Cover

Prolog

 

Es war mal wieder ein Tag, wie jeder andere auch. Gequält stand ich aus meinem Bett auf, stritt mich beim Frühstück mit meiner Mutter und hetzte in die Schule. Den Nachmittag verbrachte ich bei einem leckeren heißen Kaffee mit meiner besten Freundin Miriam in einem kleinen Café unweit unserer Schule.

 

Auf dem Heimweg geschah es dann: Ich wurde entführt.

 

Doch bevor ich mit dieser plötzlichen und doch sehr skurrilen Wandlung meines Lebens beginne, erzähle ich erst einmal von meinem allzu gewöhnlichen Leben. Mein Name ist Annie Jenkins und ich lebe in New York, im Stadtteil Brooklyn, zusammen mit meiner durchgeknallten Mutter Patricia. Mein Dad ist einer dieser Vorzeigeväter, welche sich kurz nach der Geburt des Kindes, aus dem Staub machen. Mich hat das aber nie wirklich gestört, ich vermisse ihn nicht. Doch im Gegensatz zu mir hat meine Mutter dieses Hirngespinst, dass er eines Tages zurückkehrt, wer’s glaubt. Allerdings ist dies einer unserer größten Streitpunkte und ist auch oft zu Hause das Thema Nummer eins. Das Einzige, was mich noch am Leben hält, ist meine größte Verbündete Miriam. Sie ist meine beste Freundin und persönlicher Engel zugleich, da sie mich immer versteht und mir zur Seite steht. So sieht also mein Lebensinhalt aus, so in etwa wie ein Kreislauf: Streitereien mit meiner Mutter, Schule, Kaffee trinken mit Miriam und danach wieder Heim fahren.

 

So war es eigentlich immer, bis es zu einem Erlebnis kam, welches mein komplettes Leben verändert hat: Meine Entführung.

Kapitel 1

„Annie verdammt! Wach auf!“, schreit meine Mutter mir direkt ins Ohr.

 

Aber nein, ich weigere mich, meine Augen zu öffnen! Liebend gern hätte ich meinen Traum zu Ende geträumt, indem ich gerade Ashton Kutcher mein Ja-Wort gebe! Und ausgerechnet jetzt muss sie mich aufwecken!

 

„Ich hab hier was für dich.“

 

Verlockendes Angebot, ich mache meine Augen trotzdem nicht auf. Okay, ich mache sie doch auf, bin einfach zu neugierig. Als ich den Stapel dreckiger Wäsche sehe, schließe ich genervt meine Augen. Ashton! Wo bist du nur?

 

„Bevor du zur Schule gehst, legst du bitte noch schnell die Wäsche in die Waschmaschine. Ich komme sonst zu spät zur Arbeit“, sagt sie und ich kann ganz genau die Freude in ihrer Stimme hören.

 

Gerade als ich mich beschweren will, ist sie schon über alle Berge. Genervt rolle ich mich auf die Seite und wünsche mir, dass ich die Zeit anhalten könnte und ausschlafen durfte. Doch als ich durch meine halb geschlossenen Lider auf die Uhr blinzele, ist es schon 7:30 Uhr! Sofort springe ich aus dem Bett, verheddere mich dabei sogleich in meiner Bettdecke und lande unelegant und ziemlich schmerzvoll auf dem Boden. Stöhnend rappele ich mich wieder auf. Ich habe nur noch 30 Minuten Zeit und davon bleibt mir nur noch eine viertel Stunde, um den Bus zu bekommen. Ganz toll. Aber das ist doch kein Problem für Annie Jenkins! Achtung, hier spricht Ironie.

 

Mit zügigen Schritten laufe ich ins Bad, binde mein braunes, langes Haar zu einem wirren Dutt und dusche mich in Windeseile ab. Mit der Zahnbürste im Mund putze ich mir schnell die Zähne und erhasche meine hellbraunen Augen dabei, wie sie kritisch das Spiegelbild bemustern. Kurz darauf stürze ich vollständig angezogen in die Küche. Schnell spucke ich in die Spüle und ersetze die Bürste durch einen Marmeladentoast, welchen mir meine liebste Mutter wieder geschmiert hat. Mit dem Toast im Mund werfe ich die dreckige Wäsche in die Waschmaschine. Kurz bevor ich zur Türe hinaus eile schlage ich mir mit der Hand gegen den Kopf und stolpere die Treppe zu meinem Zimmer zurück, da ich meine Tasche vergessen habe. Mit der Schultasche bewaffnet brause ich aus dem Haus und laufe zur Bushaltestelle. Dort angekommen muss ich eine ganze Minute warten, bis der Bus kommt. Bitter stelle ich fest, dass ich eine ganze Minute länger hätte schlafen können. Schmollend trete ich gegen Bus, der gerade mit quietschenden Reifen vor mir stehen bleibt. Mit dem Bus brauche ich circa fünf Minuten bis zur Schule. Natürlich könnte ich auch das Fahrrad nehmen, aber dafür bin ich zu faul, vor allem da es nun Herbst ist und es da schon mal ganz schön winden kann.  

 

Als ich in der Schule ankomme, werde ich zur Begrüßung von Miriam in die Arme genommen. Ihre langen, gelockten rote Haare verfangen sich in meine Finger, die ich schließlich sanft frei lasse.

 

„Alles klar?“, fragt mich meine beste Freundin und betrachtet mit ihren grünen Augen meinen Schmollmund.

 

„So wie immer. Außer das ich gleich vor Müdigkeit umkippe. Und bei dir?“

 

„Mir geht’s nicht anders“, grinst sie.

 

Also laufen wir in unser Klassenzimmer und werden sogleich von den Anderen begrüßt. Lange können wir aber nicht reden, da unser Physik Lehrer bereits erscheint und seine Tasche mit einem lauten Rumms, auf das Lehrerpult knallt. Ich verrolle die Augen Richtung Miriam, welche bloß lächelnd mit den Schultern zuckt, ehe der Horror beginnt.

 

Montag ist ein richtiger Hass-Tag! Erstens, weil wir in der ersten Stunde immer Mr. Koller in Physik haben und ich eine echte Niete in Physik bin. Zweitens, weil Montag der Anfang der Woche ist, was  bedeutet, vier Foltertage würden noch folgen. Und drittens, weil wir am Sonntag den 18. Geburtstag von Emely gefeiert haben und ich etwas zu weit über den Glasrand geschaut habe. Normalerweise trinke ich nicht so viel, doch jeder Teenager hat irgendwann seinen ersten totalen Absturz im Leben. Tja und dies war bei mir gestern der Fall. Sprich ich sitze nun mit mörderischen Kopfschmerzen im Physik Unterricht und wundere mich, warum die Kopfschmerzen erst jetzt kommen und nicht schon heute früh da waren. Sanft massiere ich mir die Schläfen, während der Unterricht wie immer langweilig verläuft. Ich blicke den Lehrer an, als würde ich mich intensiv auf den Unterricht konzentrieren, obwohl in meinem Kopf totales Chaos herrscht.

 

„Annie kannst du mir die Formel sagen, die wir für diese Aufgabe brauchen“, höre ich und bin sogleich dankbar, dass er meinen Namen gesagt hat, sonst hätte ich wahrscheinlich nicht einmal geblickt, dass er gerade mit mir redet, egal wie konzentriert ich schaue

.

Ich lege meine Stirn in Falten und hoffe, dass die Antwort vom Himmel fallen wird. Doch da kommt einfach nichts, wie naiv von mir.

 

„Nein, ich habe keine Ahnung“, sage ich ehrlich und versuche ihn durch mein unschuldiges Lächeln ein bisschen aufzuheitern, sodass er nicht ganz so enttäuscht von mir ist.

 

Augenrollend nimmt er einen anderen Schüler dran. Gähnend blicke ich auf die Uhr und springe als Erste auf, als die Stunde vorbei ist. Die darauf folgenden Fächer Spanisch und Geschichte verleihen dem Tag keine große Abwechslung, geschweige denn Spannung. Ich habe Glück, dass wenigstens die Mittagsschule ausfällt, da Mrs. Miller eine Magen-Darm-Grippe hat.

 

„Starbucks?“, fragt Miriam mich, während wir den Schulhof überqueren.

 

„Klar“, antworte ich etwas träge.

 

Unsere Schule liegt ganz schön abseits vom Stadtzentrum New Yorks. Wir brauchen erst einmal eine komplette Stunde, bis wir im Zentrum sind. Allerdings sind wir beide schon daran gewöhnt und was tut man nicht alles für einen heißen, leckeren Kaffee?

 

Während des ganzen Weges machen wir uns entweder über Mr. Kollers Glatze oder Cindys neuem Tanga lustig, unsere Erzfeindin schlechthin.

 

„Heute war er schwarz“, lacht Miriam.

 

„Neeeeiin? Nicht pink? Na wenigstens hatte sie einen an!“, Gespielt geschockt schaue ich Miriam an, welche daraufhin losprustet.

 

Es gibt doch in jeder Schule, wie soll man sagen, ohne sie zu verletzen, Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrome Mädels. Bei uns heißt sie Cindy und seitdem sie in der fünften Klasse mein Glücksschwein in die Toilette geworfen hat, habe ich nur noch das Bedürfnis sie anzuspucken.

 

Ich merke wie Miriam langsam in Gedanken verschwindet und habe schon eine Vorahnung, wieso ihr Gesicht auf einmal traurig wirkt. In letzter Zeit kam ihre Stimmungsschwankung oft vor, gerade amüsiert man sich mit ihr und im nächsten Moment erinnert sie sich an ihre Trennung.

 

„Wie geht es dir?“, frage ich Miriam ernst, da die gut gelaunte Phase im Nu verschwunden ist und ich genau weiß, woran sie denkt.

 

Leider muss ich mit ansehen, wie ihre Augen sich mit Tränen füllen und sie schließlich anfängt, mit ihrer piepsigen Stimme ihren Kummer zu erzählen.

 

„Die letzte Woche war für mich der totale Horror!“, sie schluckt und blickt betreten auf den Boden.

 

Der Bus ist zum Glück nicht voll, darum ist es auch nicht so schlimm, dass sie ihr Ausbruch jetzt mitbekommen werden.

 

„Weißt du, ich frage mich einfach, wieso es so weit kommen musste? Ich weiß noch genau, was er mir immer und immer wieder gesagt hat. ‘Ich gebe dich nie wieder her´ oder `Du bist mein Ein und Alles´ und doch ist es passiert: Peng und Schluss. Nie hätte ich im Traum daran gedacht, dass es so weit kommen würde“, sagt sie schniefend, „Natürlich wusste ich, dass es vielleicht nicht für immer hält. Ich hätte mir nur gewünscht, dass die schöne Zeit länger anhalten würde. Immer, wenn ich ihn fast vergessen habe und es langsam bergauf geht mit mir, muss nur ein Wort, ein Gedanke oder ein Lied kommen, das mich an ihn erinnert und ich bin wieder ganz am Anfang, voller Tränen in den Augen. Eigentlich müsste ich ihn hassen, aber was mache ich! Ich liebe den Trottel immer noch!“

Sie schaut mich mit verquollenen Augen an und im Nu bekomme ich einen Kloß im Hals. Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll. Ich mag es nicht, wenn sie traurig ist. Es ist immer so, wenn irgendjemand weint, bekomme ich sofort Mitleid und muss damit kämpfen, nicht auch zu weinen.

 

„Meine Gefühle haben mehr Macht über mich, wie ich über sie. Am liebsten würde ich die ganze Zeit, die wir gemeinsam hatten, einfach vergessen, alle Erinnerungen auf einen Zettel schreiben und verbrennen. Sie waren zu schön, einfach perfekt und genau aus diesem Grund tut es so weh, wenn ich ihn sehe. Ein Monat ist es jetzt her, seitdem Schluss ist. Erst ein Monat und es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Viel zu oft habe ich in diesem verdammten Monat geweint wegen ihm und gehofft, er würde doch noch zu mir zurückkommen.“

 

Kurz verstummt sie, blickt sich entschuldigend im Bus um und wischt sich die Tränen weg. Sie holt tief Luft und konzentriert sich darauf, sich zu beruhigen. Dann sieht sie mich mit ernsten  und gefassten Blick an.

 

„Annie! Ich hoffe, du wirst nie in deinem Leben so verletzt. Ich hoffe du lernst aus meinen Fehlern!“

 

Schnell nehme ich sie in meine Arme und tröste sie. Irgendwann hört sie schließlich auf zu weinen und fängt an zu lachen. Verwirrt blicke ich sie an, weil ich ihre Stimmungsschwankungen nicht verstehen kann.

 

„Ich bin so blöd. Ich habe geschworen, nicht mehr zu heulen!“

 

Sie versucht einfach, die ganze Sache zu vergessen, deswegen diese Schwankungen… Ich reiche ihr ein Taschentuch und sie nimmt es dankbar an.

 

„Das ist meine Schuld, ich hätte dich nicht drauf ansprechen sollen“, entschuldige ich mich benommen.

 

Meine Gedanken überschlagen sich und mein inneres Ich verflucht mich, dass ich hätte wissen müssen, wie sie reagiert. Zwar waren die Beiden nicht sehr lange zusammen, und es ist auch nicht so, dass er ihre längste Beziehung war, aber wie es aussieht, hat er ihr viel bedeutet.

 

„Ach was!“, sie schlägt mir leicht auf die Schulter.

 

„Lass uns die Sache einfach vergessen“, sagt sie aufgemuntert und schaffe es zu grinsen.

 

„Und jetzt holen wir uns ein Kaffee!“, sagt sie, als wir aus dem Bus aussteigen.

 

Also ziehe ich sie durch die Tür in unseren Stammstarbucks hinein. Mit dem Kaffee in der Hand schlendern wir, etwas besser gelaunt, die Hauptstraße New Yorks entlang.

 

„Sag mal, wie läuft es eigentlich mit dir und Tom?“, fragt mich Miriam.

 

Ich verschlucke mich an meinem Kaffee und blicke sie durch meine Schlitzaugen an.

 

„Definitiv Geschichte!“, sage ich überzeugt.

 

Tom ist mein Ex-Freund und ein absoluter Macho-Typ. Ich bereue es dermaßen, mal etwas mit ihm gehabt zu haben.

 

„Bist du dir da sicher? Heute hat er dich den ganzen Tag angestarrt“, meint sie nachdenklich und genehmigt sich einen weiteren Schluck ihres Kaffees.

 

Ich ziehe die Augenbrauen hoch und will gerade antworten, als ein ohrenbetäubender Lärm die Straße entlang dröhnt. Erstaunt bleiben wir stehen und halten uns die Ohren zu, während fünf Polizeiwagen mit lauter Sirene an uns vorbei sausen. Wir drehen uns gerade zum Weitergehen um, als ich mit jemandem zusammenstoße und das Gleichgewicht verliere. Ich plumpse schmerzhaft auf.

 

„Alles in Ordnung?“, fragt mich eine tiefe Stimme und ich blicke erstaunt nach oben.

 

Ein Junge, etwas älter als ich, steht vor mir und hält mir seine Hand hin. Dankend ergreife ich sie und er zieht mich mit Leichtigkeit zu sich hinauf. Jetzt kann ich ihn richtig betrachten und mir bleibt sofort die Spucke weg. Er ist groß und hat unglaublich wunderschöne grün-blaue Augen. Da er eine Mütze trägt, kann ich seine Haarfarbe nicht erkennen, doch ich bemerke dank seines eng anliegenden Shirts seinen durchtrainierten Körper. Ich merke, wie meine Wangen rot anlaufen und schaue schnell zu Boden. Dann erinnere ich mich, dass ich ihm noch eine Antwort schuldig bin.

 

„Ähm… Ja, mir geht’s gut“, sage ich und lächele ihn schüchtern an.

 

Sofort male ich mir aus, wie er mich zum Kino einladen würde und wie mich alle Mädels auf meiner Schule beneiden würden, wenn ich solch einen Freund hätte.

 

„Dann ist gut“, sagt er und läuft ohne zurück zuschauen mit schnellen Schritten weiter.

 

So schnell zerplatzt auch mein Traum. Miriam blickt mich mit großen Augen an und fängt dann an dreckig zu lachen.

 

„Er war soooooo heiß! Wieso hast du nichts gesagt?“, sie ist erschüttert.

 

Mit offenem Mund blicke ich sie an und versuche einen ordentlichen Satz rauszubringen.

 

„Was hätte ich denn sagen sollen? Hallo, willst du vielleicht mit mir ausgehen, oder was?“

 

Ich bin immer noch neben der Spur. Ich meine, was hätte ich denn groß sagen sollen? Mir war von vorne herein klar, dass ich bei ihm sowieso keine Chance hätte. Im Nachhinein bin ich sogar erleichtert, dass ich ihn nicht naiv nach einem Date gefragt habe. Er hätte sich bei mir entschuldigt und mir einen Korb gegeben, da wäre mein Ego um ein ganzes Stück tiefer gesunken. Nachdem wir genug geredet, gelacht und gelästert haben, beschließen wir den Rückweg anzutreten, da es schon langsam dämmert. An der Bushaltestelle warten wir ein paar Minuten bis Miriams Bus erscheint und wir verabschieden uns. Mein Bus hat mal wieder Verspätung, aber daran bin ich schon gewöhnt. Während ich die Wolken am Himmel beobachte und wie die Sonne langsam zwischen den Hochhäusern verschwindet, denke ich darüber nach, was mich zu Hause erwarten wird: Höchstwahrscheinlich habe ich wieder die Ehre, das Essen für meine Mutter und mich zuzubereiten, da sie viel zu müde von der Arbeit ist. Zum danach darf ich noch spät in der Nacht im Internet meine Physik Hausaufgaben googeln, damit ich wenigstens etwas dastehen habe und Mr. Koller nicht so viel zum rummeckern hat. Seufzend schließe ich meine Augen und wünsche mir, jemand anderes zu sein, ein anderes Leben zu leben. Ich will etwas erleben, mag wissen, was es noch auf dieser Welt gibt. Ich möchte endlich mal ein Abenteuer erfahren!

 

Verträumt reagiere ich viel zu spät, als ich einen Stich an meinem Hals, wie von einer Spritze, spüre. Was danach geschieht, weiß ich nicht, denn ich verliere sofort das Bewusstsein.

Kapitel 2

Meine Lider sind schwer, als ich meine Augen ein Stückchen öffne und hinter meinen Augenbrauen wummert es heftig. Vorsichtig, um nicht umzukippen, stehe ich auf. Doch als ich meine Umgebung wahrnehme, falle ich vor Schreck auch gleich wieder zurück auf etwas Weiches. Wo bin ich? Ich besinne mich meiner Umgebung nun etwas genauer. Definitiv  kann ich aber sagen: Hier bin noch nie in meinem Leben gewesen! Das ist definitiv NICHT mein Zimmer!

 

Um mich herum herrscht totales Chaos. Das Sofa, worauf ich, wie es aussieht, geschlafen habe, ist verstaubt und riecht leicht nach Schimmel. Allgemein ist die Luft recht feucht und trotzdem stickig. Bei genauerer Betrachtung kann man sogar die einzelnen Staubpartikel herumfliegen sehen. Vor mir steht ein kleiner Tisch, auf welchem verstreute Papiere, leere Bierflaschen, Zigaretten und noch andere Sachen liegen. Da dies nicht mein Zimmer ist und ich auch nicht weiß wem es gehört wächst mein Unbehagen stetig an. Soweit ich das sehen und hören kann bin ich alleine im Raum. Mit einem laut pochenden Herzen stehe ich auf und sehe mich nochmal vorsichtig um. Ich vernehme ein Ticken und halte Ausschau nach einer Uhr. Sie hängt an der Wand gegenüber dem Sofa und zeigt sieben Uhr an. Ob es morgens oder abends ist, kann ich nicht sagen, da ich mir ziemlich unsicher bin, weil nur wenig Licht aus dem Fenster scheint. Okay, zuerst einmal muss ich mich beruhigen! Tief durchatmen. Mein nächster Blick fällt auf eine Tür. Halleluja! Eine Wohnungstür! Innerlich jubele ich schon auf. So leise wie möglich schleiche ich zu ihr hin und drücke hoffnungsvoll die Türklinke herunter.

 

Verschlossen!

 

Verdammt. Ich schiele durch das Schlüsselloch, doch dahinter befindet sich nur Schwärze. Die Tür kann ich schon mal vergessen!

 

Also bewege ich mich auf Zehenspitzen zu dem einzigen Fenster im Raum. Mit einem enttäuschten Seufzer stelle ich fest, dass auch dieses mit einem Schloss versehen ist. Egal wie stark ich drücke und ziehe, es öffnet sich nicht. Durch die Fensterscheibe kann ich nicht viel erkennen, da die Rollladen heruntergefahren sind. Nur dank der Rollladenschlitze erkenne ich ein gegenüberliegendes Hochhaus. Wenn ich stark nach unten schiele, erkenne ich eine Straße, auf der ein paar Autos fahren. Mit einem Kloß im Hals muss ich mir eingestehen, dass ich mich in einem hohen Stockwerk befinde. Auch wenn das Fenster sich hätte öffnen lassen, hätte ich ja wohl kaum einen auf Spiderman machen können.

 

Haareraufend und verzweifelt setze ich mich wieder auf das verstaubte Sofa und streiche mir behutsam die Haare aus dem Gesicht. Verbissen starre ich einen schwarzen Fleck auf den Boden an und gebe mir die größte Mühe, mich zu erinnern, was gestern geschehen ist. Gut. Ich weiß noch, dass ich nach der Schule mit Miriam auf einen Kaffee in unserem Stammcafé gegangen bin, dann sind wir noch ein bisschen spazieren und zum Schluss, warteten wir gemeinsam an der Bushaltestelle auf unsere Busse. Ich weiß ebenfalls noch, wie wir uns verabschiedeten, da ihr Bus früher als meiner kam. Anschließend wartete ich alleine. Aber was geschah danach? Ich habe keinen blassen Schimmer! Langsam spüre ich wie dir Panik in mir hoch steigt  und ich atme ein weiteres Mal tief durch. Es kann ja sein, dass ich danach beschlossen habe, etwas trinken zu gehen. Vielleicht habe ich ja viel zu viel getrunken und jemand hat mich freundlicherweise mit sich nach Hause genommen. Ach, was für ein Blödsinn! Ich würde doch nie mir nichts dir nichts in eine Bar stolzieren und mich bis zur Besinnungslosigkeit volllaufen lassen. Ich bin doch noch nicht einmal 21, geschweige denn sehe ich auch aus wie 21, um in eine Bar zu marschieren. Zweite Theorie: Vielleicht hat mir jemand Drogen verabreicht, das wäre auch der Grund, warum ich mich auch an nichts erinnern kann. Meine letzte Theorie wäre ja noch, dass ich entführt wurde. Aber von wem? Außerdem müsste ich dann jetzt gefesselt sein ... glaube ich zumindest.

