frische Beute für die hungrigen Vampire. Andererseits wäre der Blutball die beste Gelegenheit, die Vampire davon zu überzeugen, uns im Krieg zu unterstützen. Und wir brauchen mehr Verbündete!

Nur mit Mühe und Not konnte ich Bahar und Gillis mit einer Entscheidung bis morgen vertrösten. Nach dem anstrengenden Morgen ging es direkt weiter mit Tjard, der von seiner Bespitzelung des Königs zurückkehrte. Tjard konnte ausmachen, dass König Lennard eine Menge Menschen zum Kämpfen zwingt und er befürchtet, dass der Krieg viele unschuldige Opfer mit sich bringen wird. Schließlich hat er auch herausgefunden, dass die Hexen nicht aus Spaß und Gier an König Lennards Seite kämpfen, sondern durch jemand gezwungen werden. Tjard konnte keinen Namen oder Andeutung auf jemand heraushören, nur, dass sie selbst große Angst hatten über die Person zu sprechen und es handelt sich nicht um König Lennard selbst. Dies bestätigt wieder, dass König Lennard eine machtvolle Person neben sich besitzen muss, weswegen so viele Fabeln ihn beim Krieg unterstützen. Eine Macht, die es mit Vento aufnehmen könnte. Wir unterhielten uns lange, konnten aber nur Hypothesen aufstellen. Kurz nachdem Tjard ging, tauchte aus dem Nichts Vento an meinem Fenster auf und platzierte sich sofort auf meinen Arm.

Solveig ist in Gefahr“, sprach er mit ruhiger Stimme, dennoch konnte ich eine Aufregung erkennen.

Das Einzige, was ich zu Vento sagte war, dass er mich zu ihr bringen solle. Und sofort lief ich ihm, vor mir flatternd, hinterher. Mein Kopf war wie leergefegt, das war das erste Mal, dass ich eine Art Angst verspürte, dass ihr etwas zustoßen könnte. Nicht aus Sympathie, vergewissere ich mich in Gedanken, sondern aus Bestürzung sie könnte uns für den Krieg verloren gehen. Alle Hoffnung und alle bisherige Anstrengung wären umsonst gewesen. Dann sah ich Garun bei ihr und verspürte eine Welle Wut in mir hochkommen, die Angst war längst weg. Egal, ob er das Mädchen verletzt hatte oder nicht, allein der Gedanke genügte. Denn in dem Moment sah ich nicht das Mädchen vor ihm, sondern erinnerte mich an Madleen. Ich war drauf und dran ihn zu töten, mich für sein Mord an Madleen zu rächen. Doch Garun war schneller und floh.

Nun bin ich auf dem Weg zurück zum Schloss und es fällt mir schwer die Fassung zu halten, ich habe das Gefühl aus allen Nähten zu platzen. Mein Atem ist kurz, ich versuche zwar nach mehr Luft zu schnappen, doch sie gelangt kaum in meine Lunge. Während ich durch das rote Gras stampfe, zurück in Richtung des Schlosseinganges, ist mein Blick zu Boden gerichtet. Meine Aufmerksamkeit liegt nicht auf dem Weg, sondern gilt meinen Gedanken, die in meinem Kopf wild umherfliegen. Ich stoße die Gedanken von Madleen weg und weigere mich, an die Vergangenheit zu denken. Vergesse ich Madleen, taucht der verängstigte Gesichtsausdruck des dummen Mädchens vor meinen Augen auf. Empört versuche ich zu verstehen, wieso sie immer noch Angst vor mir hat. Und wenn sie mal keine hat, wird sie plötzlich vorlaut und erlaubt sich mit mir zu reden, wie sonst keiner. Wie gerne würde ich sie zurechtweisen, ihr Respekt und Gehorsam beibringen, doch ich darf ihr kein Haar krümmen. „Und du glaubst mit dir habe ich es leicht?“, fragte sie mich. Bei der Erinnerung muss ich fassungslos auflachen und ich fühle mich missverstanden, denn immerhin bin ich es gewesen, der sie vor Garun schützen wollte, da sollte sie doch meine Füße küssen. Ich beruhige mich wieder mit dem Gedanken, dass sie nicht wusste, welche Gefahr von Garun ausgeht. So beginne ich wieder verärgert über Garun nachzudenken, welcher unangekündigt hierherkam, ihr und Vento aus dem Nichts ein Besuch abstattete und einen Aufruhr verursachte. Er hätte sich vorher anmelden können, wieso wollte er die beiden ohne mein Wissen sprechen? Was hat er ihr gesagt? Was hat er vor?

Als ich im Schloss ankomme, bin ich selbst überrascht darüber, wie schnell ich gelaufen sein muss. Mit zielstrebigen Schritten laufe ich ins Esszimmer und finde, wie bereits vermutet, Garun am Steintisch auf mich warten. Überraschenderweise beglückt Tjard den alten Magier mit seiner Anwesenheit. In dem Moment, als ich den Raum vollkommen betrete, beenden die zwei ihre Konversation und blicken aufgeregt auf. Kurz bin ich verwundert wieso Tjard hier ist, da er aber eine eindringliche Miene aufgesetzt hat, scheint es, als hätte er soeben über etwas Wichtiges mit Garun diskutiert.

„Du überspannst meine Geduld mit dir“, zische ich dem alten Mann wütend zu und balle meine Hände zu Fäusten.

„Ich hatte nicht vor solch ein Aufsehen zu erregen“, verteidigt er sich unschuldig und hebt seine alten, schrumpeligen Hände schützend vor seine Brust. „Aber ich konnte meine Neugier nicht bändigen und musste die Kriegerin und das stärkste Tier der Welt aus nächster Nähe sehen.“

„Erspar mir deine Lügen“, rüge ich ihn und höre, wie mein Kiefer angespannt knackt. „Gib einfach zu, was du eigentlich im Sinn hattest.“

Tjard sieht verwundert abwechselnd zu mir und zu Garun, sein Mund steht leicht offen. Darüber scheinen sie also nicht gesprochen zu haben.

„Habe ich etwas verpasst?“, fragt er mit ruhiger Stimme und blickt Garun neugierig an.

Als ich plötzlich einen leichten, spitzen Stupser an meiner Wirbelsäule spüre, blicke ich augenverdrehend zu Tjard. Tjard besitzt die Fähigkeit Menschen und Fabeln so zu beeinflussen, dass sie seine Entscheidungen übernehmen und Dinge tun, die sie vielleicht nicht wollen, weswegen ich sofort weiß, dass dieser Stupser aus seiner Richtung kommt. Da ich Tjard nun so lange kenne, habe ich seine Fähigkeit im Griff und gelernt, mich nicht beeinflussen zu lassen. Das hindert mich jedoch nicht daran, sein Druck der Entscheidungsfindung zu spüren. Mit seinem Stupser in meinem Rücken, möchte er mich eindeutig dazu bringen, dass ich mich hinsetze. Seufzend gehe ich seiner Bitte nach und setze mich ans andere Ende des Tisches, um weit entfernt von Garun zu sein.

„Ich habe Solveig und Vento friedlich begrüßen wollen, wurde aber mit meinem plötzlichen Auftreten missverstanden“, erklärt Garun seufzend.

„Was hast du ihr erzählt?“, schieße ich los und beiße meine Zähne zusammen.

„Sie hatte Fragen und ich war der Einzige, der ihr diese beantworten konnte“, antwortet Garun zurückhaltend.

„Welche Fragen?“, fragt nun Tjard und ich bin ihm dankbar dafür, dass er ebenfalls misstrauisch wird.

Garun blickt mit müdem Blick abwechseln zu Tjard und mir. Ehe er eine Antwort abgibt, seufzt er leise und setzt sich aufrecht hin.

„Solveig wollte wissen, ob ich dafür verantwortlich bin, dass sie in unsere Welt gelandet ist“, erklärt er und faltet seine Hände auf dem Tisch zusammen. „Nachdem ich dies verneinte, klärte ich sie über ihr Schicksal und ihre Aufgabe in dieser Welt auf.“

„Ich verstehe nicht, wie du darauf kommst, dass du der Einzige bist, der ihr diese Antworten geben könnte. Wenn ich es nicht besser wüsste, haben wir sie bereits darüber aufgeklärt“, gibt sich Tjard verblüfft und klein wenig angriffslustig.

Nun atme ich erleichtert aus, da ich genau weiß, dass Tjard eindeutig auf meiner Seite ist. Tjard war schon immer eher der unparteiischste aller Vampirgeschwister. Selbst Feinden konnte er Recht geben und seinen Geschwistern den Rücken kehren, wenn er anderer Meinung war. Doch Garun ist für Tjard mehr als nur ein Feind, er hat ihm allen Grund genommen, unparteiisch zu sein. Denn er nahm ihm Madleen weg, diese Wut teilen wir alle gemeinsam.

„Ihr scheint, als würdet ihr denken, ihr kennt das wahre Schicksal unserer Solveig“, meint Garun und hebt tadelnd seine Augenbrauen. „Aber ihr irrt euch, wie manch andere. Es liegt an der Interpretation der Prophezeiung.“

„Wie lautet denn deine Interpretation?“, frage ich mit ruhiger Stimme und verziehe nicht mein Gesicht.

„Ich habe kein Recht das Schicksal anderer zu teilen“, meint Garun nickend und nachdenklich. „Diesen Fehler habe ich einmal begangen, ich werde es nicht wiederholen.“

Bei dem letzten Satz muss ich die Stirn runzeln. Garun ist jemand, der nie zu viel sagt und vieles für sich behält. Einige Sätze sind Rätsel, die erst Jahre später gelöst werden können. Es muss ein Grund geben, wieso er das gesagt hat und vermutlich wird sich der Grund des Satzes erst später zeigen. Tjard scheint dasselbe zu denken, das zeigt mir sein kurzer aufmerksamer Blick in meine Richtung, ehe er wieder gelassen zu Garun sieht.

„Du bist also lediglich hergekommen, um Solveig und Vento kennenzulernen?“, fragt Tjard nun etwas ungeduldiger.

„Zum einen, ja“, nickt Garun. „Zum anderen, weil ich Solveig und Vento mit mir nehmen möchte.“

 „Was?“, entkommt es mir automatisch und blicke stirnrunzelnd zu Garun.

„Mir ist zu Ohren gekommen, wohin du sie gebracht hast“, sagt Garun streng und blickt mich mit hoch gezogenen Augenbrauen an. „Solveig und Vento sind für diesen Krieg enorm wichtig. Ich kann nicht zulassen, dass du sie erneut in solch eine Gefahr bringst, oder sie mit deinen Strafen traumatisierst.“

Ich spüre, wie eine Welle von Wut durch meinen Körper strömt. Was ich getan habe, wurde von den Vampirgeschwistern auch nicht gutgeheißen. Doch hielt ich die Kritik von ihnen aus, im Gegensatz zu Garun. Garun, der für den Tod von Madleen verantwortlich ist, erlaubt sich Vorwürfe mir gegenüber zu machen? Ich kann nicht fassen, dass das gerade passiert. Das törichte Mädchen und Vento werden sicher nirgendwo hingehen, nicht, solange ich lebe. Und zu Garuns Pech habe ich kein Lebenslimit.

„Sie war in keiner Sekunde in Gefahr“, bringe ich bemüht heraus und versuche mein Ärger runterzuschlucken, bevor ich auf ihn losgehen. „Wie kannst du es wagen zu behaupten, ich würde meine Aufgabe nicht ernst nehmen. An deiner Stelle würde ich hier schnell verschwinden, bevor du den Kopf dafür verlierst.“

„Hier geht es nicht um dich, sondern um den Schutz von Solveig und Vento“, entgegnet Garun ernst und macht keine Anstalt zu gehen. „Ich werde nicht ruhig sitzenbleiben und nichts tun, während du sie mit dir schleifst, wie eine leere Puppe. Sie kommen mit mir, ob dir das passt oder nicht.“

„Und du bist der richtige, jemand zu beschützen?“, frage ich entgeistert und muss laut lachen, weil der Gedanke allein absurd ist. „Du, der nur an sich selbst denkt und lieber Freunde gegeneinander ausspielt, sie sterben lässt, nur um selbst etwas aus der Situation zu gewinnen?“

So lange habe ich die schmerzlichen Erinnerungen an Madleen unterdrückt und nicht aufkommen lassen. Es war nie leicht, doch mit den Jahren hatte ich es im Griff. Doch immer wenn ich Garun wiedersehe, kommen die Schmerzen und die nie ruhende Wut auf ihn hoch. Wie lange ich ihn schon tot sehen möchte, wie lange es mich schon verzweifelt ihn am Leben zu sehen und zu wissen, dass Madleen nicht mehr da ist. Von der Seite sehe ich, wie Tjard den Kopf senkt, mein Wink verstanden hat und sich vermutlich ebenfalls wieder an seine Schwester erinnert.

„Ich schwöre, sie zu beschützen“, antwortet Garun und scheint die Verbindung mit Madleen entweder vergessen, oder nicht aufkommen lassen zu wollen.

„Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich dir das glaube? Als könnte irgendjemand etwas mit deinen Versprechungen anfangen“, brülle ich ihn wütend an. „Ich werde das Mädchen nie wieder allein mit dir lassen, geschweige denn, dass sie dich begleitet.“

Ich spüre, wie mein Körper vor Wut zittert. Wie kann er es nur wagen, Schwüre aufzustellen, an die er sich nicht halten kann? Als hätte es die Vergangenheit nie gegeben. Als hätte er vergessen, was er getan hat. Denn vor langer Zeit haben Garun und ich ein Schwur geleistet. Ein Schwur, den ich für immer bereuen werde und der für Madleens Tod gesorgt hatte.

„Das, was damals passiert ist, war etwas ganz anderes“, spricht Garun so leise, dass man es kaum hören kann.

Nach meiner Unsterblichkeit war ich sehr lange allein unterwegs. Ich hasste mein Leben und das Monster, das aus mir wurde. Auf verschiedene Weise versuchte ich mein Leben zu beenden, doch es brachte mir nur viele Schmerzen und kein Erfolg. Für kurze Momente schloss ich mich Fabeln an, die versuchten meinem Leiden ein Ende zu bereiten, doch auch sie stießen an ihre Grenzen. Ich konnte keiner Gruppe zugehören, selbst die Menschen verachteten mich. So irrte ich einsam um die Welt, bis ich Garun traf. Auch er war ein Alleingänger und dankbar jemand gefunden zu haben, mit dem die Zeit schneller vorbeiging. Wir merkten schnell, dass sowohl er als auch ich nach Antworten unserer eigenen Probleme suchten. Garun suchte nach der Macht der Prophezeiungsfindung und ich nach Antworten gegen meine Unsterblichkeit. Auf der Suche nach Antworten lernten wir die Vampirgeschwister kennen, die sich uns anschlossen. Als Garun herausfand, wo seine gesuchte Macht gefunden werden kann, schwor ich für ihn ins Engelsreich einzubrechen und die Macht zu stehlen. Dafür müsste er mir im Anschluss die Antwort darauf geben, wie ich meine Unsterblichkeit verlieren könnte. Während ich mein Versprechen hielt, listete Garun mich für sein Versprechen aus. Um den Schwur erfolgreich Folge zu leiste, erzählte er mir, wie ich die Welt verlassen konnte, damit wurde der Schwur gebrochen und wir waren frei. Doch kurz darauf verzauberte er Madleen, die mir meine Erinnerungen löschte. Denn wie die anderen Vampirgeschwister, besaß Madleen die Fähigkeit, Erinnerungen und Gedanken zu löschen. Kurz darauf fanden wir sie tot neben dem Fluss mit Garuns verzaubertem Dolch. Keine Spur von Garun und keine Spur von Erinnerungen, wie ich sterben kann.

„Inwiefern soll das was anderes gewesen sein?“, fragt nun Tjard finster. „Selbst wenn du uns versprichst, sie zu schützen, wirst du dennoch ein Weg aus dem Schwur finden, um deine Haut zu retten, wenn es sein muss.“

„Sie können nicht hierbleiben“, antwortet Garun frustriert und schüttelt vehement mit dem Kopf.

Voller Verachtung haue ich mit meiner Faust auf den Tisch und erhebe mich schweratmend vor Wut. Meine Augen fixieren den alten Mann und ich bin mir gewiss, dass ich ihn umbringen werde. Gerade als ich den Stuhl hinter mir so fest trete, dass er zu Boden fällt und in Richtung Garun laufe, betritt plötzlich jemand den Saal.

