Das Leben ist schwächer als der Tod, und der Tod ist schwächer als die Liebe!
Khalil Gibran, Sämtliche Werke
Was würdest du sagen, wenn du erfährst, dass du geboren wurdest, um nicht leben zu dürfen? Dass du geboren wurdest, um nicht lieben zu dürfen?
Nichts, du würdest gar nichts sagen, du würdest stumm da stehen und kein Wort würde aus deinem Mund kommen. Du denkst darüber nach, was eigentlich für dich spricht, dass du geboren wurdest. Wer wollte dich? Dein Vater, der dich wie Luft behandelte? Oder deine Mutter, die kein Stück Liebe in sich besaß? Keiner von den beiden.
Dann, ganz langsam, fragst du dich, weshalb du eigentlich auf der Welt bist. Wer oder was hat dich geschaffen? Bist du wirklich das Kind deiner Eltern? Deiner Eltern, die dich doch eigentlich gar nicht wollten? Zu wem gehörst du? Wer bist du? Du fängst an, an deine Eltern zu zweifeln. Du erkennst einfach keine Gemeinsamkeiten mehr!
Verzweifelt findest keine Antwort und bist dir unsicher, dir kommen die Tränen und schließlich erinnerst du dich an alle schrecklichen Tage, an denen du als Kind im Bett lagst und geweint hast. Schon früher hast du dich gefragt, wieso anstatt deiner Mutter, deine Nanny kam und dich tröstete, als du einen Albtraum hattest. Oder wieso anstatt dein Vater, dein Lehrer einschritt, als du entweder von deinen Mitschülern gehänselt oder verprügelt wurdest.
Dann, erst dann, realisierst du, dass du der Welt eigentlich egal bist. Wer will dich schon? Wen interessierst du? Wem bist du schon wichtig? Niemanden.
Und jetzt sag mir, was du fühlst, wenn du von deinem eigenen Vater ermordet wirst, weil du dich in ein Mädchen verliebt hast? Denk noch einmal darüber nach und versuch dich in diese Lage zu stellen. Du hast dich verliebt, in ein Mädchen, ein ganz normales Mädchen. Sie war nichts Besonderes, vielleicht der Welt genauso egal wie ich, vielleicht aber auch nicht. Du hast dich nur verliebt und dies entwickelte sich in eine der größten Straftaten, die du je angestellt hast. Als du deinem Lehrer die Zunge rausgestreckt hast, gab dir dein Vater nur eine Ohrfeige. Doch nun, als du dich verliebt hast, wirst du ermordet. Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlt? Das Gefühl von deinem Vater, dessen Blut, Aussehen und Charakter du geerbt hast, umgebracht zu werden.
Nun sage ich dir, wie sich das anfühlt. Zuerst fühlst du den Schmerz, der sich in dir ausbreitet. Du fragst dich, ob der Schmerz aus deiner Brust kommt, da dein Vater dir ein Dolch darin gestoßen hat. Oder der Schmerz sich in dir ausbreitet, da es tatsächlich dein eigener Vater war, der dir dein Leben nahm und deine Mutter nur stumm daneben stand. Das Gesicht bleich, die Zunge verschluckt und die Augen kalt.
Du blickst in seine Augen, diese eiskalten Augen, ohne jegliche Gefühle und fragst dich wieso? Wieso hat er dich umgebracht? Ist es denn wirklich wahr, dass er dich nicht liebt? Doch das Schlimmste ist doch, dass du ihn vom ganzen Herzen geliebt hast. Auch wenn er dich immer wie ein Stück Dreck behandelt hat, dich geschlagen und getreten hat, als du dich schlecht benommen hast, liebtest du ihn immer noch. Respektiert und immer zu ihm aufgesehen hast du und nun tötet er dich und gibt dir nicht einmal einen richtigen Grund zu seiner Tat. War das alles?
Dann wird dir kalt und du bekommst Angst, weil dein Leben so schnell vorbei geht. Du stellst dir so viele Fragen auf einmal und vergisst, wer oder weswegen man dich getötet hat. Du vergisst alles außen rum und denkst einmal im Leben nur an dich selbst. Du bereust es, nicht schwimmen gelernt zu haben, oder noch nie das Gefühl erlebt zu haben, wie ein Mädchen dich küsst. Wie hätte deine Zukunft aussehen können? Mit wem hättest du sie geteilt? Wärst du mal verreist? Wenn ja, dann wohin? Du bereust auf einmal so viel, worüber du eigentlich noch nie wirklich nachgedacht hast. Worüber du früher sonst immer dachtest, dass die Zeit schon irgendwann kommen würde und du das alles noch erleben würdest.
Letztendlich erinnerst du dich an die schönen Momente und wirst von deinen Schmerzen befreit. Es gehört zu den einst schönsten Momenten im Leben, zu sterben, glaube mir. Du bist erleichtert, wirst müde und verlierst zum Schluss dein Bewusstsein. Schneller als du gedacht hast, stirbst du und siehst die Welt in kurzer Zeit mit anderen Augen.
Sie ist wunderschön.
Man erteilte mir die Aufgabe, andere Menschen zu beschützen und stets bei ihnen an der Seite zu sein. Ich bin nicht lebendig, aber auch nicht tot, ich bin keins von beidem.
Ich bin und bleibe ein Schutzengel.
Alles Warten ist Warten auf den Tod.
Franz Werfel, Leben heißt sich mitteilen
»William!«, ruft mich die allzu bekannte, alte Stimme.
»William! Wo bist du?«, ruft sie mich wieder.
Langsam öffne ich meine Augen und sehe sie wie auch vor ein paar Stunden, im Bett liegen.
»William!«, ruft sie wieder mühsam.
»Ich komme schon«, sage ich und laufe zu ihrem Bett, indem sie gerade liegt.
Ich blicke traurig in ihr altes Gesicht und lächele sie trotzdem aufmunternd an. Wie oft habe ich schon in dieses Gesicht gesehen?
»William!«, sie klingt nervös und sucht nach meiner Hand.
»Die Zeit ist bald vorbei«, sagt sie mühsam, als sie meine Hand schließlich findet.
Tränen füllen ihre glasblauen Augen.
»Ja, ich weiß«, flüstere ich und streichel liebevoll ihre gerumpelte Wange.
»William, ich danke dir für deinen Schutz in all den 83 Jahren«, sagt sie mühsam.
»Ist schon gut, du musst nicht weiter reden.«
Ich will ja nicht, dass sie ihre letzten Worte an mich ausrichtet, obwohl noch ihr Ehemann existiert, zwar schwach, aber im Augenblick stark genug, um für sie da zu sein.
»Nein, ich muss weiter reden. Du hast auch nie aufgehört mich zu beschützen, du bist es Wert«, flüstert sie und Tränen laufen über ihre Wangen.
Da es sowieso keine Chance gibt, ihre Meinung zu ändern, lasse ich sie weiter reden.
»Sieh an, du bist also wirklich kein Jahr älter geworden. Warum konnte ich dich nicht früher sehen?«, fragt sie und lächelt.
Sie fragt nun schon das vierte Mal, warum sie mich erst seit 10 Jahren sehen kann. Und ich beantworte ihre Frage sowie jedes Mal.
»Naja, meine Klienten können mich erst ab einem bestimmten Alter sehen.«
Ich habe viel Geduld für sie, schließlich ist sie mir ja ans Herz gewachsen. Von allen meinen Klienten ist sie die Höflichste und Freundlichste.
»Ich wünsche dir viel Glück in deinem Leben, und dass du ja eine Freundin findest«, zwinkert sie.
Wieder vergisst sie, dass ich gar keine haben kann, doch ich nicke nur lächelnd und genieße noch die letzten paar Sekunden mit ihr.
»Ja, ich werde schon eine finden, eine die genauso ist wie du«, zwinkere ich ihr zu und beiße mir vorwurfsvoll auf die Lippen.