 

Diese ganze Situation ist doch einfach nur zum Haare raufen! Ich will endlich wissen, wo ich bin und wer mich hier hergebracht hat! Ängstlich aber wütend stehe ich auf und blicke mich ein weiteres Mal um. Außer der Haustür gibt es noch zwei weitere Türen im Raum, die ich aber aus Angst nicht öffnen will. Was würde mich da drinnen erwarten? Vorerst ziehe ich es vor, noch keine Bekanntschaft mit dem, was sich dahinter verbergen könnte, zu machen. Ich stiefel durch meine Umgebung und betrachte alles unsicher und ...uahhhh mit wachsendem Ekel. Ich entdecke hinter einer kleinen Bar eine Küche. Man braucht nicht lange, um zu erkennen, dass sie extrem dreckig ist. Was wohnt hier bloß für ein Mensch?! Im Waschbecken liegen schmutzige Teller, Tassen und Pfannen. Außerdem ist der Herd von irgendeiner gelben bereits festgetrockneten Flüssigkeit beschmiert. W-I-D-E-R-L-I-C-H. Da ich einen höllischen Durst habe, entscheide ich mich eher das Wasser aus dem Wasserhahn zu trinken, anstelle den Kühlschrank zu öffnen. Wer weiß, was mich da erwarten würde? Doch ich wusste nicht, dass das ein fataler Fehler von mir gewesen war.

 

Woher hätte ich wissen sollen, dass der Wasserhahn so einen unglaublichen Lärm verursachen würde?! Es röchelt, blubbert und knarrt nur so aus der Wasserleitung. Schnell drehe ich den Hahn wieder zu, als ich plötzlich etwas aus einem der Zimmer, von denen ich die Tür nicht öffnen wollte, höre. Vorwurfsvoll beiße ich mir auf die Lippe und schnappe reflexartig das größte Küchenmesser, was ich in der ganzen Unordnung finden kann. Ich halte es, wie ein Schwert mit beiden Händen, schützend vor mich. Dann öffnet sich langsam und knarrend die Tür.

Eine Sekunde wird zur Minute. Kurz sprachlos starre ich die Person vor mir an, dann platze ich.

 

„DU!!!!“ , schreie ich.

 

Es ist der Mann, mit dem ich gestern zusammengestoßen bin. Der, über den ich mir ausgemalt habe, wie es wäre ihn als Freund zu haben! Er ist oberkörperfrei, nur mit einer Shorts bekleidet und kratzt sich gähnend am Kopf. Er schaut mich noch nicht einmal an und läuft einfach an mir vorbei. Dann öffnet er den Kühlschrank, holt sich eine Flasche Wasser raus und schenkt es sich in eines der dreckigen Gläser ein. Er ignoriert mich und macht auch keine Anstalter, als ich mit dem Messer auf ihn zeige. Unglaublich! Zu feige um etwas zu sagen, warte ich wie versteinert darauf, dass er etwas sagt.

 

„Morgen“, kommt es nach ein paar Schlucken Wasser von ihm.

 

Dann erst blickt er mich von unten bis oben an. Anschließend hält er mir fordernd die Hand hin und deutet auf das Messer in meinen Händen. Nein! Der glaubt doch nicht wirklich, dass ich ihm meine einzige Waffe gebe! Ängstlich schüttele ich den Kopf, um zu zeigen, dass ich es ihm nicht geben würde. Kurz verdreht er die Augen und schnappt es sich dann mit einer blitzartigen Bewegung aus meinen Händen. Der ist doch krank! Die Klinge hat sich dabei in seine Handfläche gebohrt, doch es ist ihm egal, ob seine Hand anfängt zu bluten. Doch durch diese kleine Geste hat er mir gezeigt, dass er eindeutig gefährlich sein kann. Behutsam entferne ich mich ein klein wenig von ihm und suche verstohlen etwas Hilfreiches, was ich als neue nehmen könnte. Bevor ich aber zu einer der fettigen Pfannen greifen kann, hebt er mich an meinen Hüften hoch. Wütend strampele ich umher und versuche ihn mit meinen Füßen zu treten und meinen Nägeln zu kratzen.

 

„Lass mich runter du Idiot!!!“, brülle ich, doch er trägt mich unbeirrt auf seiner Schulter zurück zum verstaubten Sofa und wirft mich unsanft darauf ab.

 

Erschrocken und ängstlich sehe ich ihn an. Was wird er tun? Was kommt auf mich zu? Sein Gesicht zeigt keinerlei Regung, keine Gefühle und keine Antworten.

 

„Warte, bevor du mir etwas antun willst! Was habe ich getan? Wieso bin ich hier?“

 

Erstaunt, dass ich meine Sprache noch nicht gänzlich verloren habe, blickt er mich an. Seine Stirn faltet sich und er scheint nachzudenken, was er mit mir anfangen soll.

 

„Hör zu“, er fasst sich am Kopf an und blickt runter auf den Boden,

 

„Im Kühlschrank gibt’s was zu essen, du kannst etwas nehmen, wenn du willst, wenn nicht dann bleibst du eben so lange hier brav sitzen, bis ich wieder aus der Dusche komme.“

 

Er zeigt zur Küche und läuft gemächlich in das Zimmer der zweiten bisher ungeöffnete Tür. So ein verdammter Mistkerl. Wieso um Himmelswillen gibt er mir keine Antworten. Gut, das wäre dann meine zweite Chance, und wahrscheinlich auch die allerletzte, hier raus zukommen. Irgendwo muss es doch so was wie einen Schlüssel oder ein Telefon geben. Dass der Kerl einfach so Duschen geht, ohne davor Angst zu haben, ich könnte ihn anfallen. Okay, ich mach zwar kein Karate oder so was wie Selbstverteidigung, was ich gerade sehr bereue, aber ich würde es doch noch schaffen ihn mit einem Messer zu verletzen, oder wenigstens ihm eins mit der Pfanne überzubraten! Vielleicht wurde ich ja doch entführt? Aber welcher junge Kerl würde mich schon entführen, ausgerechnet mich? Meine Mutter und ich haben doch sowieso nichts, was ihn interessieren könnte! Oder? Oh Gott, meine Mutter, sie ist sicher schon krank vor Sorge. Was soll ich nur tun? Ich höre, wie die Dusche angeht. Okay, was mache ich jetzt nur? Wenn ich an der Tür um Hilfe rufen würde, dann würde er mich ja sofort hören, wer weiß, was er dann mit mir anstellen würde!

 

Blitzschnell stehe ich vor der Tür, aus welcher der Kranke, aber leider auch noch gut aussehender Typ (..um Gotteswillen, was denke ich denn da???...) rausgekommen ist. Soweit ich mitbekommen habe, hat er sie nicht abgeschlossen, bevor er duschen gegangen ist. Sind dahinter vielleicht noch mehr von seiner Sorte? Seine Komplizen? Was würde ich machen, wenn wir nicht alleine hier sind? Im Moment habe ich nämlich nur ein Problem: ihn. Doch wenn hinter dieser Tür noch mehr von diesen Typen sind, dann kann ich mir auch gleich ein Messer in die Kehle bohren. Angestrengt durchsuche ich das große Zimmer, was wohl ein Wohnzimmer sein muss, obwohl hier eine Küche steht. Hier muss es doch ein Telefon geben. Aber außer Papieren, Bierflaschen und Zigaretten, finde ich nichts, das einem Telefon ähnelt. Doch so schnell kann ich nicht aufgeben! Ich versuche mein Glück an seiner Zimmertür und drücke die Klinke runter.

 

Nichts geschieht. Er hat sie doch abgeschlossen. Also stürme ich, ohne noch einmal darüber nachzudenken, direkt auf die vermeintliche Tür zu. Doch anstelle, dass sich die Tür öffnet, pralle ich mit einem deftigen Schmerz in meiner Schulter zurück, fliege auf den Boden und krümme mich wie ein erschossenes Reh auf dem Teppich.

 

„In Filmen klappt das doch immer so gut“, jammere ich und reibe mir die Schulter.

 

Da erst merke ich, dass kein Wasser mehr in der Dusche läuft. Unbeholfen hieve ich mich auf. Meine Schulter tut höllisch weh.  Ich quäle mich zurück zur Küche, schnappe mir wieder ein Messer, leider ein sehr viel kleineres als vorhin, und verstecke es dieses Mal unter meinen Pullover. Mit einem Klick öffnet sich die Badtür und mir verschlägt es die Sprache. Ich werde geblendet von Adonis höchstpersönlich. Noch immer trägt er über seinen perfekt geformten Oberkörper einen Hauch von nichts. Lässig hat er sein Handtuch um die Hüfte geschwungen. Ich muss mich wieder zusammenreißen. Er ist mein Entführer! ENTFÜHRER! Vielleicht ist er ja ein Vampir? Schießt es mir durch den Kopf. Ein makelloser Verführer der Sinne? Herrgott wo bin ich gelandet. Innerlich strafe ich mich für solche Gedanken, kompletter Blödsinn. Ich lese eindeutig viel zu viele Liebesromane.

 

„Also?“, frage ich.

 

Erst jetzt bemerke ich, dass er einen weißen Verband um seine Hand trägt. Also kann er wohl kein Vampir sein, oder? Ist es nicht so, dass bei Vampiren die Wunden immer schnell verheilen? Okay, ich werde eindeutig verrückt! Sofort schüttele ich die Vampir -Gedanken weg.

 

„Also?“, wiederholt er spöttisch.

 

Und blickt mich interessiert an.

 

„Wie heißt du?“, frage ich ihn, doch bekomme als Antwort auf meine Frage nur ein Achselzucken.

 

„Naja, wie heißt du?“

 

„Ich habe zuerst gefragt.“

 

Das ist es also, was er will. Er will mich so lange nerven, bis ich aufhöre, ihn mit Fragen zu bombardieren.

 

„Wie auch immer. Ich weiß es sowieso schon. Annie, richtig?“

 

Jetzt verwirrt er mich. Was will er denn nun? Ich kann einfach nicht herausfinden, was er denkt, ich kann ihn nicht durchschauen und das belastet mich sehr. Normalerweise studiere ich die Personen immer, mit denen ich rede. Ich merke mir ihre Gesichter, wie sie auf welche Fragen reagieren und wie sie ihre Antworten gestalten. So kann ich sofort feststellen, was sie für Menschen sind. Doch bei ihm beiße ich mir die Zähne aus. Er weigert sich, etwas von ihm preiszugeben, das zeigt nur, dass er verschlossen ist und das bringt mir auch nicht viel.

 

„Woher weißt du, wie ich heiße?“, blicke ich ihn fragend an.

 

Das hätte ich schon fast vergessen. Wenn er weiß, wie ich heiße, dann müsste doch diese ganze Veranstaltung geplant sein, oder etwa nicht?

 

„Ich hab dich doch entführt“, er sieht gelassen aus und in seinem Auftreten sehr selbstsicher.

 

In meinem Kopf höre ich die ganze Zeit seine Stimme, die mir sagt „Ich habe dich doch entführt“. Diese Gelassenheit in seiner Stimme drückt aus wie egal ich ihm bin und das es für ihn überhaupt nichts Besonderes ist, meinen Namen zu wissen.

 

Langsam kommt er auf mich zu. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Mich wehren? Das könnte nur negativ für mich ausfallen. Mich anfassen lassen, dann würde er denken, ich wäre schwach und ich hätte sofort verloren. Er bleibt genau vor mir stehen, genau zwanzig Zentimeter sind unsere Gesichter voneinander entfernt. Ich traue mich nicht, ihm in die Augen zu schauen. Lieber blicke ich seine Kette an Es ist eine gewöhnliche, silberne Kreuzkette. Keine Ahnung, was er als Nächstes vorhat.

 

„Auf einmal so still“, flüstert er mir leise ins Ohr.

 

Sofort überkommt mir eine Gänsehaut. Verwirrt, ob es wegen meiner Angst oder seiner Stimme ist, runzele ich die Stirn. Doch so schnell, wie auch meine Gänsehaut gekommen ist, so schnell geht er an mir vorbei und setzt sich aufs Sofa. Ich blicke ihm nach und entscheide mich, ihm mutig zu folgen. Wenn ich weiter so starr da stehen werde, zeigt das eine Schwäche und ich will auf keinem Fall, dass er denkt, ich wäre schwach. Ich setze mich neben ihm, zwar genau an das andere Ende des Sofas, soweit entfernt, dass ich immer noch das Messer unter meinem Pulli rausholen könnte, falls etwas geschehen sollte.

 

„Wieso hast du mich entführt?“, frage ich.

 

Wieder stelle ich ihm die Frage, doch weiß sogleich, dass ich keine Antwort bekomme. Seelenruhig schaltet er den Fernseher an, geht ein paar Kanäle durch und stoppt irgendwann bei einem dummen Zeichentrickfilm.

 

„Es konnte jede Beliebige sein, sogar deine Freundin. Aber wie das Schicksal es so wollte, kam es dazu, dass ich dich wählte“, er grinst mich frech an.

 

Das ist nicht die Antwort zu meiner Frage. Doch trotzdem fühlte ich ein Eisblocken in meinem Magen. Wieso unbedingt mich, frage ich mich die ganze Zeit. Was habe ich dem Herrn da oben angetan, dass ausgerechnet ich entführt wurde. Ich erledige immer meine Hauspflichten, meine Hausaufgaben und lerne fleißig. Nie habe ich meine Finger an eine Zigarette gelegt oder jeglichen Drogen genommen und auch zu Menschen bin ich immer freundlich gewesen. Also wieso werden dann immer die guten Menschen bestraft?!

 

„Bringst du mich um?“

 

Das ist die Frage, die mir am wichtigsten ist und die mir sogleich am meisten Angst bereitet. Im Grunde will ich gar nicht seine Antwort wissen, aber trotzdem muss ich danach fragen, um eine Bestätigung zu bekommen.

 

„Mal sehen“, erwidert er trocken.

 

Ohne jegliches Zwinkern oder wenigstens Zucken im Gesicht, das versichern würde, dass er es nicht tun würde, hat er es gesagt. „Mal sehen“, also kommt es nun darauf an, wie ich mich benehme. Er richtet seine Aufmerksamkeit wieder zum Fernseher. Ich fühle mich wie betäubt. Naja, ich glaube es kann sich nicht jeder wirklich in meine Lage versetzen. Wie verhält sich ein Mensch denn, wenn man erfährt, dass man womöglich umgebracht wird?

 

„Annie, wie alt bist du?“

 

Verwirrt blicke ich ihn an und frage mich gleichzeitig, wieso ihm das denn interessiert.

 

„Wie alt bist du?“, frage ich ihn ebenfalls.

 

Er muss doch ziemlich jung sein, so wie er aussieht. Ich kann mir einfach keinen Reim daraus machen, warum mich jemand entführen sollte, und dann auch noch jemand so junges? Normalerweise sehen Entführer doch ziemlich kriminell aus, oder? Entführer haben tausend Tattoos auf deren Körper und genauso viele Narben, so stelle ich mir eben einen Entführer vor. So ähnlich wie einen Psychopathen, der nicht weiß, was er mit seinem Leben anfangen soll und aus diesem Grund das Leben Anderer zerstört. Doch dieser hier ähnelte einem Engel.

 

„Ich hab zuerst gefragt“, sagt er mürrisch und etwas genervt.

 

„Na und? Du hast mir auch immer noch nicht gesagt, wie du heißt“, erinnere ich ihn.

 

Er blickt mich böse an und hebt eine Augenbraue hoch.

 

„Werd nicht frech“, droht er mir und gibt mir gleich danach seinen Namen preis.

 

„Dan.“

 

Er heißt also Dan, kein ungewöhnlicher Name.

 

„Du bist dran“, erwartungsvoll blickt er mich an.

 

„18“, antworte ich knapp.

 

Er nickt, dann folgt eine kurze Pause. Ich frage mich, worüber mein Entführer sich Gedanken macht. Wahrscheinlich, was er als Nächstes mit mir tun soll… Als sich plötzlich seine Stirn in Falten legt, blickt er mich noch einmal von unten nach oben an.

 

„Zieh dich aus“, sagt er.

 

Urplötzlich schießt mir nur ein einziger Gedanke durch den Kopf: Vergewaltigung! Mir wird warm und kalt zugleich, meine Hände beginnen zu schwitzen und ich zittere auf einmal in meiner Starre.

 

„Wirst du mich vergewaltigen?“

 

Mit großer Mühe habe ich diese Frage raus gebracht. Zum ersten Mal stelle ich erleichtert fest, wie er mich entsetzt anblickt.

 

„Ich bin ein Entführer und nicht ein Vergewaltiger!“

 

Erleichtert atme ich leise aus, man hätte nie wissen können.

 

„Außerdem bist du nicht wirklich mein Typ“, setzt er herablassend hinzu.

 

Dann blickt er wieder zum Fernseher. Entgeistert muss ich feststellen, dass ich mich gerade tatsächlich gefragt habe, was wohl sein Typ wäre.

 

„Ziehst du dich jetzt bitte aus“, sagt er müde.

 

Fragend blicke ich ihn an, genervt bläst er die Luft aus, steht auf, greift nach meinem Arm und zieht mich in das Zimmer, das ich bisher noch nicht gesehen habe. Es ist ein ganz normales, tristes Schlafzimmer. Es gibt ein großes Bett, einen Schreibtisch, einen Kleiderschrank und ein großes Fenster mit weißen Vorhängen.

 

„Süße, du muffelst etwas, ich gebe dir etwas zum Anziehen und dann duschst du, einverstanden?“

 

Ich stinke? Doch ich kann mich noch nicht umziehen, ich habe noch so viele Fragen! Wenigstens kann ich froh darüber sein, dass er mich nicht vergewaltigen will und bis jetzt auch noch nicht umgebracht hat! Er greift in seinen Schrank und zerrt ein Kleidungsstück heraus. Ich verfluche meinen Körper, als ich eine Gänsehaut wegen ihm bekomme. Ich verstehe, dass ich keine Angst habe, sondern dass mein Körper seinen irgendwie anziehend findet. Mein Verstand sagt klipp und klar NEIN, aber mein Körper wird ganz schwach, wenn er neben mir steht, so wie jetzt. Er steht direkt hinter mir, ich spüre seinen Körper an meinen Rücken und seinen Atem auf meinem Kopf, da er sich gerade streckt, um ein Kleidungsstück aus dem Schrank zu fischen. Schon diese kleine Berührung jagt mir sowas wie elektrische Stöße durch den Körper! Böse beiße ich mir auf die Zunge, als er sich dann endlich entscheidet, was er mir geben will, kann er es auch genauso gut wieder rein legen. Es ist ein Hemd, ein ganz normales Hemd, das Problem an der Sache ist, er will, dass ich nur das trage, sonst nichts mehr.

 

„Das soll ein Scherz sein, oder?“, frage ich mit skeptischem Blick auf das Hemd gerichtet.

 

Wenn ich nur dieses Hemd trage, sieht man ja mein halbes Hinterteil. So notgeil bin ich nun auch wieder nicht.

 

„Nein und jetzt geh.“

 

Er hält es mir auffordernd hin, unwohl blicke ich das Hemd an.

 

„Hast du nichts anderes?“, frage ich.

 

Er zieht die Augenbrauen hoch, sichtlich genervt von meinem Theater.

 

„Ich zieh es nicht an“, trotzig verschränke ich dabei die Arme.

 

Ich will nicht in einem wildfremden Haus, indem ein wildfremder Mann wohnt, in einem so knappen Oberteil herumlaufen!

 

„Doch, das wirst du“, er klingt genervt.

 

„Und was wenn nicht?“

 

Nun werde ich böse. Ich weiß zwar, dass er gefährlich ist, ich lasse mich schon auf bestimmte Kompromisse ein, aber ich werde nicht solche Befehle nachgehen.

 

„Dann werde ich wegen dir zum Vergewaltiger“, droht er verbissen.

 

Okay, das war eine Drohung. Trotzdem geht es hier um meinen Willen, und wenn ich ihm jetzt dieses kleine Spiel gewinnen lasse, dann denkt er, er hätte die Macht über mich. Dann würden später womöglich schlimmer Sachen passieren, als dieses knappe Hemd.

 

„Hör jetzt gut zu, entweder du gibst mir etwas Normales zum Anziehen, oder ich werde weiter muffeln, denn ich komme ja gut damit zurecht“, wehre ich mich.

 

Jetzt muss es sich ja zeigen. Wenn er doch gefährlich ist, dann werde ich mich sofort entschuldigen müssen, wenn er aber nachgeben wird, dann muss er ja doch noch ein kleines Fünkchen Gutes in sich tragen.

Kapitel 3

Nach ein paar Sekunden stummes Blickduell gibt er dann schließlich nach und reicht mir ein T-Shirt und eine Boxershorts von sich. Ich nehme es dankend entgegen. Als ich fertig mit duschen bin, lege ich zuerst das Messer behutsam in ein Schränkchen zwischen viele Handtücher. Man kann ja nie wissen, wann ich den wieder brauchen würde. Als ich aus dem Bad komme, finde ich Dan an der Bar stehen. Ich seufze vor Erleichterung. Endlich trägt er mehr als nur seine Boxershort. So würden wenigstens meine Gedanke nicht mehr so abschweifen. Er nippt wieder an einem Glas Wasser. Ziemlich durstig…

 

„Du trinkst aber viel Wasser“, sage ich.

 

Da mir nichts anderes einfällt, was ich sagen kann, sodass keine Stille zwischen uns herrscht, setze ich mich auch geradewegs auf einen Barhocker.

 

„Ist kein Wasser“, sagt er und trinkt einen weiteren großen Schluck.

 

Es dauert, bis ich begreife, was er damit meint. Toll. Ein Alkoholiker. Da ist man ja sicher aufgehoben. Ich rümpfe mich schon wieder innerlich. Sicher? Bin ich blöde? Entführer – Annie. E-N-T-F-Ü-H-R-E-R!!!

 

„Ich will jetzt wissen, wieso du mich entführt hast“, er lächelt schief.

 

Ich glaube ich kann ihn hundert Mal dieselbe Frage stellen, er wird sie mir nicht beantworten. Vielleicht war das ja ein Auftrag mich zu entführen, vielleicht arbeitet er für eine Mafia und bekommt Geld dafür, dass man mich entführt. Aber das stellt sich dann wieder die Frage, weshalb ausgerechnet mich.

 

„Süße, das ist eine lange Geschichte“, sagt er und öffnet den Kühlschrank.

 

Er weigert sich, mir zu antworten und das macht mich tierisch sauer. Was ist daran denn so schwer, einfach zu sagen, aus welchem Grund ich entführt worden bin. Ich, als das Opfer, hat doch das Recht zu wissen wieso!

 

„Okay, ich habe Zeit, oder du entscheidest dich doch noch mich wieder freizulassen.“

 

Natürlich wird er mich nicht freilassen, da wäre die ganze Mühe ja umsonst.

 

„Nope“, kommt es schnell aus dem Kühlschrank.

 

Zwar habe ich die Antwort erwartet, doch das machte mich noch wütender.

 

„Wo bin ich? Kannst du mir das sagen?“

 

Ich werde etwas lauter und blicke ihn hoffnungslos an, meine Finger klopfen ungeduldig auf dem Tresen der kleinen Bar.

 

„Kannst du nicht etwas Leichteres fragen?“

Schließlich blickt er auf seine Armbanduhr. Hat er noch etwas vor? Werde ich vielleicht an jemand anderen weitergegeben? Da ich interessiert war, ob er mir auch auf eine stink normale Frage eine Antwort geben würde, stelle ich sie ihm.

 

„Hast du eine Bürste oder einen Kamm?“

 

Ich weiß, die Frage passt weder zum Thema noch zur Situation, aber er nimmt sie wenigstens ernst. Bedeutet, er kann mir einfach auf diese eine Frage keine Antwort geben.

 

„Ja, es müssten drei oder vier im Bad liegen.“

 

Nachdenklich blickt er ins Badezimmer.

 

„Bist du schwul?“, frage ich ihn.

 

Aus welchem Grund sollte man sonst als Mann so viele Haarutensilien besitzen? Er lächelt mich süffisant an.