„Nicht“, höre ich ihre laute Stimme hinter mir und bleibe abrupt stehen.

Ich brauche mich nicht umzudrehen, um mich zu vergewissern, dass es das törichte Mädchen ist. Ihre Stimme ist mittlerweile in meinem Kopf eingebrannt, ich könnte sie nie verwechseln. Wie oft ihre vorwurfsvollen Sätze gegen mich in meinem Kopf irrten. Ein weiterer Grund, wieso ich mich nicht umdrehe, ist der, dass ich mich wirklich entschieden habe, Garun mit bloßen Händen zu töten. Würde ich mich nun umdrehen, in ihre graugrünen Augen blicken, würde ich vermutlich von meinem Vorgehen ablassen. Garun sieht abwechselnd von mir zu ihr, seine Gelassenheit macht mich noch wütender, weswegen ich das Mädchen hinter mir vergesse und weiter zu dem alten Mann laufe. Mein Fingerknochen knacken bereits gefährlich, als ich nur noch wenige Schritten von ihm entfernt bin. Doch plötzlich taucht sie wieder auf, stellt sich wie ein Fels vor mich und drückt mich mit ihren zierlichen Händen zurück.

„Aus dem Weg“, zische ich und starre weiterhin zu Garun.

„Nein“, höre ich sie mit fester Stimme sagen und spüre ihren Blick auf mir, wie ihre Augen, die meine suchen. „Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, sich zu streiten.“

Störrisch drücke ich sie zur Seite, doch sie taucht immer wieder vor mir auf und bringt mich immer mehr Schritte von Garun weg. Ich könnte sie kinderleicht umwerfen, ein Faustschlag würde genügen sie auszuknocken. Doch das würde Garuns Behauptungen nur verstärken, dass sie bei mir nicht sicher wäre.

„Was hast du hier verloren?“, frage ich nun genervt und blicke zu ihr herunter.

Als ich in ihre graugrünen Augen blicke, verliere ich für einen kurzen Moment den Faden. Warum bin ich überhaupt so wütend? Was mache ich hier? Mehrmals muss ich blinzeln, um mich daran zu erinnern, dass ich gerade noch Garun umbringen wollte. Er hatte es jedenfalls verdient. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, wie sich Vento in Gestalt eines grauen Vierbeiners gelassen auf einen Stuhl setzt und seine haarigen Pfoten reinigt.

„Wir hörten unsere Namen“, spricht sie und sieht mich gebannt an. „Und wenn ihr über uns sprecht, haben wir wohl jedes Recht dabei zu sein.“

„Du störst aber“, entgegne ich ihr kalt und ziehe meine Lippen zu einem ernsten Strich.

„Das glaube ich nicht“, schüttelt sie bestrebt mit dem Kopf und rückt immer noch nicht zur Seite. „Wenn ich das recht deute, sind wir zum richtigen Zeitpunkt hereingekommen.“

„Vortreffliches Gespür, meine Liebe“, höre ich die lobende Stimme von Garun.

Mit gerunzelter Stirn und unsicherem Gesicht dreht sie sich kurz zu Garun um, ehe sie sich kopfschüttelnd erneut mir zuwidmet.

„Du darfst ihn nicht töten“, sagt sie leise flehentlich und steht so nahe vor mir, dass sie den Kopf heben muss, um mir in die Augen blicken zu können.

„Wer sagt das?“, frage ich sie herausfordernd und hebe gefährlich meine Augenbrauen.

„Indirekt du selbst“, antwortet sie und zuckt hilflos mit den Schultern. „Du hast mir an den Kopf geworfen, für den Tod unzähliger Menschen und Fabeln verantwortlich zu sein, wenn ich mich meinem Schicksal nicht füge und lerne zu kämpfen. Für den Krieg brauchen wir jedoch nicht nur Vento und mich, sondern jene Menge Verbündete. Willst du am Ende die Schuld so vieler Tote tragen, weil du einen starken Verbündeten wie Garun vor dem Krieg beseitigt hast? Den einzigen Magier auf der Welt, der uns zum Sieg verhelfen könnte?“

Schwer schluckend betrachte ich ihre feinen, ausdrucksstarken Konturen im Gesicht. Ihre dunklen Augenbrauen sind grazil gezogen, ihre Wimpern dicht und lang, ihre Nase klein und schmal, und ihre Lippen voll und symmetrisch. Während ich ihr Gesicht anstarre, klappere ich im Hinterkopf meine Möglichkeiten ab. Am Ende komme ich zu dem Entschluss, dass mir nichts übrigbleibt, als nachzugeben. Auch wenn ich es nicht glauben kann, hat das törichte Mädchen zum ersten Mal etwas Sinnvolles gesagt.

„Wann bist du so kühn geworden?“, frage ich sie skeptisch und runzele die Stirn.

„Seitdem ich gehört habe, dass sich mir auch andere Optionen bieten, als hier zu sein“, antwortet sie entschlossen und zieht ihr Kinn hoch.

Ihre Antwort lässt mein Kiefer zusammenziehen und meine Hände erneut zu Fäusten werden. Ohne ihr ein weiterer Blick zu würdigen, drehe ich mich um und laufe zurück zu meinem Stuhl, auf den ich mich schließlich finster hinsetze. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass auch sie sich auf dem nächstbesten Stuhl niedergelassen hat. Eigentlich haben Frauen in solchen Gesprächen nichts zu suchen, doch eine weitere Diskussion möchte ich nicht mit ihr eingehen. Vermutlich würde das eskalieren und ich könnte mich nicht mehr zurückhalten.

„Ihr habt richtig gehört, dass wir über euch sprachen“, meldet sich Garun erneut und richtet sich an das Mädchen. „Ich würde dich und Vento gerne mit mir nehmen. Zum einen kann ich dich genauso gut auf den Kampf vorbereiten und zum anderen wärst du bei mir sicher vor Ashram.“

Daraufhin lache ich störrisches auf, verschränke meine Arme und blicke kopfschüttelnd zur Seite. Soll das Mädchen doch machen, was sie für richtig hält. Aus meiner Sicht bereiten wir sie besser auf den Krieg vor als Garun, doch wenn der alte Mann unbedingt möchte, kann er doch mit ihr nach Verbündeten suchen.

„Danke Garun, aber ich lehne freundlich ab“, höre ich sie antworten.

Leicht verwundert sehe ich nun doch zu ihr. Das Mädchen sitzt aufrecht auf ihrem Stuhl, streichelt das Fell von Vento auf ihrem Schoß und sieht unbeirrt aus.

„Fürchtest du dich nicht davor, dass Ashram dir erneut etwas antun könnte?“, fragt Garun und seine Stimme klingt dabei besorgt.

Mit großen Augen blickt sie zu Garun und scheint nachzudenken. Ich selbst muss mir ein genervtes Stöhnen unterdrücken und habe das Gefühl, dass ich in dem Gespräch schon längst vergessen wurde. Wieso fragt mich denn niemand, ob ich ihr erneut etwas antun würde? Stattdessen werde ich als Tyrann abgestempelt und habe keine Chance mich zu erklären.

„Nein“, antwortet sie schließlich mit sicherer Stimme, ehe sie ihren Blick mir widmet. „Ashram wird nie wieder etwas tun, das gegen meinen Willen spricht.“

Ihre Antworte mag für Außenstehende vielleicht wie eine Aussage klingen, doch ihr Blick richtet sich fragend zu mir. Dann ist sie sich wohl immer noch nicht sicher darüber. Dabei habe ich ein Schwur geleistet, war das nicht Beweis genug, dass ich mich zusammenreißen werde? Um ihr die Sorge zu nehmen, nicke ich ihr leicht zu und spüre, wie sich meine Schultern erleichtert fallen lassen. Sie geht nicht.

„Außerdem wird Vento von Tag zu Tag stärker, sollte etwas schief gehen, wird er mich beschützen“, fügt sie noch lächelnd hinzu und sieht zu Vento herab.

Mir entgleitet ein kleines, siegesreiches Grinsen als ich zum verwunderten Garun sehe. Irgendwas scheinen wir wohl richtig gemacht zu haben, wenn sie doch hierbleiben möchte.

„Hat sich das Thema nun für dich geklärt?“, frage ich Garun abschätzig.

„In mir widerstrebt zwar alles Solveig und Vento hierzulassen, doch ich werde euch nicht zwingen“, antwortet Garun nickend und sieht wieder zu dem Mädchen und Vento. „Aber was hält Vento von ein paar Einzeltrainingsstunden?“

Der graue Vierbeiner spitzt daraufhin seine Ohren und blickt mit neugierigen Augen zu Garun. Da das Mädchen gebannt zu Vento runtersieht, gehe ich davon aus, dass sie sich miteinander austauschen. Als sich das Mädchen nachdenklich auf die Unterlippe beißt, habe ich großes Bedürfnis mich in das Gespräch hineinzugrätschen und sie davon zu überzeugen, das Angebot nicht anzunehmen. Auch wenn Vento von uns momentan nicht trainiert wird, habe ich kein gutes Gefühl dabei, dass Garun sich dieser Aufgabe widmen möchte.

„Vento möchte wissen, wie oft wir voneinander getrennt wären“, meldet sich das Mädchen mit besorgter Stimme und vorsichtigem Blick.

Es entgeht mir nicht, wie sie Vento daraufhin stärker zu sich zieht. Die beiden wirken trotz der kurzen Zeit, die sie erst miteinander verbracht haben, sehr eng. Als wären sie beide eine Person und könnten ohne den anderen nicht atmen. Wie kommt es zu diesem Bund und wieso wurde dieses Mädchen für solch eine wichtige Aufgabe auserwählt? Doch nicht nur das Mädchen zieht Vento so nah an sich ran, auch das kleine Wesen setzt sich für das Mädchen ein. Ich erinnere mich noch zu gut daran, wie er mir Bilder von ihr gezeigt hatte und mir quasi drohte, uns alle den Rücken zu kehren, würde ich sie nicht besser behandeln. Da wurde mir klar, dass ich mich nicht nur ihr gegenüber zusammenreißen muss, sondern auch Vento. Eine ähnliche Situation wie mit Garun. Allen dreien muss ich mich zurückhalten, sodass der Erfolg des Krieges nicht gefährdet wird.

„Das hängt ganz davon ab, wie schnell du lernst“, antwortet Garun wissentlich und sieht Vento mit ruhigem Blick an. „Ich schlage vor dich für einen Tag mitzunehmen und am Ende des Tages entscheiden wir, ob und wann wir uns erneut wiedersehen. Was haltet ihr davon?“

Wieder mal tauschen beide sich mit intensiven Blicken aus, als sie schließlich nickt und zu mir sieht, zucke ich leicht überrascht zurück.

„Vento hält das für eine gute Idee“, wirft das Mädchen in den Raum und sieht mich fragend an. „Kann ich dem unbesorgt zustimmen?“

Ihre Frage gibt mir Zustimmung dafür, dass sie beginnt, mir langsam zu vertrauen. Die Tatsache, dass sie nach meiner Meinung fragt, zeigt, dass sie mir mehr vertraut als Garun. Doch ich muss ehrlich zugeben, dass mich die Entscheidung hin und herreißt. Einerseits ist Vento bei Garun nicht sicher und ich kann nicht garantieren, dass Garun sich an die Abmachung hält. Andererseits haben wir momentan alle Hände voll zu tun den Krieg zu planen, Verbündete zu suchen und das schwache Mädchen zu einer Kriegerin auszubilden. Wann könnten wir uns Vento widmen? Garun ist in der Situation eindeutig im Vorteil und könnte ihn besser vorbereiten mit Hilfe seiner Magie als wir derzeit. Vergesse ich den Hass und die Wut auf Garun, sollte die Entscheidung nicht schwer zu fällen sein. Zögerlich blicke ich trotzdem zu Tjard, welcher mir leicht zunickt.

„Unbesorgt nicht, aber es wäre sicherlich hilfreich, wenn auch Vento gut auf den Kampf vorbereitet wird“, antworte ich dem Mädchen ehrlich.

„Gut“, sagt sie, seufzt nach einer Weile und blickt schließlich zum alten Magier. „Wir nehmen das Angebot von dir an. Ich vertraue dir, dass du gut auf Vento Acht gibst.“

Als Garun sie freundlich und nickend anlächelt, ändert sich der nette Gesichtsausdruck des Mädchens und wird plötzlich finster.

„Sollte ihm aber irgendwas zustoßen oder du dich plötzlich entscheidest uns zu hintergehen, werde ich nicht zögern es dich bereuen zu lassen.“

Überrascht hebe ich eine Augenbraue und hätte nicht gedacht, dass sie auch solch eine Seite hat. Ihre Augen blicken den alten Mann herausfordernd an und ihre Lippen sind zu einem festen Strich verzogen, sie wirkt für ihre naiven und schüchternen Verhältnisse bedrohlich. Ich hätte mir vorstellen können, dass Garun daraufhin lachend reagieren würde, doch er blickt das Mädchen ernst an.

„Das wird nicht geschehen, ehe sterbe ich“, antwortet Garun.

Als es daraufhin still bleibt und keiner etwas sagt, meldet sich Tjard als erstes mit einem Seufzen und ungeduldigem Blick an Garun.

„Wenn du deine Antworten nun hast, kannst du wieder gehen“, meint Tjard mit aufgezogenen Augenbrauen.

„Leider noch nicht“, beharrt Garun und legt aufgeregt seine Hände auf den Steintisch. „Wie Solveig vorhin angesprochen hat, werde ich im Krieg auf eurer Seite kämpfen. Um sicherzugehen, dass mir bis dahin nichts passiert, würde ich gerne um Waffenstillstand bitten.“

Ich spüre, wie alle Blicke vorsichtig zu mir gleiten. Mit angehaltem Atem sehe ich Garun an und verspüre erneut abgrundtiefen Hass. Da ich schon lange auf dieser Welt herumspaziere, habe ich genug Menschen und Fabeln getroffen, die ich hasste. Doch kein Hass lässt sich mit dem vergleichen, den ich für Garun verspüre. Er hat mir so viel genommen, das ihm vermutlich nicht einmal bewusst ist. Eine langjährige Freundschaft, mein Vertrauen, meine Freude und meine Liebe. Nach Garun habe ich niemand mehr so innig vertrauen können. Die Vampirgeschwister sind mir treu und ich traue ihnen vieles an, jedoch ist das keine blinde Freundschaft, wie es mit Garun war. Nachdem er mir Madleen nahm, die Frau die ich liebte, war ich niemand mehr. Eine Lebensfreude war seither nicht mehr vorhanden und ich wandele in der Welt als Monster, vor dem sich alle fürchten. Der Gedanke, den Mann vorübergehend zu schonen, der mein Leben zu einer Hölle machte, zerreißt mich. Doch das Mädchen hat Recht, denn wir brauchen den einzigen Magier auf der Welt an unserer Seite. Auch wenn es mich schier verrückt macht. Seufzend lasse ich den Blick von ihm ab und lege meine Hände auf mein Gesicht. Am liebsten würde ich vor Verzweiflung brüllen, doch dann wüsste Garun, wie schwer mir diese Entscheidung fällt und er könnte letztlich ein Gewinn aus meiner Frustration ziehen. Also atme ich tief durch und blicke zu Tjard, welcher mich unglücklich, aber akzeptierend ansieht.

„Einverstanden“, antworte ich und schaffe es nicht, Garun in die Augen zu blicken. „Wir werden dir kein Haar krümmen. Sobald der Krieg aber vorbei ist, wirst du sterben.“

„Gut“, nickt Garun und fährt fort.

„Wir wären dir trotzdem dankbar, wenn du es uns nicht schwerer machst, als es ist. Geh und komm erst wieder, wenn du Vento abholst“, meldet sich Tjard mit aufgeblähten Nasenflügeln.

„Ich gehe gleich, doch davor würde ich gerne wissen, wann ihr vorhabt das Elfenreich zu besuchen?“, fragt Garun, da mein Blick wohl alle Bände spricht, fährt er fort. „Ich frage nur, weil mir zu Ohren gekommen ist, dass König Lennard ein Treffen mit Fin vereinbart hat.“

„Das ist typisch für Fin“, lächele ich verärgert. „Er prüft auf welcher Seite er mehr Profit ziehen kann.“

„Dann gab es schon ein Treffen?“, fragt Garun erneut und wirkt besorgt.