»Kaja, es bleiben dir leider nur noch wenige Minuten von diesem wundervollem Leben. Koste sie gut aus und genieße die Zeit frei zu sein, etwas spüren zu können und die schönen Aussichten die die Natur ausgibt zu begutachten, genieße es! Was ich auch möchte ist, dass du bitte die letzten Minuten nicht mit mir, sondern mit deinem Ehemann verbringst. Die Zeit dich wachsen zu sehen war wunderschön. Danke dir. Ich verabschiede mich nun und sehe dich hoffentlich im nächsten Leben.«
Ich stehe auf, gebe ihr einen leichten Kuss auf die Stirn und mache mich unsichtbar. Natürlich suchen ihre blauen, alten Augen mich, aber ohne Erfolg. Sie kann mich nicht mehr sehen. Sie hört schließlich auf zu suchen, als ihr Mann auftaucht und sie ihre letzten Minuten mit ihm verbringt, bis ihr Herz aufhört zu schlagen. Ich muss zu sehen, wie er um sie weint. Schließlich läuft mir auch eine Träne die Wangen hinab, doch ich muss mich zusammenreißen und sie loslassen, denn jetzt muss ich schon zum nächsten Klienten rüber gehen. Jedes Mal, so wie nun auch jetzt damit hoffen, dass sie oder er auch dem Leben dankbar ist.
Der Anfang aller Dinge ist ein kosmisches Paradoxon, ein Paradoxon ohne Schlüssel zum Verständnis seiner Bedeutung.
Sri Aurobindo, Das Göttliche Leben, Zweites Buch, I
Betrübt betrete ich das unaufgeräumte Büro meines Chefs Salvator und setze mich auf ein Sessel, dass entweder nicht mit Kaffee Flecken übersät, oder durch das ganze Papierkram verschwunden ist. Geduldig warte ich darauf, dass er endlich eintritt und mir den nächsten Job erteilt. Weder mit Kommentar noch Begrüßung, einfach den neuen Auftrag. Ich will eigentlich für mich selbst sein, etwas Ruhe haben, doch haben Schutzengel weder Ferien noch bekommen sie Urlaub.
Salvator ist ein etwas kräftiger Mann mit wenig Haaren auf dem Kopf und hat mal wieder jene Menge Blätter in der Hand, als er rein stürmt. Er ist genauso wie ich, ein Schutzengel, nur dass er eben keine Menschen mehr beschützt, sondern sie uns aufteilt. Ich habe mich zwar schon des Öfteren gefragt, weshalb er keine Aufträge bekommt. Doch wenn man ihn darauf anspricht, wechselt er immer geschickt das Thema, also mache ich mir nicht einmal die Mühe ihn zu fragen. Was nichts mit mir zu tun hat, sollte mich auch nichts angehen.
»Tut mir leid William, dass du warten musstest. Hast dich gelangweilt?«, scherzt er.
»Nein.«
Mir ist gerade nicht zu scherzen, wie gesagt, ich will nur Ruhe. Und doch muss er eigentlich wissen, dass mir nie zu scherzen ist, wenn ich gerade einen Lebenden verliere.
»Jaja, schon gut sei doch nicht so sauer. Uns fällt es allen nicht leicht, wenn wir einen Lebenden verlieren.«
»Salvator du kannst anfangen, ich werde es schon überstehen«, sage ich genervt und hoffe er würde endlich fortfahren.
»William da du Kajetana ihr Leben lang gut beschützt hast und ihr auch immer treu warst, bekommst du nun einen neuen Fall!«, er versucht die ganze Situation etwas spannender zu machen.
»Name?«, frage ich ihn schnippisch.
»Sie heißt Gabrielle. Ist das nicht ein schöner Name?«
Die Namen geben mir wenigstens immer wieder Mut von vorne anzufangen und es zu schaffen die Personen gut beschützen zu können. Gabrielle ist ihr Name, klingt wirklich schön.
»Nimmst du den Fall an?«, fragt er mich.
»Hab ich denn eine andere Wahl?«, frage ich ihn ungläubig.
»Eigentlich nicht. Also Ana bekommt schon starke Wehen, das bedeutet, es wird für dich Zeit dein Job zu beginnen. Viel Glück.«
»Danke«, sage ich unmotiviert und seufze.
Als ich meine Augen für eine Sekunde schließe und sie dann wieder öffne, befinde ich mich schon im Krankenzimmer, wo eine Frau, bestimmt Ana, auf dem Bett liegt und laut angestrengt ein und ausatmet, höchstwahrscheinlich wegen ihren Wehen. Ihr ganzes Gesicht ist verschwitzt und unter ihren Augen bilden sich Augenringe, sie hat wohl schon längere Nächte unwohl geschlafen. Es ist November und das Zimmer ist etwas dunkler, da nur eine grelle Lampe brennt, doch damit sieht es gemütlich und wärmer aus. Sofort bemerke ich auch wie deren Engel, mit einem größeren Abstand, auf das Bett blicken, indem Ana liegt.
»Hey«, begrüße ich sie und wir schütteln uns gegeneinander die Hände.
Gerade will ich mich vorstellen da schreit Ana auf, sofort rennt der Engel, mit blondem Haar und verrückt vielen Sommersprossen im Gesicht, zu der verschwitzten Ana hin um ihr seelische Unterstützung zugeben. Natürlich kann sie ihren Engel nicht hören und sehen erst recht nicht. Trotzdem versuchen wir Engel, den Lebenden so nah wie möglich zu sein. Außer ihm rennt auch noch ein anderer, etwas kräftiger Mann zu Ana, er hällt ihre Hand fest und flüstert ihr etwas Ermutigendes zu. Der kräftige Mann muss Anas Ehemann sein.
»Hey, ich bin Fabian.«
Der Blonde dreht sich gerade zu mir um, als Ana sich wieder beruhigt und ruhig da liegt. Ich drehe mich zum Tisch um und bemerke einen anderen Engel, das genaue Gegenteil von Fabian, auf einem Stuhl sitzen. Er hat schwarze Haare und ein starkes, markantes Gesicht. Seine dunklen Augen strahlen etwas Bedrohliches aus, doch durch seine Körperhaltung kann man erkennen, dass er kein Schlägertyp ist. Dieser muss bestimmt der Engel von Anas Ehemann sein.
»William«, stelle ich mich vor.
»Ian«, stellt sich der andere Engel vor.
»Das ist mein Klient, Jascha«, sagt Ian und zeigt auf den Ehemann von Ana.
»Und das ist meine Klientin, Ana«, sagt Fabian.
»Tja, meine Klientin wird wohl bald kommen«, sage ich und Fabian fängt an zu lachen.
»Es wird also ein Mädchen?«, fragt Ian neugierig.
»Ja«, antworte ich.
»Wie wird sie heißen?«, fragt Fabian.
Ich überlege, ob ich es sagen oder es lieber eine Überraschung werden lasse, entscheide mich aber doch für das antworten.
»Gabrielle.«
Je öfter ich den Namen ausspreche, desto mehr gefällt er mir.
»Wirklich schöner Name«, gibt Fabian zu.
Ich nicke nur, dann setze ich mich hin und beobachte mit schwerem Herzen, wie Ana vor Schmerzen schreit. Wieder läuft Fabian besorgt zu ihr.
»Schatz, die Ärzte kommen gleich es wird alles gut, ich verspreche es dir!«, sagt Jascha zu Ana.
In zehn Minuten wird Gabrielle das Leben willkommen heißen und anfangen zu leben. In zehn Minuten werde ich sie anfangen zu beschützen. In zehn Minuten bekommt Gabrielle ihren Schutzengel.
Man bleibt jung, solange man noch lernen, neue Gewohnheiten annehmen und einen Widerspruch ertragen kann.