 

„Schätzchen, ich meine nicht, dann würde ich, glaube ich, nicht die ganze Zeit versuchen mehr aus deinem Ausschnitt zu erblicken.“

 

Erschrocken werfe ich einen Blick nach unten. Tatsächlich! Mein Ausschnitt verspricht mehr, als er soll. Instinktiv raffe ich ihn zusammen und entgegne empört:

 

„Perversling.“

 

Dann stehe ich auf und laufe in Richtung Bad, er folgt mir und drängt sich vor mir durch die Tür. Mit einem schnellen Handgriff öffnet er eine Schublade und reicht mir einen Kamm. Ohne ihm einen weiteren Blick zu gönnen, schnappe ich arrogant den Kamm aus seinen Händen und blicke in den Spiegel. Dieser zeigt mir ein hageres Mädchen mit langen, wirr stehenden tiefbraunen Haaren. Meine hellbraunen Augen schauen erschöpft mit dunklen Augenringen für einen kurzen Augenblick in die von Dan. Sie sind kristallgrünblau und unglaublich schön. Kein normaler Mensch würde auf die Idee kommen, dass er kriminell ist. Sein unverschämt gutes Aussehen, seine blauen und klaren Augen sind das genaue Gegenteil von Böse. Bevor er etwas sagt, warum ich ihn so lange anstarre, blicke ich schnell weg und bürste meine nassen Haare.

 

„Weshalb hast du so viele davon?“, frage ich.

 

Dan lehnt sich nun am Türrahmen an und sieht nachdenklich aus.

 

„Dank Danny“, antwortet er.

 

Ich runzele die Stirn. Wer ist denn nun Danny? Auch so ein krummer Typ wie er?

 

„Dank wem?“

 

„Danny“, wiederholt er.

 

Ich blicke ihn fragend an und warte auf eine Erklärung.

 

„Nimm deinen süßen Hintern in die Hand und folge mir.“

 

Ich gehe erst gar nicht auf seine „süße“-Wortwahl ein und ignoriere es einfach. Ich lege den Kamm zur Seite und folge ihm in sein Zimmer. Angekommen zeigt er schmunzelnd auf sein Bett. Er will mir doch nicht weiß machen, sein Bett heißt Danny! Ist doch verrückt. Ist er doch ein Irrer?

 

„Mit meinem treuen Freund hier, hatte ich schon sehr viel Spaß.“

 

Er klopft auf das Bett, als ob er einem Kumpel auf die Schulter klopfen würde. Plötzlich macht es bei mir Klick. Wie als würde über meinem Kopf eine Glühbirne anspringen. Angewidert rümpfe ich die Nase. Also hatte er schon so viele Frauen zu Besuch, dass diese hier alle ihre Sachen vergaßen.

 

„Sehr witzig.“

 

Ich verschränke die Arme und laufe in die Küche, er kommt mit einer Jacke in der Hand hinterher.

 

„Sag nun, wer ist Danny?“, frage ich nun ernst.

 

Ich habe nun wirklich kein Bock mehr auf Spielchen und dass kann man mir nun auch ansehen. Müde blicke ich ihn an und sehe, dass sein Blick verständlicher wird. Vielleicht kann er verstehen, wie es mir geht. Vielleicht sieht er, wie erschöpft ich von allem bin.

 

„Kann ich dir noch nicht sagen.“

 

Ich atme ärgerlich aus. Wieder etwas, was er mir nicht sagen kann.

 

„Kannst du mir überhaupt was sagen?“, werde ich lauter und bereue es sofort.

 

Meine Hände fliegen zu meinem Mund, damit nicht noch mehr ungehaltenes Zeug aus ihm heraus sprudelt. Ich darf nicht vergessen, dass er immer noch mein Entführer und somit gefährlich ist. Kurz strahlen seine Augen streng und hart zu mir, dann wird sein Gesicht wieder weicher. Nach der kurzen Stille zwischen uns, zieht er seine Jacke an.

 

„Wohin gehst du?“

 

„Weg.“

 

„Wohin?“, frage ich.

 

„Braucht dich nicht zu interessieren“, sagt er kalt.

 

Als er mein bösen Gesichtsausdruck bemerkt, wirkt er etwas freundlicher.

 

„Gegen Abend bin ich wieder da, Darling“, sagt er und zwinkert mir zu.

 

Ist das jetzt sein Ernst? Er geht einfach eine Runde raus und wird mich hier alleine rumsitzen lassen? Was ist das denn für ein Entführer? Oder will er endlich seine Forderung für mich verkünden? Völlig perplex stehe ich da. „Ein Männlein steht im Walde, ganz still und stumm…“- summt mein Gehirn. Als er bereits die Tür öffnen will, kommt mir der Blitzgedanke schlecht hin. Sofort stürme ich in Richtung Tür. Wäre doch gelacht! Er erkennt zu spät mein Vorhaben und ich schubse ihn unsanft aus dem Weg, doch als ich mich durch die bereits einen Spalt geöffnete Tür zwängen will, stemmt er sich mit seinem ganzen Körpergewicht dagegen. Ich war noch nicht einmal annähernd durch die Tür gekommen. Mein rechter Arm und mein rechtes Bein klemmen mit meiner Hüfte im Türspalt fest. Vor Schmerz japse ich auf. Er drückt rigoros dagegen.

 

„Hilfe!“, schreie ich, doch der Schmerz drückt mir die Luft weg.

 

Mein zweiter Hilferuf kommt nur noch keuchend. Ich spüre seine Hand im Nackenbund des Hemdes und ich werde mit einem kräftigen Ruck zurückgezogen. Mit einem ohrenbetäubenden RUMPS knallt die Tür zu und ich lande unsanft mit dem Rücken gegen eine Kommode. Mir kommen die Tränen vor Schmerz und Wut und zitternd fasse ich mir an die Hüfte. Der Schmerz pocht nur so unter der Haut, direkt auf meinem Knochen. 


„Annie“, knurrt er genervt.

 

Dann lehnt er außer Atem an der Tür, den Schlüssel schnell wieder umgedreht und in seiner Hosentasche verschwinden.

 

„Dann will ich telefonieren“ , keuche ich schluchzend.

 

Wütend starrt er zu mir. Oh, wenn Blicke töten könnten. Wenn ich schon gefangen bin, dann will ich wenigstens einen Kompromiss. Er stützt seine Hände an der Tür ab und wendet sich mir entgegen bis er direkt vor mir zum Stehen kommt. Immer noch schweigend und mit einem Todesblick der einem das Blut in den Adern gefrieren lassen kann, schaut er mich von oben herab an. Sein Kopf beugt sich meinem entgegen bis sich unsere Nasenspitzen fast berührten. Mein Atem geht schneller und meine Knie zittern vor Angst. Gleich wird er total ausrasten. Sein Rasierwasser steigt mir in die Nase, so nahe ist er mir. Ich versuche meinen ganzen Mut aufzubringen, um die nächsten Worte so fest wie möglich herauszubringen.

 

„Entweder du lässt mich gehen oder du lässt mich telefonieren“, wiederhole ich und bin erstaunt über mich selber.

 

So viel Mumm habe ich mir nie zugetraut. Ich lehne mich ganz schön weit aus dem Fenster.

 

„Träum weiter!“, raunt er dunkel, „Ich hab die Schnauze voll!“, wird er lauter.

 

„Hätte ich eher deine Freundin entführt, als dich, würde sie mir jetzt die Füße küssen.“

 

Das ist ein Tritt in den Magen. Es schmerzt sich wieder an Miriam zu erinnern. Automatisch denke ich dann auch an meine Mutter. Die beiden sind die Einzigen, die mir im Leben etwas bedeuten. Zwar möchte ich nicht vor diesem Vollpfosten weinen, aber ich befinde mich gerade in so einer verzweifelten Lage, dass die Erinnerung an den Zweien, meine Augen ganz nass machen. Ich mache mich ganz klein und verstecke mein Gesicht zwischen meine Knie, so weiche ich seinen wütenden Augen aus. Plötzlich werde ich hochgehoben und über die Schulter geworfen. Ärgerlich und voller Angst, was nun folgen würde, trommele ich mit meinen Händen wild auf seinen Rücken und strampele ungelenk mit meinen Beinen, doch er ignoriert mein Aufbegehren. Erst als wir in seinem Schlafzimmer ankommen, lässt er mich, wie einen nassen Sack, auf das Bett fallen.

 

„Was soll das?“, schreie ich verärgert und versuche mir die Haare aus meinem Gesicht und Blickfeld zu wischen. Sie kleben in meinem verweinten Gesicht.

 

„Du bleibst hier, bis ich zurück komme. Mach bitte kein Unsinn, solange ich weg bin“, sagt er trocken.

 

Dann dreht er sich um, schließt die Tür hinter sich ab und lässt mich alleine. Naja, nicht ganz alleine, ich habe ja noch seinen unsichtbaren Freund Danny. Unglücklich werfe ich mich in die Kissen und schluchze, ob aus Wut oder Verzweiflung, weiß ich nicht. Nach einiger Zeit beruhigt sich mein inneres und meine Augen geben auch kein weiteres Tröpfchen mehr her. Ich rolle mich zusammen und denke einfach über alles nach.

 

Meine Gedanken schwirren um meine Mutter. Meine liebe Mom. Es bricht mir das Herz, wenn ich nur daran denke, wie viele Sorgen sie sich gerade macht. Das Schlimmste an allem ist doch, dass sie jetzt alleine ist. Wer kümmert sich nun um sie? Wer tröstet sie? Was ist mit Miriam? Vermisst sie mich? Die anderen in der Schule? Fällt es ihnen überhaupt auf, dass ich nicht da bin? Die ganze Zeit denke ich an meinen zwei wichtigsten Menschen in meinem Leben und wie sie sich gerade fühlen. Wenn ich ihnen wenigstens eine Nachricht zukommen lassen könnte, dass es mir halbwegs gut geht und ich lebe. Um mich etwas abzulenken, stöbere ich ein wenig im Zimmer rum. Ein kleiner Schreibtisch, den zuvor nicht bemerkt habe, zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Überall liegen Zettel mit verschiedene Telefonnummern oder Papiere Adressen herum. Doch das Beste was ich unter den Papieren finde, ist der Jackpot schlechthin: es ist ein Computer. Ein kleiner, unscheinbarer Laptop. Zusammen geklappt ist er unter all den Papieren versteckt gewesen. Zuerst schlage ich mir verärgert auf den Kopf, da ich zu blöd gewesen bin, ihn nicht schon früher gesehen zu haben. Den hätte ich wirklich schon eher finden können, hätte ich nicht in meinem Selbstmitleid gebadet. Blitzschnell schalte ich ihn voller Hoffnung an. Doch nach einigen Sekunden des ungeduldigen Wartens muss ich enttäuscht feststellen, dass er natürlich nicht ohne Passwort funktioniert. Genervt reibe ich mir die Schläfen. Ich habe mein Passwort, falls ich es vergessen habe, unter meinen Schreibtisch geklebt. Vielleicht ist er ja auch so drauf? Ich beuge mich unter die Platte und halte Ausschau.    

 

„Nichts“, murmele ich hoffnungslos.

 

Also probieren. Passwörter knacken kann doch nicht so schwer sein. Ich probiere Dan, Danny, Perversling, Frauen, Sex und sogar Leertaste aus, doch ohne Erfolg. Verzweifelt und wütend versuche ich es auch mit einigen Schimpfwörtern mit denen ich ihn in Gedanken betitel und sogar sein Lieblingsgetränk, dem vermeintlichen „Wasser“. Ohne Erfolg lege ich mich wieder aufs Bett, vom ganzen Stress und Weinen bin ich so müde, dass ich mich gar nicht wundere, als ich einschlafe. Klappernde und schabende Geräusche holen mich aus meinem Schlaf und sofort schlage ich meine Augen auf. Erschrocken blicke ich zu Dan auf.

 

„Du bist süß, wenn du schläfst.“

 

Er lehnt am Türrahmen und grinst. Verwirrt über sein Kompliment starre ich ihn nur an. Nach einigen Sekunden des Schweigens schwingt er sich vom Türrahmen und beginnt damit seine Jacke und seine Schuhe auszuziehen. Stirnrunzelnd beobachte ich das Geschehen. Ich bin noch zu müde, um mir Gedanken darüber zu machen, was er da vor hat. Dann steht er direkt vor dem Bett und zieht sich mit überkreuzten Armen gemächlich sein Shirt aus. Unwillkürlich muss ich Schlucken. Kann er das Ding bitte an lassen? Ich rutsche nervös ein Stück zur Wand zurück. Ihn stört das allerdings wenig. Ungeniert lässt er sich neben mir auf das Bett sinken und steckt gemütlich seine Arme unter den Kopf. Alarmiert setze ich mich aufrecht hin, meine Haltung ist mehr als steif. Herr, Gott im Himmel? Was habe ich dir getan? Ich starre auf meine Hände, um der Verlockung zu entgehen. Ich spüre wie rot ich werde und versuche auf die Seite zu blicken, sodass er es nicht sieht. Sein Oberkörper ist…    

 

„Warum so scheu?“, höre ich ihn fragen.

 

Ich reagiere nicht, kann das Grinsen in seinem Gesicht aber förmlich spüren. Er stöhnt etwas entnervt und steht wieder auf. Er geht zu einer Jacke, die auf seinem Schreibtisch liegt und holt etwas aus der Innentasche heraus, wirft es mir entgegen. Es ist eine Zeitung. Die Morgenzeitung besser gesagt. Ein kurzer Blick aus dem Fenster verrät mir, dass es bereits wieder dämmert. Ich muss die komplette Nacht durchgeschlafen haben und er ist die ganze Nacht unterwegs gewesen. Neugierig schlage ich sie auf und stelle erschrocken fest, dass da ein Bild von mir ist. Es umfasst fast die Hälfte der Seite.


„Annie Jenkins- vermisst.

Beschreibung: 18 Jahre - braune lange Haare, - braune Augen, - ca. 1,75m, - schlank

Bei möglichen Hinweisen oder Spuren bitte melden.“

 

„Super, ich steh in der Zeitung“, antworte ich resignierend.

 

Ich lese den Artikel in dem beschrieben wird, wann mich wer das letzte Mal wo gesehen hat. Sowohl meine Mutter, als auch meine Mitschüler und Lehrer haben sich dazu geäußert, aber besonders Miriam, welche ja zuletzt mit mir gesehen wurde. Dann bemerke ich, dass er sich wieder neben mich hingelegt hat.

 

„Und was bringt mir das jetzt?“, frage ich ihn genervt und pfeffere ihm die Zeitung auf die Brust.

 

Besser geht es mir nun auch wieder nicht. Die Zeitung ist nur eine Bestätigung, dass ich offiziell entführt worden bin und dass sich jeder, insbesondere Miriam und meine Mutter, Sorgen um mich machen.

 

„Ich will immer noch wissen, wieso du mich entführt hast.“

 

Stirnrunzelnd schaut er mich an und legt die Zeitung beiseite. Stille kehrt zwischen uns ein, nach fünf Minuten redet er endlich.

 

„Ich brauche Geld.“

 

Ich rolle meine Augen, da mir die Antwort eigentlich klar sein sollte. Entführer haben immer eine Forderung und da ist es immer Geld, nur dachte ich nicht, dass es bei ihm so wäre. Gleichzeitig steigt Wut in mir hoch, da meine Mom schon so viel schuftet, nie wird sie genügend Geld auftreiben können, sie wird sich dadurch nur kaputt machen!

 

„Dann klär ich dich mal auf: Meine Mutter hat kein Geld Sorry für die Enttäuschung.“

 

Erschöpft reibt er sich über die Augen und lässt einen lauten Seufzer raus.

 

„Niemand redet hier von deiner Mutter Annie! Es geht hier um den Polizeichef. Der muss mir das Geld geben und nicht deine Mutter. Ich habe schon eine Mitteilung geschrieben, dass ich es von ihm verlange.“

 

Erstaunt schlucke ich. Wieso denn ausgerechnet von ihm?

 

„Wäre es dann denn nicht schlauer gewesen, einen Polizisten zu entführen?“, frage ich.

 

„Auf keine Fall. Polizisten sind ausgebildet, sie kommen mit solchen Situationen besser klar, als junge Mädchen. Mit einem Polizisten wäre alles komplizierter gewesen“, erklärt er.

 

Jetzt verstehe ich schon besser. Trotzdem hätte er jemand anders entführen sollen und nicht mich.

 

„Und wie viel verlangst du?“

 

„Eine Million.“

 

Daraufhin muss ich lachen, dass ich einfach zu viel Geld. Warum sollte die Polizei, die mich nicht einmal kennt, soviel für mich bezahlen, dass alles würde doch dann wieder auf meine Mom zu kommen!

 

„Das wird er niemals bezahlen“, stelle ich schnell fest.

 

„Doch, er muss! Ich kenne diesen Mann sehr gut. Und jetzt hab ich es dir gesagt. Bedeutet: dass du mich jetzt in Ruhe lässt!“

 

Er betont den Teil mit in Ruhe lassen besonders, aber nein, so schnell gebe ich nicht auf!

 

„Nein, ich will noch wissen, wofür du das ganze Geld brauchst.§

 

Gequält schaut er mich an.

 

„Unter einer Bedingung: Ich brauche deine Hilfe.“

 

Er setzt sich aufrecht neben mich hin und schaut mich eindringlich an.

 

„Wie könnte ICH dir denn schon helfen?“, frage ich verwundert.

 

„Hilfst du mir oder nicht?“

 

„Ich würde gerne wissen wobei?“, frage ich misstrauisch.

 

„Jetzt sag schon, Ja oder Nein?“, fragt er meine Frage ignorierend eines weiteren Males.

 

Wieso nicht? Ich meine, ich kann doch sowieso nichts machen, außerdem kann ich so auch ein paar Forderungen heraus schlagen.

 

„Na gut“, willige ich vorsichtig ein.

 

„Sehr schön. Also ich schulde jemandem das Geld und du bleibst nun so lange hier, bis ich das Geld habe. Sonst platzt das ganze Geschäft wegen dir und das wäre ein riesen Problem. Verstanden? Keine weiteren Fluchtversuche!“

 

„Ich werde keinen Ärger machen. ABER nur unter ein paar Bedingungen, ansonsten kannst du dir das ganze sparen und ich werde auch weiterhin versuchen einen Weg hier raus zu finden!“, entschlossen erwidere ich seinen festen Blick.

 

„Was für Bedingungen? Ich habe dich bis jetzt gut behandelt“, sagt er verblüfft.

 

Ja, bis auf das er mich halber zwischen der Tür zerquetscht hat.

 

„Zuerst möchte ich telefonieren!“, zähle ich auf.

 

„Mit wem?“

 

„Mit meiner Mutter“, sage ich unschuldig.

 

„Wozu?“

 

„Ich würde ihr gerne sagen, dass es mir gut geht. Was denkst du was sie sich für Sorgen macht? Ich bin ihr einziges Kind?“, vorwurfsvoll wedele ich mit meinen Händen durch die Gegend.

 

Er seufzt und stützt seine Arme auf den Knien ab. Die Hände ineinander verschränkt lasse ich ihm einen Augenblick Bedenkzeit. 

 

„Dann bin ich aber dabei“, murmelt er, „du darfst nicht sagen, wer ich bin, wie ich heiße oder wo du dich befindest“, er blickt mich ernst an.

 

„Ich weiß sowieso nicht, wo ich bin und ich werde sagen, dass du eine Frau bist, ich meine du bist doch sowieso schwul“, zwinkere ich ihm zu.

 

Er knirscht mit den Zähnen, nimmt sein Handy aus seiner Hosentasche und reicht es mir, sofort tippe ich die Nummer meiner Mutter. Bevor ich jedoch auf wählen drücken kann, hällt er meine Hand fest und sieht mir eindringlich in die Augen.

 

„Eine Minute! Sonst finden sie mich!“, ich nicke stumm.

 

Beep. Beep. Beep.


„Ja?“

 

Sofort erkenne ich die strenge Stimme meiner Mutter.

 

„Mom! Ich bin es. Wie geht’s dir?“, frage ich schnell, ich will keine Sekunde vergeuden.

 

„Annie?“

 

Ihre Stimme klingt müde und sie hört sich an, als würde sie nicht glauben wer an der anderen Leitung ist.

 

„Ja.“

 

„Gott sei Dank, du lebst! Mein Liebes, ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht! Wo bist du? Geht es dir gut? Bist du verletzt? Hat die Jemand was getan? Wo bist du?“

 

Ihre Stimme bricht. Ich habe meine Mutter noch nie weinen sehen, doch jetzt glaube ich es zu hören. Meist versteckt sie ihre Gefühle gut und versucht so stark und hart wie möglich zu sein. Daran ist Dad Schuld, der sie verlassen hat.

 

„Mom, hör zu ich kann nicht lange telefonieren, du weißt ja bereits, dass ich entführt worden bin, doch bis jetzt behandelt man mich in Ordnung! Mir geht es gut. Hör zu: sie verlangen Geld, nicht von dir, aber das weißt du sicherlich schon. Sobald es gezahlt wurde lässt man mich frei und dann komm ich wieder zurück.“

 

Sie sagt nichts, ich höre nur ihr regelmäßiges Atmen.

 

„Und dir geht es wirklich gut?“, fragt sie noch einmal.

 

Ich kann mir ihren Gesichtsausdruck genau vorstellen, fast als stände sie vor mir. Sie versucht sich zusammen zu reißen, sie starrt angesträngt einen Fleck an der Wand an und wie immer ist ihr Ausdruck ernst.

 

„Ja, wirklich. Ich muss jetzt auflegen, sag Miriam bitte auch Bescheid, ich liebe euch.“

 

Ich küsse ins Telefon und lege anschließend auf. Jetzt geht es mir schon viel besser. Ich habe die Sache mit Dan geregelt und Mom etwas beruhigen können!

 

„Du hast mein Handy geküsst“, sagt Dan und grinst mich an.

 

Ich rolle mit den Augen und strecke ihm frech die Zunge raus. Er steckt sein Handy wieder ein.

 

„Danke“, murmele ich.

 

„Kriege ich denn nicht auch einen Kuss?“, fragt er und beugt sich näher zu mir.

 

Sofort überkommt mich wieder eine Gänsehaut. Ich verfluche meinen Körper, sobald ich seinen Duft rieche, da er so nah neben mir liegt, werde ich rot und das zeigt ihm, dass ich ein Gefallen an ihm habe.

 

„Nope“, antworte ich schnell.

 

Da er sich darüber lustig macht, dass ich dank ihm rot geworden bin, stehe ich auf und lege verärgert meine Hände auf meine Hüfte.

 

„Ich würde jetzt liebend gerne weiter schlafen“, sage ich beleidigt.

 

„Gerne, mein Sofa hast du ja bereits schon kennengelernt“, sagt er und zwinkert mir zu.

 

Er lässt mich doch nicht tatsächlich auf dem Sofa schlafen, oder etwa doch?!

 

„Ich habe einen empfindlichen Rücken!“

 

„Na wenn das so ist, das Bett ist groß genug“, sagt er breit lächelnd und klopft mit seiner Hand auf die andere Seite des Bettes, worauf ich vorhin geschlafen habe.

 

„Als ein Gentleman solltest du auf dem Sofa schlafen und die Lady auf dem Bett“, sage ich empört.

 

„Wie gut, dass du keine Lady bist“, sagt er verständnisvoll.

 

„Arschloch“, sage ich leise vor mich hin, als ich ein Kissen vom Bett nehme.

 

„Wie bitte? Kannst du dass lauter sagen?“, höre ich ihn lachen.