„Nein, wir werden morgen losziehen“, antworte ich knapp und sehe mit Absicht nicht zum Mädchen.

Morgen ist der letzte Tag, den Fin mir angeboten hat, mit dem Krieger und dem stärksten Wesen der Welt zu erscheinen. Denn morgen sind die elf Monde seit unserem letzten Treffen vergangen. Ich weiß immer noch nicht, wie das Treffen ausgehen wird. Noch weiß Fin nämlich nicht, dass es sich um eine Kriegerin handelt und das Wesen noch einem Kätzchen gleicht.

„Gut, die Elfen auf unserer Seite zu haben wäre ein großer Vorteil“, meint Garun und fährt sogleich fort. „Genauso wie die Meerjungfrauen.“

„Auf keinen Fall“, antworte ich sofort und blicke scharf warnend zu Garun, dieser blickt mich durch seine Brillengläser prüfend an.

„Sollte der Krieg sich ausweiten, brauchen wir die Meerjungfrauen, welche die Stellung im Ozean halten“, erklärt Garun verbissen.

„Sie werden sich niemals auf unsere Seite stellen“, sage ich kurzangebunden und hoffe, dass er es nun belässt.

Seitdem ich das Fleisch einer toten Meerjungfrau gegessen habe, habe ich kein Schritt mehr in den Ozean getan. Es ist unklar, ob sie davon Wind bekommen haben, dass ich vor langer Zeit eine von ihnen ermordet habe. Wenn sie es wüssten, würden sie mich an den Meeresgrund zerren und mich mit wiederholendem Ertrinken foltern. Ich bin zwar schon immer lebensmüde gewesen und habe nach Möglichkeiten gesucht, mein Leben zu beenden, doch ich war noch nie so verrückt, mich mit einem endlosen Ertrinken quälen zu lassen.

„Vielleicht nicht auf deine“, meint Garun und blickt sodann zu dem Mädchen. „Aber bestimmt auf ihre.“

„Meerjungfrauen?“, wiederholt sie leise und mit großen Augen.

„Verrückt, nicht wahr?“, fragt Garun sie und grinst sie wahnhaft an.

„Tolle Ratschläge, die du hast“, melde ich mich und unterbreche ihre kurze Freudenteilung. „Aber wir werden unseren Blick erst einmal den Elfen und Vampiren widmen.“

„Wie du meinst“, seufzt Garun. „Ich wollte dich nur daran erinnern, unsere Wasserfabeln nicht zu vergessen.“

„Ist notiert“, antworte ich nun ungeduldig. „War’s das?“

„Ja, das war’s nun endlich von meiner Seite“, seufzt Garun und erhebt sich von seinem Stuhl.

„Solveig und Vento, es war mir eine Ehre euch kennenzulernen“, spricht er und verbeugt sich leicht nach vorne. „Ich werde die nächsten Tage vorbeikommen und Vento abholen.“

Das Mädchen und das Wesen erheben sich daraufhin ebenfalls vom Stuhl und nicken dem Magier freundlich zu.

„Auf Wiedersehen“, antwortet sie mit ruhiger Stimme.

Garun widmet Tjard und mir ein kurzes Nicken und sieht uns nur kurz in die Augen, ehe er mit raschen Schritten den Saal verlässt. Alles in mir schreit ihn aufzuhalten und ihn endlich zu töten, doch ich ermahne mich ständig und denke daran, das ganze Bild vor Augen zu haben. Den Krieg können wir ohne Garuns Hilfe nicht gewinnen, also muss ich mich gedulden. Seufzend verlasse ich kurz nach Garun den Saal, ohne die anderen anzusehen und denke stillschweigend an Madleen. Ich schwöre, ich werde dein Tod rächen.

 

MEHMET

 

Das Schleifen des Schwertes in meinen Händen versetzt mich in eine Art Trance. Gedankenversunken bearbeite ich das Schwert, teste die Klinge hin und wieder und mache weiter mit der Arbeit. In den letzten Tagen habe ich viel Zeit im Schmiedszimmer verbracht und an den Schwertern gearbeitet. Wenn ich mit Solveig nicht im Esszimmer, in der Trainingshalle oder draußen für die Sportübungen bin, halte ich mich hier auf. Anfangs sah mir Solveig bei der Arbeit zu und erzählte mir von ihrem Training mit Indigo. Da ich die meiste Zeit aber stumm in der Arbeit versunken war, ließ sie mich nach und nach allein.

Gestern Abend fand sie mich hier wieder und erzählte mir von dem Magier, dem verstrickten, fraglichen Streit zwischen Garun und Ashram, und der Neuigkeit, dass Vento von dem Magier zum Kampf ausgebildet wird. Sie fragte mich über Garun aus, doch ich konnte ihr lediglich erzählen, dass er der einzige Magier auf der Welt ist. Und das ist nicht einmal eine sichere Aussage gewesen, da ich mich nur auf den Tratsch aus dem Dorf verlassen kann. Wir sprachen lange über ihre Sorge Vento allein mit Garun zu lassen, während Vento selbst mit geschlossenen Augen auf dem Tisch lag und demonstrativ schlief. Sie meinte, Vento hätte die Entscheidung getroffen und wolle nicht mehr mit ihr darüber sprechen. Ich beruhigte sie, indem ich Vento Mut zusprach und Solveig mehr Vertrauen zu ihm riet. Vento ist zwar noch nicht ausgewachsen, doch er ist sehr schlau und wird auf sich Acht geben.

Heute Morgen, direkt nach dem Frühstück, nahm Bahar Solveig zur Seite, um sie für den Ausflug in das Elfenreich zu kleiden. Somit fällt das Sporttraining für heute aus und ich entschied mich erneut den stumpfen Schwertern zu widmen, statt mich zu langweilen. Während ich also die Schwerter schleife, denke ich die ganze Zeit darüber nach, wie Solveig im Elfenreich ankommen wird. Ich wünschte, ich könnte sie begleiten, doch Ashram hat vor, allein mit ihr zu gehen. Wenn jemand Solveig beschützen kann, dann auf jeden Fall Ashram. Denn Ashram ist das stärkste und furchteinflößendste Wesen, das die Welt kennt. Solange er nicht gegen Solveig ankämpft, sondern für sie einsteht, sollte ihr niemand ein Haar krümmen können. Dennoch würde ich mich wohler fühlen, wenn ich sie begleiten könnte.

Als es plötzlich laut an der Tür klopft, erwache ich aus meiner Trance und blicke aufmerksam auf. Neben Solveig hat mich bisher niemand besucht, wer mag das also nun sein?

„Ja?“, frage ich laut und die Türklinke wird heruntergedrückt.

„Tut mir leid, wenn ich störe“, meldet sich Bahar und lugt mit ihrem Kopf durch die Tür.

„Alles gut, kann ich dir helfen?“, frage ich überrascht.

„Mir nicht, aber Solveig braucht dich“, antwortet sie seufzend.

Meine Alarmglocken gehen sofort an und ich erhebe mich erschrocken, um mir die Schürze schnell auszuziehen und zu Solveig zu gehen.

„Was ist passiert?“, frage ich angespannt.

„Ihr geht es gut“, beruhigt sie mich schnell und schmunzelt. „Sie hat nur ein Problem mit unserer Schneiderin.“

„Wie meinst du das?“, frage ich und runzele die Stirn.

„Solveig lässt sich nicht von ihr berühren und kann sie auch nicht ansehen“, erklärt Bahar und zuckt ratlos mit den Schultern. „Sie verlangt nach dir, sonst wird sie sich die Kampfausrüstung nicht anziehen lassen.“

„Das verstehe ich nicht“, sage ich immer noch verwirrt, begebe mich aber ohne weitere Fragen zu stellen zu Bahar und folge ihr in das Ankleidezimmer der Schneiderin.

Auf dem Weg rattert mein Kopf nach einer Erklärung dafür, warum Solveig vor einer Schneiderin Angst haben sollte. Ihre Furcht scheint jedenfalls so hoch zu sein, dass ihr die Anwesenheit von Bahar nicht ausreicht und sie nach mir verlangt. Als wir vor einer Tür stehenbleiben, klopft Bahar sachte an.

„Wir sind’s“, ruft Bahar mit einer Glockenstimme.

Als sich die Tür öffnet und die Schneiderin mit ihrer vollen Pracht zu sehen ist, wird mir schnell klar, was der Grund von Solveigs Angst sein könnte. Die Schneiderin ist ein klassisches Fabelwesen in Mischgestalt einer Spinne und einer Frau. Sie steht auf zwei beharrten, spargeldünnen Spinnenbeinen. Der Oberkörper ist von einer Frau, sie trägt ein blaues Kleid, das ein Drittel ihrer Beine verdeckt. Auf ihrem Rücken trägt sie eine große Beule, das mit Wolle und Fäden befüllt ist. So wie ihre Beine, gehören auch ihre vier Arme die einer Spinne. Der Kopf ist jedoch das einer Frau, sie hat braune Augen, eine schmale Nase und braune, zusammengesteckte Haare. Das Einzige das an ihrem Gesicht unüblich ist, dass sie keinen Mund besitzt, da Schneiderinnen nicht sprechen können. Solche Spinnenschneiderinnen sind selten, dafür die besten in ihrer Materie.

Nachdem ich die Schneiderin gemustert habe, suche ich den kleinen Raum nach Solveig ab und finde sie zusammengekrümmt, die Knie an sich gezogen und an die Wand starrend in der Ecke sitzen. Wenn Ashram das sehen würde, hätte er Solveig angekettet, um ihr die Rüstung anzuziehen. Mit entschuldigendem Blick betrete ich das Zimmer und laufe an der Spinnenschneiderin vorbei, um mich zu Solveig zu gesellen.

„Eine Spinnenphobie?“, frage ich leise, als ich mich neben Solveig hinknie und meine Hand verständnisvoll auf ihre Schulter lege.

Sie zuckt kurz zusammen und auf ihren Armen erscheint sofort eine Gänsehaut. Als sie meine Stimme jedoch hört, entspannt sie sich wieder leicht.

„Kleine Spinnen habe ich bisher gut herunterschlucken können“, flüstert sie mit zittriger Stimme. „Aber sie ist eindeutig eine Nummer zu groß für mich.“

„Wovor fürchtest du dich am meisten?“, frage ich.

„Wenn es doch nur Furcht wäre“, antwortet sie seufzend und verzweifelt. „Das ist mir so peinlich und ich schäme mich.“

„Was meinst du?“, sage ich mit gerunzelter Stirn und blicke sie von der Seite an.

„Ich habe keine Angst vor ihr“, antwortet Solveig zögerlich und wippt vor und zurück.

„Sondern?“, frage ich drängend, da sie nicht mit der Sprache rausrücken möchte.

„Ihre Gestalt, die beharrten, dünnen Beine und Arme, der Bollen auf ihrem Rücken“, zählt sie auf und ihre Lippen ziehen sich zusammen, ehe sie ganz leise fortfährt. „Es tut mir so leid, aber ihre Spinnengestalt ekelt mich an.“

Daraufhin stocke ich verblüfft zurück und ziehe die Augenbrauen hoch. Ich bin stark davon ausgegangen, dass sie sich vor der Spinnenschneiderin fürchtet, aber Ekel?

„Jetzt findest du mich schrecklich“, nickt Solveig bestätigt und seufzt hin und hergerissen. „Ich dachte, ich ignoriere ihre Gestalt einfach. Aber als sie mich mit ihren schwarzen Armen berühren wollte, stellte sich jedes Haar auf meinem Körper auf. Als würde jemand eine Katze mit Wasser bespritzen. Der Gedanke, dass sie mich anfasst, wie sie sich anfühlen muss, lässt mir beinahe den Morgentee hochkommen.“

Ihre Ehrlichkeit bringt mich zum Lachen, dadurch kassiere ich sofort einen verärgerten Seitenblick von Solveig.

„Das ist nicht witzig“, flüstert sie aufgelöst mit großen Augen. „Ich weiß, dass sie nichts für ihre Gestalt kann und sie sich das nicht ausgesucht hat. Aber ich schaffe es einfach nicht ihr gegenüberzutreten, ohne mich zu übergeben.“

„Nun, das ist ein Problem“, versuche ich mit ernstem Ton zu sagen.

Solveig hört die Belustigung in meiner Stimme und bläht augenverdrehend ihre Nase auf.

„Gibt es denn keine andere Schneiderin?“, fragt sie.

„Ich vermute, nein. Spinnenschneiderinnen sind die besten in dieser Materie“, antworte ich ehrlich.

„Was kann sie, was Bahar nicht hinbekommen könnte?“

„Wenn Ashram so viel Geld besitzt eine Spinnenschneiderin hierzuhaben, hat er sicher vor, dir auch die beste Kampfausrüstung anzulegen. Und sowas ist nicht einfach, dafür muss man schon ausgebildet sein“, vermute ich und blicke mich nachdenklich im Zimmer um.

Der Raum ist klein und unaufgeräumt. An der Wand zieht sich ein langer Tisch hin, worauf Papier, Stoffe und Scheren herumliegen. Der Raum kann schließlich in der Mitte durch einen Vorhang getrennt werden, um sich vermutlich dahinter umziehen zu können. Auf ein paar Stühlen, auf der anderen Seite des Zimmers, liege eine Menge Klamotten und Stoffstücke in allerlei Farben.

„Wozu brauche ich überhaupt eine Kampfausrüstung?“, fragt sie, wird lauter und ihre Stimme bricht am Ende des Satzes ab.

„Du solltest dich da nicht reinsteigern. Es geht nur darum, dich zu schützen.“, versuche ich sie zu beruhigen und merke, dass mir hier die Unterstützung fehlt. „Wo ist denn Vento?“,

„Er schläft noch“, antwortet sie verbittert und beleidigt. „Er meinte, er müsse genug Energie für den Ausflug sammeln.“

„Wie sieht’s aus ihr zwei?“, meldet sich Bahar plötzlich von der Tür aus und klingt etwas aufgeregt. „Wir haben nicht mehr so viel Zeit.“

Ich strecke schnell und schweigend meine Hand zur Tür aus, um Bahar weiszumachen, dass wir noch einen kurzen Moment brauchen. Es ist unerlässlich, dass Solveig sich von der Spinnenschneiderin die Kampfausrüstung ankleiden lässt. Sie muss geschützt sein, wenn sie sich mit den Elfen trifft.

„Was kann ich tun, damit du dich der netten Schneiderin zuwendest?“, frage ich Solveig und blicke sie aufmunternd an.

Wieder seufzt sie, blickt hundeelend hin und her, und beißt sich nachdenklich auf die Lippen.

„Es führt kein Weg daran vorbei?“, fragt sie noch einmal prüfend.

„Leider nein.“

„Du musst dich unbedingt bei ihr für mein Verhalten entschuldigen und erklären, dass ich sie nicht verärgern möchte. Auf keinen Fall berührt sie mich, wenn sie weiß, dass ich mich vor ihr ekel. Ehe gehe ich nackt zu den Elfen.“

„Das wird Ashram sicher gefallen“, antworte ich ironisch und wir beide lachen kurz auf.

„Ich halte meine Augen geschlossen“, sagt sie schließlich, atmet tief durch und nickt optimistisch. „Du darfst aber nicht von meiner Seite weichen.“

Daraufhin schürze ich meine Lippen und sehe sie fragend an.

„Wie stellst du dir das Letzte vor? Ich kann nicht hier sein, während du angekleidet wirst.“

„Du stellst dich einfach hinter den Vorhang, dann wird schon alles verborgen sein“, antwortet sie gelassen, als könne sie mein Problem nicht verstehen.

„Das geht nicht“, sage ich sofort und blicke sie fassungslos an. „Wir sind nicht verheiratet und auch keine Seelenverwandte.“

„Was?“, fragt sie irritiert und blickt mich prüfend an, als würde ich scherzen. „Das ist doch Schwachsinn. Entweder du bleibst bei mir in der Nähe, oder ich lasse mich nicht von ihr berühren.“

„Was, wenn ich direkt hinter der Tür stehe und warte? Ich könnte sofort hereineilen, wenn du mich rufst“, biete ich zögerlich an.

„Darfst du nicht bei mir sein, oder willst du nicht?“, fragt sie nun prüfend und wird etwas panisch.