Marie von Ebner-Eschenbach, Aphorismen
Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Ich war ungefähr fünf Jahre alt und doch für mein Alter schon ziemlich klug. Es war spät abends und ich erwachte von meinem ersten Albtraum. Von Nacht zu Nacht wurden sie schließlich immer schlimmer.
Ich stand also auf, öffnete die Tür und schlich zur Zimmertür, in dem meine Eltern schliefen. Gerade als ich schon die Faust zum Klopfen hin hielt, stoppte ich, weil ich hörte, wie Mutter und Vater sich unterhielten. Neugierig und naiv, wie ich war, hielt ich inne und lauschte anstrengend hin, über was sie so aufgeregt tuschelten.
»Das kann so nicht weiter gehen«, beklagte sich Vater.
»Aber was sollen wir machen? Er ist doch noch viel zu jung, um zu sterben«, beklagte sich Mutter.
Mit laut pochendem Herzen lauschte ich und fragte mich hundert Mal, über wen sie da redeten. Was ist los? Wer soll sterben? Ich war noch klein, ich sah jede Kleinigkeit hundert Mal schlimmer, als sie normalerweise wäre.
»Das wäre alles nicht passiert, wenn du nicht zu dieser Hexe gegangen wärst!«, zischte Vater Mutter an.
Ich wurde wütend und bekam Mitleid mit Mutter, ich mochte es nicht, wenn er sich gegen sie stellte.
»Wie oft soll ich es dir denn noch sagen? Sie ist zu mir gekommen!«, ihre Stimme wurde lauter und ebenfalls bedrohlicher, anders wie ich es gewohnt war.
Plötzlich hörte ich einen Klatsch und mir wurde sofort klar, dass er sie geschlagen hatte. Ohne richtig darüber nach zudenken, klopfte ich gegen die Tür und öffnete sie vorsichtig.
»Was willst du?«, zischte mich Vater an.
Ich schluckte laut und sammelte meinen Mut zusammen.
»Ich hatte einen Albtraum«, sagte ich nur.
Nein, niemals dürfte ich meine Stimme gegen Vater erheben. Er würde mich brutal totschlagen, wenn ich nur in die Versuchung käme. Keiner von den beiden sagte etwas, sie blickten mich einfach stumm an.
»Wo ist Marie?«, fragte Vater Mutter energisch, diese zuckte nur mit den Schultern.
»Marie«, rief er.
Ich bekam eine Gänsehaut von seiner lauten, tiefen Stimme. Es kam mir vor, als würden die Wände aus Stein vibrieren, wenn er sprach. Dann hörte man plötzlich hastige Schritte auf dem Flur. Mit erschrockenen Augen trat meine Nanny Marie auf und blickte uns alle fragend an.
»Ihr habt gerufen?«, fragte sie vorsichtig.
»Nimm den Jungen und bringe ihn in sein Zimmer, er hat hier nichts verloren«, murmelte er böse.
Sofort schnappte sie sich meine noch kleine Hand und zog mich mit sich. Das Letzte, was ich sah, waren die zusammengekniffenen Augen meiner Mutter und das dunkle und bedrohliche Gesicht meines Vaters.
17. November 1995:
Das Beste an diesem Job ist, die Menschen wachsen zu sein. Oft durfte ich die Veränderung eines hässlichen Entlein sehen, diese wurde dann zu einem wunderschönen Schwan. Doch nicht nur das Äußerliche verändert sich, auch der Charakter und das Benehmen. Es ist unglaublich wie ruhig und lieb das Kind am Anfang ist und nach zehn Jahren ein richtiges Problemkind wird. Doch alles hat ein Ende, der Tod. Viele haben zwar Angst davor, aber es gehört nun mal zum Leben. Niemand, nicht mal wir, können was dagegen machen. Ich weiß, ich bin ein Schutzengel, aber ich kann niemanden vor dem Schicksal retten. Je näher der Tod meiner Klienten kommt, desto mehr spüre ich es und bereite mich davor vor.
Es kam einmal vor, dass ich gleich nach der Geburt dieses Gefühl bekam. Das Kind starb noch in dieser Nacht und ich konnte nichts, rein gar nichts dagegen tun.
Der Tod ist zwar etwas Befreiendes und jeder findet darin den Frieden, aber es ist auch etwas Trauriges. Wichtig ist es einfach das Leben auszukosten und jeden Tag glücklich zu sein, sei es eine Familie oder Freunde zu haben. Jeder sollte einen Grund haben, das Leben zu genießen. Am Ende kann man dann loslassen, da man weiß, dass man gelebt hat und auch eine Chance hatte Sachen zu erleben, was andere vielleicht nicht erlebt haben.
Schutzengel retten nicht, sie versuchen einfach zu beschützen. Ich kann sie vor dem Stolpern retten, dass sie nicht auf die Nase fliegt, aber ich kann sie nicht davor schützen, wenn sie Selbstmord begeht. Sei es freiwillig oder unfreiwillig, es ist ihr eigener Wille. Deshalb ist dieser Job anstrengend und gefährlich. Wie gesagt bin ich nicht tot, aber auch nicht lebendig.
Tod bin ich nicht, weil die Menschen mich immer noch berühren und spüren können. Lebendig bin ich nicht, weil sie mich nicht sehen und auch nicht hören können.
Natürlich kommt es meist vor, dass ich Blätter zum Beispiel vom Tisch runter schmeiße, doch dann reden sie sich ein, dass es nur der Wind war. Auch wenn ich eine Vase aus Versehen umkippe, würden sie denken, es waren entweder sie selbst, jemand anders oder Geister.
Man mag mich als verrückt abstempeln, aber es gibt auch Geister. Doch sind diese nur die Menschen, die kurz davor gestorben sind. Man erlaubt ihnen, vierzig Tage auf dieser Welt zu bleiben und sich zu verabschieden. Einige Geister bleiben bei der Familie und versuchen sie seelisch zu unterstützen doch andere halten es einfach nicht aus und fliehen. Der Schmerz ist viel zu groß, deshalb entscheiden sie sich früher ins Licht zu gehen. Jeder gestorbene Mensch erhält das Angebot, vierzig Tage als Geist auf der Welt zu bleiben oder früher ins Licht zu gehen. Doch manchmal erlaubt man ihnen auch, als Schutzengel weiter zu leben.
Trotzdem steht es nicht jedem zu, als Schutzengel weiterzuleben, es ist eine sehr ernste Angelegenheit. Wir sind schließlich für das Leben eines Menschen verantwortlich. Es gibt keinen selbstsüchtigen oder ängstlichen Engel. Wir dürfen nicht gegen die Gesetze verstoßen! Es gibt viele Schutzengel, ist ja logisch, wenn jeder Mensch einen Schutzengel hat, wir werden alle aufgeteilt. Auch ist es nicht so, dass Salvatore entscheidet, wer ein Schutzengel wird und wer nicht. Wir werden entweder als Schutzengel geboren oder bekommen später vielleicht ein Angebot so weiterzuleben. Vom wem diese Entscheidung kommt, weiß niemand.
Als ich einen Schrei von einem Baby höre, wache ich aus meinen Gedanken auf und laufe zum Bett hinüber. Ich bin immer noch im Krankenzimmer, nun aber mit Gabrielle.
Strahlend liegt Ana müde und mit erschöpften Augen auf dem Bett, mit Gabrielle in ihren Armen.
»Sie ist wunderschön«, lächelt Ana.
Wir alle geben ihr Recht, auch wenn nur Jascha in ihren Augen im Zimmer ist. Erstaunlich, dass sie schon schwarze, kurze Haare hat, sie sieht einfach zum Anbeißen aus. Als Jascha sie in die Armen nimmt, schließen sich langsam die Augen von Ana und sie schläft ein. Also setzen wir uns alle wieder hin.
»Ist wohl ziemlich schwer für dich, nicht wahr?«, fragt Fabian mich.