 

Er hat genau gehört, was ich gesagt habe, aber wenn ich es laut gesagt hätte, würde er wahrscheinlich wieder den Big Boss raus lassen, also halte ich den Mund. Bevor ich die Tür zu donnere, sehe ich ihn noch breit grinsend auf dem Bett liegen. Schließlich laufe ich zum Sofa und habe mit den Tränen zu kämpfen. Der Grund warum ich weinen will ist normal, ich habe Heimweh. Ich will nach Hause, zu meiner Mutter, zu meiner Freundin und vor allem zu meinem BETT!

Kapitel 4

Das laute Geräusch einer Kaffee Maschine weckt mich aus meinem tiefen Schlaf. Stöhnend lege ich meine Hände auf die Ohren, um den lauten Geräuschen zu entfliehen. Doch unmöglich! Genervt öffne ich meine Augen und bin sofort hellwach, ich erblicke den grinsenden Dan an der Bar stehen und mir entkommt sofort ein Zischens aus meiner Kehle.

 

„Na? Gut geschlafen?“, fragt er mich.

 

Ich fauche ihn wütend an, springe aus dem Sofa und stampfe ins Bad. Ich bin wütend, so unglaublich wütend auf ihn! Nicht nur, dass er mich auf dem Sofa schlafen lassen hat, ich bekomme keine Decke, friere fast die ganze Nacht über und werde früh am Morgen durch eine Kaffee Maschine geweckt! Ich binde meine Haare zu einem wirren Dutt, wasche mein Gesicht mit eiskaltem Wasser und versuche mich zu beruhigen. Nachdem ich dreimal geniest habe und circa zehn Minuten vorbei gegangen sind, komme ich endlich aus dem Bad raus und laufe direkt zu dem Barhocker zu. Dann beobachte ich Dan, wie er alle Schränke durchsucht.

 

„Was suchst du?§, frage ich.

 

„Eine Tasse“, antwortet er.

 

Stirnrunzelnd sehe ich die dreckigen Tassen im Waschbecken.

 

„Da sind doch welche“, sage ich und zeige in Richtung Waschbecken.

 

Vielleicht ist er ja blind…

 

„Ja, aber die sind dreckig“, sagt er und sucht weiter.

 

„Dann musst du sie eben sauber machen, damit sie wieder gebrauchbar werden. Weißt du, dass ist wie ein Kreislauf. Benutzen und wieder sauber machen, benutzen und wieder sauber machen“, sage ich und mache so, als würde ich mit einem Kleinkind reden.

 

„Zu traurig, dass ich keine besondere Lust habe, dass alles sauber zu machen“, stellt er fest.

 

Seufzend nimmt er das Glas von gestern und gießt wieder sein besonderes „Lebenswasser“ ein. Geekelt rümpfe ich meine Nase. Es ist früh am Morgen und er betrinkt sich schon.

 

„Hatschi!“, niese ich und halte meine Hand auf die Nase.

 

„Gesundheit.“

 

„Hast du denn nichts anderes, was du trinken könntest?“, frage ich, er schüttelt den Kopf.

 

„Ach und was war mit der Kaffee Maschine?“, frage ich ihn und ziehe meine Augenbrauen hoch.

 

„Da sind keine Bohnen drin, ich habe sie nur angeschaltet“, gibt er zu.

 

Da wird mir klar, was er doch für ein Mistkerl ist. Er wusste, wie viel Lärm diese Maschine macht und hat sie zum Spaß angeschaltet, um mich aufzuwecken!

 

„Arschloch“, sage ich und blicke ihn fest in die Augen.

 

Zuerst blickt er mich ruhig an, dann realisiert er, was ich gerade zu ihm gesagt habe.

 

„Wie bitte?“, knurrt er böse.

 

„Ohja, du hast richtig gehört. Du bist ein verdammtes Arschloch“, sage ich.

 

Jaja, ich weiß, ENTFÜHRER. Aber dass lasse ich ihn nicht durchgehen! Er kann mich doch nicht so behandeln, vor allem, da er ohne mich aufgeschmissen ist und das Geld nicht bekommt.

 

„Du zerquetschst mich zwischen der Tür, du lässt mich auf dem vergammelten Sofa schlafen und nun weckst du mich zum Spaß früh am Morgen auf. Sei froh, du machst der Beleidigung aller Ehre!“

 

Schließlich springe ich vom Stuhl auf und sehe ihn herausfordernd an. Zuerst blickt er mich zähneknirschend und mit einer Augenbraue oben an, dann wechselt sich sein Gesichtsausdruck zum Lachen. Geschmeidig läuft er zum mir und bleibt dich vor mir stehen und blickt mich von unten nach oben genau an.

 

„Du bist frech, dass ist sexy“, sagt er und bückt sich so tief runter zu mir, dass wir auf gleicher Augenhöhe sind.

 

Sofort muss ich laut schlucken und blicke ihn durch meine großen, runden Augen an.

 

„Wenn du die Küche aufräumst, bekommst du was zum Essen“, sagt er lachend und macht mit einer Hand meine Haare durcheinander.

 

Nun komme ich mir vor wie ein Hund, wenn ich brav bin bekomme ich mein Leckerlie. Böse sehe ich ihm hinterher  wie er sich auf mein „Bett“ setzt und Fern sieht. Seufzend drehe ich mich zur Küche und entscheide mich den Mund zu halten und einfach mal das zu machen, was er will, vielleicht entstehen dann keine Komplikationen mehr. Doch leichter gesagt als getan, die Küche ist der reinste Reinfall. An den Pfannen klebt etwas dickes und gelbes fest. Die Töpfe stehen alle benutzt auf den Pfannen, sodass sich so einiges auf dem Herd angesammelt hat. Die Tassen, Teller und Besteck liegen alle im Waschbecken. Angeekelt drehe ich mich zum Kühlschrank und mache ihn auf, ein kleiner Spalt reicht und so schließe ich ihn auch sofort wieder, ein fürchterlicher Gestank kommt aus dem Kühlschrank, den nehme ich mir zum Schluss vor. Aber bevor ich mich entscheide anzufangen, halte ich Ausschau nach einer Jacke, da es in dieser Wohnung wohl keine Heizung gibt und es arschkalt ist!
      

„Hast du eine Jacke für mich?“, frage ich und lehne mich am Tresen an.

 

Verwirrt runzelt er die Stirn und blickt mich an, als wäre ich verrückt.

 

„Es ist ziemlich warm hier, sicher, dass du eine Jacke haben willst?“, fragt er und zeigt auf sein einziges Stück Stoff, dass er trägt.

 

Mit einem Ja von mir steht er seufzend auf, läuft ins Schlafzimmer und kommt mit einer Jacke wieder zurück. Dankend ziehe ich sie mir rüber und sehe zu, wie er sich wieder aufs Sofa setzt.

 

„Sag mal, wann hast du hier das letzte Mal sauber gemacht?“, frage ich ihn und ziehe meine Nase kraus, als ich mich schlussendlich der Küche widme.

 

Ich sehe wie sich auf seiner Stirn wieder Falten bilden, also muss er wohl angestrengt nachdenken, etwas, was er nicht so oft tut!

 

„Kein einziges Mal“, sagt er dann schließlich, geschockt sehe ich an.

 

„Ein Wunder dass du noch lebst und Kakerlaken kein neues zu Hause gefunden haben“, sage ich verwundert.

 

„Das kommt daher, dass ich hier erst seit mindestens zwei Wochen wohne.“

 

Wo hat er denn davor gelebt? Schnell werfe ich den Gedanken weg und konzentriere mich auf die Katastrophe. Da mein Hunger nun immer größer wird, muss ich alles beseitigen. Also fange ich zuerst an, die Tassen, Teller und das Besteck zu waschen. Nach dem abtrocknen verstauche ich die Dinge irgendwo, wo ich mir sicher bin, dass der Idiot sie auch wieder finden kann. Schließlich kommen die Pfannen und Töpfe dran, das ist schon eine größere Herausforderung, da das Fett nicht so leicht abgeht. Doch als das geschafft ist und der Herd geputzt ist, drehe ich mich zum Kühlschrank. Ich atme tief ein und öffne ihn schnell, um zu sehen, woher der eklige Duft kommt und da ist auch schon der Grund. Schimmel! Das Gemüse ist schon verschimmelt und der Käse schon abgelaufen. Also schmeiße ich mit geekeltem Gesichtsausdruck alles abgelaufene und verschimmelte weg und schließe auch wieder den Kühlschrank. Als ich mir sicher bin, dass ich nun fertig bin, kommt mir noch ein böser Gedanke im Sinn.

 

„Hatschi!“, niese ich wieder, bevor ich auch nur meine böse Tat ausüben kann.

 

Langsam glaube ich, dass ich krank bin, oder es liegt an der staubigen Luft!

 

„Gesundheit“, höre ich ihn wieder rufen.

 

Unsicher blicke ich zu Dan, um sicher zu gehen, dass er nicht sieht, was ich jetzt vorhabe. Grinsend öffne ich ein Schränkchen und hole sein „Lebenswasser“ heraus, sofort gieße ich alles in den Waschbecken. Als ich noch eine Flasche sehe, hole ich sie raus und schaffe sie nach Minuten zu öffnen.

 

„Was hast du da in der Hand?“, höre ich Dan fragen.

 

Erwischt blicke ich ihn an, dann handle ich schnell. Sofort gieße ich das Wasser aus und dann höre ich auch schon, wie er zu mir rennt. Ich werde hochgehoben und bevor ich über die Schulter geworfen werde, schaffe ich es noch rechtzeitig, alles wegzugießen.

 

„Was hast du getan?“, höre ich Dan verzweifelt sagen.

 

„Deine Küche aufgeräumt“, sage ich und hämmere genervt gegen sein Rücken.

 

„Ja und wer hat dir gesagt, du sollst die Flasche leeren?“

Ich sehe, dass er die Küche verlässt und dass wir das Schlafzimmer erreichen. Dann werde ich wieder hochgenommen und auf das Bett geschmissen.

 

„Autsch!“, jammere ich und blicke zu ihn.

 

Er sieht böse aus, seine Augen blicken direkt in die meine und sein Gesicht zeigt nur Härte.

 

„Anstatt danke zu sagen, musst du mal wieder schimpfen“, zische ich ihn an.

 

Ich höre ihn tief ein und ausatmen und zum Schluss noch ein tiefer Seufzer.

 

„Steh auf“, sagt er verärgert.

 

Mit zusammengeknifften Augen schaue ich zu ihm und stelle überrascht fest, dass er nicht mehr so überaus wütend aussieht. Zwar hat er seine Arme auf sein Becken gestemmt, doch sein Blick sieht nicht so aus, als würde er wünschen ich wäre tot.


„Wozu?“, frage ich ihn und bleibe lieber sitzen.

 

„Wir hatten eine Abmachung, schon vergessen?“, fragt er und zieht eine Augenbrauen hoch.

 

„Du putzt, dann kriegt du was zum Frühstück“, sagt er barsch und reibt sich müde seine Augen.

 

„Du bist also nicht mehr sauer?“, frage ich leise und versuche ein bisschen unschuldig zu klingen.

 

„Wenn wir noch weiter darüber reden, könnte mir der Gedanke gefallen, dass du auch nichts zum Mittag bekommst“, sagt er und sieht drohend aus.

 

„Schon gut“, sage ich schnell und stehe auf.

 

Gerade will ich auf dem Zimmer gehen, da hällt er mich am Arm fest und zieht mich zu ihm zurück.

 

„Wohin so schnell? Du glaubst doch nicht wirklich, dass du mich so begleiten wirst“, sagt er und sieht mich von unten nach oben kritisch an.

 

Ich verstehe, dass ich nur eine Boxershort und ein Hemd anhabe, aber was soll ich denn sonst anziehen? Fragend blicke ich ihn an. Seufzend drückt er mich wieder runter aufs Bett und öffnet sein Kleiderschrank. Ich persönlich hätte in diesem Schrank nichts finden können, da da alles nur durcheinander ist. Wie es aussieht sieht er es nicht für selbstverständlich seine Klamotten zusammen zu falten, somit wenigstens ein bisschen Ordnung drinnen herrscht. Solange er sucht, bleibt mein Blick an sein Rücken geheftet. Ich glaube, er macht irgendein Kraftsport, da man seine Muskeln durch sein Shirt erkennen kann, als er sich streckt, um etwas von weiter oben heraus zu holen. Schmunzelnd muss ich zugeben, dass er ein knackigen Hintern hat und wenn er nicht gerade kriminell wäre, hätte er sein Geld auch mit modeln verdienen können. Doch wenn ich mir gerade vorstelle, dass er modelt, kann ich mir nur denken, wie abneigend und aggressiv er in die Kamera schauen würde und sie höchst wahrscheinlich noch kaputt schmettern würde. Ob er unfotogen ist weiß ich nicht, doch ich glaube wegen seinem unberechenbaren Charakter würde kein Fotograf ihn nehmen… Als er schließlich fertig ist, reicht er mir einen Mini Rock, eine Bluse, eine schwarze Sonnenbrille und eine Perücke mit langen blonden Haaren.

 

„Zieh an, was anderes habe ich nicht“, sagt er und zeigt ins Bad.

 

„Klar, zehn Haarbürsten hast du, aber gescheite Klamotten nicht! Damit seh ich ja aus, wie eine Prostituierte!“, sage ich empört und trampele ins Badzimmer.

 

Schnell ziehe ich alles an, binde mir die Haare zusammen und setzt mir die blonde Perücke über. Der Rock ist mehr als gewagt und die Perücke macht das ganze Bild nicht gerade besser. Pretty Woman hallo! Als ich aus dem Badezimmer marschiere ernte ich ein sorgenfreies Lachen von Dan. Mit einem bösen Blick bringe ich ihn zum Verstummen.

 

„Woher hast du denn bitte solche Sachen schon wieder? Der blanke Horror!“, rege ich mich auf und nestele an dem Rock herum.

 

Der geht eindeutig nicht weiter herunter zu ziehen. Außerdem rutscht er auch noch, da meine Hüften ihn nicht annähernd ausfüllen, ebenso sieht es mit der Bluse aus.

 

„Danny“, sagt er kurz und läuft zur Tür.

 

Ich will gerade hindurchgehen, doch werde ich zurück gehalten.

 

„Du rennst mir nicht weg, klar? Anker dich ein“, sagt er verbissen und streckt mir seinen Ellenbogen entgegen.

 

Als wäre ich ein kleines Kind. Bockig plustere ich meine Wangen auf und hacke mich bei ihm ein.

 

„Zufrieden?“, er nickt und schließt hinter uns die Tür.

 

Ich bin ziemlich überrascht, als wir rauskommen und wir uns, wie es aussieht, in einem Hotel befinden, unser Zimmer, 404, ist auf der höchsten Etage. Aber ich muss zugeben, dass ich noch nie in diesem Viertel gewesen bin, ich kenne auch das Hotel nicht. Dann fangen wir an von Geschäft zu Geschäft zu laufen. Da es viel zu naiv wäre in einen großen Supermarkt zu gehen, dirigiert er mich in ein kleinen Laden, das zwar ziemlich abgenutzt aussieht, es aber immerhin Lebensmittel gibt zu kaufen. Ich drücke ihm den Einkaufskorb in die Hand und lege alles, was mir für wichtig erscheint in den Korb. Darunter: Orangensaft, Nudeln, ein paar frische Früchte und Gemüse, Schokolade, eine Zahnbürste sowie Zahnpasta und Shampoo. Kritisch beäugt er mich als ich in die Frauenabteilung gehe und ebenfalls OB’s sowie ein paar Einlagen rein lege. Da mir das wirklich kein bisschen peinlich ist, stehe ich noch ganze fünf Minuten vor den verschiedenen Rasierer und kann mich zwischen „Venus“ und „Gillette“ nicht entscheiden. Irgendwann wird es ihm zu blöd und er steckt selbst einen Rasierer in den Korb und zerrt mich knurrend zur Kasse. Als wir schon fast dran kommen, erinnere ich mich noch, dass ich etwas vergessen habe. Schnell renne ich noch einmal in die Pulver Abteilung und sprinte zur Kasse zurück. Dort angekommen schüttele ich die Kaffeebohnen provozierend vor seinem Gesicht und grinse ihn frech an, er verdreht nur die Augen.

 

„Hast du überhaupt so viel Geld?“, frage ich ihn leise.

 

„Keine Sorge“, sagt er nur.

 

Schließlich laufen wir bepackt mit circa vier Tüten zurück zum Hotel.

 

„Machst du dir eigentlich keine Sorgen, dass mich jemand erkennt?“, frage ich ihn, als wir schon fast vor dem Hotel stehen.

 

„Nein“, sagt er gelassen und fährt fort.

 

„Die Polizisten denken doch eher, dass du, als mein Opfer gefesselt am Stuhl sitzt, die Augen fest verbunden sind und ein Knebel um deinen Mund hast. Anstatt herum zu fahren und dich draußen zu suchen, versuchen sie eher Information heraus zu finden“, erklärt er mir.

 

„Was macht dich so sicher?“, frage ich ihn und blicke ihm aus den Augenwinkel an.

 

„Sonst würden hier doch lauter Polizeiautos herum fahren, oder etwa nicht?“, stellt er eine Gegenfrage und ich muss ihm recht geben.

 

Als wir im Hotel ankommen, ist es schon längst drei Uhr mittags, ich entscheide mich einfach Spagetti zu kochen und das wars dann auch. Als Soße nehme ich einfach eine aus der Dose und muss während dem Essen feststellen, dass es gar nicht so schlecht schmeckt. Als ich fertig bin, laufe ich schnell ins Zimmer und ziehe mir die Jacke an, da mir auf einmal wieder so kalt geworden ist.

 

„Sag mal, wozu brauchst du eigentlich das ganze Geld?“, frage ich ihn, als ich wieder am Tisch sitze.

 

„Ist geschäftlich“, sagt er kurz.

 

Mit Ungewissheit blicke ich ihn an.

 

„Bist du ein Terrorist? Brauchst du das Geld, um irgendwelche Waffen aus dem Ausland zu kaufen? Für Drogen? Oder vielleicht für ein Bombenanschlag?“, frage ich ihn und hoffe auf ein nein.

 

„Keine üblen Ideen für eine Schülerin von 18 Jahren“, sagt er sichtlich erstaunt und steht auf.

 

Dankend nimmt er sein und mein Teller und legt es in die Spüle. Mir klappt beinahe der Mund auf, als ich sehe, dass er das Geschirr spült. Trotzdem habe ich das Gespräch aber nicht vergessen.

 

„Und? Für was brauchst du das Geld?“, wiederhole ich.

 

Sofort hört auf mit dem spülen und blickt mich ernst an. Sein Kiefer spannt sich zusammen und seine Augen heften sich in die meine.

 

„Das geht dich nichts an“, sagt er ernst und blickt wieder aufs Geschirr.

 

Gerade will ich was sagen, doch da spüre ich schon, wie meine Nase wieder anfängt zu kitzeln und mir auf einmal ziemlich schwindelig wird.

 

„Hatschi! Hatschi! Hatschi!“

 

„Alles klar bei dir? Du hast heute schon das zehnte Mal geniest“, sagt er und blickt mich nachdenklich an.

 

„Jaja, ist alles in Ordnung“, sage ich und ziehe die Jacke aus, da es plötzlich so heiß geworden ist.

 

Ich reiße mir die Perücke vom Kopf und binde meine Haare zu einem Dutt, da das aber nichts hilft wehe ich noch mit meiner Hand vors Gesicht, um ein wenig mehr Luft zu bekommen.

 

„Du bist ziemlich komisch drauf. Gerade eben war dir noch kalt und jetzt ist dir heiß. Hast du Fieber?“, fragt er und trocknet seine Hände ab.

 

Augen verdrehend lege ich meine Hand auf die Stirn und spüre eigentlich keine Hitze.

 

„Ne, dass liegt bestimmt an etwas anderem“, erkläre ich.

 

Geschockt stelle ich fest, dass er besorgt aussieht. Schließlich läuft er zu mir, bleibt unmittelbar vor mir stehen, zieht mein Kopf zu sich und küsst mich auf die Stirn.

 

Erst nach ein paar Sekunden wird mir klar, dass er mich küsst! Verdammt, was soll dass?! Leider wird mir noch heißer als ich davor schon bin und ich versuche ihn von mir abzustoßen, da spüre ich aber, dass seine Zunge auf meine Stirn legt. Er küsst mich nicht, sondern messt, ob ich Fieber habe, dass hat meine Mutter früher auch bei mir gemacht!

 

„Verdammt Annie, du hast Fieber!“, sagt er böse und steht wieder auf.

 

Während ich ihn mit großen Augen anstarre, scheint er nachzudenken. Ich muss zugeben, dass das wirklich stimmen kann, aber die Situation, dass ich hier und jetzt gerade krank bin gefällt mir kein bisschen. Normalerweise liege ich, wenn ich krank bin, in meinem Bett, in meinem zu Hause und nicht hier! Schon allein der Gedanke bringt mir wieder eine Gänsehaut auf meinen Arm.

 

„Komm steh auf“, sagt er schon fast zärtlich.

 

Ich glaube ich habe mich überhört! Plötzlich zieht er mich vorsichtig zu sich hoch und hilft mir ins Schlafzimmer zu laufen.

 

„Hatschi!“, niese ich wieder.

 

„Was ist los mit dir? Ich dachte das Sofa wäre jetzt mein Bett“, erinnere ich ihn, als wir im Zimmer ankommen.

 

„Verdammt das Sofa!“, zischt er wütend, als er mich aufs Bett legt.

 

„Warum hast du dich auch nur dort hingelegt?! Nicht einmal eine Decke hattest du, du Dummkopf!“

 

„Wessen Schuld das wohl ist“, sage ich beiläufig und krieche unter die kuschelige Decke.

 

Mein ganzer Körper zittert vor Kälte und nebenbei spüre ich, wie er sich neben mich setzt und seine Hand auf meine Stirn legt.

 

„Fuck!“

 

Energisch steht er auf und verschwindet. Meine Augen fühlen sich müde und schwer an, meine Knochen schmerzen und mir ist wirklich kalt. Was wohl meine Mutter jetzt getan hätte? Plötzlich spüre ich etwas Kaltes auf meiner Stirn. Komisch, ich zittere aber das kalte auf meiner Stirn tut wirklich gut.

 

„Annie, ich will jetzt, dass du schläfst und nicht aufstehst. Ich renne jetzt zur Apotheke rüber und besorge dir etwas“, höre ich Dan sagen.

 

Ein Nicken reicht und schon höre ich ihn verschwinden. Gleich danach schlafe ich auch schon ein.

 

 

„Annie, wach auf“, höre ich.

 

Angestrengt öffne ich meine Augen und hatte beinahe gedacht es wäre meine Mutter, doch ist es nur Dan. Er hält ein Glas in der Hand und eine Tablette in der anderen.

 

„Trink das und dann kannst du auch wieder weiter schlafen“, erklärt er kurz, setzt sich zu mir und hilft mir hoch zu kommen.

 

Müde blicke ich in das Glas Wasser rein, dass er mir gerade gegeben hat und schlucke auch gleich die Tablette. Zwar weiß ich nicht, ob mir die Tablette schaden könnte, doch irgendwie vertraue ich ihm gerade. Nachdem ich das Glas leer getrunken habe, lege ich mich auch wieder hin. Meine Augen wollen sich sehnsuchtsvoll wieder schließen, ich merke, wie Dan aufsteht, doch halte ich seine Hand fest.