„Ich war in dieser Sache schon immer lockerer als die anderen Menschen in meinem Dorf. Aber in unserer Welt ist es nicht üblich und angesehen, offene Intimität mit dem gleichen oder anderen Geschlecht zu teilen, mit dem man nicht verheiratet ist, oder der nicht der/die Seelenverwandte ist.“

„Du stehst hinter dem Vorhang. Es ist nicht so, als würde ich ein Striptease für dich hinlegen“, verteidigt sie sich und ich schüttele bei dem unbekannten Wort „Striptease.“. „Und was hat das mit der Seelenverwandtschaft an sich?“

Da ich Bahar an der Tür räuspern höre, bleibt mir keine Zeit länger mit Solveig zu diskutieren, oder ihr die Sache mit der Seelenverwandtschaft zu erklären. Wer hätte schon gedacht, dass es das nun auch nicht in ihrer Welt gibt? Schnell wäge ich alle Situationen ab, ehe ich seufzend nachgebe und aufgeregt zu Solveig blicke.

„Gut, ich bleibe hinter dem Vorhang stehen“, versichere ihr und spüre, wie sich ein schlechtes Bauchgefühl bei mir ausbreitet.

Da Solveig mich aber derart erleichtert anblickt und sich ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitet, verdränge ich meine Zweifel und wir stehen gemeinsam auf. Solveig atmet tief durch, ehe sie ihre Augen schließt und mir ihren Arm reicht, damit ich sie führe und sie nicht gegen irgendwas stoßt. Als wir uns umdrehen und zu der Spinnenschneiderin und Bahar laufen, spüre ich ihre aufmerksamen Blicke auf uns. Es genügt ein Blick auf Bahar, um zu erkennen, dass sie einerseits erleichtert, andererseits aber auch irritiert ist.

„Solveig hat in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit Schneiderinnen gemacht“, wende ich mich höflich und entschuldigend an die Spinnenschneider. „Ihr wurde mal in den Arm gepikst.“

Daraufhin weiten sich die Augen der Spinnenschneiderin schockiert und sie schüttelt verärgert den Kopf. Schneiderinnen sind überaus vorsichtig mit ihren Nadeln, nur Anfängerinnen und schlechte Schneiderinnen piksen ihre Kunden. Die Erklärung scheint die Spinnenschneiderin nachvollziehen zu können, denn sie legt besorgt ihre schwarzen Arme gegen ihre Brust.

„Wir haben uns darauf geeinigt, dass sie ihre Augen geschlossen hält und ich hinter dem Vorhang auf sie warte“, erkläre ich und merke, wie Bahars Augen daraufhin aufblitzen.

Um Bahar auch weiterhin keine Möglichkeit zum Protest zu geben, führe ich Solveig zum Schneiderpodest und kehre den anderen zwei den Rücken zu.

„Danke“, flüstert Solveig mir zu.

„Keine Ursache. Achtung eine Stufe“, sage ich unbeirrt und bleibe mit ihr vor dem Podest stehen, sodass sie darauf treten und stehenbleiben kann. „Ich lasse dich nun hier stehen und trete hinter dem Vorhang. Wenn etwas sein sollte, meldest du dich und ich bin sofort bei dir. Verstanden?“

„Na gut“, flüstert sie aufgeregt in einem Atemzug und beginnt nervös mit ihren Fingern zu spielen.

Ich nicke der Spinnenschneiderin zuversichtlich zu, ehe ich den Vorhang zuziehe und mich dahinter stelle. Da Bahar die ganze Situation immer noch stumm von der Tür aus beobachtet, drehe ich dem Vorhang zusätzlich noch mein Rücken zu und verschränke skeptisch die Arme. Als Bahar die Tür schließt und zu Solveig läuft, entnehme ich dies als Zeichen, dass sie meine Anwesenheit akzeptiert hat.

„Solveig, du musst dich nun entkleiden, damit sie dir die Rüstung anbringen kann“, höre ich Bahars Stimme und schließlich das Rascheln von Kleidung.

Es vergeht etwas Zeit und ich beginne gelangweilt mit dem Fuß auf den Boden zu tippeln. Gerade möchte ich zum Fenster laufen, um die Zeit schneller verstreichen zu lassen, als Solveig plötzlich erschrocken japst. Mit schnell schlagendem Herzen drehe ich mich zum Vorhang, bereit ihn sofort zur Seite zu schieben.

„Was ist passiert?“, frage ich laut.

„Um Himmels Willen, was ist das?“, höre ich Solveig schockiert fragen.

„Das ist eine spezielle Rüstung“, erklärt Bahar kurzangebunden. „Es wäre hilfreich, wenn du dich nicht so viel bewegst.“

„Solveig?“, rufe ich sie, um herauszuhören, ob es ihr gut geht.

„Alles gut, Mehmet. Denke ich zumindest“, meldet sich Solveig hin und hergerissen. „Ich dachte, ich erhalte eine Ritterrüstung oder sowas. Mit dem Zeug hier haben sie mich aber vollkommen überrascht.“

„Bahar, was legt sie ihr an?“, frage ich mit gerunzelter Stirn und meine die Spinnenschneiderin.

„Sie erhält Krokopanzer“, meldet sich Bahar zurück und klingt etwas genervt. „Wenn sie sich aber weiter so bewegt, wird das nichts.“

„Entschuldige, es fühlt sie so nass und gleichzeitig kitzelig an“, sagt Solveig mitleidig.

Erstaunt drehe ich mich wieder um und atme erleichtert aus. Krokopanzer ist die teuerste Rüstung, die es gibt. Dadurch, dass Krokodilias schwer aufzufinden und ihre Haut nicht einfach zu entfernen ist, ist ihre Panzerhaut sehr teuer und selten. Ich selbst habe Krokopanzer noch nie gesehen, dafür aber gehört, wie unzerstörbar sie ist. Das Anlegen dieser Haut erfolgt durch eine spezielle Creme und schließlich muss sie getrocknet werden, dabei sollte man sich nicht regen.

„Wird dieser Krokopanzer denn wirklich halten?“, fragt Solveig misstrauisch.

„Es ist die beste Rüstung, die es gibt“, klärt Bahar sie auf. „Kein Schwert kann sie durchschneiden und auch viele Schläge prallen an ihr ab. Sie macht dich nicht unbesiegbar, aber sie wird vieles abhalten können, wenn es zu einem Kampf kommen sollte.“

„Ein Kampf?“, fragt Solveig und ihre Stimme klingt plötzlich hysterisch. „Ich dachte, wir reden nur mit den Elfen.“

„So lautet der Plan“, sagt Bahar sofort. „Die Elfen sind aber ein unberechenbares Volk, weswegen wir kein Risiko eingehen sollten.“

„Was beinhaltet dieser Plan denn sonst noch?“, fragt Solveig und klingt verärgert. „Bis jetzt weiß ich nur, dass wir die Elfen besuchen, um sie zu überzeugen auf unserer Seite zu kämpfen.“

„Du machst dir Sorgen, musst du aber nicht. Ashram weiß genau, was er tut und er wird dich beschützen“, redet Bahar auf sie ein.

„Schön für Ashram“, antwortet sie stur. „Ich würde trotzdem gerne wissen, was auf mich zukommt.“

„Die Elfen leben verborgen und sind ein Volk, dass nur unter sich bleibt“, melde ich mich, um Solveig zu beruhigen, abzulenken und immerhin irgendwelche Informationen zu liefern. „Seit langer Zeit herrscht dort das Elfenkind Fin und sorgt für Ordnung und Sicherheit. Elfen besitzen eigentlich viel Magie, aber nach der Rassentrennung schrumpfte diese und sie können nur noch in Gruppen zaubern. Damals gab es innerhalb der Elfen einen großen Krieg, welche zur Rassentrennung führte. Die Hälfte blieb Elfen, die andere wurde zu Hexen.“

„Aber wieso kam es zu dem Krieg?“, höre ich Solveig gebannt fragen.

„Die meisten waren mit der Herrschaft des Elfenkindes Fin unzufrieden und wollten beispielsweise nicht mehr versteckt unterhalb der Erde leben. Es gab einige Gründe für den Streit, welcher sich schließlich so weit aufbaute, dass es zum Krieg führte. Seitdem die Anzahl der Elfen geschrumpft ist, sind sie gegenüber Fremden noch vorsichtiger geworden.“

„Also denkst du, sie könnten uns sogar angreifen, weil sie mich nicht kennen?“, fragt Solveig nachdenklich.

„Nein, das glaube ich nicht“, antworte ich sofort.

„Ich auch nicht“, stimmt Bahar widerstrebend zu.

„Jeder, selbst die Elfen, kennen die weltbekannte Sage über den Krieger und das stärkste Wesen. Sie werden dir nichts tun, da bin ich mir sicher. Aber ich könnte mir vorstellen, dass sie dich kennenlernen und herausfinden wollen, ob du der Rolle als Krieger gewachsen bist.“

„Die werden mir doch nie und nimmer glauben, woher ich ursprünglich komme. Am Ende stempeln sie mich als Verrückte ab und werden uns auf keinem Fall im Krieg unterstützen“, redet Solveig schnell.

„Die Elfen sind einfühlsame Wesen, auch wenn sie im ersten Eindruck frech und arrogant wirken“, versuche ich sie zu beruhigen. „Mit ihrer Magie besitzen sie die Fähigkeit in dein Inneres zu sehen und zu erkennen, ob du die Wahrheit sagst, oder nicht. Also werden sie dir alles, was du ihnen erzählen wirst automatisch glauben.“

„Das kann spannend werden“, seufzt Solveig. „Wie sehen Elfen denn aus?“

„Ich bin noch nie einem Elfen begegnet“, seufze ich schulterzuckend.

„Du wirst sie sofort erkennen, wenn ihr ihnen begegnet“, meldet sich Bahar sorgsam.

Mir scheint, als hatte Bahar vor, Solveig mehr über das Aussehen der Elfen zu erzählen. Doch sie wurde durch das Klopfen an der Tür aufgehalten.

„Mehmet, könntest du bitte aufmachen?“, höre ich Bahar fragen.  

Ohne Einwände laufe ich zur Tür und drücke neugierig die Klinke herunter. Als ich Ashram hinter der Tür erblicke, atme ich überrascht auf. Ich hätte mit allen gerechnet, aber nicht mit Ashram. Dieser scheint ebenfalls überrascht zu sein mich zusehen, darauf deuten jedenfalls seine hochgezogenen Augenbrauen hin. Ashram scheint schon fertig gekleidet zu sein. Er ist schlicht in schwarz gekleidet und trägt am Oberkörper lediglich ein Polsterpullover. Das müsste einen nicht überraschen, denn wozu bräuchte er eine richtige Rüstung aus Stahl, wenn er sowieso unverwundbar ist?

„Ist das Mädchen nicht drin?“, fragt Ashram mit gerunzelter Stirn.

Mit dem Mädchen scheint er wohl Solveig zu meinen. Aber wieso spricht er nicht ihren Namen aus? Plötzlich frage ich mich, ob ich jemals gehört habe, wie er ihren Namen ausgesprochen hat.

„Doch, Solveig wird gerade hergerichtet“, antworte ich bejahend und nicke.

„Und du hältst dabei ihre Hand?“, fragt er provokant und kalt.

Erst jetzt fällt mir wieder ein, dass meine Anwesenheit in Solveig Ankleidezimmer eigentlich nicht vorgesehen ist. Hätte ich gewusst, dass Ashram auftauchen würde, wäre ich sicher nicht hiergeblieben. Ich sollte mich entschuldigen und raustreten, doch irgendwas in seinem Ton macht mich aufmerksam, ich komme nur nicht darauf, was es ist. Nachdenklich stehe ich wie angewurzelt an der Tür, denke über seine Frage nach und weiß nicht, was ich tun soll. Niemand wünscht sich Ashram als Feind zu haben. Doch wieso sollte ich gleich sein Feind werden? Weil ihn der Gedanke wütend macht, dass ich Solveigs Hand halte, während sie gekleidet wird?

„Ich habe ihn gebeten hierzubleiben“, meldet sich Solveig aufgeregt.

Die Tür halte ich halb offen, weswegen Ashram sie nur hören, aber nicht sehen kann. Sein Blick schweift über meinen Kopf hinweg und ich erkenne, wie er seine Wangen unzufrieden einzieht.

„Wann seid ihr fertig?“, fragt Ashram ungeduldig.

„Es fehlt nur noch der Hals“, meldet sich Bahar konzentriert zurück.

„Wir warten draußen“, sagt er kurzangebunden und tritt einige Schritte zurück.

Ein rascher, auffordernder Blick zu mir reicht aus, um mir weiszumachen, dass ich mich zu ihm nach draußen gesellen soll. Nickend trete ich aus dem Zimmer und schließe die Tür hinter mir zu. Tief ausatmend lehne ich mich an die Wand neben der Tür an und blicke ins Leere. Ich versuche kein Mucks von mir zu geben, um bloß nicht mit Ashram in Konflikt zu treten.

„Wie kommt es, dass du sie immerzu beschützen möchtest?“, fragt Ashram plötzlich und ich spüre seinen prüfenden Blick auf mir.

Ich hätte nicht gedacht, dass er mit mir sprechen möchte und erst recht nicht über Solveig. Doch er scheint neugierig über die Beziehung zwischen ihr und mir zu sein. Wieder werde ich aufmerksam auf Ashrams Verhalten und frage mich, an was mich das erinnert.

„Ich sehe es als meine Aufgabe an“, antworte ich ehrlich und zucke mit den Schultern. „Ich denke es ist mein Schicksal, sie zu beschützen. Immerhin war ich es, der sie im Wald gefunden hat und sie nicht fallen ließ, sondern mitnahm und auf sie Acht gab, ohne zu wissen, dass sie die Kriegerin aus der Sage ist.“

Nach meiner Aussage sehe ich zu Ashram und bemerke, dass er mich mit strengem Blick mustert. Er hat seine Arme verschränkt und wirkt bedrohlich, aber vielleicht ist das auch seine normale Haltung. Dennoch werde ich das Gefühl nicht los, dass er mir nicht glaubt und mich prüft. Interessant, dass er herausfinden will, ob ich wirklich zum Wohl von Solveig hier bin. Wer will nun wen schützen?

„Eine gefährliche Aufgabe, die du dir freiwillig angenommen hast“, stellt Ashram fest. „Hast du denn niemand, der dich vermissen könnte?“

„Ich bin schon immer ein Einzelgänger gewesen“, antworte ich etwas verärgert über seine Zweifel über mich. „Und ich habe mir die Aufgabe nicht selbst zugeschrieben, so lebensmüde bin ich nun auch wieder nicht.“

Dabei denke ich an mein Treffen als Kleinkind mit der Banshee in einer verlassenen Gasse. Sie hatte mir damals prophezeit, dass es meine Aufgabe sei, dem Krieger zu helfen. Früher hatte ich das alles für Schwachsinn gehalten, doch als ich Solveig tatsächlich begegnete, wusste ich, dass ich der Aufgabe nicht entfliehen kann. Schließlich hängt von Solveig das Leben Millionen Menschen und Fabeln ab.

„Wenn du nicht freiwillig an der Seite des Mädchens bist, wer hat dich dann zu gedrängt?“, fragt er mit tiefer Stimme.

Ich schwanke kurz, ob ich Ashram von der Banshee erzählen soll oder nicht. Eigentlich geht ihn das nichts an, aber wenn ich nicht mit der Sprache rausrücke, wird er denken ich könnte Solveig schaden. Vermutlich würde er nicht zögern, mich zu eliminieren.

„Als ich ein Kind war, bin ich der Banshee begegnet“, erkläre ich mit heiser Stimme und sehe wieder in die Leere. „Ihre verquollenen, roten Augen werde ich niemals vergessen. Sie lockte mich mit dem Lied des Eies an, summte und sang es in einer leeren Gasse, bis ich zu ihr stoß und nicht mehr entfliehen konnte. Die Begegnung war kurz und doch unheimlich. Sie prophezeite mir, dass ich auf mich allein gestellt bin, um auf das harte Leben vorbereitet zu sein. Ich würde irgendwann etwas erleben, das ich für unmöglich halten würde. Egal, was passiert, ich müsse dem Krieger helfen, das sei mein Schicksal.“

Es bleibt nun eine Zeit lang still, das mir deutlich macht, dass Ashram meine Erzählung nicht sofort niedermacht und es sich durch den Kopf gehen lässt. Trotzdem wage ich es nicht zu ihm zu blicken.