»Wie meinst du das?«
»Naja, jetzt kannst du ja noch nichts für sie machen«, erklärt er.
Da hat er recht, ich kann sie erst beschützen, wenn sie anfängt zu laufen. So lauten die Gesetze. Ich kann ihr ja schlecht auf den Rücken klopfen, wenn sie sich verschluckt oder sie auffangen, wenn sie vom Stuhl fällt.
»Wieso sollte es?«, frage ich und zucke mit den Schultern.
»Weil du sie sofort in dein Herz geschlossen hast, ab dem Zeitpunkt, als du sie gesehen hast«, sagt er mit einem ernsten Gesichtsausdruck.
Was für ein naiver, emotionaler Idiot.
»Ich habe keine Macht über ihr Schicksal. Wenn Gott, oder wer auch immer da oben hockt, meint, dass die Zeit schon kommen soll, dann nur zu. Dagegen kann ich nichts machen«, sage ich gleichgültig.
Aber so ist es nun mal, ich kann doch nicht jede Minute mit der Angst leben, ob sie gleich hinfällt oder sie sich verschluckt. Diese Gedanken mache ich mir erst dann, wenn man mir die Chance gibt, sie zu beschützen. Ich sehe, dass er mir widersprechen will, aber doch stumm bleibt. Denn im Grunde habe ich nun mal recht.
»Ich bin mir sicher, dass sie es schon bis zum Zeitpunkt, ab dem ich sie beschützen kann, überleben wird«, beruhige ich ihn.
»Woher kommt Jascha?«, frage ich Ian nach einer Weile und wechsel somit das Thema.
»Spanien.«
Ian ist viel stiller als Fabian, das mochte ich sofort an ihm. Er nervt nicht, will nicht die ganze Zeit reden, bleibt aber trotzdem noch höflich.
»Und Ana?«, frage ich nun Fabian.
»Auch Spanien, da lernten sie sich auch kennen…«
»Gut«, unterbreche ich ihn, bevor er anfängt mir ihre ganze Lebensgeschichte zu erzählen.
Man sieht deutlich, dass die beiden Spanier sind. Nicht nur an ihrem leicht bräunlichem Teint, auch nicht an ihren dunklen Haaren und Augen, sondern an ihrem Akzent.
1995, Dezember:
Die Familie Cingalez lebt in einer mittelgroßen Wohnung, Gaby hat ein kleines Zimmer, indem erst nur ihr Bett und ein paar Spielsachen drin liegen. Wie mir gesagt wurde, ist Jascha als Beruf Konstruktionsmechaniker und Ana Buchhändlerin. Doch das ist eigentlich weniger interessant. Das Gute an Gabrielle ist, dass sie fast nie schreit, durch meine bisherigen Klienten wurde ich fast schwerhörig. Aber Gaby ist still und schreit nur, wenn sie Hunger hat oder ihre Windel voll sind. Wie alle Kinder lernt auch Gabrielle im ersten Monat schon an zu krabbeln, nicht schlecht, aber ich kann sie trotzdem noch nicht beschützen. Ich bekam schon den ersten wirklichen Schreck, als sie unter dem wackeligen Tisch herumkrabbelte, dieser konnte nun wirklich jeden Moment zusammenbrechen. Soweit ich weiß, ist der Tisch ungefähr 80 Jahre alt und für Ana viel zu wertvoll, um wegzuschmeißen. Gerade als der Tisch nun wirklich aussah, als würde er zusammenbrechen, schmiss Ana das Telefon auf den Boden, rannte zu Gaby und zog sie da weg. Ich bin mir sicher, dass sie das Telefon nicht wegschmiss, nur weil sie mit Thusnelda telefoniert hatte, zwar habe ich keine Ahnung, wer sie ist, aber Fabian meint, sie wäre ein sprechendes Nilpferd auf zwei Beinen. Jedenfalls kauften sie am nächsten Tag einen neuen Tisch. Da Jascha fast jeden Tag arbeitet und somit Ian auch weg ist, verbringe ich die Zeit nur mit Fabian. Nichts gegen Fabian, aber es steht nicht in meiner TO DO Liste, mich mit ihm die ganze Zeit zu unterhalten.
»Wie war dein vorheriger Klient?«, fragt er mich.
Wir sitzen gerade auf dem Sofa, Gabrielle spielt mit ihren Spielzeugen auf dem Boden und Ana sieht fern. Schade, dass sie nicht in die Küche oder aufs Klo geht.
»Es war eine Sie«, sage ich genervt.
»Da hast du aber Glück, du bekommst ja fast die ganze Zeit nur Frauen«, lacht er, ich blicke ihn nur böse an.
»Was glaubst du eigentlich, was Ana ist? Ein Mann?!«
»Oh, da hast du recht, aber davor hatte ich immer nur Männer.
»Glückwunsch.«
Langsam geht mir die Geduld aus. Immer wenn sich die Möglichkeit bietet, mit mir zu reden, will er entweder von mir wissen, wie meine Klienten alle so waren oder wie mein Leben früher war. Nichts gegen ihm, aber ich hasse schon alleine die Erinnerungen an meinem Leben vor meinem Tod, aus diesem Grund habe ich auch nicht vor, mich ausgerechnet mit ihm darüber zu unterhalten. Das Problem an der ganzen Sache ist, dass ich doch wirklich die ganze Zeit bei ihm bin. Sei es während dem Spazieren gehen, essen oder wenn Ana Gaby schlafen legt, er stellt mir immer ununterbrochen alle möglichen Fragen.
Meine einzige freie Zeit ist die Nacht, darum genieße ich sie auch so dermaßen. Diese Nacht zum Beispiel, es ist Vollmond und das Licht scheint auf Gabrielle. Ganz kurz und leicht wie eine Feder, berühre ich ihre Wangen. Das ist wirklich riskant, vor allem, da sie mich spüren kann, aber sie schläft nun mal. Sehen kann sie mich nur, wenn sie alt wird. Kaja konnte mich auch nur zehn Jahre vor ihrem Tod sehen, für sie war ich ein Engel und ihr bester Freund. Die anderen hatten furchtbare Angst vor mir, sie wollten mich nicht sehen, dachten ich wäre der Sensenmann oder, sie hätten ihren Verstand verloren.
Überraschend umklammert Gabrielle mit ihrer winzigen Hand meinen Mittelfinger und öffnet ihre Augen. Es ist unmöglich, dass sie mich sehen kann, trotzdem blickt sie mir stets in die meine. Doch bestimmt irre ich mich, denn sie schließt dann wieder ihre Äugelein und schläft wieder ein.
Das Unglück ist unser Stehenbleiben beim vorletzten Schritt!
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften - Roman/I. Erstes und zweites Buch
1996, Februar. Gabrielle ist 3 Monate alt:
»Was soll dass heißen, du kommst heute noch später?! Du kamst schon gestern und vorgestern zu spät nach Hause! Was soll dass!«, ärgert sich Ana am Telefon.
Sie telefoniert erst seit fünf Minuten mit Jascha und schon fangen sie an sich zu streiten. Währenddessen sitze ich neben Gabrielle am Tisch und Fabian neben Ana. Während Fabian angestrengt versucht zu hören, was Jascha an der anderen Leitung sagt, beobachte ich die kleine Gaby, wie sie belustigt mit ihren kleinen Fingern im Brei stochert.
Als Ana das sieht, hällt sie mit der einen Hand das Telefon fest und mit der anderen nimmt sie Gabrielles Hand aus dem Brei und versucht sie wieder einigermaßen sauber zu machen.
»Wer glaubst du bin ich eigentlich?«, schreit sie nun ins Telefon und lässt ihre Hand los.