 

„Danke“, flüstere ich noch, bevor ich wieder einschlafe.

Kapitel 5

 

Ich spüre, wie warm mir ist, nicht heiß, sondern angenehm warm. So ein Gefühl hatte ich noch nie, ich fühle mich so geborgen, weiß aber nicht wieso. Ganz langsam kommen die Erinnerungen zurück. Ich wurde von Dan entführt und wurde auf einmal krank. Gerade will ich mich aufrekeln, als ich einen ruhigen und warmen Atem neben meinem Ohr spüre. Meine Augen schrecken sofort auf und meine Befürchtung wird durch den Arm, der um mich geschlungen ist und die Hand, die auf meinem Bauch liegt, bejaht. Kräftig schubse ich ihn von mir und wecke ihn dabei unsanft auf. Vorwurfsvoll blickt er mir in die Augen, welche immer noch vom Schlaf getränkt sind.

 

„Was sollte das denn?“

 

„Das könnte ich dich auch fragen“, sage ich völlig verstört.

 

Er runzelt seine Stirn und weiß offensichtlich nicht, was ich meine, bis es bei ihm Klick macht.

 

„Schätzchen du hattest während der Nacht Fieber. Du hast gefroren und gleichzeitig geschwitzt und da wusste ich nur eine Sache, was ich tun könnte, damit es aufhört. Also habe ich dich umarmt“, erklärt er mir müde und reibt sich über die Brauen.

 

Ich setze zum Sprechen an, aber er stoppt mich.

 

„Du brauchst dich erst gar nicht beschweren, eigentlich hätte ich dich ausziehen müssen, sodass es klappt, aber da du dich irgendwann beruhigt hast, konnten deine Klamotten dran bleiben“, erklärt er grinsend.

 

Sofort spüre ich die Wärme in meinem Gesicht aufsteigen. Hoffentlich laufe ich jetzt nicht auch noch rot an. Schnell schäle ich mich aus der Decke und hüpfe ungelenk ins schützende Bad. Dort angekommen blicke ich ins Spiegelbild und stelle erleichtert fest, dass es mir besser geht. Gut, ich fühle mich jetzt nicht so fit, dass ich in einem 1000-Meter-Lauf mitmachen könnte, aber wenigstens geht es mir so gut, dass ich halbwegs stehen und denken kann. Ich beschließe zu duschen, da meine Haare ganz nass sind. Womöglich habe ich wirklich die Nacht durchgeschwitzt, wegen dem Fieber. Doch auch, während das kalte Wasser meine Schulter runter tropft, kann ich den Gedanken an das Aufwachen nicht verdrängen. Normalerweise mache ich so was ja nicht! Gott, ich kenne diesen Kerl ja eigentlich gar nicht. Schon allein, dass ich mit ihm dasselbe Bett geteilt habe, kommt mir spanisch vor. Herr Gott, ich bin jetzt nicht Jungfrau Maria höchstpersönlich, also nicht, dass ich so schüchtern oder keusch bin, aber ich besitze immer noch genug Würde den Kerl, mit dem ich in einem Bett schlafe, besser zu kennen. Und jetzt mal ehrlich, was weiß ich schon über ihn? Außer dass er ein arrogantes, perverses Arschloch ist… Ich weiß weder, wo er früher gewohnt hat, noch was seine Hobbys sind.

 

Fertig mit dem duschen, lasse ich mir genügend Zeit mich abzutrocknen, putze mir noch ordentlich die Zähne und bürste summend meine Haare. Als ich irgendwann fertig mit meiner Prozedur bin, öffne ich die Tür und werde gleich von einem besonders leckeren Duft überrascht. Mit großen Augen entdecke ich Dan mit einer Pfanne in der Hand, in der er Eier brät, in der Küche steht. Ich werfe mein Gedanken weg, als ich ihn da so ohne jegliches Stoff am Körper tragen sehe. Klar trägt er noch einer Boxershorts, aber das Bild von seinem Oberkörper will mir einfach nicht aus meinem blöden Kopf gehen. Wie er da die Pfanne hochhebt, die Eier in der Luft wirft und wieder auffängt und natürlich das Schauspiel seiner Armmuskeln. Nach einem Seufzen muss ich mir so stark in den Arm zwicken, dass ich endlich wegsehe und stattdessen die Spiegeleier betrachte.

 

„Wie geht es dir?“, fragt er und blickt mich ernst an.

 

„Fabelhaft“, schmunzele ich und sehe wieder auf seine Brust.

 

„Besser meine ich!“, zwicke ich mir schnell in den Arm und verbessere mich mit einem roten Kopf.

 

Er stellt das Gas ab und fordert mich mit einem Handzeichen auf, mich ein wenig nach vorne zu beugen. Dann legt er vorsichtig seine Hand auf meine Stirn und blickt mich ruhig an. So schnell, wie er die Hand auf meiner Stirn gelegt hat, so schnell war sie auch wieder weg. Ein wenig unzufrieden öffnet er eine Schubblade und nimmt schließlich eine Tablette heraus. Dann reicht er mir ein Glas Wasser mitsamt der Tablette rüber, die ich schlucken soll. Widerwillig trinke und schlucke ich und blicke ihn fragend an.

 

„Du bist noch ein wenig warm“, sagt er, als er zwei Teller aus dem Regal herausholt und sie auf den Tisch legt.

 

Wie auf Kommando setze ich mich zum Tisch und blicke ihn lächelnd an, als er mit Orangensaft und zwei Gläser in den Händen zurückkommt.

 

„Wieso grinst du so komisch?“, fragt er mürrisch.

 

„Nur so“, winke ich ab.

 

Er hebt eine Augenbraue hoch und blickt mich auffordernd an.

 

„Naja, es ist erstaunlich zu sehen, dass du etwas zum Frühstück vorbereitest und tatsächlich Orangensaft trinkst“, gebe ich zu.

 

Als wir beide so da sitzen, erinnere ich mich daran, dass ich ihn eigentlich gar nicht kenne. Gut, er ist zwar mein Entführer, aber ich verlange ja jetzt nicht von ihm, mir seine ganze Lebensgeschichte zu erzählen. Ich gebe mir ein Ruck und frage ihn etwas!

 

„Sag mal, wo bist du eigentlich geboren?“, frage ich ihn nervös, er schaut mich nur kurz an und guckt dann aber wieder weg.

 

„In Amerika“, sagt er gelangweilt, Augen verdrehend blicke ich ihn an.

 

„Wow, das hätte ich jetzt nicht gedacht. Ich meine, bist du hier geboren, oder irgendwo anders?“

 

„Wieso willst du dass wissen?“, fragt er und runzelt die Stirn.

 

„Es interessiert mich“, erkläre ich.

 

„Du meinst, du interessierst dich für mich?“, fragt er und siehe da, wieder blickt er mich grinsend an und beugt sich näher zu mir vor.

 

„Ich will nur wissen, wer du bist!“, gifte ich ihn an.

 

Mit der Gabel hämmere ich auf den Teller und steuere ihn anschließend in mein Mundwerk. Das kommt davon, wenn man ihn etwas ganz Leichtes fragt. Mit hochgezogenen Augenbrauen ignoriere ich ihn und bemerke von der Seite, wie er sich zurücklehnt und die Arme hinter den Kopf legt.

 

„Ich wurde in New York geboren“, sagt er schließlich.

 

Überrascht blick ich ihn an, ich hätte nicht gedacht, dass er doch noch etwas sagen würde.

 

„Was willst du noch wissen?“, fragt er leicht genervt.

 

„Was ist deine Lieblingsfarbe?“

 

„Nicht dein ernst jetzt, oder?“, fragt er, ich nicke energisch.

 

„Grün“, sagt er und seufzt.

 

„Wenn du einen Tag die Welt regieren könntest, was würdest du dann ändern?“

 

Mit gerunzelter Stirn blickt er mich an, als wäre ich verrückt. Auf eine Antwort wartend blicke ich ihn immer noch an. Da er schließlich kapiert, dass die Frage ernst gemeint war, scheint er kurz ernst darüber nachzudenken.

 

„Das ist eine komische Frage, wieso interessiert dich so etwas?“, fragt er.

 

Aus seiner Antwort würde ich vielleicht verstehen, was er für ein Mensch ist. Würde er sagen, dass er den Krieg stoppen würde, könnte ich daraus ziehen, dass er auf jeden Fall ein Herz besitzt. Doch sagt er jetzt, er würde allen Frauen verbieten einen anderen Beruf als Stripperin zu erlernen, müsste ich mir unbedingt Gedanken machen, wie ich von diesem Perversling verschwinden kann.

 

„Ich glaube, ich könnte nichts erreichen. Ich würde wahrscheinlich ganze 15 Stunden damit verbringen, zu überlegen, was ich denn verändern könnte. 8 Stunden würde ich brauchen, um mich vor den Besserwissern dieser Welt zu verstecken. Dann bräuchte ich noch 50 Minuten, in denen ich einfach nur verzweifle, da ich mit der ganzen Situation und der Verantwortung nicht klarkommen kann und 10 Minuten würde ich dann warten, bis dieser Tag vorbei wäre.“

 

Mit offenem Mund blicke ich zu ihm rüber, also dass hätte ich jetzt nicht erwartet. Dann steht er auf, als hätte er gerade nichts gesagt und schnappt sich die Teller, um sie zu waschen, rechtzeitig werde ich noch fertig. Unglaublich so etwas aus seinem Mund zu hören! Schon, dass er geantwortet hat, verdient ein Applaus, aber er war dabei so ehrlich, dass mich das erst einmal ein wenig geschockt hat und ich nichts darauf sagen konnte.

 

„So gern mir unsere Unterhaltung gefallen hat, ich muss jetzt leider verschwinden und du hast die Ehre hier zu bleiben“, sagt er, als er fertig mit Geschirr waschen ist.

 

Sofort stehe ich auf, und bevor er noch aus der Küche treten kann, stelle ich mich gefährlich nah vor ihm hin.

 

„Ich will nicht hier bleiben!“, sage ich trotzig, darauf schmunzelt er.

 

„Sorry.“

 

Er will mich beiseiteschieben, doch ich klammere mich an seinem Arm fest und schaffe es somit, ihn ein wenig fest zuhalten. Erstaunt blickt er mich an, ist wohl ungewöhnlich, dass ich ihn anfasse, aber hier geht es um vieles mehr. Ich möchte auf keinem Fall in dieser kleinen Wohnung verrotten. Was soll man hier schon machen?! Ich werde vor Langweile sterben!

 

„Nimm mich mit!“

 

Kurz scheint er zu überlegen, dann tritt er zu mir vor, nimmt eine Strähne in seine Finger und legt sie behutsam hinter mein Ohr.

 

„Das kann ich nicht“, flüstert er in mein Ohr.

 

Es ist komisch, dass sich daraufhin ein Kribbeln in meinen Füßen bildet und hoch zu meinen Armen wandert, wo schließlich Gänsehaut entsteht. Keine Ahnung, was das sein soll, aber ich bin froh, dass es aufhört, als er sich von mir löst.

 

„Wieso nicht? Was hast du überhaupt vor?“, frage ich ihn schnell, währenddessen läuft er ins Schlafzimmer, um seine Jacke zu holen.

 

„Ich muss etwas bereden“, antwortet er kurz.

 

„Du musst mich dort ja auch gar nicht mitnehmen, du kannst mich doch im Park stehen lassen und später wieder abholen“, argumentiere ich.

 

Als er aus dem Zimmer kommt, trägt er schon seine Jacke und will an mir vorbei laufen, doch wieder halte ich ihn fest.

 

„Bitte“, flüstere ich und setze meine Welpen Augen ein.

 

Er scheint richtig mit sich zu kämpfen, während er mich mit gerunzelter Stirn ansieht.

 

„Na gut“, seufzt er.

 

Wie auf Kommando laufe ich ins Schlafzimmer, um mich umzuziehen. Schnell ziehe ich mir die Perücke und die Schuhe an, finde aber nicht die Jacke.

 

„Hast du meine Jacke gesehen?“, rufe ich.

 

Noch einmal mich umsehend beschließe ich zurück zulaufen, dann eben ohne Jacke. Als ich aus dem Zimmer trete, sehe ich auch schon Dan mit meiner Jacke in der Hand. Netterweise hilft er mir da rein und ich muss mich zwingen, ihm nicht zu sagen, wie nett dass denn von ihm ist, sonst würde er nämlich sofort wieder den blöden Dan raus lassen. Schließlich öffnet er die Tür, sodass ich zuerst raustrete, was ebenfalls ziemlich nett von ihm ist. Woher kommt denn plötzlich das Gentleman-Getue? Als wir im Aufzug stehen, fällt mir wieder eine Frage ein, die ich ihn eigentlich schon längst stellen wollte.

 

„Dan, wie alt bist du eigentlich?“, frage ich ihn neugierig.

 

„21“, sagt er.

 

Durch seine dunkle Stimme bekomme ich wieder eine Gänsehaut. Gott, was ist eigentlich los mit mir? Ist ja nicht so, als hätte ich Angst vor ihm, aber seine Stimme klingt so rau und sexy zugleich. Schnell raffe ich mich zusammen und erinnere mich an seine Antwort. Dan ist also schon 21, ich hätte ihn ein wenig älter eingeschätzt. Vielleicht 24 oder 25 Jahre. Als wir unten ankommen, will ich schon los laufen, doch er hält mich am Arm fest.

 

„Du hast wohl etwas vergessen“, erinnert er mich und wackelt mit seinen Augenbrauen.

 

Da ich nicht von selbst drauf komme, zeigt er auf seinen Arm und lässt mich so verstehen, dass ich mich wieder einhaken soll. Seufzend, da ich mir vorkomme wie ein kleines Kind, hake ich mich ein wenig unglücklich ein und muss mich bemühen, ihn nicht anzugiften.

 

„Wieso zum Teufel, muss ich mich wieder bei dir einhaken?“, frage ich zischend.

 

„Nicht so schüchtern meine Liebe“, sagt er nur.

 

„Nein im ernst, ist ja nicht so, als würde ich dir weglaufen! Später wirst du mich ja auch alleine lassen müssen und woher kommt dann da das Vertrauen?“, frage ich.

 

„Wie kommst du darauf, dass ich dir nicht vertraue?“, fragt er als Gegenfrage.

 

Als Antwort ziehe ich an dem Arm, indem ich eingehakt bin, zu mir.

 

„Vielleicht möchte ich dich ja ganz nah bei mir haben“, flüstert er in mein Ohr und schmunzelt.

 

Um mein rot werden zu vertuschen, lache ich extra laut auf.

 

„Ist klar“, sage ich und hoffe er bemerkt nicht, dass ich rot geworden bin.

 

Als er plötzlich stehen bleibt, blickt er mich verwirrt an.

 

„Geh es dir nicht gut? Du bist auf einmal wieder so warm“, stellt er fest.

 

Ohne auf meine Antwort abzuwarten, küsst er mich wieder auf die Stirn. Zwar nicht wirklich küssen, sondern legt nur seine Zungenspitze darauf, um mein Fieber zu messen.

 

„Nein mir geht es gut“, sage ich panisch, da ich spüre, wie warm mir wieder wird.

 

Alles nur wegen den Leuten, die an uns vorbei laufen und uns lächelnd anblicken. Sie denken wir wären ein Liebepaar! Gott und ich werde tatsächlich rot bei dem Gedanken!!!

 

„Mir geht es gut!“, sage ich schnell und schiebe ihn von mir weg.

 

„Lass uns weiter gehen, du verpasst sonst dein Termin oder Besprechung, was auch immer.“

 

Dann laufe ich schnell weiter und lasse den verwunderten Dan ein paar Meter hinter mir stehen. Als er mich einholt und sein Arm um mich legt bete ich zu Gott, dass mich mein Körper nicht wieder verrät. Schrecklich, was seine Berührung mit mir verursacht, das ist mir bis jetzt noch nie im Leben passiert.

 

„Vielleicht hättet du doch lieber im Zimmer bleiben sollen“, sagt er nach ein paar Minuten.

 

„Nein, mir geht es wirklich gut.“

 

„Wie lange bist du ungefähr bei der Besprechung?“, frage ich ihn schnell, bevor er noch weitere Fragen stellt, wieso ich auf einmal so warm war.

 

„Eine oder zwei Stunden“, sagt er.

 

Da ich den Park endlich nur noch ein paar Meter vor uns sehe, bleibe ich stehen.

 

„Ab hier finde ich selbst hin. Soll ich dann selbst zurücklaufen, oder holst du mich ab?“, frage ich.

 

„Ich werde dich schon finden, wenn du aber im Park bleibst. Vergiss nicht unsere Abmachung“, sagt er und blickt mir streng in die Augen.

 

Dann dreht er sich um und läuft weiter. Laut seufzend laufe ich in den Park hinein und setze mich auf die nächstbeste Bank. Ich erinnere mich an seinen letzten Satz, ich solle an die Abmachung denken. Ist schon klar, ich bin ja nicht blöd, ich kenne die Konsequenzen. Ich hätte zwar eine große Chance jetzt abzuhauen, doch was hätte ich dann davon? Er weiß, wo ich wohne. Außerdem könnte dann auch meiner Mutter oder Miriam etwas geschehen, wieso also riskieren? Vor allem wird mir ja nichts geschehen, wenn er das Geld bekommen hat, bin ich frei, das hat er versprochen. Bis dahin werde ich es schon überleben.

 

Müde schaue ich den rennenden Kindern zu, wie sie sich amüsieren, sehe deren Müttern, die ihnen besorgt nachsehen, hoffend, dass ihnen bloß nichts passiert. Als ein Kind auf die Nase fällt, ist der Vater zuerst da. Ich merke, dass ich ein wenig eifersüchtig werde. Wie ich wohl aufgewachsen wäre, mit einem Vater? Wäre ich dann eine andere Person geworden? Wäre es dann auch so weit gekommen, dass ich entführt worden wäre? Wie hätte mein Alltag ausgesehen? Wäre meine Mutter glücklicher gewesen? Das sind so viele Fragen, was wäre, wenn er uns nicht verlassen hätte? Ich bin nicht todunglücklich, dass er nicht für mich da gewesen ist. Im Gegenteil, vielleicht war es ja auch gut, dass er nicht da war. Keine Ahnung. Doch sollte ich wohl nicht an die „Was-wäre-wenn“ Dinge denken. Ich wurde gut von meiner Mutter erzogen, auch wenn meine Mutter solche Wahnvorstellungen hat, er würde wieder zurückkommen. Auf einer Seite würde ich schon gerne wissen, wie er so ist, auf der anderen aber lieber nicht. Was wenn er kommt und mir wehtut? Nicht körperlich, sondern seelisch? Es gab so viele Möglichkeiten, etwas von ihm herauszufinden. Meine Mutter wollte mir immer erzählen, wie er denn so gewesen ist, doch ich wollte es nie hören. Nicht einmal seinen Namen kenne ich, ich weiß weder wie er aussieht, noch die Kennenlerngeschichten von meiner Mutter und ihm.

 

Da mir langsam etwas warm wurde und ich mich sowieso ablenken möchte, laufe ich zu einer Eisdiele und kaufe mir mit dem Wechselgeld von gestern, ein Himbeereis. Dann laufe ich wieder zu meiner Bank zurück und genieße die Sonne. Die Zeit vergeht wie im Nu und als ich aufsehe, erkenne ich Dan auf mich zu laufen. Als er angekommen ist, setzt er sich neben mich und gähnt erst einmal.

 

„Und, was hast du so getrieben?“, fragt er mich.

 

Ich blicke in den blauen Himmel und erzähle ihm, dass ich mir nur ein Eis gekauft habe.

 

„Und wie war die Besprechung?“, frage ich ihn dann.

 

„Anstrengend“, sagt er nur.

 

„Um was ging es denn?“

 

„Um dich.“

 

Überrascht blicke ich ihn an.

 

„Um mich?“, frage ich ihn noch einmal nach, vielleicht hab ich mich ja verhört.

 

„Ja, um das entführte Mädchen“, wiederholt er.

 

Ich frage ihn, was denn gesagt wurde, doch er antwortet mal wieder nicht. Da ich ziemlich müde bin, frage ich auch nicht weiter nach. Vielleicht liegt es ja an der Tablette, dass ich so müde bin... Außerdem fühle ich mich auch nicht wieder so fit, wie heute Morgen noch.

 

„Können wir gehen?“, murmele ich.

 

„Alles in Ordnung?“, fragt er und blickt mich an, als würde ich gleich tot umfallen.

 

Langsam stehe ich auf und nicke ihm zu.

 

„Ich will einfach nur schlafen“, sage ich.

 

„Das liegt wohl daran, dass du noch nicht ganz gesund bist“, stellt er fest und steht dann ebenfalls auf.

 

Schon automatisch ankere ich mich bei ihm ein, liegt vielleicht auch daran, dass ich selbst Angst habe vor Müdigkeit umzufallen. Den ganzen Weg bis zum Hotel spricht keiner ein Wort, auch als wir auf unser Zimmer ankommen, lege ich mich sofort ins Bett. Dan trägt ein Glas Wasser und eine Tablette hinter mir her, und als ich beides geschluckt habe, schlafe ich zufrieden ein.

Kapitel 6

Da ich mich am frühen Morgen am Frühstückstisch bei Dan beschwert habe, dass ich fast nichts mehr zum Anziehen besitze und jeden Tag dasselbe anziehen muss, hat er mir wortwörtlich grimmig meine Jacke ins Gesicht geworfen. Mürrisch hat er mir befohlen ich solle mir das Brötchen in den Mund stopfen, da er eigentlich was anderes geplant hatte, als mit mir shoppen zu gehen. Also stehen wir nun im Fahrstuhl, er sieht nachdenklich auf seine Armbanduhr und ich ziehe mir die Perücke richtig auf den Kopf und binde noch schnell meine Schuhe, da ich es davor nicht geschafft habe, weil Dan ja so unter Zeitstress war. Draußen angekommen hakt sich Dan wieder fest an mich und ich habe das Gefühl, das er das Blut aus meinem Arm abdrücken will. Ich versuche den Griff etwas zu lockern, doch ein strenger Blick von Dan und ein noch stärkerer Druck lässt mich mein Vorhaben stoppen. Dann zieht er mich zielstrebig von Geschäft zu Geschäft. Dan ist sehr spendabel und nach kürzester Zeit hieve ich Einkaufstüte um Einkaufstüte. Die Perücke ist extrem warm und beginnt zu jucken.

 

„Sind wir bald fertig?“, schniefe ich und halte, um mir die Schweißperlen demonstrativ von der Stirn zu wischen.

 

Dan bleibt ebenfalls stehen und schaut mich verwundert an.

 

„Ich dachte du wolltest unbedingt Kleidung kaufe. Ich dachte dir gefällt das, was ich im Schrank habe nicht sonderlich?“, entgegnet er mir trocken mit gerunzelter Stirn und verzieht beim letzten Satz spitzbübisch die Mundwinkel.

 

Völlig verdattert schaue ich ihn an.

 

„Hast du überhaupt so viel Geld?“, frage ich.

 

Ein wegwerfendes Schulterzucken ist die Antwort und schon geht es in den nächstgelegenen Klamottenladen. Ich stehe gerade vor einem Shirt, das mir besonders gut gefällt mich aber noch nicht entscheiden kann.  Er hingegen ist jetzt schon ziemlich genervt.

 

„Ja, jetzt nimm es endlich!“, zischt er barsch und dreht eine weitere Runde um den Ständer.