„Und du bist dir sicher, dass es die Banshee war?“, fragt er auf einmal und klingt nicht mehr feindselig.

„Darauf lege ich meine Hand ins Feuer“, versichere ich und schlucke schwer. „Kennst du die Banshee?“

„Wir kennen uns, doch wir sind keine Freunde“, antwortet er nach einer Weile und klingt wieder bedrohlich.

Mir war klar, dass Ashram schon sehr lange auf der Welt verweilt und er vermutlich schon jene Menge Menschen und Fabeln begegnet ist. Doch auf die Geschichte, wie er die Banshee kennenlernte, würde ich vieles geben. Wäre in dem Moment nicht die Tür aufgegangen, hätte ich mich bestimmt getraut, ihn danach zu fragen. Unsere Köpfe regen sich gleichzeitig zur Tür und erblicken Solveig dort stehen. Der Krokopanzer haftet an ihr, wie eine zweite Haut. Sie reicht von ihren Zehenspitzen, bis zu ihrem Hals. Um ihren Oberkörper trägt sie zusätzlich ein Polster, um vermutlich sicherzugehen, dass sie nicht verletzt werden kann. Und an ihrer Schulter haftet ein dunkler Umhang, der bis zum Boden reicht.

„Ich fühle mich wie Wonder Woman“, seufzt sie aufgeregt mit großen Augen und sieht abwechselnd zu Ashram und mir.

Ich bin mir sicher, dass Ashram und ich gleichzeitig die Stirn in Falten ziehen, da wir mit ihrer Bemerkung nichts anfangen können. Ich habe mich schon daran gewöhnt, dass Solveig gerne Begriffe aus ihrer Welt nutzt, sie aber nicht erklärt..

„Ich hoffe das bedeutet etwas Gutes“, meldet sich Bahar erschöpft aus dem Zimmer.

„Sagen wir’s so“, sammelt sich Solveig und ein leichtes Lächeln spiegelt sich auf ihren Lippen wider. „Wonder Woman ist die stärkste und unzerstörbarste Frau, die ich kenne.“

„Das klingt, als wärst du bereit“, meldet sich nun Ashram und blickt sie auffordernd an.

Ich bin überrascht, als Solveig Ashram mit sicherem Blick entgegenblickt und kein bisschen ängstlich aussieht. Als wir hier angekommen sind, konnte Solveig ihm nicht einmal in die Augen blicken, so sehr fürchtete sie sich vor ihm. Doch nach ihrem Ausflug in das ausgestorbene Dorf, hat sie sich verändert und wirkt wackerer und stärker. Auch wenn der Besuch in dem Dorf schrecklich war, und immer in ihrer Erinnerung bleiben wird, hat es sie doch reifer werden lassen und ihr die Augen geöffnet.

„Nur wenn du es bist“, antwortet sie keck und zieht herausfordernd eine Augenbraue hoch.

Kurz zieht sich Ashrams Lippe schmunzelnd hoch, ehe er sich kopfschüttelnd umdreht und ihr zunickt, ihm zu folgen. Solveig tritt aus dem Zimmer und dreht sich zuerst zu mir, bevor sie Ashram folgt.

„Drück uns die Daumen, ja?“, fragt sie und ihre Augen leuchten mich hell an.

„Auf jeden Fall“, antworte ich sofort nickend. „Pass auf dich auf und zeig ihnen keine Angst.“

Die letzten vier Worte scheinen Solveig zum Seufzen zu bringen, denn sie blickt mir lange mit glasigen Augen entgegen. Sie scheint mit sich zu ringen etwas zu sagen, und bevor ich sie fragen kann, ob alles gut bei ihr ist, legt sie ihre Arme um mich.

„Danke, dass du bei mir geblieben bist“, flüstert sie heiser in mein Ohr.

Zuerst dachte ich, sie meint damit, dass ich bei ihr im Zimmer geblieben bin, als sie gekleidet wurde. Doch ihre Umarmung fühlt sich viel verbundener und emotionaler an, weswegen ich davon ausgehe, dass sie meine allgemeine Anwesenheit im Schloss meint. Ihre Umarmung fühlt sich warm an und ich merke, dass ich ihrer Nähe nichts einzuwenden habe. Da ich keine passenden Worte finde, schlucke ich nur schwer und drücke meine Hände leicht und sanft auf ihren Rücken. Stillschweigend hoffe ich, dass sie das Treffen ohne Drama übersteht.

 

Solveig

 

Je näher wir unserem Ziel kommen, desto unruhiger werde ich. Anfangs nahm ich es auf die leichte Schulter, fühlte mich durch den Panzer an meiner Haut wunderschön und unbesiegbar. Doch als Ashram, Vento und ich auf den Rücken von Zander stiegen, ich die Augen schloss, der Wind an mir vorbeizog, begannen meine Gedanken verrückt zu spielen und der Panzer wurde an meinem Körper immer enger. Jede Minute spiegelte sich ein neues Szenario in meinem Kopf ab. Elfen mit unterschiedlichen Gestalten und Gesichtern, die mich mal freudig begrüßten, mal mit ihren Speeren oder Gewehren beschossen. Ich habe keine Ahnung, was auf mich zukommt und je mehr Zeit vergeht, desto mehr verschwindet meine Coolness.

Rede mit mir“, höre ich Ventos drängende Stimme in meinem Kopf.

„Ich kann nicht, dann wird alles nur noch schlimmer“, jauchze ich gedanklich zurück und presse meine Augen weiter zu.

Auf dem Weg zum Turm holten Ashram und ich Vento von meinem Zimmer ab. Er hatte sofort bemerkt, dass ich viel zu aufgedreht war und bedachte mich mit vorsichtigem Blick. Kein Wort hatte er zu mir gesagt, vermutlich um meine steigende Aufregung nicht zu bestärken. Erst jetzt, während der Wind an mir vorbeizieht und ich mein Gesicht an Zanders Fell presse, scheint Vento gespürt zu haben, dass ich immer panischer werde.

Es wird alles gut, Solveig“, versucht Vento mich selbstsicher zu beruhigen. „Ashram und ich sind an deiner Seite, es wird dir nichts geschehen können.“

„Ich weiß. Trotzdem macht mich das Ungewisse verrückt.“, seufze ich. „Wie lange sind wir denn noch unterwegs?“

Zander meint, wir sind schon bald da“, antwortet Vento verzögert.

Mein Herz hämmert aufgeregt gegen meine Brust. Um meine Nervosität runterzuschrauben, beginne ich kontrolliert ein und auszuatmen. Doch das lässt meine Aufregung nicht verschwinden, sondern sorgt nur dafür, dass ich nicht panisch von Zanders Rücken springe. Es vergehen einige Minuten und ich versuche meine Gedanken nur auf die Flügelschläge von Zander zu konzentrieren. Auf und ab, auf und ab, das sind die einzigen Worte, die in meinem Kopf herumschwirren. Irgendwann merke ich, dass der Druck in meinen Ohren immer geringer wird und kann daraus schließen, dass Zander langsam landet. Schließlich ändert sich auch die Temperatur und letztendlich nehme ich den Duft eines Waldes wahr. Wenige Sekunden später bremst Zander mit seinen Flügeln und landet sacht auf dem Boden.

„Wir sind angekommen“, höre ich die Stimme von Zander.

Ashram ist der erste, der sich von seinem Rücken erhebt und runtersteigt. Um nicht zu trödeln, setze ich mich auf und öffne vorsichtig meine Augen. Entgegen meiner Erwartung von Licht und Schönheit umgeben zu sein, befinden wir uns in einem dunklen, dichten Wald. Die Bäume haben einen dicken Stamm und stehen dicht beieinander. Aufgrund des Nebels ist es nicht möglich, weiter als fünf Meter zu sehen. Der Wald umgibt etwas Gruseliges. Sei es wegen der Kühle oder wegen meiner Angst, breitet sich eine Gänsehaut auf meinen Armen aus. Gut, dass der Panzer diesen nicht durchblicken lässt und Ashram mich vielleicht nicht sofort durchschauen kann. Ein kurzer Blick zu Vento, der immer noch auf dem Rücken von Zander sitzt und mich aufmerksam beobachtet, reicht, um zu erkennen, dass er sich um mich sorgt. Ich seufze leise und nicke ihm mutig zu, sodann steige ich vom Rücken von Zander und stelle mich zu Ashram. Diesen sehe ich keine Sekunde in die Augen, da ich befürchte, dass er meine Angst schon längst gerochen hat. Er muss nicht noch meinen panischen Blick ertragen.

„Wir sehen uns später“, verabschiedet sich Ashram von Zander und beginnt loszulaufen.

Vento und ich trotten ihm hinterher und nicken Zander zum Abschied stumm zu. Ich könnte schwören einen bemitleidenswerten Blick bei Zander gesehen zu haben. Schnell laufe ich weiter und sehe nach vorne zu Ashram, um seinen Schritten standzuhalten und in dem grusligen, stillen Wald nicht verloren zu gehen.

„Das ist der Bangenwald“, meldet Ashram sich, ohne sich umzudrehen. „Er ist mit Absicht von einem Nebel und einer Kühle umgeben, um Fremde davon abzuhalten hier einzudringen. Wer es trotzdem wagt in den Wald zu gehen, um einen Elfen zu erblicken, verirrt sich, wird von einem Fabel aufgefressen oder stirbt vor Hunger.“

Die Erklärung von Ashram schlucke ich trocken herunter und versuche, nicht noch mehr Angst zu haben. In Kürze werde ich den Elfen gegenübertreten und ich habe keine Ahnung, was geschehen wird oder, wie ich mich verhalten soll. Ich rede mir ein ruhig zu bleiben und belüge mich selbst. Ich bin die starke Kriegerin aus der Sage. Ich lasse mich nicht runterkriegen, bin mutig und unschlagbar. Ich fürchte mich nicht. Doch diese Lügen halten mich nur für ein paar Schritte ruhig, denn nach kurzer Zeit merke ich, wie die Panik mir den Hals zuschnürt. Ich bekomme keine Luft mehr und der Panzer macht es nicht besser, denn dieser sitzt, wie eine zweite Haut an mir und spannt alles noch weiter an. Das Letzte was ich wollte war, Ashram zu zeigen, was für ein Angsthase ich bin. Ich habe lange durchgehalten, jetzt lässt es sich aber nicht mehr umgehen. Denn mir wird schwarz vor Augen und ich weiß, wenn ich den Panzer an meinem Hals nicht sofort abreiße, falle ich in Ohnmacht. Also bleibe ich stehen, zerre an dem Panzer und versuche durch den Mund, Luft in meine Lunge zu bekommen.

„Hey“, höre ich Ashrams verwunderte Stimme. „Alles gut bei dir?“

„Keine Luft“, wispere ich und versuche den Panzer mit meinen Fingernägeln abzureißen.

Hilf mir“, rufe ich in Gedanken zu Vento.

Doch Ashram scheint schneller als Vento begriffen zu haben und ist bereits an meiner Seite. Da sich alles vor meinen Augen dreht, schließe ich sie und spüre, wie zum einen Ashrams Hand meinen Hinterkopf umfasst und, zum anderen wie eine kalte Klinge die zweite Haut an meinem Hals entfernt. In dem Moment, als mein Hals befreit wird, schnaufe ich die fehlende Luft ein, als wäre ich kurz vor dem Ertrinken gewesen.

Geht es dir besser?“, fragt Vento mit besorgter Stimme.

 „Viel besser“, antworte ich ihm seufzend.  

Erschöpft atme ich noch einmal laut ein und streiche meine offenen Haare zurück. Als ich meine Augen öffne, sehe ich Ashram mit verschränkten Armen vor mir stehen. Schuldbewusst sehe ich in sein Gesicht und bin überrascht darüber, dass er nicht wütend dreinblickt, sondern eine völlig neue Emotion zeigt. Könnte das Sorge sein? Seine Augenbrauen ziehen sich leicht zusammen, seine Lippen sind nachdenklich zu einem Strich verzogen und seine Augen strahlen eine Unsicherheit aus.

„Wie fühlst du dich?“, hakt er nach und sieht mich genau an.

„Jetzt geht es mir gut, danke“, antworte ich und muss mich kurz wegen seiner geschenkten Aufmerksamkeit räuspern. „Ich glaube meine Sorge ist mit mir durchgegangen und der Krokopanzer hat mir das Atmen noch beschwerlicher gemacht.“

Nervös streiche ich meine Strähnen immer wieder nach hinten, sodass mein Blickfeld nicht gestört wird.  

„Das heißt, jetzt bist du nicht mehr besorgt?“, fragt er und zieht eine Augenbraue hoch.

„Das wäre eine Lüge“, sage ich ehrlich und seufze. „Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung, was oder wer da auf uns zukommt und, wie das für uns enden wird.“

„Ich kenne die Elfen sehr gut“, erklärt Ashram und beginnt an seinem Unterhemd rumzunesteln. „Auch wenn sie im ersten Moment kalt und emotionslos wirken, sind sie die einfühlsamsten Geschöpfe auf der Welt. Zu Beginn werden sie uns testen und in dein Inneres sehen, um ein Einblick in deine Seele zu bekommen.“

„Einblick in meine Seele?“, wiederhole ich stotternd und blicke Ashram gebannt in die Augen. „Wird das wehtun?“

Nach meiner letzten Frage stockt er in seinem Tun und sieht mir erneut in die Augen. Meine Frage scheint ihn überrascht zu haben, denn er zieht seine Augenbrauen hoch und wendet seine Augen nicht von meinen.

„Natürlich nicht“, versichert er. „Es könnte dir nur unangenehm sein, da sie deine Gefühle lesen werden.“

Dann sieht er wieder weg und nestelt erneut an seinem Hemd herum. Nervös streiche ich meine Strähnen wieder zurück und merke, wie meine Aufregung erneut steigt und mein Atem unregelmäßig wird. Meine Konzentration widme ich voll und ganz meinen verrückten Gedanken und ignoriere, was Ashram da tut.

„Was, wenn ihnen nicht gefällt, was sie in mir sehen?“, frage ich leise zögerlich und sehe zu Boden, weil mir die Frage peinlich ist.

Als ich höre, wie ein Stück Stoff reißt, blicke ich mit großen Augen doch wieder auf. Es scheint, als hätte Ashram ein längliches, dünnes Stück Stoff seines Hemdes abgerissen. Verwundert und sprachlos blicke ich das schwarze Stück Stoff in seinen Händen an. Als Ashram den Abstand zu mir verringert und mir näherkommt, beginnt mein Puls wieder zu rasen. Was hat er vor? Hat ihn meine Frage verärgert? Wie in Zeitlupe verfolge ich Ashrams Hände und halte die Luft an, als diese sich meinem Gesicht nähern. Und gerade, als ich dachte, er würde mich ohrfeigen, sammeln seine Finger meine Haare zusammen. Schockiert und verwirrt sehe ich zu Ashram hoch. Konzentriert blickt er meine Haare an und versucht jede einzelne Strähne zu erfassen.

„Du wärst nicht die legendäre Kriegerin, wenn du nur Perfektion und Glück ausstrahlen würdest“, antwortet er mit rauer Stimme und ist weiterhin auf meine Haare fokussiert.

Als er alle Strähnen in seinen Händen hält und ich eine frische Brise an meinem verschwitzten Nacken spüre, atme ich erleichtert aus. Mit dem Stück Stoff bindet er schließlich sorgsam und vorsichtig meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Mit dieser Aktion hätte ich niemals gerechnet und kann immer noch nicht ganz glauben, was er gerade getan hat. Meine Augen liegen gebannt auf seinem Gesicht und jede einzelne Regung speichere ich mir ab. Sein Gesicht ist entspannt und seine Körperhaltung strahlt eine Seelenruhe aus. Seine Worte und seine Haltung strömen wie frisches Blut durch meinen Körper und ich spüre, wie ich wieder Mut und Zuversicht sammele.

„Hör zu“, spricht Ashram, nachdem er meine Haare loslässt, den Abstand zu mir wieder vergrößert und mir besser in die Augen sehen kann. „Ich werde dafür sorgen, dass dir nichts passieren wird. Doch dafür musst du ebenfalls einen Beitrag leisten.“

„Was meinst du?“, frage ich und runzele leicht gebannt meine Stirn.