»Glaubst du tatsächlich, ich möchte jeden Tag das Kind alleine aufziehen? Ist dir eigentlich aufgefallen, dass du weder für mich noch für Gabrielle Zeit hast?! Ständig redest du nur von der Arbeit anstatt von deiner Tochter!«
Je lauter sie wird, desto mehr kann man Gabrielle ansehen, dass sie nervöser wird. Erstaunlich, wie Gabrielle merkt, dass etwas nicht stimmt. Aber das spüren viele Kinder, immer wenn sich die Eltern streiten, fangen sie an ununterbrochen zu weinen.
Gerade als Anas Augen sich weiten, da Jascha bestimmt irgendein Mist gesagt hat, schmeißt sie verärgert das Telefon auf den Boden und sofort fängt Gabrielle an zu weinen.
»Streiten sie sich immer so oft?«, frage ich Fabian skeptisch.
»Eigentlich nicht, es ist nur so, dass Jascha Gabrielle nun schon fast gar nicht mehr sieht«, erklärt er.
Mit Tränen in den Augen nimmt Ana ihr Kind auf die Armen versucht sie zu beruhigen, indem sie mit sich selbst spricht.
»Papa kommt heute erst später nach Hause mein Baby. Aber das ist halb so schlimm und weißt du warum?«, wendet sie sich an Gabrielle und wischt ihre Tränen weg.
»Da wir uns beide noch haben!«, sagt sie mit einer ruhigen Stimme, lächelt sie herzlich an und küsst sie auf die Stirn.
»So, und jetzt mach dein Mund auf. Sag AHH!«, lächelt Ana schwach und versucht Gaby zu zeigen, sie solle ihr Mund öffnen.
Nachdem Essen legt Ana Gabrielle noch nicht schlafen, sondern nimmt sie in die Arme und schaltet den Fernseher an. Als dann plötzlich die Tür klingelt, läuft Ana mit eiligen Schritten und Gabrielle in ihren Armen zur Tür. Als sie sie öffnet, wird sie von haufenweißen roten Rosen überrascht. Es ist kein anderer, als Jascha selbst der vor ihr steht und sich entschuldigt für das Telefonat. Es ist erleichternd, dass sie sich wieder versöhnt haben. Denn als Jascha Gabrielle in die Armen nimmt, fängt diese an zu lächeln und überrascht uns allen mit den zwei Zähnen in ihrem Mund.
1996, August. Gabrielle ist 9 Monate alt:
Es ist Spätsommer und Ana spaziert gerade mit Gabrielle im Park. Natürlich kann sie noch nicht laufen, doch Ana lässt Gabrielle auf dem Gras krabbeln.
Während Gabrielle also versucht so langsam, wie sie ist, einem Schmetterling hinterher zu krabbeln, telefoniert Ana mal wieder mit Jascha. Diese Telefonate werden nun schon zur richtigen Gewohnheit, was mich tierisch stört.
»Warte mal einen kurzen Moment«, sagt sie ins Telefon und richtet sich zu Gabrielle, die nun nicht mehr dem Schmetterling hinter her krabbelte, sondern versucht abzuhauen.
»Gabrielle!«, ruft sie und Gaby dreht den Kopf in deren Richtung.
Also krabbelt sie langsam und vorsichtig zurück und ich ihr hinter her.
»Was ist los?«, frage ich Fabian, als wir ankommen und Ana Gabrielle auf ihre Arme nimmt.
»Sie streiten sich wieder«, erklärt er kurz.
»Um das Gleiche?«, zur Antwort nickt er betrübt.
Also streiten sie sich mal wieder, weil Jascha zu viel arbeitet.
»Seitdem Gabrielle geboren ist, bist du fast nicht mehr zu Hause! Würde mich sogar noch wundern, wenn Gabrielle noch wüsste, dass sie überhaupt einen Vater hat!«, sagt sie ironisch.
»Nein, das wars!«, sagt sie nur noch und legt auf.
Dann dreht sie Gabrielle so um, dass sie ihr ins Gesicht sehen kann.
»Na Kleines, willst du schon nach Hause?«, fragt sie Gaby.
»Sag JA«, versucht sie Gabrielle zu erklären.
»Ja«, wiederholt Ana noch einmal, doch Gabrielle bleibt stumm.
»Dann sag eben MAMA«, wieder bleibt sie still.
»Okay, und wie wäre es mit PAPA?«, fragt sie hoffnungslos.
»Baba«, flüstert Gabrielle.
Mit großen Augen blickt Ana ihre Tochter an.
»Nein, PAPA«, korrigiert sie.
»Paba«, versucht sie und ein kleines Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht auf.
»Papa«, wiederholt Ana angestrengt.
»Bapa!«, lacht die kleine Gaby und klatscht voller Freude mit den Händen.
»Wer hätte gedacht, dass das ihr erstes Wort ist«, sagte ich und muss nun auch lächeln.
Danach legt Ana Gabrielle in den Kinderwagen und läuft nach Hause. Dort legt sie sie erst einmal schlafen. Ich bleibe noch ein paar Minuten bei Gabrielle, bis sie einschläft, und geselle mich dann zu Fabian.
»Schon eingeschlafen?«, fragt er erstaunt.
»Sie braucht nur zwei Minuten, bis sie einschläft«, erkläre ich.
»Hat Jascha angerufen?«, frage ich nun.
»Nein.«
Im Fernseher laufen gerade die Nachrichten und ich laufe alle fünf Minuten noch einmal in Gabrielles Zimmer, um mich zu vergewissern, ob sie nun wirklich schläft. Erst um Mitternacht kommt Jascha nach Hause, Ana ist auf dem Sofa eingeschlafen, wacht aber sofort auf, als sie die Tür öffnen hört. Kurz bleibt sie sitzen, steht dann aber entschlossen auf und geht zur Haustür. Mit verschränkten Armen blickt sie Jascha an.
»Es tut mir leid«, entschuldigt sich dieser schnell.
»Ich verspreche dir, es wird nicht noch einmal vorkommen, dass ich so spät nach Hause komme. Ich habe nun eingesehen, dass ich wirklich keine Zeit für meine Familie hatte«, erklärt er, sie aber bleibt stumm.
»Gabrielle hat heute ihr erstes Wort gesagt und du warst nicht da«, sagt sie ernst.
Als Jascha nichts sagt und nur auf den Boden blickt, sagt Ana noch etwas, bevor sie sich umdreht und ins Schlafzimmer geht.
»Du hast Glück, dass sie das Wort „Papa“ gesagt hat«, sagt sie finster und verschwindet.
17. November 1996, Gabrielle ist ein Jahre alt:
Als die Tür klingelt, lässt Gabrielle einen kleinen Freudenschrei aus und Jascha läuft eilig zur Haustür um sie aufzumachen. Heute ist Gabrielles erste Geburtstagsfeier und eingeladen sind Tante Thusnelda, Onkel York und Oma Vera.
Auf dem ersten Blick sieht Thusnelda eigentlich ziemlich sympathisch aus, doch als sie nicht wegen Gabrielle, sondern wegen der Toilette herein stürmt, ändert sich meine Meinung sofort. Onkel York entschuldigt sich beschämt für das Benehmen seiner Frau, doch ich erkenne sofort, dass er nur ihr Schoßhündchen ist.
Denn als das Nilpferd aus der Toilette heraus spaziert, fährt sie ihn gleich an, wieso er sich so dumm entschuldigt, es gibt ja eigentlich keinen Grund dazu. Dicht hinter York steht Vera, die einzige Oma von Gabrielle. Durch ihr Aussehen erkennt man, dass sie eine sehr stolze Frau ist, ihr Blick ist streng nach oben gerichtet. Doch im Gegensatz zu Thusnelda ist Vera nicht unhöflich, auf keinem Fall, sie ist zwar eine stolze Frau, doch immer noch freundlich und familienlieb.
Wie Ian mir später berichtet, ist Vera die Mutter und Thusnelda die Schwester von Jascha.