 

Am Ende des Shoppingmarathons bin ich ziemlich auf meine Kosten gekommen. Zufrieden schleppe ich circa vier Jeanshosen, eine Handvoll Tops und Pullover in meinen Tüten und grinse wie ein Honigkuchenpferd vor mich hin. Ganz vergessen, warum das alles eigentlich passiert.

 

„Wirst du mir jetzt eigentlich noch sagen, wer Danny ist?“, frage ich nach einer Weile.

 

„Wirst du bald erfahren“, kommt es nur trocken zurück.

 

Wie lange bedeutet bald für ihn? Plötzlich lenkt er mich in einen weiteren Kleiderladen. Verdutzt bin ich gezwungen, ihm zu folgen. Ein kurzer Rundumblick genügt: Der Laden ist bezaubernd. Die Bügel sind mit den unterschiedlichsten Kleidern bestückt, eines schöner als das andere, von Cocktailkleidern bis zu Hochzeitskleidern. Doch das Fragezeichen steht mir definitiv ins Gesicht geschrieben.

 

„Was machen wir hier?“, frage ich ihn und blicke immer noch umher.

 

Doch als er zu einer Antwort ansetzt, wird er prompt von einer überfreundlichen Verkäuferin begrüßt.

 

„Dan, mein Süßer!“, überschwängliches Küsschen links, Küsschen rechts.

 

„Was kann ich für dich tun?“

 

Sie ist sehr hübsch, muss ich zugeben, aber leider auch viel zu viel mit Schminke zugekleistert.

 

„Ich brauch ein Kleid für dieses Püppchen“, dabei dreht er sich in meine Richtung und nickt mir aufmunternd zu.

 

Ungläubig starre ich zurück. Wozu brauch ich denn bitte ein Kleid? Die Verkäuferin indessen betrachtet mich von Kopf bis Fuß kritisch. Man kann die Zahnräder in ihrem Kopf regelrecht arbeiten hören.

 

„Dann muss sie aber diese scheußliche Perücke ausziehen“, zischt sie Dan zu.

 

Ohne groß darauf zu achten, ob ich es höre oder nicht. Wir folgen ihr in ein kleines Hinterzimmer, von dem uns niemand vom Geschäft oder der Straße sehen kann.

 

„Zieh dich so lange aus, ich suche dir etwas aus“, befiehlt sie und verschwindet nuschelnd wieder ins Geschäftsinnere.

 

Dan und ich stehen uns unschlüssig gegenüber, bis er sich entscheidet, auf dem kleinen Hocker in der Ecke Platz zu nehmen. Erleichtert nehme ich mir diese ätzende Perücke ab und ziehe meine Jacke aus, weiter möchte ich in seiner Gegenwart nicht gehen. Er hingegen verzieht keine Miene und beobachtet mich dabei genau.

 

„Guck weg“, zische ich erbost über so viel Dreistigkeit.

 

Er verdreht grinsend die Augen, folgt jedoch meiner Aufforderung ohne einen Gegenkommentar. Schniefend kommt unsere Verkäuferin wieder, verborgen unter einem Dutzend Kleider. Als sie hinter dem Stapel hervor äugt, bleibt sie erschrocken stehen.

 

„Gott!“, ihre Augen werden immer größer und ich befürchte schon, dass sie ihr jeden Augenblick aus den Höhlen kullern.

 

„Du bist doch das Mädchen, welches sie überall suchen!“

 

Darauf weiß ich nun wirklich keine Antwort und schlucke schwer.

 

„Ist schon gut, Mimi“, ergreift Dan das Wort, zieht sie in den Vorraum aus meiner Hörweite und redet auf sie ein. Als sie ein paar Minuten später zurückkommen, ist sie beruhigt und sieht erleichtert aus.

 

Ich frage mich, was er ihr gesagt hat, kann aber nicht weiter darüber nachdenken, da sie mir schon das erste Kleid an den Kopf wirft, es ist ein einfaches blaues Cocktailkleid. Als ich es anhabe, gibt sie plötzlich einen kurzen empörten Laut von sich und fordert mich auf es wieder auszuziehen. Sie wirft mir ein anderes Kleid rüber, dieses gefällt mir auch schon um einiges besser. Es ist in einem Türkiston gehalten und trägerlos. Doch dieses Mal schaltet sich Dan ein und winkt es ab. Enttäuscht drücke ich es Mimi zurück in die Arme. Es folgt ein enges schwarzes Etuikleid. Mimi puscht mir beschämend noch alles hoch, was hochgepuscht werden kann und erst nach zehn peinlichen Sekunden bekommt sie den Reißverschluss endlich zu. Ein schweifender Blick genügt ihr allerdings, um auch dieses zu verwerfen.

 

„Zieh es wieder aus! Ich glaube ich habe dein Kleid gefunden“, und stürmt zielstrebig raus.

 

Doch leichter gesagt als getan. Ich komme aus dem blöden Etuikleid selbstverständlich nämlich gar nicht wieder her raus. Genervt versuche ich schon zum x-ten Male den Reißverschluss zu greifen. In der Kabine ist es extrem warm und wieder mal fließen mir an diesem Tag die Schweißperlen die Schläfen hinab. Kurz vor meinem hysterischen Heulkrampf meldet sich Dan vor dem Vorhang, der uns trennt.

 

„Steckst du fest?“, fragt er.

 

Es hört sich sogar gar nicht schadenfreudig an, sondern sehr ernst.

 

„Ja“, murmele ich genervt und zugleich erleichtert, da er meine Notlage erkannt hat.

 

„Darf ich dir helfen?“, fragt er höflich und ich höre wie er Anstalten macht sich zu erheben.

 

Ich öffne etwas schüchtern den Vorhang und er tritt mit einem aufmunternden Lächeln zu mir heran. Mit dem Rücken zu ihm gewandt zucke ich kurz etwas zusammen, als er meine Haare vorsichtig zur Seite über meine Schulter kämmt.

 

„Du bist ein richtiger Tollpatsch“, flüstert er schmunzelnd und versucht sich ebenfalls an dem verfluchten Reißverschluss.

 

Doch auch er bekommt ihn auch nicht einfach so auf. Er tritt näher an mich heran. Ich glaube seinen Atem an meinem Nacken zu spüren, wie eine leichte Sommerbrise und meine Armhärchen stellen sich auf, als mir ein leichter Schauer über den Rücken fährt. Himmel, was macht der Kerl da? Mit einem leichten Ruck bewegt sich der Reißverschluss dann doch und Dan fährt in, wie es mir vorkommt, in Zeitlupe hinab. Meine Hände werden von einer Sekunde auf die andere schwitzig und ich nestle nervös an einer Naht herum. Schlussendlich treibt er es auch noch mit einem einfachen Satz auf die Spitze.

 

„Mir hat das Kleid gefallen“, flüstert er zu nah an meiner Ohrmuschel und ich höre plötzlich zu deutlich das Blut in meinen Adern rauschen.

 

Ich bekomme sofort eine Gänsehaut, mein Kopf glüht wie eine Birne und ich glaube mein Herz hört man schon meilenweit entfernt schlagen. Wie der schnelle Trab eines Pferdes, das über die Felder prescht. Glücklicherweise kommt in diesem Moment Mimi wieder zu uns und hält mir ein neues Kleid unter die Nase. Es ist traumhaft. Einfach nur wun-der-schön. Kurz, endet ein paar Zentimeter über den Knien, Silberfarben, trägerlos und vorne mit Pailletten besetzt, welche sich in Richtung des Saumes zu kleine Rosen formen. Als ich angezogen den Vorhang zur Seite schiebe, bekommt Dan keinen Ton raus und die Verkäuferin lächelt zufrieden. Das Kleid ist gekauft. Als wir das Geschäft verlassen, möchte ich nun doch endlich wissen, wozu das Ganze.

 

„Wozu hast du mir das Kleid gekauft?“, frage ich ihn ohne Umschweife.

 

Dan sieht mich von der Seite her an.

 

„Weil du mich zu etwas begleiten wirst, Darling.“

 

„Wohin denn begleiten?“

 

„Ich muss die Angelegenheit mit dem Geld regeln.  Du kennst doch sicherlich Poker, oder?“

 

Glücksspiel?

 

„Ja, schon. Aber ich halte nicht viel von Glücksspiel. Wirst du denn spielen?“, jetzt bin ich wirklich verwirrt.

 

„Nein. Aber die Spieler haben immer wunderschöne und graziöse Frauen an deren Seite und so wird es auch bei mir sein“, ich bleibe stehen, er blickt mich fragend an.

 

„Was ist?“, fragt er.

 

„Du hast mir gerade ein Kompliment gemacht“, grinse ich schelmisch.

 

Er verdreht die Augen und läuft weiter, schnell laufe ich hinter her und ankere mich wieder bei ihm ein.

 

„Hast du dir nur eingebildet“, meint er und schaut weg, ich lächle und fühle mich irgendwie gut dabei.

 

Als ich sehe, dass die Sonne schon fast verschwunden ist, macht sich mein Bauch langsam bemerkbar. Doch bevor ich ans Essen denken kann, muss ich ihn noch etwas fragen.

 

„Hast du das mit mir geplant?“, frage ich ihn und blicke ihn heimlich von der Seite an.

 

Gentlemanlike trägt er meine Einkaufstüten, seine Schritte sind selbstsicher und sein Blick nach vorne gerichtet hat etwas Starkes. Seufzend blicke ich sein Gesicht an, seine Haare, zwar ein totales Durcheinander, was aber trotzdem unverschämt gut aussieht und diese toll geschwungenen Lippen, die gerade ein Lächeln formen, ich glaube ich schmelze gleich…

 

„Ja, hat es dir gefallen?“, fragt er.

 

Ich spüre, wie meine Wangen ein wenig wärmer werden, deswegen blicke ich sofort auf den Boden.

 

„Ja, das Kleid ist wirklich schön, danke.“

 

Da ich sein Blick auf mir spüre, weigere ich mich nach oben zu sehen.

 

„Du musst Hunger haben, was möchtest du essen?“, fragt er mich.

 

„Ich weiß nicht, worauf hast du Lust?“, frage ich ihn neugierig.

 

Er hat sich für eine Aufkühlpizza entschieden. Nachdem wir also die Pizza gekauft haben, laufen wir nach Hause und stellen sofort die Pizza in den Backofen. Wir entscheiden uns eine DVD anzuschauen, da er aber selbst keine besitzt, wählen wir eine aus, die von dem Hotel angeboten wird. Schlussendlich schauen wir „Pretty Woman“ an, was Dan eher mürrisch ansieht, mir jedoch sehr gefällt. Schon alleine, dass Dan ganz nah neben mir sitzt, lässt mein Herz ein Takt höher schlagen.

 

Ich weiß nicht, aber nachdem er mir das Kleid gekauft hat, hat sich meine Sichtweise auf eine andere Art und Weise verändert. Ich sehe ihn nicht mehr so an, als wäre er die schlimmste Person auf der Welt. Ich meine, die Tatsache, dass er mich entführt hat, finde ich immer noch nicht nett. Aber er hat mir eine ganz andere Seite von sich gezeigt. Als ich krank war, hat er für mich gesorgt, er kauft mir Sachen, damit ich mich besser fühle und er hat mich mit meiner Mutter telefonieren lassen, damit ich mir keine Sorgen mache. Zusammengefasst kann er gar nicht ein böser Mensch sein, irgendwie verpfuscht er nur seine gute Seite, bis jetzt jedoch konnte ich nicht herausfinden wieso.

 

Aber warum interessiert es mich denn, fragt mich meine innere Stimme in meinem Kopf. Weil ich angefangen habe ihn zu mögen, antworte ich ihr. Ich habe mich nicht verlebt, nein um Gottes willen! Ich habe nur angefangen ihn zu akzeptieren und ihn zu mögen, wie er ist. Ist das schlecht? Ist das gut? Wer hat schon eine Ahnung. Ich weiß nur, dass es sich gut fühlt, hier neben ihm zu sitzen und tief, ganz tief in mir spüre ich, dass ich gar nicht woanders sein wollte. Und mit diesem Gedanken schließen sich meine Augen und meine Müdigkeit nimmt mir meine ganze Kraft weg, um wach zu bleiben.

 

Neugierig beobachtet Dan das Mädchen, das er eigentlich gar nicht kennt, die aber gerade eingeschlafen ist und sich an seine Schulter anlehnt. Ein Gefühl geht durch im durch, er weiß nicht, wie er es beschreiben soll, aber er weiß, dass er sie beschützen muss. Also streckt er seinen Arm aus und lässt sie auf seine Brust weiter schlafen.


Kapitel 7

 

Ich meine zu träume. Flehend streckt meine Mutter ihre Hände nach mir aus, sie will mich retten. Doch wovor retten? Sie ruft nach mir. Jedoch sehe ich nur, dass ihre Lippen sich stürmisch bewegen, doch hören kann ich nichts. Meine Füße fühlen sich wie versteinert an, ich schaffe es weder mich umzudrehen, noch mich irgendwie zu bücken oder so. Ich spüre das Adrenalin in mir hochkommen. Panik und Angst lassen mich immer schwerer atmen. Nur mit Mühe kann ich mich auf die Frage konzentrieren, wovor ich denn überhaupt solch eine Angst habe.

 

Sofort öffnen sich meine Augen und ich erwache aus meinem Traum. Niemand hat mich aufgeweckt, außer vielleicht mein Ich im Traum. Ich fühle mich hellwach und kann mich noch ganz genau an meinen Traum erinnern. Sonst ist es immer so, dass ich vergesse, was ich geträumt habe, doch heute kann ich mich noch daran erinnern. Ich drehe mich auf mein Rücken um und schaue die Wand an. Sonnenstrahlen dringen durch das etwas verdreckte Fenster und lassen das Zimmer heller wirken als sonst.

 

Mit einem Mal frage ich mich, wo Dan ist. Langsam klettere ich aus dem Bett, öffne die Tür mit der Erwartung Dan auf dem Sofa sitzen zu sehen. Doch weder sitzt er da, noch ist er in der Küche oder im Bad. Verwundert, wieso er nicht da ist, bemerke ich nach langem Suchen ein Zettel auf dem Esstisch.

 

„Annie, ich komme erst morgen wieder zurück. Es gibt genug Essen im Kühlschrank für dich, das müsste für so eine kleine Person wie dir für einen Tag reichen, wenn nicht solltest du dir langsam Sorgen machen. Für die Gefahr, dass du vor Langweile stirbst, habe ich drei Bücher für dich besorgt, die liegen neben dem Fernseher. Ich hatte nicht viel Zeit zu überlegen, was ich dir sonst besorgen könnte, also sei zufrieden mit der Auswahl, ich hätte dir auch ganz einfach ein paar Pornos besorgen können. Ich hoffe du kommst nicht auf dumme Ideen, weil du jetzt alleine bist. Die Tür ist versperrt, was du mir nicht übel nehmen solltest, also spring bitte nicht aus dem Fenster. Generell mach keinen Unsinn. Dan.“

 

Spring nicht aus dem Fenster?! Was denkt der sich? Dass ich so krank bin?! Auch wenn ich fast bei jedem Satz denken muss, wie gerne ich ihn erwürgen würde, kann ich ein kleines Lächeln auf meinen Lippen nicht verdrängen. Seufzend lege ich das Blatt Papier wieder zurück auf dem Tisch und laufe zum Kühlschrank. Darin liegen Dinge, die für mehr als drei Tage genügen würden. Ich schließe wieder den Kühlschrank und laufe zum Fernseher. „Sommersehnsucht“ von Nora Roberts, „Stolz und Vorurteil“ von Jane Austen und „Peter Pan“ von J. M. Barrie. Der Mann hat doch echt keine Ahnung. Er hat bestimmt mit geschlossenen Augen die Bücher ausgewählt, nicht dass sie schlecht wäre, aber es gibt doch kein Draht zwischen Stolz und Vorurteil und Peter Pan, oder etwa doch? Jedenfalls fällt mir keiner ein.

 

Schmunzelnd bedanke ich mich innerlich trotzdem bei Dan, wenigstens hat er an mich gedacht. Bevor ich aber eines der Bücher anfange zu lesen, brate ich mir erst einmal Eier in einer Pfanne, verschlinge sie alle mit meinem Kaffee und räume dann schließlich ab. Gelangweilt, weil es erst zwölf Uhr ist, fange ich an zuerst Peter Pan zu lesen, irgendwie habe ich ein größeres Bedürfnis ein Kinderbuch zu lesen. So lesevernarrt, wie ich bin und das ich sowieso weiß, dass ich keine anderen Möglichkeiten habe etwas zu tun als zu lesen, verschlinge ich das Buch in vier Stunden und bekomme schon wieder Hunger. Also fange ich an Spaghetti zu kochen, dazu selbst gemachte Tomatensoße. Ich richte den Tisch und verziere auch mein Teller mit verschiedenen Kräutern, doch als ich da am Tisch sitze, fühle ich mich auf einmal extrem einsam. Die Spaghetti schmecken nicht mehr so lecker, wie sie am Anfang aussahen und auch die Wohnung ist auf einmal dunkler und kälter geworden. Ich merke, dass es hier viel angenehmer ist, wenn Dan da ist. Bedeutet das jetzt, dass ich ihn vermisse? Nein, ich denke es ist einfach viel angenehmer nicht alleine zu sein, das hat nichts mit vermissen zu tun. Seufzend stehe ich auf, schalte den Fernseher an und suche ein Musikkanal, vielleicht fühle ich mich dann nicht mehr so alleine. Doch auch die Musik hilft nicht viel, ich spüre so ein Loch ein wenig weiter unter meinem Herzen. Ich wünschte, Dan wäre hier. Auch wenn er manchmal so mürrisch und unhöflich ist, fühle ich mich bei seiner Anwesenheit wohl und genau dieses Gefühl fehlt mir gerade.

 

Unglücklich räume und wasche ich alles ab, auch den Fernseher schalte ich aus, da es mich auf einer komischen Art und Weise stört. Nach einer Weile Trübsal blasen, entscheide ich mich, ein Bad zu nehmen. Also lasse ich heißes Wasser in der Wanne rein und warte geduldig, bis genug Wasser darin ist. Irgendwann, als die Wanne voll ist, ziehe ich mich aus und lege mich hinein. Ich spüre wie sich meine Muskeln langsam entspannen und atme entspannt ein und aus.

 

Was für ein vergeudeter Tag denke ich mir, als ich wieder aus der Badewanne komme und mir ein Bademantel anziehe. Ich hätte normalerweise so viel mehr machen können, als in diesem Hotel zu sitzen. Wahrscheinlich hätte ich den Tag mit Miriam verbracht, ach, wie ich sie vermisse! Unglücklich greife ich nach „Sommersehnsucht“ und lege mich seufzend aufs Bett. Irgendwann tun mir meine Augen vom vielen lesen weh, also schließe ich das Buch, stehe auf und trete ans Fenster. Draußen ist es dunkel geworden, im Sommer wäre es um diese Uhrzeit noch hell, aber was kann man schon gegen den Herbst machen? Eigentlich finde ich den Herbst sogar schön, wenn ich an meinem Geburtstag zurückdenke.

 

Da war ich noch mit Tom zusammen und wir waren mit Miriam und noch mit ein paar Freunden unterwegs. Viel Spannendes ist nicht passiert, ich bin nicht der Typ, der gerne seinen Geburtstag feiert. Ich mag es eher im engen Kreis und auch keine große Party. Wie geht es den Allen? Sprechen sie in der Schule über mich? Vermisst mich jemand, ist es überhaupt irgendjemand aufgefallen, dass ich fehle? Okay, den Gedanken schiebe ich beiseite, da ich spüre, dass ich immer deprimierender werde.

 

Gähnend stelle ich mir nur noch eine letzte Frage, bevor ich einschlafe: Was wohl Dan gerade macht?

 

 

Ich schlafe lange, sehr lange sogar für meine Verhältnisse. So um zehn Uhr morgens bin ich mal aufgewacht, aufgestanden, habe aus dem Fenster geschaut, den Regen beobachtet und bin wieder ins Bett gekrochen und sofort eingeschlafen. Als Nächstes wache ich um 12 Uhr auf und es regnet immer noch. Was für ein blöder Start in den Tag. Ich spüre, wie das einer der Tage ist, wo man sich fragt, wofür man den überhaupt lebt. Hoffentlich bin ich nicht die Einzige, die manchmal solche Tage hat, doch immer wenn ich gespürt habe, dass sie kamen, bin ich zu Miriam gegangen. Sie gab mir dann das Gefühl etwas Besonderes zu sein, ihre besondere beste Freundin. Jetzt ist sie nicht da, jetzt bin ich weg, denn ich wurde ja entführt. Entführt von jemand, der sich nicht einmal blicken lässt. Was für ein schlechter Entführer. Wahrscheinlich will er mich wirklich umbringen, umbringen vor Langweile.

 

Seufzend zwinge ich mich, aufzustehen. Dann dusche ich mich, putze mir die Zähne und bereite mir etwas fürs Frühstück vor. Aufmerksam lese ich noch einmal sein Brief von gestern und werde böse, so böse, dass ich aufschreie. Ich sterbe hier wirklich noch vor Langweile! Nachdem ich gegessen und abgeräumt habe, nehme ich nun das letzte Buch in die Hand und wälze mich aufs Bett. Die Hälfte des Buches gelesen mache ich mir wieder was zum Essen und lasse mir Zeit beim Kauen und beim Aufräumen, dann liege ich wieder im Bett. Hätte ich immerhin ein Handy, damit ich mit meiner Mutter telefonieren könnte… Aber nein, die Gefahr, dass ich die Polizei anrufe ist ja zu hoch. Auf dem Rücken liegend betrachte ich die Decke und habe keine Ahnung, was ich noch tun soll.

 

Plötzlich höre ich, dass die Haustür auf und wieder zugeht. Er ist da. Er ist da! Mein Herz hüpft wie verrückt in meiner Brust. Darauf kann ich nur verstehen, dass ich glücklich bin, endlich nicht mehr alleine in der Wohnung zu sein. Ich frage mich schnell, ob ich zu ihm gehen soll und ihm hallo sagen soll, aber diese Genugtuung werde ich ihm nicht geben. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass man mich mal fast zwei Tage alleine lässt. Also bleibe ich im Bett liegen und warte geduldig, bis er ins Zimmer kommt.

 

Seine Schritte werden immer lauter, bis ich spüre, dass er am Türrahmen steht. Ich spüre seine Blicke auf mir, aber ich schaue ihn trotzig nicht an.

 

„Lebst du noch?“, fragt er ironisch.

 

Verärgert verdrehe ich meine Augen, ein „Hallo“ wäre auch nicht schlecht gewesen.

 

„Leben kann man das nicht nennen. Ich fühle mich wie ein Goldfisch, dass auf der Oberfläche verwest“, sage ich emotionslos.

 

„Aber Goldfische verwesen erst, wenn sie gestorben sind. Also meinst du, du bist schon tot?“

 

Er lässt sich neben mich aufs Bett plumpsen.

 

„Ja, denke schon. Annie Jenkins, vor Langweile in einem dreckigen Hotelzimmer gestorben, leider fand man keine Knochen mehr, da sie leider schon verwest ist, bevor man sie gefunden hat“, sage ich und klinge schon mehr belustigt.

 

„Tragisch“, er lächelt.

 

„Wo warst du?“, frage ich ihn und drehe mich auf die Seite, um ihn besser zu betrachten.

 

„Überall“, antwortet er nur kurz.