„Verhalte dich ruhig, sieh dich nicht zu neugierig um und sprich nur, wenn das Elfenkind Fin dich direkt etwas fragt.“

„Wie werde ich das Elfenkind erkennen?“, frage ich nachdenklich.

„Du wirst sofort wissen, wer es ist“, versichert Ashram mir, ohne zu zögern.

 „Könnten sie uns angreifen?“, stelle ich aufgeregt die wichtigste Frage für mich.

Der Ausdruck in Ashrams Augen ändert sich schlagartig. Der scharfsinnige und ernste Blick schwindet und ein leichtes Lächeln bildet sich auf seine Lippen, weswegen seine Augen nun warmherziger dreinblicken.

„Das trauen sie sich nicht“, antwortet Ashram mit voller Zuversicht und es bilden sich keinerlei Zweifel in mir, dass er lügen könnte, so glaubhaft wirkt er.

„Dann bin ich jetzt bereit“, nicke ich und atme tief ein und aus, während ich den Blick nicht von Ashram lösen kann.

„Wunderbar“, stimmt er zu und verweilt fünf Sekunden in unserem Augenaustausch, ehe er sich umdreht und vorwärts läuft.

Während wir durch das rote Gras stampfen, das mir bis zu den Knien reicht, merke ich, dass mein Atem nun regelmäßiger und ruhiger verläuft. Ich fixiere Ashrams Rücken und achte nur auf meine Atmung, lasse mich nicht erneut von meinen Gedanken verrückt machen. Selbst Vento läuft ohne Worte neben mir her und sieht nur nach vorne.

Ein Seitenblick zu Vento und ich muss mir ein Schmunzeln unterdrücken. Vor ein paar Tagen, als der Magier uns auf der Wiese überrascht hat und wir ihm ins Schloss hinterhergeilt sind, nachdem Ashram uns vor ihm retten wollten, veränderte Vento seine Vogelgestalt erneut, bevor wir den großen Essensaal betraten. Die Inspiration erhielt er erneut aus meinen Träumen, da ich eines Nachts wohl von meiner alten Perserkatze Kitty träumte. Er war sofort bezaubernd von ihrem flauschigen Fell und ihrer Grazie, dass er ihre Gestalt annahm. Seine Augen kann er nicht verändern, die Knopfaugen blieben, genauso wie seine langen Fühler vor seinen Katzenohren.

Du starrst mich an“, bemerkt Vento und blickt weiterhin geradeaus.

„Ich habe über deine Gestalt nachgedacht“, gebe ich zu.

Ich denke, ich sollte sie ändern“, meint Vento.

„Willst du etwas gefährlicheres annehmen?“, frage ich irritiert.

Nein, etwas unauffälligeres“, antwortet er nachdenklich. „Es geht hauptsächlich um dich und ich möchte mich lediglich zeigen, wenn du in Gefahr schweben solltest.

„Meine Rolle ist ohne deine Existenz unwichtig“, widerspreche ich seiner Behauptung, die Elfen würden nur auf mich achten. „Sie werden auch dich sehen wollen.“

Aber ich bin dein Wegbegleiter, dein Beschützer“, sagt er streng und beharrt auf seine Meinung. „Sie werden mich zwar sehen, aber müssen nicht wissen, zu was ich imstande bin.

„Na gut, wenn du meinst“, gebe ich seufzend nach.

Kaum fünf Sekunden später springt Vento mit seinen Hinterpfoten zu mir hoch und ich bin schon bereit ihn verwundert aufzufangen. Doch in Mischgestalt eines Erdmännchens und Dachses, landet er auf meinen Schultern und macht es sich neben meinem Hals gemütlich. Ich hätte mich gern über seine Gestaltsentscheidung unterhalten, wenn Ashram nicht plötzlich vor einem riesigen Baum mit einer dicken hervorstechenden Wurzel, inmitten dessen ein Hasenloch, stehengeblieben wäre. Das Loch ist breit genug, dass zwei Menschen gemeinsam durchpassen könnten. Meine Intuition sagt mir sofort, dass wir angekommen sind und vermutlich in die dunkle Höhle rein müssen. Dennoch sehe ich fragend und hoffnungsvoll zu Ashram und warte, bis er erklärt, wie es weitergeht.

„Die Wurzel ist breit geöffnet, heißt die Elfen gewähren uns Einlass“, erklärt Ashram, als er sich zu mir umdreht.

„Sieht ziemlich dunkel aus“, erwidere ich mit trockenem Hals.

„Komm“, sagt Ashram ohne mich groß zu beachten und dreht sich wieder zum Loch hin. „Folge mir dicht.“

Das lasse ich mir nicht zweimal sagen, als Ashram bereits losläuft. Mein Herz schlägt so schnell, ich bin mir sicher, dass es in der Höhle widerhallen wird. Als ich den ersten Schritt in die Höhle mache und die Dunkelheit meine Nackenhaare aufstellen lässt, krallen sich meine Hände automatisch an Ashrams Sweatshirt. Ich spüre Ashrams überrumpelten Gesichtsausdruck, doch es ist mir schlichtweg egal. Wenn er will, das sich mitkomme, dann muss er mit den Konsequenzen leben. Je weiter wir in die Höhle laufen, desto mehr erlischt das Licht hinter uns. Ab und zu meine ich Tropfen auf den Boden fallen zu hören, doch sehe oder höre ich nirgends einen Bach oder Wasserfall. Jedenfalls fühlt es sich stickig in der Höhle an und die Temperatur ist schwül. Als Ashram plötzlich stehenbleibt, laufe ich direkt in ihn rein und stoße grob mit meiner Nase gegen seinen Rücken an. Ich höre, wie er genervt seufzt, doch er gibt keinen Kommentar dazu ab.

„Nun müssen wir in das Loch“, sagt er und ich erkenne in der Dunkelheit die Silhouette seines Armes, welcher auf den Boden zeigt.

Ich muss meine Augen zusammenkneifen, um das Loch auf den Boden zu erkennen. Der Gedanke, da reinzuspringen, graut mir. Vor allem, da ich genau weiß, dass ich da alleine durch muss und ich mich nicht an Ashram haken kann.

„Sieht spaßig aus“, flüstere ich ironisch und könnte auf der Stelle weinen.

„Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht“, erklärt Ashram und ich merke anhand seiner Stimme, wie er versucht es schön zu reden. „Du musst lediglich in das Loch springen, dir wird nichts passieren. Ich gehe vor und fange dich unten auf.“

Sprachlos sehe ich zu Ashram hoch und versuche irgendein Scherz in seinem Gesicht abzulesen. Doch es ist zu dunkel und ich erinnere mich, dass Ashram nicht der Typ für Scherze ist. Bevor ich noch weiter darüber nachdenken kann, begibt sich Ashram bereits zum Loch und springt hinein, ohne sich noch einmal umzudrehen.

„Das ist nicht wahr“, sage ich zu mir selbst und kneife meinen Arm.

Du schaffst das Solveig“, redet Vento mir gut zu, während er immer noch auf meinen Schultern sitzt. „Ich bin bei dir und vertraue Ashram voll und ganz. Du nicht?“,

Ehrlich gesagt, vertraue ich Ashram zwar schon mehr als am ersten Tag unseres Treffens. Trotzdem reicht mein Vertrauen noch nicht aus, mich in Lebensgefahr zu bringen, nur weil er sagt, dass mir nichts passieren wird. Doch was bleibt momentan übrig? Ich erwache weder aus einem bösen Traum, noch kann ich umkehren.

„Ich springe jetzt rein“, sage ich zu Vento mit starrem Blick.

Da ich mich gut genug kenne, entscheide ich tatsächlich einfach zu springen, bevor ich zu viel darüber nachdenke. Kurz atme ich tief ein, dann mache ich die Augen zu und lasse mich einfach in das Loch fallen. Als ich falle, weiten sich meine Augen voller Panik, doch da alles dunkel ist, kann ich nichts sehen. Ich spüre lediglich den Flugwind an mir vorbeiziehen und, wie trocken meine Augen werden, obwohl sie durch die Geschwindigkeit zu tränen beginnen. Alles in mir schreit und wäre ich nicht paralysiert vor Panik, hätte ich vermutlich wirklich laut geschrien. Kurz vernehme ich unter meinen Füßen Licht und falle nicht mehr, sondern rutsche einer Wand entlang. Es dauert nicht lange, da werde ich schon aufgefangen, rutsche und falle nicht mehr. Meine Arme liegen auf Ashrams Schultern und mit großen Augen blicke ich in Ashrams Gesicht. Ich merke, wie mir schwarz vor Augen wird und Vento von meinen Schultern herunterspringt.

„Atmen“, erinnert mich Ashram und hält mich immer noch in seinen Armen.

Wie gebannt sehe ich in Ashrams dunkle Augen und schnaufe nach seiner Aufforderung sofort nach Luft. Während meine Beine herunterbaumeln, atme ich schnell ein und aus.

„Du hast nicht geschrien, da dachte ich es gehe dir gut“, sagt er leise und lässt mich nicht los.

„Ich hätte gerne geschrien, aber ich konnte nicht“, antworte ich stockend und versuche mich zu beruhigen.

Langsam setzt Ashram mich auf den Boden ab, doch meine Beine sind wie Gummi und können nicht standhalten. Peinlich berührt gebe ich mein Bestes mein Gewicht wieder selbst halten zu können, doch scheint mein Körper immer noch paralysiert zu sein.

„Tut mir leid“, flüstere ich verärgert über mich selbst und nehme meine Arme von seinen Schultern, um mich mit den Händen an seiner Brust von ihm wegzudrücken. „Lagere mich einfach kurz auf den Boden ab. Ich brauche nur ein paar Minuten, um meine Kraft wiederzufinden.“

„Unsinn“, antwortet er, hebt mich wieder hoch und drückt mich an sich. „Ich werfe die legendäre Kriegerin sicherlich nicht wie ein Sack Reis auf den Boden. Wir haben Zeit.“

Also liegen meine Arme wieder um seine Schulter und ich schmiege leicht meinen Kopf gegen seinen Hals, um nicht zu zeigen, wie rot ich durch seine Geste werde. Während ein Arm von Ashram unter meinem Gesäß verweilt, liegt die andere Hand auf meinem Rücken und drückt mich an seinen Körper. Die körperliche Nähe zu Ashram verwirrt mich sehr. Ich dachte ich hasse, oder fürchte mich zumindest zu sehr vor ihn. Doch nun hält er mich so nah an sich, ich berühre seinen Körper und atme seinen frischen Duft ein, sodass ich merke, dass keinerlei Hass oder Furcht da ist, sondern große Sympathie, wenn nicht sogar Sehnsucht nach mehr.

Wir sollten weitergehen“, taucht die Ventos Stimme in meinem Kopf auf und ich erwache aus meiner Trance.

„Er hat Recht“, erwidert Ashram und lässt mich erneut langsam auf meine Füße runter.

Es scheint, als hätte Vento seine Fühler auf Ashram gelegt, um uns beide gleichzeitig anzusprechen. Gerne wäre ich länger in dieser Position verweilt, doch wir sind nicht umsonst hier in diesem Loch. Dieses Mal scheinen meine Füße in der Lage zu sein mein Gewicht zu tragen und nichts wirkt entkräftet. Sobald Vento wieder auf meine Schulter gesprungen ist, laufe ich mit sicheren Schritten neben Ashram einen rundlichen Gang entlang. Ich versuche mich wie versprochen nicht zu sehr umzusehen, nichtsdestotrotz spüre ich den Druck in der Brust, tief unter der Erde zu sein. Die Wände sind aus Erde, hin und wieder taucht eine langgezogene Wurzel auf. Alle fünf Meter beleuchtet uns eine Flamme den Weg. Der Duft hier ist alt, eine Art Mischung von Oma zu Hause und den Räucherstäbchen in den alternativen Massagenpraxen. Die Temperatur ist schwül und ich bin glücklich, dass der Krokopanzer mein Schweiß nicht durscheinen lässt. Leise seufzend schiele ich zu Ashram und bin ihm für den Zopf dankbar, sonst wäre mein Gesicht vermutlich vollkommen verschwitzt.

Als das Licht am Ende des Ganges immer heller wird, steigt mein Puls erneut an diesem Tag und ich weiß, dass wir gleich ankommen. Nach mehreren Schritten biegen wir an einer scharfen Ecke ab und betreten einen riesigen Raum. Würden mich nicht gefühlt hundert Augen gleichzeitig anstarren, hätte ich dem Raum vermutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Schockiert bleibe ich direkt neben Ashram stehen, mein Arm berührt seinen und am liebsten hätte ich mich hinter ihm versteckt. Die tiefschwarzen, großen Augen der Elfen nimmt mir jede Spucke weg und mein Hals wird ganz trocken. Einerseits wirken sie angsteinflößend, andererseits sind sie wunderschön. Jeder Elf ist mit einem anderen goldenen Tattoo auf seiner braunen Haut sowie Haarfarbe gekennzeichnet.

Mein Herz schlägt sehr schnell und ich merke, dass meine Augen auch glasig werden, da ich es kaum geschafft habe zu blinzeln. Meine Hand zuckt mit dem Impuls, nach Ashram zu greifen. Zum wiederholten Mal am Tag stellt Ashram mein Beschützer dar, dafür, dass ich mich seit meiner Ankunft im Schloss eher vor ihm gefürchtet habe. Niemand anderes würde ich mir gerade an meiner Seite wünschen und ich spüre eine innere Sicherheit, dass er seine Aufgabe mich zu beschützen sehr ernst nimmt.

„Ich habe mein Wort gehalten“, spricht Ashram mit lauter Stimme. „Der Krieger und das Wesen aus der Prophezeiung sind hier.“

Die Elfen stehen vor einem dicken Stamm, welcher hoch in die Decke ragt. In ihrem Gesicht kann ich keinerlei Emotionen herauslesen. Als in der plötzlichen Stille ein schrilles, lautes Lachen ertönt, zucke ich kurz zusammen. Erst jetzt erkenne ich in der Baumkrone ein Loch, in welchem jemand auf einem Thron sitzt. Ein Elf mit langen, haselnussbraunen Haaren und einem Blumenkranz auf dem Kopf lacht lauthals. Das muss vermutlich das Elfenkind Fin sein. Sein Lachen lässt meine Nackenhaare aufstellen und urplötzlich bin ich erleichtert, den Panzer um meinen Körper zu tragen. Irgendwas sagt mir, dass sie nicht mit mir gerechnet haben.

„Kein Krieger, eine Kriegerin“, korrigiert das Elfenkind Ashram mit einem breiten Grinsen auf dessen braunen Lippen.

„Wo liegt der Unterschied?“, fragt Ashram provokant und ich spüre eine angriffslustige Aura von ihm ausgehen.

„Findest du es nicht amüsant, dass die Welt jahrelang auf einen kräftigen Mann gewartet hat und stattdessen eine wunderschöne, zierliche Frau auftaucht?“, fragt es und spricht zu Ashram, als wäre ich nicht hier.

„Sie ist hier, egal ob Mann oder Frau“, verteidigt Ashram mich und ich bin verwundert, wo er diese Haltung herausgegraben hat, dabei hätten die Worte des Elfenkindes auch seine sein können. „Ihre Existenz beweist, dass die Prophezeiung wahr ist, das ist das Wichtigste.“

Es bleibt ein paar Minuten still, keiner der anderen Elfen hat bisher ein Wort gesprochen. Das Elfenkind selbst bemustert mich nun intensiv und scheint nachzudenken.

„Meine Liebe“, beginnt es und die schwarzen Augen blicken in die meine. „Wie lautet dein Name?“

Mit angehaltenem Atem drehe ich mich leicht zu Ashram, um mich zu vergewissern wirklich zu antworten. Ich erkenne ein Nicken und seine Augen strahlen so viel Zuversicht aus, dass ich daraus Mut schöpfe. So wende ich den Blick wieder zu dem Elfenkind und atme erst tief ein und aus, ehe ich antworte.

„Ich heiße Solveig“, sage ich mit lauter Stimme und bin stolz darauf, stark geklungen zu haben.

„Solveig“, wiederholt das Elfenkind und lässt sich mein Name auf der Zunge zergehen, während er mich weiterhin intensiv anblickt.

„Du hast ein barmherziges, tapferes Wesen und trägst eine pure Aufrichtigkeit in dir“, merkt es an.

Mir wird schlagartig bewusst, dass vermutlich gerade das passiert, wovor ich gewarnt wurde. Das Elfenkind scheint in mein Inneres zu blicken, deswegen der intensive Blick.