Ohne überhaupt Gabrielle anzusehen, läuft Thusnelda einfach an ihr vorbei direkt ins Wohnzimmer, um sich dort auf das Sofa zusetzen. Währenddessen nimmt Vera die kleine Gaby in die Arme und betrachtet sie voller Stolz.
»Sie ist so wunderschön«, lächelt sie, als sie das sagt.
Neben ihr steht ihr Schutzengel, ein etwas älterer Mann, jedoch sieht er sympathisch aus. Trotzdem wundert es mich, dass er etwas älter ist. Denn normalerweise sind wir Schutzengel sehr jung, so etwa 15 bis 20 Jahre alt, er aber sieht aus wie 40. Der Engel von Thusnelda heißt Earl und ist genauso unhöflich, wie sie selbst. Jedoch ist wenigstens Jaques, der Engel von Onkel York, ziemlich gut gelaunt.
»Jascha, das Mädchen ist eine wahre Schönheit«, sagt Vera und spricht zu ihrem Sohn.
»Sagt mal, wird hier auch etwas zum Trinken angeboten?«, ruft Thusnelda aus dem Wohnzimmer.
»Ein Moment«, seufzt Ana und läuft zur Küche.
»Wie kann man nur so unhöflich sein!«, beschwert sich Fabian neben mir.
Doch er bemerkt nicht, dass Earl gerade neben uns steht und wie ich schon befürchtet habe, fängt dieser an sich zu beschweren.
»Fängst du jetzt an meine Lebende zu beleidigen?!«
Überraschenderweise geht Earl auf Fabian los und dieser stürzt auf den Boden. Ich kann deutlich spüren, wie es unter mir anfängt zu vibrieren. Gerade als Fabian sich aufstützt, will Earl wieder auf ihn los, also stelle ich mich blitzschnell zwischen den Beiden.
»Jungs! Beruhigt euch! Schon vergessen, wo wir sind? Oder wollt ihr unbedingt etwas riskieren?«, fahre ich die beiden genervt an.
»Der Junge hat recht, beruhigt euch gefälligst«, meint nun auch der alte neben mir.
»Beleidigst du sie noch einmal, dann schafft es dein Freund nicht mehr mich von dir loszureißen, verstanden?«, droht Earl ihn.
»Es tut mir leid«, meint dieser und hebt schützend seine Hände vor sich.
Währenddessen beobachtet Ian das Schauspiel stumm aus der Ecke. Da mir die ganze Situation zu nervig wird, verschwinde ich in die Küche.
»Schau mal, was deine Oma für dich zum Geburtstag hat.«
Gabrielle sitzt gerade auf Veras Schoß, dann holt sie etwas aus ihrer Tasche und zeigt es Gabrielle. Es ist eine goldene Kette mit einem Engelanhänger. Vorsichtig legt Vera es ihr um den Hals. Ich befürchte natürlich, dass sie die Kette verschlucken kann, doch bis jetzt bleibt Gabrielle ruhig und klatschte nur voller Freude in die Hände.
»Danke, das wäre aber wirklich nicht nötig gewesen«, bedankt sich Ana rasch.
»Ich habe Hunger, ist das Essen nun endlich fertig?«, fragt Thusnelda genervt, als sie in die Küche kommt, Ana nickt nur als Antwort.
Meine Gabrielle wird auf einen hohen Stuhl gesetzt und von ihrer Oma höchstpersönlich gefüttert. Sonst bleibt es ziemlich ruhig am Tisch, niemand sagt etwas, nur das Radio spielt. Es ist unglaublich, was für eine Ausstrahlung ein kleines Kind hat, mit nur einem kleinen Lächeln berührt sie die Menschen um sich herum, außer Thusnelda natürlich. Aber sie ist ja sowieso kein Mensch, sie zählt eher zu den Tierrassen.
Da ich sowieso nichts machen kann, gehe ich ins Wohnzimmer und schaue fern.
Schon komisch, wie schnell die Zeit vergeht. Als ich gestorben bin, gab es noch keine Fernseher. Aber nicht nur das, es hat sich fast alles auf der Welt verändert. Früher, als ich noch klein war, war die Zeit, in der ich jetzt ein Schutzengel bin, die Zukunft. Nie hätte ich im Traum gedacht, es gäbe irgendwann so etwas wie ein Fernseher oder Handys. Nun sieht die Zukunft anders aus, ausgestattet mit fliegenden Autos, was für eine absurde Idee, aber wer weiß. Doch es ist etwas ärgerlich, dass sie jedes Mal versuchen, etwas Neues zu erfinden. Wohin wird das Ganze führen? Nie werden die Menschen sich zufriedengeben, mit dem, was sie schon haben. Nehmen wir mal an, es werden diese fliegenden Autos erschaffen, was kommt danach? Etwa ein Roboter, der deren Haushalt erledigt? Sie werden nicht nur wissbegieriger, sondern auch noch fauler. Sollten sie sich doch alle mit dem zufrieden geben, was es schon gibt. Plötzlich merke ich, wie sich Fabian neben mich setzt.
»Was machst du hier? Du solltest doch bei Ana sein«, frage ich.
»Und was machst du hier? Du solltest doch bei Gabrielle sein«, meint er.
»Nein, muss ich nicht.«
»Doch«, widerspricht er.
»Der einzige Engel von uns beiden, dessen Lebende laufen und sogar sprechen kann, bist du. Also müsstest du jetzt woanders sein«, erkläre ich müde.
»Ja, aber warum bist du nicht bei Gabrielle?«, ich verdrehe genervt meine Augen.
»Noch einmal und dieses Mal, etwas verständlicher. Gaby kann noch nicht laufen, bedeutet ich kann sie noch nicht beschützen. Also warum sollte ich mir die Mühe machen, die ganze Zeit dort zu stehen?«
Immerzu müssen wir aufpassen, dass wir die Menschen nicht berühren, also wäre es doch ein unnötiger Stress jetzt dort zu stehen.
»Weil ich finde, dass das deine Pflicht ist«, erklärt er.
»Meine Pflicht beginnt erst, wenn sie laufen kann«, wiederhole ich.
»Ist dir egal, was mit ihr passiert?!«, er blickt mich ernst an.
»Nein, ich sehe nur keinen Grund, mich neben sie zu stellen, um auf sie aufzupassen, wenn ich sie sowieso nicht beschützen kann, falls etwas passiert«, meine ich ehrlich.
»Das habe ich auch mal gedacht. Doch als ich dann so da saß und über mich und die Welt nachdachte, verlor ich alles in nur ein paar Sekunden.«
Er scheint in Gedanken vertieft zu sein. Trotzdem ist der einzige Unterschied, zwischen dem was er sagt und meiner Situation, dass ich sie einfach nicht beschützen kann, egal ob ich es will oder nicht.
»Autsch!«, jammert jemand aus der Küche.
Sofort steht Fabian auf und ist schon verschwunden, ich folge ihm schnell in die Küche. Dort steht Ana mit einer blutenden Hand, sie hat sich vermutlich mit dem Messer in die Hand geschnitten. Fabian sieht kreidebleich aus und ich kann erkennen, dass seine Augen feucht werden.
»Es ist meine Schuld«, flüstert Fabian zu sich selbst.
»Alles in Ordnung?«
Jascha kommt mit einem Verbandskasten in die Küche und dicht hinter ihm Ian.
»Ja, geht schon wieder. Es tut nur ein bisschen weh.«
Sofort verbindet Jascha ihre Wunde und Vera bereitet so lange den Nachschlag vor. Immer noch steht Fabian wie angewurzelt da und bewegt sich kein bisschen. Ich fühle mich wirklich schuldig, dass er ja anstatt bei ihr, bei mir war. Doch Ana geht es wieder gut, mit einem Verband an der Hand, isst sie mit den anderen weiter. Ich bleibe daraufhin die ganze Zeit über in der Küche und behalte Gabrielle im Auge, das bin ich Fabian schuldig. Also beobachte ich, wie Gaby sich immerzu bekleckert und es entweder Ana oder Vera wegwischt. Eigentlich haben sie geplant, dass Thusnelda, York und Vera bei ihnen übernachten, aber daraus wurde nichts, da Thusnelda es im Haus viel zu stickig und eng findet.