 

„Nur nicht hier.“

 

Unter seinen Augen kann man leichte Augenringe erkennen und sein Blick sieht ebenfalls müde aus. Der Dreitagebart steht ihm sehr gut, doch muss ich mir eingestehen, dass ich ihn rasiert viel attraktiver finde. Seine Hände liegen hinter seinem Kopf, und als er meine Blicke auf ihn spürt, dreht er sich ebenfalls zu mir um.

 

„Hast du mein Zettel gefunden?“, fragt er.

 

„Meinst du den Zettel, indem du mich warnst, bloß nicht aus dem Fenster zu springen?“, frage ich und muss lachen.

 

Ich spüre eine Last von mir fallen, dass er mich alleine gelassen hat, tat mir nicht sehr gut. Das Lachen fühlt sich an, als hätte ich es schon seit Wochen nicht mehr getan.

 

„Ich habe dir sogar Bücher gekauft, ein kleines Dankeschön wäre angebracht“, sagt er und zieht seine Augenbraue hoch.

 

„Auja wenn die Bücher nicht wären, hätte ich mich bestimmt in der Badewanne ertrunken“, schmunzele ich.

 

Dann bleibt es kurz still, es ist keine unangenehme Stille, eher sehr erfreulich und friedlich.

 

„Zieh dir was an, wir gehen raus“, sagt er plötzlich und springt energisch aus dem Bett.

 

Ich stütze mich mit den Armen nach oben und blicke ihn kritisch an.

 

„Wohin gehen wir? Es ist doch bereits dunkel draußen.“

 

„Eine Überraschung, los steh auf“, sagt er etwas aufgeregt.

 

Da ich ihn immer noch prüfend anschaue, zieht er mich mit einem Ruck schon aus dem Bett. Er wirbelt mich so herum, dass ich vor dem Kleiderschrank stehe und er direkt hinter mir.

 

„Jetzt hol dir schon eine Jeans und eine Jacke“, sagt er schon etwas genervt.

 

Dann lässt er mich los und eilt selbst aus dem Zimmer.

 

„Und vergiss nicht die Perücke anzuziehen“, ruft er mir noch erinnernd hinzu.

 

Was hat er vor? Und wohin gehen wir? Wieso will er mir das nicht sagen? Aufgeregt und mit schnellem Herzschlag ziehe ich mir schnell eine Jeans an, einen Pulli und obendrüber eine Jacke. Zum Schluss lege ich mir noch meine schwarze Perücke auf den Kopf und überprüfe noch einmal, ob ich kein Haar vergessen habe zu verstecken.

 

„Bin fertig“, rufe ich, als ich aus dem Schlafzimmer rauslaufe.

 

Ich sehe ihn an der Bar noch sein Glas leer trinken und dann hastet er auch schon zum Sofa und schnappt sich zwei Decken.

 

„Trag sie“, weist er mir zu, als er mir die Decken in die Hände drückt.

 

Schließlich verschwindet er im Schlafzimmer und kommt mit zwei weiteren Kissen zurück. Verwirrt blicke ich ihn an und komme einfach nicht auf die Idee, was er vorhaben könnte. Dann eilt er zur Tür und hält sie ganz Gentleman mäßig auf, sodass ich zuerst rauslaufe. Etwas unsicher laufe ich aus der Wohnung und warte am Aufzug auf ihn. Nachdem er den Schlüssel in seine Jacke verstaut hat, drückt er auf den Aufzugsknopf und wir warten geduldig darauf, dass er erscheint. Als sich die Türen öffnen, will ich gerade auf den Knopf „Erdgeschoss“ drücken, doch zieht er meine Hand weg und drückt auf den Knopf mit der höchsten Zahl, dass das Hotel anbieten kann. Dadurch werde ich nur umso mehr durcheinander. Die Decken, Kissen und nun das Fahren zur höchsten Etage des Hotels, passen einfach nicht zusammen.

 

„Willst du mir sicher nicht sagen, was du vorhast?“, frage ich ihn höflich.

 

„Nein“, sagt er schnippisch.

 

Ich spitze meine Lippen wie ein beleidigtes Kind und warte einfach stumm, dass wir oben ankommen. Als wir endlich ankommen, sehe ich vor mir, wie auch auf unserer Etage, lauter Zimmertüre. Fragend und mit gerunzelter Stirn blicke ich ihn abermals an. Doch er läuft Zielgerade zum Ende der Etage hin, wo es keine Zimmer mehr gibt. Nun blickt er nach oben und schnappt nach einem Seil, das an der Decke befestigt ist. Er zieht stark daran und eine Treppe erscheint. Schlagartig wird mir klar, was wir hier oben machen. Er hat vor aufs Dach zu gehen. Aber was will er denn auf dem Dach?

 

„Möge die Dame vielleicht nicht so kritisch schauen und mir einfach vertrauen?“, fragt er drohend.

 

Ich strecke ihm frech die Zunge raus und laufe vorsichtig die Treppen hoch. Sofort heißt mich ein kalter, starker Wind willkommen und meine Laune sinkt. Warum zum Teufel will er hier her? Oben angekommen bleibt mir die Spucke weg und ich höre augenblicklich auf, zu atmen. So etwas habe ich noch nie in meinem ganzen Leben gesehen! Der Himmel ist klar, und voller Sterne geschmückt. Mit offenem Mund leuchten mir die verschieden großen Sterne in die Augen.

 

„Komm“, höre ich Dan auf einmal.

 

Ihn habe ich schon fast vergessen. Wie es aussieht, hat er schon die Decke auf den Boden gelegt. Gemütlich und auf seine Arme gestützt sitzt er da und blickt verträumt in den Himmel. So habe ich ihn ja noch nie gesehen! Fassungslos setze ich mich neben ihn und krabble unter die zweite Decke.

 

„Das ist so schön“, flüstere ich.

 

„Ich weiß und so was gibt es nur selten hier. Den ganzen Tag hat es geregnet, aber nun sind die Wolken verschwunden und sieh an was sie vor uns versteckt haben“, sagt er und lächelt.

 

„Bist du oft hier oben?“, frage ich ihn neugierig.

 

„Ab und zu“, antwortet er nur.

 

„Danke“, sage ich nach einer Weile.

 

„Wofür?"

 

„Naja, in den letzten Tagen habe ich mich wirklich einsam gefühlt“, gebe ich kleinlaut zu.

 

„Es ist also ziemlich nett von dir, dass du mich hier hergebracht hast“, lächele ich.

 

„Gern geschehen.“

 

Dann sieht er mich an und ich muss auch ihn automatisch anblicken. Und ganz plötzlich ist mir gar nicht mehr so kalt. Aber wieso? Ist es auf einmal wärmer geworden? Meine Blicke verweilen auf seinen Augen, in seinen unglaublich wunderschönen Augen. Dann gleiten meine Augen zu seinen Lippen, diese schön geschwungenen Lippen. Unvermeidlich muss ich mir auf meine Lippen beißen und blicke peinlich weg, als ich merke, dass ich ihn eigentlich nicht so lange anblicken sollte. Mit roten Wangen blicke ich wieder in den Himmel und hoffe, er hat nicht gemerkt, wie viel Zeit vergangen ist, als ich ihn angeblickt habe. Noch roter werde ich, als ich daran denken muss, wie ich dabei wohl ausgesehen haben musste. Ohne Weiteres sehe ich das Bild eines Hundes in meinem Kopf, dessen Zunge heraushängt, die Spucke auf den Boden tropft und er unregelmäßig hechelt. Ich schüttele energisch mit meinem Kopf und versuche das Bild wegzubekommen. Nachdem Dan richtig laut anfängt über mich zu lachen, weiß ich, dass er mich durchschaut hat und ich kann nicht mehr verhindern, dass ich rot wie eine Tomate werde. Kaum ist er da, muss ich mich wieder blamieren, aber was solls.

Kapitel 8

 

Nachdem wir vom Dach runter gegangen sind, haben wir uns gleich danach schlafen gelegt. Als ich am nächsten Morgen aufwache, liegt er wieder nicht neben mir. Eine kleine Vorahnung schleicht sich in meinem Kopf. Bestimmt ist er wieder den ganzen Tag weg und ich bin auf mich alleine gestellt. Ich bleibe ein paar Minuten noch liegen, bevor ich aufstehe und ins Wohnzimmer laufe, wo wieder ein Zettel für mich liegt.

 

„Bin morgen wieder da.“

 

Augenverdrehend lasse ich einen kurzen Wutschrei heraus, da es mich wahnsinnig macht, wieder einen ganzen Tag in diesem Appartement zu verbringen! Unzufrieden laufe ich in die Küche, mache mir etwas zu Essen und lasse die Kaffeemaschine mir ein Kaffee zubereiten. Danach faulenze ich die ganze Zeit herum. Mal liege ich auf dem Bett oder auf dem Sofa. Ein anderes Mal lese ich auf den Boden irgendein Buch und wenige Minuten später putze ich die Küche blitzblank. Während die Zeit vergeht, bereite ich mir mal für den Mittag dann für den Abend leckere Sachen zum Essen vor. Ich schaue fern und liege am Ende des Tages wieder im Bett und zwinge mich einzuschlafen.

 

In meinem Traum strecke ich flehend meine Hände nach meiner Mutter aus. Sie sieht verzweifelt aus und möchte mich vor etwas schützen. Doch wovor? Sie ruft mir etwas zu, ich sehe wie sich ihre Lippen bewegen, aber ich kann sie nicht hören. Ich werde immer aufgeregter und als ich einen riesigen dunklen Schatten sehe, kann ich mich nicht umdrehen, um herauszufinden, wer hinter mir steht. Ich kämpfe mit mir selbst, mich bewegen zu können und erwache schließlich.

 

Meine Augen erblicken Dans schlafendes Gesicht, das direkt vor meinem liegt. Erst als sich etwas unter mir regelmäßig hoch und runter bewegt, bin ich hellwach, springe reflexartig von ihm ab und stoße ihm mit meinem Ellenbogen kräftig in die Rippen. Vorwurfsvoll wacht er auf und blickt mir nichts wissend an mit noch Schlaf getrunkenen Augen.

 

„Was sollte das denn?“ , fragt er perplex.

 

„Das könnte ich dich auch fragen. Das Bett besteht aus einer Grenze! Wieso lagen wie aneinander umschlungen?“, frage ich ihn völlig verstört.

 

Er runzelt seine Stirn und weiß offensichtlich nicht, worüber ich rede, bis es bei ihm förmlich Klick macht.

 

„Du hast mitten in der Nacht angefangen im Schlaf zu weinen. Ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte, also hab ich versucht, dich irgendwie zu beruhigen. Da schien mir eine Umarmung das Sinnvollste zu sein und das hat auch geklappt“, erklärt er mir müde und reibt sich über die Brauen.

 

Ich setze zum Sprechen an, aber stoppt mich, indem er mit seinem Zeigefinger vor meiner Nase herum wedelt.

 

„Ah ah ah!“, „Du brauchst jetzt gar nicht zu meckern.  Du bist doch diejenige gewesen, die dann nicht mehr loslassen konnte. Du hast dich förmlich an mich gekrallt“, grinste er und wackelt dazu anzüglich mit den Brauen.

 

Sofort spüre ich wie sich die Wärme in meinem Gesicht ausbreitet. Schnell schäle ich mich aus der Decke und hüpfe ungelenk ins schützende Badezimmer. Die Tür hinter mir verriegelt, rutsche ich die Fliesen hinab und winkle meine Beine an. Ich habe geweint? Liegt es vielleicht an dem Traum? Aber sonst weine ich auch nie im Schlaf. Oder kommt das wegen der ganzen Entführungsgeschichte? Und jetzt hat mich mein Entführer aka Mister Sexy-Vollidiot auch noch trösten müssen? Fantastisch. Die Haare raufend stehe ich auf, entledige mich meiner Schlafsachen und schlüpfe fix unter die Dusche. Frisch zurecht gemacht trete ich kurze Zeit später wieder vor die Badezimmertür und hoffe nicht über vorhin sprechen zu müssen.

 

„Wovon hast du geträumt, dass du so weinen musstest?“, fragt er prompt, als ich die Küche betrete.

 

Der Tag meint es nicht gut mit mir, dass Dan mich nun mit dieser lästigen Frage nerven wird. Schnaufend lehne ich mich an die Bar und verfolge seine Fingerfertigkeit in der Küche. Er machte gerade Omelette und bedeutet mir, mich zu setzen. Ich folge seiner Anweisung und überlege, ob ich ihm von meinem Traum erzählen soll. Ich entschließe mich dagegen. Schließlich ist er mein Entführer und nicht mein Seelenklempner. 

 

„Nichts.“

 

Er hält kurz in seinem Tun inne, blickt mich aufmerksam an.

 

„Du lügst“, sagt er resigniert und schaut wieder weg.


„Stimmt gar nicht“, protestiere ich.

 

Bedacht schaue ich weg und fange an nervös an meinen Fingernägel zu knabbern.

 

„Siehst du, ich kenn dich nun schon einige Tag und weiß schon ganz genau, wann du lügst und wann nicht“, zwinkerte er mir zu.

 

„Du achtest aber sehr auf mich“, sage ich zum Spaß.

 

„Du gefällst mir eben sehr“, grinst er.

 

Gespielt lache ich und strecke ihm die Zunge aus, natürlich interessiert er sich nicht für mich, das hatte er mir ja schon zu Anfang deutlich gemacht.

 

„Also?“, frage er.

 

Ich schaue ihn nur verdattert an.

 

„Dein Traum“, hilft er mir auf die Sprünge.

 

Kurz versuche ich mir noch einen Ausweg zu überlegen, beschließe jedoch einfach nachzugeben.

 

„Von meiner Mutter“, sage ich in wenig beschämt und schaue weg.

 

Das klingt so, als wäre ich noch ein kleines Kind. Plötzlich höre ich, wie etwas vor mir auf den Tisch landet, als ich aufblicke sehe ich sein Handy.

 

„Ruf an“, fordert er.

 

Unsicher greife ich nach dem Handy, halte jedoch kurz inne.

 

„Warum bist du so nett zu mir?“, frage ich misstrauisch.

 

Er überlegt kurz, während er das Omelette in zwei Hälften teilt.

 

„Ich verstehe nicht, was du meinst?“

 

„Naja, du lässt mich zum Beispiel telefonieren“, sage ich und zeige demonstrativ auf sein Handy.

 

„Wir haben einen Deal“, erinnert er mich.

 

„Was wäre, wenn ich zu dem Deal Nein gesagt hätte?“

 

Kurz schaute er auf und lässt seine Augen aufblitzen.

 

„Dann hätte ich dich zwingen müssen.“

 

In seiner Stimme höre ich die glatte Wahrheit. Trotz dass ich ein wenig erschauere, nehme ich das Handy in die Hand und wähle die Nummer meiner Mutter.

 

„Ja?“, ertönte ihre Stimme.

 

„Hey, ich bin es“, sie erkennt mich sofort.

 

„Wie geht es dir?“, sie klingt sehr besorgt und erschöpft.

 

Es wundert mich, dass sie besorgt ist. Es ist nicht so, dass ich denke ich wäre ihr egal. Aber es gab eine Zeit, in der sie sich nicht besonders nach meinem Wohlergehen interessierte. Und nun, als ich entführt worden bin, schlüpft sie eine komplett neue Rolle als fürsorgliche Mutter.

 

„Mir geht es gut, und dir?“

 

„Mein Schatz ich mache mir Sorgen! Wie sollte es mir da gehen, wenn mein einziges Kind in den Händen einer wildfremden Frau ist und ich nicht weiß, wann ich dich wieder….“, sie stockt und schluchzt kurz auf, „kannst du mir denn irgendwas über sie sagen?“

 

Ich muss die Stirn runzeln, weil ich meine Mutter einfach nicht wiedererkenne und ihre Übersorge so gespielt klingt. Als mir klar wird, was hier gerade gespielt wird, bleibt mein Herz fast stehen. Schnell sprinte ich ins Schlafzimmer.

 

„Du bist zur Polizei gegangen!“, hauche ich heiser und nervös in den Hörer.

 

„Dein Handy konnten sie nicht orten, du musst mir sagen, wie sie aussieht“, sagt sie nun vollkommen ernst.

 

„Nein! Wie konntest du nur, Mama. Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht zur Polizei gehen, jetzt kann ich dich nicht mehr anrufen…“, sie unterbricht mich.

 

„Nein! Nein, bitte, leg nicht auf, ich mache mir doch nur Sorgen um dich“, sagt sie panisch.

 

Wieso hat sie mir nicht einfach vertraut? Musste sie unbedingt ihren eigenen Kopf durchsetzen und genau das machen, was sie nicht hätte machen sollen!

 

„Annie?“

 

Dan steht am Türrahmen und blickt mich fragend an.

 

„Hören Sie, es wird alles in Ordnung! Sehen Sie irgendwelche Häuser oder vielleicht sogar ein Fluss?“

 

Die Stimme gehört nicht meiner Mutter, es war eine dunkle Männerstimme, vermutlich ein Polizist.

 

„Ich liebe dich Mom“, verabschieden ich mich.

 

Dann lege ich auf und spüre, wie sich Tränen in meinen Augen sammeln.

 

„Annie? Was ist passiert?“, fragt Dan eindringlich.

 

Ich kann ihm nicht in die Augen sehen und reagiere darum nicht auf seine Frage. Ich kann gerade nur an das Telefonat denken. Jetzt darf und kann ich sie nicht mehr anrufen. Woher soll ich dann wissen, wie es ihr geht oder was wenn ihr etwas zustößt?

 

„Annie!“

 

Dan weckt mich aus meinen Gedankengängen. Eine dicke Träne drängt sich hervor, bevor ich es unterdrücken kann, und rollt meine Wange hinab. Stumm blicke ich zu ihm auf.

 

„Sie hat die Polizei angerufen“, flüstere ich, in der Hoffnung er würde es verstehen.

 

„Verdammt, Annie!“, zischt er, als hätte er es schon geahnt.

 

Er schlägt aufgebracht mit seiner Faust gegen den Türrahmen.

 

„Keine Sorge“, beruhige ich ihn. „Sie konnten dein Handy nicht orten.“

 

Mit einem Mal fühle ich mich wieder müde und mir ist schlecht. Darum klettere ich zurück aufs Bett und vergrabe mich unter die Decke. Ich kann nicht mehr, meine Nerven sind am Ende. Irgendwann musste diese Panikreaktion ja kommen. Ich machte mir einfach zu viele Sorgen um alles, vor allem um meine Mutter. Sie ist der einzige Mensch in meinem Leben, bis auf Miriam, der mir wirklich etwas bedeutet und ihr geht es mit mir genauso. Ich weiß nicht, wie lange Dan im Zimmer steht und mich beobachtet. Ich ignoriere es einfach unter meiner Decke und nicke irgendwann einfach ein. Dieses Mal glücklicherweise traumlos.

 

„Annie.“

 

Ich höre jemanden leise meinen Namen rufen. Als ich langsam zu mir komme, mache ich Dans Stimme aus. Komischerweise kommt sie mir schon sehr vertraut vor.   

 

„Annie wach auf.“

 

„Wieso?“, murmle ich mit kratziger Stimme und rolle mich auf die andere Seite, um ihm zu entkommen.

 

Die Matratze quietscht auf und senkt sich etwas. Er legt sich wohl neben mich.

 

„Erstens ist es schon mittags, zweitens hast du noch nichts gegessen und drittens brauche ich die Wohnung für mich“, raunt er mir mit tiefer Stimme und wieder einmal viel zu nah zu.

 

Ich blicke ihn schräg über die Schulter an.

 

„Wozu brauchst du die ganze Wohnung für dich selbst?“, frage ich überrascht.

 

„Weil ich einen Gast zu Besuch habe.“

 

Mit einem Mal bin ich völlig wach und sitze kerzengerade im Bett. Erstaunt blicke ich ihn an und wundere mich über sein gutes Aussehen. Er trägt ein weißes ordentlich gebügeltes Hemd. Es steht ihm sehr gut, muss ich zugeben und rümpfe mich wieder einmal in meinen Gedanken.  Eine frische Brise eines herben Rasierwassers dringt in meine Nase und ich stelle tatsächlich fest, dass er sich frisch rasiert hat. Die Haare sitzen ebenfalls zurückgekämmt. Ich überlege, was das bloß für ein Gast sein wird, für den er sich so aufwendig zu Recht gemacht hat.

 

„Was ist?“, fragt er verwundert, da ihm meine offensichtliche Musterung nicht ganz entgangen ist.

 

„Wer ist denn dein Gast?“, flüstere ich gespannt.

 

„Nicht wichtig“, meint er wegwerfend.

 

„Hör zu: Hier hast du ein bisschen Geld.  Du gehst dir jetzt ein bisschen die Zeit in der Stadt vertreiben. Meinetwegen geh irgendwo was essen.“

 

Er drückt mir die Scheine in die Hand und ich schaue ihn an, als hätte er sich in einen Elefanten verwandelt. Hat er sie jetzt nicht mehr alle? Ich bin seine Geisel und er schickt mich ne Runde allein shoppen? Gestern hat er mich noch im Klammergriff durch die Gegend geführt und heute soll ich mir nichts dir nichts einfach so allein rumstolpern?

 

„Jetzt schau mich nicht wie ein verängstigtes Reh an. Wir haben einen Deal und ich vertraue dir, dass du mich nicht im Stich lässt.“

 

Drohend hebt er nun seinen Zeigefinger.

 

„Außerdem solltest du bedenken, dass ich weiß, wo du wohnst. Ich kann dich jederzeit wieder einfangen oder sogar deiner Mutter und da wird ich nicht mehr so nett sein, wenn man mich betrügt!“

 

Sein Blick ist dabei fast schon Furcht einflößend. Ich schlucke schwer und nicke zögerlich. Er fährt mit seiner Ansprache fort.

 

„Gegen zwei Uhr bist du mit Mimi in dem Laden verabredet, in dem wir das Kleid gekauft haben. Nimm das Kleid mit. Mimi wird dich dann für heute Abend vorbereiten. Und denk an die Perücke!“, fügt er noch streng hinzu.

 

Perplex sitze ich vor ihm und versuche die Informationen zu verarbeiten, die er mir soeben in Befehlston gegeben hat.

 

„Und du?“, bringe ich noch heraus.

 

„Ich hole dich dann dort ab.“

 

Er steht auf, holte die Perücke aus dem Schrank, drückt sie mir in die Hand und schleift mich zur Badezimmertür.

 

„Beeil dich“, zischt er ungeduldig, als er mich ins Bad schubst.

 

„Hey“, ruft eine Frauenstimme da auch schon, doch ich bekomme keine Gelegenheit sie zu begutachten.

 

Offenbar soll ich diesem Besuch nicht über den Weg laufen. In Windeseile bin ich fertig und trete zurück in den Wohnbereich. Die Frau steht immer noch da und ich freue mich innerlich, doch noch einen Blick auf sie erhaschen zu können. Dan hingegen ist darüber nicht sehr erfreut und deutet auf die Wohnungstür hin.

 

„Geh.“

 

Ich schaue etwas bestürzt über seinen barschen Ton, als er nervös auf mich zutritt, grob am Arm nimmt und in Richtung zugewiesener Tür schubst.

 

„Hallo“, bringe ich der Frau noch kurz entgegen.

 

Die Frau scheint sehr hübsch zu sein. Ihre blonden langen Haare umkreisen ihr schönes Gesicht und betonen ihre blauen Augen. Sie trägt ein enges Oberteil, indem ihre Oberweite schön zur Geltung kommt und ihr Rock betont ihre langen Beine. Doch als die Frau mich verwirrt und dann zornig anschaut, ändert sich meine Meinung über ihre Schönheit.