„Doch deine Seele hat eine Wunde, die schon lange währt und unheilbar scheint. Die Trauer hat dich beinahe aufgefressen, fast hättest du dich darin verloren.“

Daraufhin muss ich schlucken und spüre nicht nur die neugierigen Blicke aller Elfen auf mir, sondern auch Ashrams. Spielt das Elfenkind auf den Verlust meiner Eltern hin? Jedenfalls gefällt mir dessen Schilderung nicht und ich fühle mich plötzlich nackt vor allen. Verlegen blicke ich zu Boden und hoffe, dass seine Inspektion bald vorüber ist.

Kopf hoch“, höre ich Ventos mahnende Stimme in meinem Kopf. „Es gibt nichts, wovor du dich schämen solltest. Das Elfenkind sieht nur deinen Schmerz, kann es jedoch nicht genau benennen. Es ist deine Geschichte und bleibt dein Geheimnis, wenn du es so möchtest. Alles, was du erlebt hast, hat dich nur stärker gemacht. Zeig ihnen, dass du den Titel der wackeren Kriegerin verdient hast!

Die Tatsache, dass Vento mir so viel Mut zusprechen musst, zeigt mir, dass ich vermutlich sehr verloren dreinblicken muss. Also atme ich tief durch und sehe mit wackeren Augen hoch zum Elfenkind. Seine schwarzen Augen blicken mich immer noch an, dieses Mal sehe ich jedoch nicht weg, sondern halte dem Stand. Denn Vento hat vollkommen Recht. Wenn ich ihnen jetzt meine Schwäche aufgrund meiner Vergangenheit zeige, werde ich keinerlei Stärke für den bevorstehenden Krieg ausstrahlen können.  

„Kann es wahr sein?“, fragt das Elfenkind nun etwas zögerlich und lehnt sich mit offenem Mund aus seinem Thron vor.

Es scheint plötzlich etwas in mir entdeckt zu haben, das ihn ganz aufgeregt erscheinen lässt. Wegen seiner Größe wirkt es nun vielmehr wie ein Kind, das gerade einen seltenen Schmetterling hinter einem Gebüsch entdeckt hat.

„Ja, doch, ich spüre es immer stärker von ihr ausgehen“, spricht Fin zu sich selbst und lässt mich nicht aus den Augen.

Mit gerunzelter Stirn halte ich weiterhin dem Blick des Elfenkindes Stand. Von der Seite spüre ich, dass auch Ashram verwundert dreinblickt und nicht weiß, wovon gesprochen wird. Das Elfenkind wirkt hibbelig auf seinem Thron, steht mal auf und setzt sich wieder, es kann sich nicht entscheiden, so aufgedreht ist es. Zu Beginn schien es unschlüssig zu sein, doch mittlerweile hat es eine Erkenntnis gewonnen und grinst über beide Elfenohren. Was hat es denn noch in mir gesehen?

„Ich bin mir sicher, dass von der legendären Kriegerin Solveig eine potenzielle Seelenverwandtschaft ausgeht“, gibt Fin allen laut kund.

Sofort beginnt ein anhaltendes Getuschel unter den Elfen und ich habe das Gefühl, dass die Aussage etwas sehr Bedeutendes in sich trägt. Schon wieder der Begriff der Seelenverwandtschaft, was hat es auf dieser Welt an sich? Mit gerunzelter Stirn sehe ich zu Ashram, doch dieser blickt aschfahl und schockiert zum Elfenkind Fin. Sein Blick jagt mir einen kalten Schauer über den Rücken, weswegen ich mit aufgeregtem Atem mit einer Hand zu Vento greife, welcher immer noch auf meiner Schulter sitzt.

„Wovon spricht das Elfenkind?“, frage ich in Gedanken und versuche nicht panisch zu klingen.

Die aufgedrehte Stimmung puscht mich hoch. Es ist, als würden alle wissen welches Ungeheuer hier sein Unwesen treibt, nur ich bin die Einzige, die es nicht sehen kann. Ich bereue es schlagartig Mehmet über das Thema nicht näher ausgefragt zu haben.

Eine Seelenverwandtschaft ist sehr selten“, erklärt Vento mit nachdenklicher Stimme. „Es scheint, als gäbe es hier jemand, der auf dich zutrifft.

„Und wenn das so wäre?“, frage ich und verkneife mir ein Aufschrei.

Ich habe erneut hundert Fragen in meinem Kopf und es macht mich wütend, dass ich keine Ahnung habe, wie diese Welt funktioniert. Eine Seelenverwandtschaft klingt doch nicht schlecht, wieso machen hier alle so einen Aufstand drum? Ist doch nett, jemand zu haben, der perfekt zu mir passt und sich mit mir versteht. Oder etwa nicht?

Ich kenne die Details einer Seelenverwandtschaft nicht. Auf meiner Reise rund um die Welt habe ich sie selten mitbekommen, und wenn, dann hat nie jemand darüber gesprochen“, antwortet Vento bedrückt. „Aber hier geht es eigentlich um vielmehr, Solveig.“

„Auf keinen Fall“, ruft Ashram aus dem Nichts und das Getuschel hört abrupt auf. „Das werde ich nicht zulassen.“

Wenn Ashram nicht möchte, dass ich meinen Seelenverwandten hier finde, dann muss dieses Bündnis etwas Fürchterliches beinhalten. Aufgeregt sehe ich zu Ashram hoch und muss trocken schlucken.

„Ihr seid aus einem bestimmten Grund hier“, erinnert das Elfenkind Ashram streng. „Euch bleibt nichts anderes übrig.“

„Sie wollen ein Bündnis“, erkenne ich plötzlich Ventos Hintergedanke und teile diese ihm. „Wenn ich eine Seelenverwandtschaft eingehe, dann kämpfen sie im Krieg an unserer Seite.“

Die Elfen sehnen sich seit Jahrzehnten nach einer Seelenverwandtschaft“, bestätigt Vento. „Sie haben zwar die Fähigkeit in die Seelen anderer zu blicken, doch konnten nie solch ein Bündnis eingehen. Das widerspricht eigentlich ihrer Magie und ihrem Wesen, weswegen sie schon lange auf der Suche nach einem Seelenverwandten für irgendeinen Elfen in ihrem Volk waren.“

„Wir verzichten“, spuckt Ashram die Worte förmlich aus, greift nach meiner Hand und zieht mich aus dem großen Raum.

Als wir um die Ecke sind, machen meine Füße einen Halt und bleiben wie angewurzelt stehen. Mit verwundertem Blick dreht Ashram sich zu mir um und sieht mich fassungslos an. Ich konnte noch gar nicht nachdenken, dafür hatte ich keine Zeit. Deswegen lasse ich meine Intuition sprechen.

„Wir sollten ihnen zustimmen“, wispere ich und blicke schwer atmend zu ihm auf.

„Was?“, fragt er perplex. „Du weißt doch nicht, wovon du sprichst.“

„Warte“, dränge ich, da er wieder bereit ist weiterzulaufen und zwinge ihn, mich anzusehen. „Wir haben den weiten Weg nicht auf uns genommen, um nach solch einer Bitte wieder umzukehren. Korrigiere mich, aber brauchen wir nicht jeden Verbündeten in diesem grausamen Krieg?“

„Nur weil wir weniger besetzt sind als die gegnerische Seite, heißt es noch lange nicht, dass wir deine Zukunft für nur einen Verbündeten opfern“, zischt er wütend und knirscht mit den Zähnen.

„Handelt es sich hier denn wirklich um eine Aufopferung?“, frage ich und ziehe eine Augenbraue in die Höhe. „Ich weiß zwar nicht, was diese Seelenverwandtschaft alles beinhaltet, aber sie hört sich nicht danach an, als würde ich dadurch sterben.“

„Du wirst dein Leben lang jemand an deiner Seite haben, es gibt danach kein Zurück. Sollte er sterben, wirst du nie zur Ruhe kommen und für immer leiden, es wird dich umbringen“, versucht er verzweifelt zusammenzufassen.

„In meiner Welt strebt jeder nach einem Seelenverwandten“, zucke ich hin und hergerissen mit den Schultern. „Du zählst auf, wie schlimm es sein könnte, wenn ich ihn verliere. Aber was ist mit den schönen Zeiten, die ich mit ihm haben könnte? Schließlich sollte er perfekt zu mir passen und mich am besten von allen verstehen.“

Schnaubend dreht sich Ashram um und legt seine Arme auf seinen Kopf. Meine Schilderung scheint ihn wütend zu machen. Aber wieso? Das würde ich ihn am liebsten fragen, doch ich befürchte ihn dadurch noch mehr zu verärgern. Als er sich nach etwa einer Minute wieder zu mir umdreht, scheint er sich beruhigt zu haben.

„Bist du dir sicher?“, fragt er mich und studiert meinen Blick.

„Was denkst du?“, frage ich Vento.

Ich glaube, du hast dich schon entschieden“, merkt er an. „Egal für was, ich bin immer bei dir.

Da ich es nicht schaffe ein Wort herauszubekommen, so groß ist meine Angst vor den nächsten Schritt, nicke ich Ashram nur zu. Wir brauchen die Elfen auf unserer Seite, um zu gewinnen. Das Sterben der vielen Menschen und Fabeln muss aufhören. Wenn ich für ihre Verbundenheit nur ein Bündnis der Seelenverwandtschaft eingehen muss, dann ist dies das geringste Übel. Schließlich werde ich jemand finden, der mich ohne Zweifel für immer lieben und akzeptieren wird, wie ich bin. Wünscht sich das nicht jeder?

 

ASHRAM

 

In dem Moment, als ich ihr in die Augen sehe und sie mir zweifelsfrei entgegenblickt, dabei ihre Lippen fest aufeinanderdrückt und ihren Kiefer anspannt, weiß ich, dass ich sie nicht mehr umstimmen kann. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit und ich könnte ihr erklären, was eine Seelenverwandtschaft alles mit sich trägt. Am liebsten würde ich sie wachrütteln und ihr aufzählen, was für Schmerzen sie ertragen müsse, wenn der Partner stirbt oder sie voneinander getrennt werden. Der Krieg steht bevor und es wird viele Opfer geben. Was wenn ihr Partner darunterfällt? Wird sie dann noch fähig sein, mit klarem Kopf zu kämpfen? Doch die Elfen warten und uns bleibt nur die eine Chance, sie auf unsere Seite zu lenken.

„Na gut“, flüstere ich, nachdem ich ein leichtes Nicken von ihr vernehme.

Seufzend weise ich sie den Weg zurück zu den Elfen und folge ihr dicht. Mit grimmiger Miene erscheinen wir wieder im großen Saal. Da es still ist, bin ich mir sicher, dass die Elfen oder zumindest Fin damit gerechnet hat, dass wir wieder zurückkehren. Mit einem fanatischen Lächeln blickt das Elfenkind dem Mädchen entgegen und fällt dabei fast von seinem Thron.

„Ihr habt euch umentschieden?“, fragt es laut und kichert am Ende der Frage.

Ich stehe immer noch dicht hinter dem Mädchen und widerstehe dem Drang sie wieder an die Hand zu nehmen und von hier zu verschwinden. Die Elfen sind ein seltsames Volk, der Gedanke einer von ihnen könnte ihr Seelenverwandter sein, beunruhigt mich. Doch es ist ihre Entscheidung und vielleicht täusche ich mich auch mit meinen Vorurteilen. Da das Mädchen sich zu mir umdreht, brauche ich nicht lange, um zu verstehen, dass sie meine Unterstützung wünscht.

„Sie ist bereit es auszuprobieren“, antworte ich für sie mit lauter Stimme und blicke die Elfen neben dem Baumstamm engstirnig entgegen. „Aber nur unter gewissen Voraussetzungen.“

„Ich hätte auch nicht gedacht, dass der unsterbliche Ashram solch einem Bestreben ohne Bedingungen zustimmt“, nickt Fin mit hochgezogenen Augenbrauen. „Was verlangt ihr?“

„Das wichtigste zuerst“, beginne ich und lasse Fin nicht aus den Augen. „Sollte keiner in diesem Saal der Seelenverwandte von dem Mädchen sein, werdet ihr trotzdem an unserer Seite mit uns in den Krieg ziehen.“

Es gibt immer noch eine kleine Hoffnung in mir, dass das Elfenkind sich möglicherweise getäuscht hat und von dem Mädchen keine potenzielle Seelenverwandtschaft ausgeht. Das würde jedenfalls alle Sorgen verschwinden lassen.

„Einverstanden“, antwortet Fin ohne zu zögern, als sei er sich seiner Vermutung sehr sicher.

„Des Weiteren erwarte ich einen respektvollen Umgang“, zähle ich auf und blicke nun die Elfen vor uns an. „Sollte nach zwanzig Sekunden keine Verbindung gespürt werden, entfernt ihr euch ohne Diskussion von ihr.“

„Selbstverständlich“, gibt Fin scheinheilig von sich. „Sonst noch was?“

„Wenn sie nicht mehr weitermachen möchte, lasst Ihr uns ohne Widerworte oder Protest gehen.“

„Das würde unsere Vereinbarung jedoch brechen. Wir würden nicht mit in den Krieg ziehen“, führt Fin mit gekräuselten Lippen aus.

„Das ist uns klar“, antworte ich, ohne zu zögern.

Dann bleibt es vorerst still im Saal und alle scheinen zu warten, bis das Elfenkind eine Reaktion zeigt. Es sitzt weiterhin auf dessen Thron und scheint in Gedanken vertieft zu sein. Dadurch, dass Fin den Kopf eingezogen hält, wirft der Blumenkranz einen tiefen Schatten auf dessen Gesicht und es lässt keine Regung erkennen. Erst als das Elfenkind sich plötzlich von dessen Thron erhebt und von dem Baum herunterspringt, leichtfüßig auf seinen nackten Füßen landet, ist ein aufgeregtes Lächeln auf dessen goldenen Lippen zu erhaschen.

„Wenn alles geklärt ist, würde ich gerne der erste sein“, spricht es zu uns und legt eine Hand auf die Brust, während er mit der anderen Hand sein Zepter einem Elfen aufdrückt. „Ist das für dich Recht, Solveig?“

Von der Seite sehe ich, wie das Mädchen mit ihrem Kopf nickt. Ich brauche sie nicht anzusehen, um zu wissen, dass sie sehr nervös ist. Ich spüre ihre Anspannung und höre, wie ihr Atem immer aufgeregter verläuft. Vento sitzt weiterhin auf ihrer Schulter und beobachtet das Szenario vor sich. Ich bin mir sicher, dass die Beiden unentwegt telepathisch im Gespräch miteinander sind. Als sich Fin uns mit leichten Schritten nähert, beschließe ich etwas Abstand zu nehmen und genug Platz für so etwas Intimes und Privates zu schaffen. Doch in dem Moment, als ich Anstalt mache mich zu bewegen, greift das Mädchen sekundenschnell nach meinem Arm und blickt mich mit großen Augen an.

„Geh nicht“, wispert sie leise, sodass nur ich es hören kann.

Ihr Blick durchlöchert mich und ich kann mir nicht vorstellen, mich ihrer Bitte zu widersetzen. Ihre Hand fühlt sich zittrig auf meinem Arm an und ich könnte schwören, dass ihre Augen glasig sind. Ich vernehme ein leichtes Ziehen in meiner Brust, bei dem Gedanken sie im Stich zu lassen.  Ohne weiter darüber nachzudenken und, um das Ziepen in der Brust zu bändigen, lege ich meine Hand auf ihre.

„Ich bleibe an deiner Seite“, versichere ich ihr und drücke ihre Hand, um ihr Zittern zu beenden.

Als das Elfenkind nur noch wenige Meter von uns entfernt ist, nehme ich meine Hand von ihrer und blicke sie auffordernd, aber auch zuversichtlich an. Nun ist sie an der Reihe ihr Versprechen den Elfen gegenüber zu halten. Ich kann nur hoffen, dass sie stark genug ist und nicht nachgibt, denn das würde eine Schwäche in ihrer Rolle als Kriegerin aufweisen. Zwei Schritte vor dem Mädchen bleibt Fin stehen und streckt freudig und einladend dessen Hände nach ihr aus. Das Lächeln von Fin trägt ein Hauch Besessenheit in sich. In dem Moment bin ich mir sicher, dass es nicht ihr Seelenverwandter sein wird, denn das Elfenkind will das Mädchen nicht aufgrund von Liebe, sondern Genugtuung und Triumph.