Aber dies ist ganz und gar die Formel für "den Verstand verlieren": glauben heißt eben den Verstand zu verlieren, um Gott zu gewinnen.
Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode
Es heißt Gott hätte die Welt in nur 7 Tagen erschaffen. Aber stimmt das auch? Wer kann mit Sicherheit sagen, dass das wirklich stimmt? Niemand, ehrlich gesagt hätte ich gedacht, ich würde es herausfinden, wenn ich tot bin. Ich dachte ich würde ihn dann höchstpersönlich kennen lernen und auch mit ihm reden können. Wenn ich jetzt so daran denke, kommt es mir extrem naiv vor. Ich habe Gott weder gehört noch gesehen. Gut, ich will nicht unfair sein, vielleicht habe ich ihn ja doch gehört und ich konnte es einfach nicht glauben.
Ich erkläre es nur einmal, sodass ich das dann nicht immer wieder wiederholen muss. Jeder Mensch stirbt sozusagen zweimal. Beim ersten Mal wurde ich starb ich durch den Handel meines Vater. Das zweite Mal ist so, dass du deine Augen öffnest und die Welt kräftiger als sonst siehst. Du hörst leise Musik spielen, entspannende Musik, lässt dich von ihr beruhigen und betrachtest deine Umgebung. Ich persönlich wurde in meinem Zimmer ermordet, also erwachte ich auch ganz genau dort. Nach ein paar Minuten erinnerst du dich daran, wie, wo und wann du gestorben bist.
Da fühlte ich mich auf einmal kerngesund, ohne Probleme, ohne jegliche Traurigkeit. Schließlich rappelte ich mich langsam auf und betrachtete meinen Vater. Er blickte mich nicht an, er sah böse, traurig und auch enttäuscht aus. Das Messer voller Blut ließ er auf den steinigen Bode fallen und seine Augen wurden wässrig. Noch nie hatte ich meinen Vater weinen sehen, ich wollte ihn umarmen, ihm sagen, dass ich ihm verzeihe, ich wollte einfach, dass alles wieder gut wird. Doch das konnte ich nicht.
Als ich hinunterblickte, sah ich mich selbst auf den Boden liegen. Kein Wort brachte ich über meine zittrigen Lippen, ich betrachtete einfach meinen bleichen Körper und wollte die Antwort nicht akzeptieren, dass ich tot bin. Nie mehr konnte ich wieder in diesen Körper zurückkehren, niemals. Doch das war nicht meine schlimmste Sorge, sondern, dass ich nie wieder mit meinem Vater reden konnte. Als ich meine Blicke weg von meinem toten Körper wenden konnte, fiel mein Blick auf meine Mutter.
»Was hast du getan?!«, flüsterte sie und blickte zu meinem toten Körper.
Auf ihrer Stirn bildeten sich Falten und sie wurde rot vor Wut.
»Was hast du gemacht!«, brüllte sie meinen Vater an.
Zuerst zögerte sie, doch dann rannte sie direkt durch mich durch und bückte sich zu meiner Leiche.
»Er ist tot«, sagte sie heiser.
Schließlich fing sie ununterbrochen an zu weinen und umarmte meine Leiche.
»Du weißt, dass ich das tun musste!«, verteidigte sich mein Vater und weinte ebenfalls.
»Mein Kind, mein Sohn, es tut mir in der Seele weh! Bitte verzeih mir, vergib mir, wie ich dich immer behandelt habe! Ich bete zu Gott, dass er auf dich achtgeben soll! Oh weh, bitte verzeih mir!«, weinte sie und wog meinen toten Körper.
So sehr wollte ich sie in meine Arme nehmen und ihr sagen, dass ich ihr verzeihe. Zu gerne hätte ich mit ihr gesprochen und gesagt, dass ich sie doch trotzdem liebe. Doch zu schnell wurde ich in die Realität zurückgeholt. Ich bin tot, sie wird mich nicht hören und auch nicht sehen können. Sie wird nie erfahren, dass ich sie liebe. Nie wird sie wissen, dass ich doch nur ein schönes, friedliches Leben haben wollte. Dasselbe gilt meinem Vater, es war zu spät.
Plötzlich wurde ich müde und ich wusste, was ich zu tun hatte. Ich musste wieder zurück in meinen Körper gehen. Ich weiß nicht woher, aber mir war einfach klar, dass ich nicht länger auf dieser Erde erwünscht war. Die Toten müssen verschwinden, es gibt kein Platz für sie mehr und die Lebenden müssen weiter leben und das Beste daraus machen.
Also legte ich mich wieder zurück in meinen Körper und gab meiner Mutter einen leichten Kuss auf die Hand. Auch wenn sie mich nicht spüren konnte, breitete sich Erleichterung in mir aus und ich konnte mich beruhigt von der Welt verabschieden. Ich wusste genau, dass das das letzte Mal sein würde, die Welt mit meinen eigenen Augen zu betrachten. Also genoss ich noch die letzten Sekunden, atmete noch das letzte Mal die Luft ein und schloss endgültig die Augen. Hätte ich gewusst, wie schön das Leben ist, wäre ich sicherlich anders damit umgegangen.
20. Februar1997, Gabrielle ist 2 Jahre alt:
Schon wieder verging ein Jahr und Gabrielle hat sich in meinen Augen mal wieder enorm verändert. Sie wurde größer und hatte schon schulterlange braune Haare.
Ich verstehe mich nun besser mit Fabian als mit Ian, er ist immer noch ruhig und nicht interessiert mit irgendjemand zu reden. Teilweise ist Fabian wirklich nervig, doch habe ich mich schon daran gewöhnt. Jascha ist immer noch derselbe, er bricht immerzu seine Versprechen und kommt wie immer zu spät nach Hause. Heute aber nahm Jascha sich frei, Ana und er fuhren zum Bauern, um frische Äpfel zu kaufen. Während Ana und Jascha weg sind, verbringen Gabrielle und ich die Zeit bei ihrer neuen Freundin Sabine. Sabine ist erst ein Monat alt, doch Gabrielle behandelt sie, als wäre sie ihre Schwester.
»Sabi«, ruft sie und läuft mit einem Buch zu ihr.
Sabine liegt gerade auf einer Decke und betrachtet ihre Finger, während sich Gabrielle neben sie setzt und ihr voller Begeisterung die bunten Seiten des Buchs zeigt.
»Sie ist wirklich süß«, lächelt Alina neben mir.
Alina ist der Schutzengel von Sabine und daher sehe ich sie seit Neustem auch sehr oft.
»Und frech«, trage ich bei.
Gabrielle wurde wirklich ziemlich frech, gestern zum Beispiel versuchte sie die Treppen hochzurennen. Schneller als ihre Füße mithalten konnte, stolperte sie beinahe, doch ich konnte sie gerade noch schnell umdrehen, sodass sie auf den Po flog. Als Ana sie dann anmeckerte, sie solle das ja nie wieder machen, streckte sie ihr die Zunge kurz raus, drehte sich um und rannte weiter hoch. Danach hatte sie zwar tierischen Ärger von Ana bekommen, konnte sie aber wieder beruhigen, als sie sagte, dass sie sie liebe. Zwar kann man sie noch nicht richtig verstehen, was sie da manchmal sagt, doch wichtige Worte hat sie sich gut gemerkt und wendet sie auch immerzu an.
»Hat Gabrielle hunger?«, fragt die Mutter von Sabine Gabrielle.
»Gabrielle hunger«, sagt sie, als sie aufsieht, und lächelt sie süß an.
Als Gabrielle später von ihren Eltern abgeholt wird, müssen diese nur die Treppen runter laufen und schon sind sie zu Hause. Da sich Ana und Jascha wieder streiten, setzen sie Gabrielle im Wohnzimmer ab und verschwinden in die Küche.
»Mamaaa«, seufzt Gabrielle und blickt sich gelangweilt um.
Als sie sich umsieht und den Korb voller Äpfel bemerkt, rappelt sie sich hoch und schleicht zum Korb hin. Amüsiert sehe ich zu, wie sie jeden einzelnen Apfel aus den Korb nimmt und einmal rein beißt. Gabrielle findet das selbst witzig und beißt voller Freude weiter.
»Was machst du da!?«, schreit Ana hysterisch, als sie sieht, was Gaby da macht.
»Nein, nein, nein! Gabrielle!«, schreit sie und schubst sie leicht zur Seite um die Äpfel zu betrachten.
»Was hat sie gemacht?«, fragt Jascha, als er ins Wohnzimmer kommt.
»Schuldigung«, sagt Gabrielle zuckersüß und versteckt ihre Hände hinter dem Rücken.
Laut seufzend nahm Ana sie in die Arme und muss schließlich anfangen zu lachen.
»Was machen wir nur mit dir?«, lacht sie.
Als Jascha ebenfalls in den Korb blickt, muss auch dieser anfangen zu lachen.
»Typisch Gabrielle«, sagt Fabian und lächelt amüsiert.
Zu gern hätte ich die Kleine Mal in die Arme genommen, so süß, wie sie eben ist.
24. Mai 1997, Gabrielle ist 2 Jahre alt:
Mit gelockten Haaren, weißem und geschmücktem Kleid, betritt Gabrielle mit Ana die Kirche. Alle Gäste sitzen schon auf den Bänken, ganz vorne sitzen Jascha, Vera und die beiden Taufpaten von Gabrielle. Sofort gesellen sich beide Familien, während ich mich zu den anderen Schutzengeln stelle.
Auf solchen Veranstaltungen ist es immer ganz besonders schwer, nicht berührt zu werden. Aus diesem Grund können wir uns „unsichtbar“ machen. Zwar sind wir schon unsichtbar, doch können wir es von uns selbst aus gewaltsam tun. Doch ist das eine wirklich ekelhafte Angelegenheit. Dir ist nicht nur kalt, sondern dir ist auch noch übel. Für die anderen Schutzengel bin ich nicht unsichtbar, wir können uns alle noch sehen, doch verzieht jeder sein Gesicht so, als würde es ihm gleich hochkommen. Darum weiß jeder ganz genau, wann ein Schutzengel unsichtbar ist und wann nicht. Da ich genau hinter der Bank stehe, auf der Gabrielle sitzt, muss ich mich selbstverständlich unsichtbar machen, sonst würde mich die Frau, die sich gerade hinter mich hingesetzt hätte, mich gespürt und das wäre rein gar nicht gut… Wie auch immer, wann immer sich die Möglichkeit bietet, wieder sichtbar zu werden, wird man sofort erleichtert. Fabian rechts und Ian links von mir schnaufen erleichtert auf, als der Pfarrer endlich anfängt zu sprechen.
Zuerst bedankt er sich für das Kommen der zahlreichen Gäste und fängt schließlich mit der Bekenntnis an.
»Nun bitte ich die Eltern mit dem Täufling und den Paten nach vorne zu kommen, und sich zur Gemeinde gewandt hinzustellen.«
Endlich können wir uns sichtbar machen und laufen unseren Schützlingen hinterher. Dann wendet sich der Pfarrer an die Eltern und Gabrielles Paten.
»Liebe Eltern und liebe Paten, Sie bringen heute Ihr Kind, damit es auf den Namen des dreieinigen Gottes getauft werde. Versprechen Sie, ihm von Gott zu erzählen, den christlichen Glauben nahezubringen und ihm zu helfen, als Christ in unserer Zeit zu leben, dann antworten sie: Ja, mit Gottes Hilfe!«
»Ja, mit Gottes Hilfe!«, sagen Ana und Jascha und anschließend die Paten gemeinsam.
Schließlich nimmt Daniel, der Pate und beste Freund von Jascha, Gabrielle auf die Arme und trägt sie zur Taufschale. Ihr Kopf hebt er über die Taufschale, sodass sie kritisch mit ansieht, wie man ihr dreimal etwas Wasser auf ihre Haare tropft.
»Gabrielle Cingalez, ich taufe Dich auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes«, spricht der Pfarrer.
»Gott hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen«, sagt er schlussendlich ihr Taufspruch.
Nach ungefähr einer Stunde wurden alle Schutzengel von ihrem Leiden erlöst und die Lebenden verlassen die Kirche. Gabrielle, Ana und Jascha verlassen zuletzt die Kirche, wobei Gaby das Glück hat, links Jascha an der Hand zu haben und rechts Ana. Hüpfend und glücklich laufen sie die Treppen der Kirche hinunter und verabschieden sich von den Gästen. Von fast Allen bekommt Gabrielle einen Kuss auf die Wange, die Kleine liebt es im Mittelpunkt zu stehen und strahlt nur vor sich hin.
Die Hände in meiner Hosentasche blicke ich Gabrielle an und muss schmunzeln, wie süß sie denn ist. Seufzend denke ich an ihre Zukunft und habe das Gefühl, dass sie vielen denk Kopf verdrehen wird.
»Das war eine schöne Taufe«, stellt sich Alina neben mich, da Sabines Eltern gerade mit den Cingalez plaudern.
»Ja, da hast du recht.«
Alina und ich wurden gute Freunde, da wir nun öfters Zeit verbringen. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass sie schon 19 Jahre alt ist, für mich sah sie viel jünger aus. Womöglich liegt es daran, dass sie so zierlich und zerbrechlich aussieht. Wenn man ihr jedoch auf den Wecker geht, verändern sich ihre zaghaften Gesichtszüge zu einer zischenden Katze, da sie auch noch diese giftig grün-gelbe Augenfarbe hat.
»Wann kommt Sabine dran?«, fragt Fabian sie neugierig.
»Keine Ahnung, davon habe ich bisher noch nicht mitbekommen«, antwortet sie schulterzuckend.
Als die Familien sich verabschieden, verabschiedet sich auch Alina von uns und eilt hinter her. Im Gegensatz zu meiner Lebenden kann Sabine noch nicht laufen. Belustigt denke ich daran, dass ich die Zeit vermisse, wo Gabrielle noch nicht laufen konnte. Nun ist sie eine Tyrannin geworden, sie schmeißt alles, was ihr in den Weg kommt weg, und sei es mit der Gefahr, dass sie auf die Nase fällt.
Ich weiß noch, wie Ana wieder mit Gabrielle in den Park spazieren ging, Ana sich auf eine Bank setzte und mal wieder telefonierte. Es verging keine Minute und schon war Gabrielle auf und davon. Sie sprang, hüpfte und rannte wild umher. Ich musste sie so oft auffangen, sodass ich das Gefühl bekam, sie forderte das Schicksal heraus. Also ließ ich sie einmal hinfallen und wie erwartet flog sie auf die Nase und weinte wie ein Wasserfall. Nachdem Ana sie getröstet hat, lief sie wieder weiter als wäre nichts geschehen. Eins muss man der Kleinen lassen, sie ist unberechenbar und eine der lebensfreudigsten Lebenden, die ich je hatte.
Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin.
Tag der Veröffentlichung: 22.10.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ehrlich gesagt widme ich dieses Buch meiner verstorbenen Oma. Sie hat immer an mich geglaubt und darum bin ich mir sicher, dass sie als Schutzengel weiter auf unserer Welt lebt.
Ein Dankeschön an meine BetaLeserin Cassedy!