„Ich mache das zum ersten Mal“, spricht das Mädchen zögerlich und entschuldigend zu Fin.

„Meine Liebe, das ist ganz einfach und wird auch nicht wehtun“, versichert Fin behutsam und in sich hineinkichernd. „Wir müssen uns regelrecht an unsere Unterarme fassen, sie bekreuzen und uns tief in die Augen blicken. Sollten wir füreinander bestimmt sein, wirst du es schon spüren.“

Ich sehe das Mädchen zwar nur von der Seite, doch kurz erhasche ich ein kritisches Misstrauen und eine Unsicherheit in ihrem Gesicht. Dies ändert sich aber schnell, nachdem sie schwer schluckt, tief Luft holt und eine aufrechte Haltung einnimmt. Langsam lässt sie ihre Hände auf den Unterarm von Fin sinken und sieht schließlich wacker in dessen Augen. Sie hält dem Blick dreißig Sekunden Stand, ehe das Elfenkind von selbst ihre Hand seufzend loslässt.

„Wir scheinen wohl nicht füreinander bestimmt zu sein“, erklärt es schmollend, doch schnell setzt es wieder ein Lächeln auf und sieht motiviert zum Mädchen hoch. „Dennoch freut es mich, dass es eines meiner Gefolgsleute sein wird.“

Als Fin sich umdreht, erkenne ich, dass die Anspannung von dem Mädchen abfällt. Sofort sieht sie zu mir und ich merke, dass sie erleichtert ausschaut, was mich kurz zum Lächeln bringt. Sie scheint genau dasselbe zu denken, weswegen sie mich ebenfalls kurz angrinst und dann gewappnet zum Rest der Elfen blickt. Während die Elfen nun hintereinander, sei es Frau oder Mann, die Seelenverwandtschaft zu dem Mädchen prüfen, achte ich darauf, dass keiner von ihnen zu grob mit ihr umgeht oder sie vor Frust verletzen vermag.

Die Zeit zieht sich hin und ich werde immer erstaunter, was für ein großes Durchhaltevermögen das Mädchen besitzt und jedem Elfen dieselbe Chance gibt. Noch vor wenigen Tagen hielt ich nichts von ihr und war massiv enttäuscht über ihr schüchternes, schwaches, aber auch freches Auftreten. Doch nach dem Ausflug in das Schreckensdorf, hat sich etwas zwischen uns geändert. Sie wirkte reifer und handelte überlegter, sie nahm die Situation ernster und ging Kompromisse ein. Und ich hielt mich wiederum mit meinem Drang zurück, sie in eine Puppe zu verwandeln, die ich nach Belieben steuern kann und lernte wertschätzender mit ihr umzugehen. Oftmals verspüre ich noch den Drang ihr an die Gurgel zu gehen, doch das würde ich nie wieder wagen. Viel eher merke ich, dass ich sie vermehrt in Schutz nehmen möchte. Verstärkt wurde das vorhin durch den Satz von Fin: „Die Trauer hat dich beinahe aufgefressen, fast hättest du dich darin verloren“. Dieser Satz hätte auch auf mich zutreffen können. In dem Moment wusste ich, dass wir uns beide mehr ähneln, als ich je gedacht hätte. Was hat sie so Schlimmes erlebt?

Meine Gedanken werden plötzlich beendet, als ich auf die Gangart eines Elfen aufmerksam werde, der als nächstes bei der Prüfung mit dem Mädchen dran ist. Mit einem fast übertriebenen, selbstbewussten Gang schlendert er auf sie zu, hat ein provokantes Grinsen im Gesicht und leckt sich immer wieder mit der Zunge über seine Lippen. Meine Nackenhaare sträuben sich und ich spüre, dass das keine leichte Prüfung sein wird. Mit verschränkten Armen nähere ich mich dem Mädchen und lasse den Elf nicht aus den Augen. Wie ein Blitz streift sein Blick kurz zu mir, woraufhin er dann über meine prüfende Haltung überheblich zu lächeln beginnt.

„Jetzt bin ich dran“, spricht er, als er bei uns angekommen ist.

Noch ehe das Mädchen reagieren kann, greift der Elf vorschnell nach ihren Armen und zieht sie grob zu sich heran. Am liebsten hätte ich ihn sofort zur Seite gezerrt. Doch ich reiße mich in sekundenschnellen zusammen und warte ab. Das Mädchen reagiert sprachlos und überrascht, kann aber gerade so noch ihr Gleichgewicht halten und zum Elfen hochsehen, um mit dem Prozedere zu beginnen. Ungeduldig tippen meine Finger auf meine Arme, mit einer hochgezogenen Augenbraue warte ich, bis sie fertig sind. Da Vento auf den Schultern von dem Mädchen hin und her tappt, weiß ich, dass auch er unzufrieden mit dem Verhalten des Elfen ist. Kurz sieht er mit seinen schwarzen Augen zu mir und ich brauche nicht mit ihm zu reden, um zu wissen, dass er ebenfalls bereit ist den Elfen zur Seite zu ziehen, sollte er nicht von dem Mädchen ablassen.

„Tut mir leid, leider spüre ich nichts“, meldet sie sich, nachdem mehr als dreißig Sekunden vergangen sind.

Langsam und behutsam versucht sie ihre Arme aus seinen zu ziehen, doch schafft es nicht aus seinen Griffen herauszukommen. Als ich sehe, dass der Elf seine Finger regelrecht in ihre Arme einkrallt und sich sein lächelndes Gesicht in ein brodelndes verändert, greife ich ein.

„Es wird Zeit loszulassen“, spreche ich erst ruhig zum Elfen.

Der Elf ignoriert meine Aussage und starrt das Mädchen unablässig und bedrohlich an.

„Noch einmal“, fordert der Elf und drückt weiter seine Finger in ihre Arme rein.

Ich merke, wie sich das Mädchen ein Aufschrei verkneift und mit gerunzelter Stirn abwechselnd unsicher zum Elfen und mir sieht.

„Lass los“, verlange ich nun eindringlicher und stelle mich direkt vor den Elfen.

„Noch einmal“, zischt der Elf wie in einem Wahn, als würde er mich nicht hören oder sehen.

Sein Griff um ihre Arme werden stärker, während seine Arme vor Anspannung anfangen zu zittern, beginnt das Mädchen zu keuchen und sich zu winden. Sie scheint große Schmerzen zu haben, was mich überaus wütend macht. Ich hatte dem Mädchen versprochen, sie zu beschützen. Also ergreife ich eisern den Hals des Elfen und würge ihn erst leicht. Da er nicht reagiert, seufze ich verärgert, drücke stärker, hebe ihn hoch in die Luft und zwinge ihn so mich anzusehen.

„Lass sie sofort los“, drohe ich zornig.

Als der Elf gezwungen ist, mich anzusehen, scheint er zurück in die Realität zu kommen. Sofort lässt er das Mädchen los, weswegen auch ich ihn loslasse. Wie ein bedrohtes Tier springt er ein Meter von mir zurück, zückt ein Holzschläger aus seinem Gewand und hält es herausfordernd gegen mich und dem Mädchen. Der Elf springt von einem Bein zum anderen und scheint zu überlegen, auf wen er zuerst losgehen soll.

„Kayrl, es reicht“, höre ich die Stimme von Fin.

Wütend, dass das Elfenkind sich erst jetzt meldet, schnaube ich und lasse den verrückten Elf nicht aus den Augen. Sollte er ein Schritt auf uns zu machen, werde ich sein Schläger in zwei Teilen und den Elfen ans andere Ende des Raumes befördern. Zischend bleibt er endlich stehen und beginnt erneut das Mädchen anzustarren. Wütend, dass er mich vollkommen ignoriert, trete ich vor das Mädchen und drücke sie beschützend hinter mich. Meine Fäuste ballen sich zu Fäusten und meine Kiefer knackst, bereit zu kämpfen. Aus dem Nichts springt auch Vento von den Schultern des Mädchens, ändert seine Gestalt im Sprung und landet laut knurrend auf vier Pfoten vor mir. Vento hat die Gestalt eines großen, dunklen Wolfes mit buckeliger Haltung, langen Krallen und spitzen Zähnen aufgenommen. Sein Knurren ist bedrohlich laut, sein Gebiss, aus dem Speichel auf den Boden tropft, ist weit geöffnet zur Attacke. Ich muss mich konzentrieren, um den Elfen weiterhin im Auge zu behalten, so sehr bin ich überrascht über Ventos Stärke und Gestalt. Wenn er in so kurzer Zeit solch eine Gestalt einnehmen konnte, zu was wird er dann im Krieg zustande sein?

„Genug“, ruft das Elfenkind nun laut und erzürnt. „Kayrl, du wagst es unsere Gäste so zu beleidigen? Verschwinde, bevor ich dich öffentlich hinrichte.“

Kayrl scheint erst jetzt die Stimme von Fin gehört zu haben, denn schlagartig verschwindet seine Angriffslust und wechselt zu Furcht. Wie ein verscheuchtes Reh hastet der Elf zurück und versteckt sich hinter all den anderen Elfen. Da Vento seine Gestalt nicht ändert und auch sein Knurren nicht aufhört, scheint Fin sich angesprochen zu fühlen und springt erneut von seinem Thron, um sich uns langsam zu nähern.

„Ich entschuldige mich als Elfenkönig für das Verhalten meines Gefolgsmannes“, spricht Fin ehrlich und hält seine Handfläche beruhigend nach vorn.

Das Elfenkind hält etwa zwei Meter Abstand vor Vento, dieser überragt den Elfen mit seiner Größe. Ehrfürchtig und neugierig blickt es Vento an.

„Es ist mir eine Ehre dich kennenzulernen“, sagt Fin und ist vollkommen auf Vento fixiert.

Da von Vento keine Antwort kommt, blickt das Elfenkind hilfesuchend in meine Richtung. Ich trete zur Seite, um das Mädchen wieder zum Vorschein zu lassen. Diese blickt konzentriert zu Vento und scheint bereits im Gespräch mit ihm zu sein.

„Tretet näher“, ruft das Mädchen nun zum Elfenkind.

Das lässt sich Fin nicht zweimal sagen. Aufgeregt nähert es sich Vento und bleibt zwei Schritte vor ihm stehen. Schließlich schwingt Ventos langer, schwarzer Fühler zum Elfenkind und berührt es auf dessen Schulter. Dieser Fühler behält Vento in jeder Gestalt, nur die Länge und Farbe des Schwanzes ändert sich.

„Ich schwöre es“, sagt das Elfenkind irgendwann zu Vento, woraufhin dieser sein Fühler wieder entfernt.

Die beiden scheinen sich auf irgendwas geeinigt zu haben, weswegen sich Vento umdreht und mit einem Sprung seine vorherige Gestalt einnimmt und wieder auf den Schultern von dem Mädchen landet. Ich kann mir nur denken, dass Vento ein Versprechen eingefordert haben muss, dass dem Mädchen nicht erneut etwas zustoßen darf. Sonst hätte er seine Gestalt nicht geändert und wäre eher mit dem Mädchen von hier verschwunden. Während wir also wieder auf unserer Position stehen, bleibt Fin mit verschränkten Fingern weiterhin stehen und blickt nachdenklich zu Boden.

„Ich frage mich, ob ich mich vielleicht geirrt habe“, beginnt das Elfenkind leise zu sprechen und sieht plötzlich zu mir. „Oder ich habe es falsch eingeschätzt.“

Mit gerunzelter Stirn begegne ich den Blick und habe keine Ahnung, was es vor sich hin brummt. Womit soll es sich geirrt haben? Vielleicht mit der Seelenverwandtschaft? Könnte es sein, dass sich meine kleine Hoffnung doch erfüllt?

„Wir haben nun schon mehr als die Hälfte meiner Elfen getestet“, beginnt Fin zu dem Mädchen und mir zu sprechen. „Ich würde gerne noch eine Sache ausprobieren. Sollte sich meine Theorie als falsch erweisen, lasse ich euch gehen und wir ziehen trotzdem mit euch in den Krieg.“

Erstaunt sehe ich zu dem Mädchen, welche gleichzeitig ihren Kopf in meine Richtung dreht. In ihren Augen erkenne ich keine Abneigung, sondern Überraschung und Zustimmung, weswegen ich mich wieder interessiert zum Elfenkind drehe. Fin sieht mich immer noch eindringlich an, als versuche es in mein Inneres zu blicken. Dabei hatte das Elfenkind dies bereits in der Vergangenheit versucht und war dabei gescheitert. An sich klingt sein Angebot wunderbar, doch irgendwas an dessen Blick auf mir lässt mich kleinwenig zögern.

„Wenn das so ist, lass von deiner Theorie hören“, antworte ich für uns.

„Ich würde gerne testen, ob du, Ashram, der Seelenverwandte von Solveig sein könntest“, erklärt Fin ernst.

Kurz setzt mein Herz aus und ich spüre eine Kälte an mir vorbeirauschen. Ungläubig starre ich das Elfenkind an und bin nicht in der Lage mich zu bewegen. Die Theorie bereitet mir eine Heidenangst und ich merke, dass ich dies nur mit Wut kompensieren kann. Um die Furch zu bändigen, balle ich meine Hände zu Fäusten und sehe nun finster zum Elfenkind.

„Das ist absurd“, stelle ich schnaubend fest. „Dafür besteht zwischen uns keinerlei Sympathie, es gibt überhaupt keine Basis für eine Seelenverwandtschaft.“

„Dann solltest du doch keine Sorgen haben, es auszuprobieren?“, sagt das Elfenkind und hebt am Ende eine Augenbraue in die Höhe.

„Reine Zeitverschwendung“, antworte ich provokant und siegessicher. „Bist du dir sicher, dass du die potenzielle Seelenverwandtschaft aus deinen Reihen für eine Testung mit mir auf dem Spiel setzen willst?“

Das Elfenkind muss über meine Frage schmunzeln und wird wieder nachdenklich, denn mit meiner Aussage habe ich es verunsichert. Mein Atem verläuft nun ruhiger und je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, dass ich niemals für eine Seelenverwandtschaft geeignet wäre. Ich bin weder Mensch noch Fabel, eher ein verfluchtes Monster. Vor allem das Elfenkind müsste mittlerweile wissen, dass ich keinerlei Seele besitze, um für eine Seelenverwandtschaft in Frage zu kommen. Das hatten wir bereits getestet, als Garun und ich damals bei dem Elfenkind waren und ich es bat mir die Unsterblichkeit zu nehmen. Dafür verlangte es einen Gefallen meinerseits, das Bündnis durch eine Seelenverwandtschaft mit einem Elfen aus seiner Reihe. Leider konnte ich nicht Wort halten, weil niemand bei der Testung positiv ausfiel, somit platzte die Vereinbarung.

„Doch, ich bin mir sicher“, sagt Fin nun überzeugt. „Bist du denn für das Risiko bereit?“

Nun lässt mich dessen Überzeugung schmunzeln, weswegen ich mich mit gerunzelter Stirn zum Mädchen drehe. Letztendlich bin ich nicht der Einzige, der in dieser Sache mitentscheiden sollte.

„Was meinst du?“, frage ich sie und erkenne, dass ihre Wangen etwas rot werden.

„Ich…“, stottert sie und kann mir nicht in die Augen sehen.

Nachdenklich schließt sie ihre Augen und scheint mit Vento zu sprechen. Nach wenigen Sekunden öffnet sie die Augen wieder und begegnet meinem Blick dieses Mal ernster und wacker.

„Was haben wir zu verlieren, wenn du doch so überzeugt bist?“, fragt sie und zuckt gleichgültig mit den Schultern. „Ein Test ist für mich angenehmer als noch vierzig weitere.“

Eine kleine Stimme, namentlich das Risiko, schreit in mir intensiver mit dem Mädchen zu sprechen. Sollte das Risiko eintreten und wir wären doch Seelenverwandte, gäbe es kein Zurück mehr für sie. Will sie das denn wirklich? Doch meine Überzeugung ist stärker als das Risiko, weswegen ich mich energisch zum Elfenkind drehe.

„Einverstanden.“

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei mir, der Autorin dieses Buches.
Bildmaterialien: Das Bild ist aus DeviantArt
Tag der Veröffentlichung: 12.04.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Das Buch widme ich meinen Träumen und meiner Fantasie.

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