 

„Was fällt dir ein mich anzusprechen?“, fragte sie offenbar verärgert, als wäre ich in ihr Revier eingedrungen.

 

Was bildet die sich eigentlich ein? Rennt hier rum mit ihren blondierten Haaren, ihrem übergroßen Ausschnitt und einem Gürtel als Rock.

 

„Das war ein Hallo, selbst Huren bekommen sowas von mir zu hören“, bringe ebenfalls zickig heraus.

 

Ich hätte ihr am liebsten ihren blöden Kaugummi, auf dem sie unentwegt wie eine Kuh kaut, auf ihre unechten Titten geklebt. Aber ich kann sie jetzt schlecht wie eine Raubkatze anspringen. Wer weiß, vielleicht ist sie ja eine wichtige Person für Dan. Hoffentlich nicht seine Freundin. Bei diesem Gedanken verkrampfte sich mein Magen schmerzhaft und ich glaube eine kleine Klinge in der Brust zu spüren, die an meinem Herzen kratzt.

 

„Wie heißt du?“, fragt sie mich und scheint sich über mich lustig zu machen.

 

„Annie.“

 

„Und wer bist du?“, frage ich ebenfalls in einem etwas unhöflicheren Ton.

 

„Brauchst du nicht wissen!“, antwortet Dan für sie und schwubs knallte er mir die Tür vor der Nase zu.

 

Irritiert stehe ich auf dem Gang und starre die geschlossene Tür vor mir an, hinter der ich das fröhliche Gicksen der Blondine höre.

 

„Das Spiel kann beginnen“, höre ich nur noch ihre Stimme und dann ist es ruhig.

 

Mir wird schlecht, als ich begreife, was da hinter der Tür wahrscheinlich jetzt abgeht. In dem Bett, in dem ich noch vor ein paar Minuten geschlafen habe. Den Würgereiz unterdrückend stiefle ich genervt zum Fahrstuhl und drücke den Knopf. Ja, ich bin sauer! Was bildet der sich eigentlich ein? Ist mein Entführer und bestellt sich gleich am zweiten Tag eine Hure und schickt mich zum Einkaufen, damit er sein Schäferstündchen abhalten kann.  Im Fahrstuhl überlege ich mir zähneknirschend, wie ich die Zeit bis zwei Uhr totschlagen könnte. Durch den letzten Einkaufstage, habe ich mir schon einige Plätze einspeichern können. Bevor ich den Fahrstuhl verlasse, überprüfe ich noch einmal den Sitz meiner Perücke. Das blonde Mädchen im Spiegel kommt mir fremd vor und ich verziehe mein Gesicht zu einer Grimasse. Das Erste was ich ansteuere, ist der nächstgelegene Starbucks. Dort gönne ich mir einen White Cafe Mocca und ein großes Stück Schokoladenkuchen, da mein Magen schon ein ganzes Konzert von sich gibt. Kurz schweifen meine Gedanken zu Dan und dieser Blondine doch die verwerfe ich schnell. Ich muss mir nicht vorstellen, wie die beiden es gerade miteinander treiben. Würg…

 

Ich werfe einen Blick auf die Uhr über der Theke. Noch eine Stunde, bis ich bei dieser Mimi aufkreuzen soll. Langsam esse ich mein Kuchenstück und spüle nach jedem Bissen mit etwas Kaffee nach.  Währenddessen beobachtete ich die anderen Leute im Café oder auf der Straße. Zuerst linse ich neugierig den Mann am gegenüberstehenden Tisch an. Ein typischer Geschäftsmann in den Dreißigern, der nur mit seinem Laptop zu tun hat und fast seinen Kaffee auf der Tastatur verteilt, als er einen Anruf entgegen nehmen will. Meine Beobachtung schweift zur heraneilenden Kellnerin, die die Sauerei auf dem Tisch beseitigen möchte. Ich schätze sie ein oder zwei Jahre älter als ich, leicht gebräunt, tiefbraunes kräftiges Haar zu einem strengen Dutt zusammengeschnürt. Ich tippe auf eine Spanierin. Recht groß, ganz im Gegensatz zu mir. Schlank und fantastische lange Beine. Dem Geschäftsmann scheint das nun auch aufzufallen und sein Gespräch an der anderen Leitung scheint sicher Probleme zu haben, die Aufmerksamkeit wieder zu erlangen. Ein leichtes Grinsen rutscht über meine Lippen. Typisch Mann halt. Aber verübeln kann man es ihm nicht. Nun beginne ich mich, mit ihr zu vergleichen. Dagegen bin ich eher durchschnittlich. Ich gebe einen Seufzer von mir und lasse meinen Blick weiter schwenken.

 

Ich spüre, dass ich beobachtet werde, und schaue mich verstohlen um. Tatsächlich. Ein Polizist steht an der Theke gelehnt und mustert mich genau.  Verflucht. Panik kriecht in mir hoch und ich versuche meiner schneller werdenden Atmung, wieder unter Kontrolle zu bringen. Wenn ich jetzt auch noch Nervosität an den Tag legen würde, würde er mich erst recht erkennen. Zusammenreißen, Annie! Er hat mich bestimmt schon längst erkannt! Ich muss so schnell wie möglich hier raus!

Kapitel 9

So ruhig wie mir es in dieser Situation gelingt, packe ich meine Sachen zusammen, bringe das Tablett zurück und begebe mich zum Ausgang. Aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, dass er mir mit größerem Abstand folgt. Ich muss ihn irgendwie loswerden, aber wie? Die Straße ist recht gefüllt um diese Uhrzeit, das muss ich mir zunutze machen. Die nächstbeste Möglichkeit sehe ich an der großen Ampelkreuzung und reihe mich zwischen die Menschenmassen ein. Als die Ampel auf Grün umschaltet, sprinte ich los. Die entgegen strömende Menschenmasse fängt mich auf und ich quetsche mich zwischen unzähligen Körpern hindurch. Immer wieder werfe ich einen prüfenden Blick hinter mich. Ich sehe, dass der Polizist die Straße ebenfalls in der Menge überquert, aber an seinem Gesichtsausdruck erkenne ich, dass er mich aus den Augen verloren hat. Schnell ducke ich mich und laufe in die Straße, in der ich Mimis Geschäft vermute. Den Polizisten habe ich erfolgreich abgehängt. Stolz klopfe ich mir imaginär auf die Schulter, so skurril die Situation auch war.

 

Meine Schritte werden langsamer und ich suche Mimis Geschäft. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es hier in der Nähe ist. Als ich es gefunden habe, trete ich in den Eingang und beim Öffnen der Tür erklingt eine leise Glocke, die mich ankündigt. Mimi kommt aus dem hinteren Raum hervor und stöckelt sofort bei meinem Anblick sofort nach vorne. Bestürzt schaut sie auf mich herab.

 

„Wo warst du bitte so lange?“, fragt sie verärgert.

 

Schwer atmend schaue ich auf ihre Uhr, die sie mir entgegen streckt. Ach herrje, schon halb drei. Ich dachte ich hätte alle Zeit der Welt.

 

„Weißt du eigentlich, wie lange ich für deine blöde Frisur brauchen werde!“, sie sieht mehr als gestresst aus.

 

Was denn für eine Frisur? Aber das ist nicht das Einzige, was mir die nächsten drei Stunden bevorsteht. Ich durchlaufe die längste Schönheitsprozedur meines Lebens. Als wäre ich bei einer Sitcom namens „Entlein in Schwan verwandeln“. Sie schließt den Laden ab und schleift mich in einen weiteren hinteren Raum. Erstaunt bleibe ich stehen. Der Raum ist ein kleiner vollausgestatteter Beauty-Salon. Mimi grinst mich an und bedeutet mir, mich auf dem Frisierstuhl zu setzen.

 

„Guck nicht so, dafür bezahlen hier die Reichen.“

 

Sie schnappt sich ein paar Werkzeuge ihres Fachs und geht in die Startlöcher. Meine Haare werden gewaschen, gekämmt und professionell zu einer wallenden Lockenmähne geföhnt. Als sie damit fertig ist, legt sie diese erst einmal auf meiner Schulter zur Seite und macht sich an mein Gesicht. Die Tuben und Pinsel fliegen nur so vor meinem Gesicht hinweg. Make-up, Puder, Rouge, Lidschatten, Lippenstift… Danach würde ich aussehen wie eine Barbie, denke ich mir und beiße mir ungeduldig auf die Lippen. Zwischenzeitlich lobt sie immer wieder meine ach so wunderbare Haut, da sie kaum Make-up verwenden muss. Von meiner Mutter habe ich die guten Gene einer makellosen reinen Haut geerbt. Allerdings flucht sie trotz dessen immer an den Hitzepusteln herum, die sich bei Aufregung auf meinen Wangen bilden.

 

„So. Das Gesicht ist schon einmal perfekt!“, säuselt Mimi in einem Singsang und schiebt meinen Stuhl in Richtung des Spiegels.

 

Gespannt blicke ich in das Gesicht einer mir völlig unbekannten Annie-Version. Sie hat meinen Teint perfektioniert, meine Lider umspielt ein leicht silberner Lidschatten und die Augen stechen mit schwarzer Mascara und schwarzem Kajal verrucht entgegen. Ich dachte ich wäre fertig und mache Anstalten mich aus dem Stuhl zu erheben, doch Mimi nimmt mir schnell den Wind aus den Segeln.

 

„Das kann dauern“, sie zeigte auf meine Haare, „steh auf und vertrete dir kurz deine Beine“, empfiehlt sie mir und sucht derweil jede Menge Haarutensilien zusammen.

 

Als sie fertig mit ihrer Vorbereitung ist, muss sie mich fast zum Stuhl zurücktragen. Ich habe definitiv keine Lust mehr auf diese Prozedur, aber der strafende Blick von Mimi lässt mich meinen Widerstand herunterschlucken. Eine Ewigkeit später, ich dachte schon mir würden graue Haare wachsen, bedeutet sie mir, das Kleid überzuziehen. Dann reicht sie mir noch ein paar hübsche Strassohrringe in silbern und ein paar schlichte Armreifen. Fertig präpariert, so fühle ich mich jedenfalls, winkt sie mich zu einem großen Stehspiegel heran. Bis dato habe ich mich nämlich nach der Schminkparade nicht mehr betrachten dürfen. Den WOW-Effekt, wie sie es nennt, will sie nicht verderben. Und ich muss zugeben, sie hat wirklich nicht zu viel versprochen. Vor mir blickt mich eine reife junge Frau in einem traumhaft schönen Kleid an. Ich erkenne mich kaum wieder. Meine Haare hat Mimi zu einem aufgetürmten Dutt toupiert und ein paar Strähnen geflochten darum gewoben, sodass man keine einzige Haarnadel erkennen kann. Es scheint, als würden meine Haare von selbst so halten. Die kleinen Pailletten auf dem Kleid, die sich zu Minirösschen formen, glitzern im Licht wie Diamanten. Ein wenig unwohl fühle ich mich nun doch, da ich nicht genau weiß, wofür ich eigentlich so atemberaubend aussehen muss. Mein Blick fällt unsicher auf meine nackten Füße, die im weichen cremefarbenen Teppichboden des Geschäftes untergehen. Mimi hat allerdings auch daran gedacht und stellt mir noch ein Paar High Heels vor die Nase. Ungläubig begutachte ich die schwindelerregend hohen Dinger.

 

„In denen kann ich unmöglich laufen“ resigniere ich.

 

„Zieh sie doch erst einmal an“, bittet sie mich und ich schlüpfe hinein.

 

Mit wackligen Beinen stehe ich vor ihr und glaube jeden Augenblick wie eine Salzsäule umzukippen. Ich will schon protestieren, dass ich mir in diesen Teufelsdingern die Füße brechen werde, lasse es aber sein, als ich ihren erschöpften Blick erkenne.  Jeglicher Protest, so vermute ich, würde in einer Schlammschlacht enden. Um ihre Arbeit bis dato würdigend anzunehmen, versuche ich mein Glück und setze ganz behutsam einen Fuß vor den anderen. Ein lautes Klopfen lässt uns beide kurz zusammenzucken.

 

Dan steht vor dem Geschäft und Mimi eilt zur Tür, um ihm zu öffnen. Als sie ihn in den hinteren Raum führt, bleibt er bei meinem Anblick sofort stehen. Einen Moment lang ist er sprachlos. Ein verschmitztes Lächeln huscht über meine Lippen, aber ich beiße mir schnell auf die Zunge, um mir Freude über diesen Umstand nicht anmerken zu lassen. Aus irgendeinem Grund will ich ihm gefallen…meinem ENTFÜHRER ANNIE!!! Nach sekundenlangem Schweigen bringt er dann doch noch ein paar Worte heraus.

 

„Du siehst gut aus“, sagte er mit etwas wackeliger Stimme.

 

Du siehst gut aus? Wie wäre es mit atemberaubend? Wunderschön? Umwerfend? Zauberhaft? Fantastisch? Aber gut? Gut ist wie nett und nett ist die kleine Schwester von Scheiße! Ich verschlucke meinen Kommentar schnell und schenke ihm ein dankendes Nicken, dann stelle auch ich fest, dass er ebenso edel gekleidet ist, wie ich.

 

Er trägt einen schlichten tiefschwarzen Smoking, dazu aber weder Krawatte noch Fliege, sondern nur ein weißes Hemd, dessen Kragen oben hervor linst. Seine Haare sitzen wie immer, etwas wirr aber dennoch attraktiv genug, um es ihm in diesem Aufzug nicht übel zu nehmen. Schlicht und ergreifend heiß, darum ist es auch extrem problematisch für mich, meine Nervosität zurückzuhalten. Ein kurzer Blick in den Spiegel versichert mir allerdings, dass Mimi gute Arbeit geleistet hat und meine Hitzepusteln nicht zu sehen sind. 

 

Bei seinem durchdringenden Blick überkommt mich ein leichtes Kribbeln und ich verspüre das Bedürfnis, ihm durch sein wirres unwiderstehliches Haar zu streichen. Um Himmelswillen. Was ist bloß los mit mir? Ich fühle mich wie eine läufige Hündin.

 

„Sieht sie nicht bezaubernd aus?“, wirft Mimi ein und stolziert um mich herum, wie um ein Kunstwerk.

 

Er räuspert sich.

 

„Allerdings“, sagt er daraufhin nur.

 

„Was ist denn mit dir los? So kenn ich dich gar nicht“, lacht Mimi und neckt ihn mit ihren Ellenbogen in die Seite.

 

Ein bisschen durch den Wind blickt er auf seine Armbanduhr, runzelt kurz die Augenbrauen und streckt mir seine Hand entgegen.

 

„Holde Maid…“, ein kurzer Knicks, „es wird Zeit, dass wir gehen“, lächelt er frech hinauf.

 

Abermals läuft mir ein wohliger Schauer den Rücken hinab. Zaghaft lege ich meine Hand in seine, schnell zieht er mich zu sich und legt seine freie Hand um meine Taille.

 

„Alles klar?“, flüstert er mir rau ins Ohr.

 

Ich nicke nur, zu mehr bin ich gerade nicht imstande. Er will soeben die Tür aufmachen, als ich mich noch einmal kurz von ihm löse und zu Mimi stakse.

 

„Danke für deine Geduld“, lächele ich ihr zu.

 

„Keine Ursache!“, verlegen zwinkert sie mir zu und eine leichte Röte legt sich auch um ihre Nase.

 

Ich eile wieder zu Dan, der wartend die Tür offen hält. Die zwei Stufen hinab hebt er mich mit einem leichten Griff um die Taille, dabei kann ich mir ein erstauntes Lachen nicht verkneifen.

 

„Seit wann bist du so ein Gentleman?“, kichere ich beflügelt.

 

Ich fühle mich, als würde ich zum Abschlussball geführt werden. Er pfeift flink ein Taxi heran und hält mir beim Einsteigen die Tür auf, sorgfältig darauf achtend beim Schließen das Kleid nicht einzuklemmen. Er reicht dem Taxifahrer einen Zettel mit einer Adresse und wir fahren los.

 

„Ich bin schon immer ein Gentleman“, grinst er beschwingt.

 

Plötzlich kommt mir die Frau von heute Mittag wieder in den Sinn und so sehr ich mich davor sträube die Wahrheit zu hören, muss ich wissen, was es mit ihr auf sich hatte.

 

„Wer war die Frau von heute Mittag? Wie heißt sie? Ist das Danny gewesen? Was habt ihr gemacht?“

 

Ich kann sein Augenverdrehen genau erkennen und er scheint wieder nachzudenken, ob er es mir erzählen soll oder nicht.

 

„Ich beantworte dir nur eine Frage, also entscheide dich für eine und überlege genau“, sein Blick wird wieder ernst.

 

Ich habe den zauberhaften Moment zerstört. In Wirklichkeit interessiert mich nur eine Sache und so wie die Stimmung umgeschlagen ist… Ich straffe die Schultern und hole tief Luft, da ich weiß, dass die Frage sehr peinlich und intim ist.

 

„Was habt ihr beide getrieben?“

 

„Wieso gerade diese Frage?“, stellt er stirnrunzelnd fest.

 

Das weißt du doch ganz genau du Blödmann, schreie ich in meinem Kopf.

 

„Beantworte sie einfach“, sage ich monoton.

 

„Was glaubst du denn, was wir gemacht haben?“, sagt er genervt.

 

Eigentlich will ich es nicht ausgesprochen hören, da die Vorstellung schon unglaublich unangenehm ist. Ich habe kein Recht so zu fühlen und ihm Vorwürfe zu machen. Ich benehme mich wie ein pubertierender Teenager, der eifersüchtig ist, wenn sein Superstar eine Freundin hat. Was interessiert es mich denn auf einmal, was dieser Idiot treibt? Mutig raffe ich mich zusammen.

 

„Ich glaube du hast mit ihr geschlafen“, platze ich ehrlich heraus.

 

Er bleibt stumm und schaut weiterhin aus dem Fenster. Schweigen ist Antwort genug. 

 

„Wieso glaubst du das?“, fragt er nach einer Weile und richtet seinen Blick auf mich.

 

Nun weiche ich ihm aus und schaue aus dem Fenster auf meiner Seite.

 

„Sie sah gut aus, du sahst gut aus und du wolltest die Wohnung für dich alleine haben. Ich kann eins und eins zusammen zählen“, sage ich versucht heiter.

 

Ich spüre seinen Blick auf mir, doch ich schaue ihn nicht an. Vielleicht rede ich ja Blödsinn. Wahrscheinlich haben sie nur was Geschäftliches besprochen. Doch dann erinnere ich mich wieder an sein gutes Aussehen.

 

„Soso, du kannst eins und eins zusammen zählen“, wiederholt er.

 

Das Taxi bremst und wir bleiben vor einer Bar stehen. Dan dreht sich nun angespannt zu mir und legt sanft seine Hand auf meine Wange, sodass ich ihn ansehen muss.

 

„Annie, bevor wir beide jetzt da hineingehen, versichere ich dir, dass du keine Angst haben brauchst und dir nichts passieren wird.“ 

 

Wie bitte? Gehen wir zur Mafia oder was? Mein Blick sprach wohl Bände.

 

„Die Typen da drinnen sind nicht die hellsten“, er kratzt sich am Kopf und überlegt.

 

„Was ich damit meine ist, dass sie manchmal Dummheiten machen“, ich schaue ihn entsetzt an.

 

„Ich werde jederzeit bei dir sein, dir wird also nichts passieren. Ich verspreche es dir.“

 

Jetzt werde ich wirklich nervös!

 

„Dafür musst du mir aber versprechen, keine Dummheiten zu machen?“, er wartet auf eine Reaktion.

 

„Ver-sproch-en?“,  ich nicke vorsichtig.

 

Dann steigt er aus, läuft um das Auto auf meine Seite und öffnet mir die Tür. Danach bezahlt er noch fix den Fahrer und hackt sich bei mir ein. Sofort kralle ich mich an seinen Arm, da mir die Schuhe doch etwas zu schaffen machen. Aus dem Augenwinkel sehe ich ihn leicht lächeln.

 

„Lach nicht so blöd. Ich dachte ich müsste das so machen“, verteidige ich mich schnell, mache Anstalten wieder loszulassen, doch er hält mich fest.

 

„Nein. Ich wundere mich nur, dass du es von allein verstanden hast“, haucht er zufrieden und führt mich voran.

 

Böse boxe ich ihm leicht in die Seite. Als wir eintreten, überkommt mich sogleich ein heftiger Hustenanfall von dem unglaublich dichten Rauch. Ein paar Sekunden später, Dan wartet geduldig, bis ich mich wieder beruhigt habe, kann ich mich umsehen. Die Bar besitzt in der Mitte des Raumes eine kleine Bühne, die mit Stangen versehen sind, die bis zur Decke reichen. An ihnen rekeln sich aufreizend ein paar sehr leicht bekleidete Frauen und werfen den starrenden Männern obszöne Blicke zu. Ich schlucke den riesigen Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hat, nur schwer herunter. Leider ist das noch nicht alles, was ich mit Unbehagen feststelle. Offenbar sind die Tänzerinnen nämlich nicht interessant genug, denn als wir weiter in die Bar treten bemerke ich die neugierigen Blicke einiger Männer, die auf mir liegen. Unwillkürlich klammere ich mich noch ein Stück mehr an Dan. Er ist hier der Einzige, dem ich annähernd vertraue, schließlich hat er mir hoch und heilig versprochen, dass mir nicht passieren wird. Dan spürt meine Unsicherheit und wirft mir einen aufmunternden Blick zu. Doch der hilft mir auch nicht groß weiter. Ich fühle mich wie bei einer Viehschau. Gleich wird sich der Meistbietende melden und Dan hat seine Kohle, die er schuldet, rein. Dan beugt leicht seinen Kopf in Richtung meines Ohres.

 

„Keine Sorge, du gehörst heute Abend allein mir.“

 

Dabei streifen seine Lippen einen Wimpernschlag an meiner Ohrmuschel vorbei und ich sinke ein Stück ab, da meine Beine zu Pudding geworden sind. Dan hingegen fängt mich unbeirrt auf, als hätte er solch eine Reaktion erwartet. Er führt mich zu einem Tisch, weiter entfernt von der Bühne und rückt mir den Stuhl zurecht. Ich nehme Platz und nach einigen Minuten des Anschweigens breche ich doch die Stille.

 

„Worauf wartest du?“

 

„Auf Danny“, antwortete er, ohne mir einen weiteren Blick zu schenken und stiert nun ebenfalls auf die Bühne.

 

Seine Reaktion kränkt mein Ego zwar ganz schön, aber ich ignoriere meinen Unmut und befasse mich damit, dass ich nun endlich erfahren würde, wer Danny ist!

 

„Und wie lange werden wir warten müssen?“, frage ich ungeduldig.

 

Nun schaut er mich doch an und grinst.

 

„Nicht lange. Da ist er schon.“

 

Er nickt hinter mich und erhebt sich. Ich will mich gerade umdrehen, als der besagte Danny sich bereits neben mich stellt. Sie geben sich freundschaftlich die Hand, umarmen sich dann und er zieht sich schließlich einen Stuhl heran. Erst jetzt kann ich ihn besser sehen und mir fallen beinahe die Augen aus dem Kopf. Verblüfft wechsele ich mehrmals von Dan zu Danny. Sie sehen sich verdammt ähnlich. Ist Danny etwa sein Bruder oder was? Und daraus macht man dann so ein Geheimnis? Er sagt doch er hätte keine Geschwister! Nun mustert auch Danny mich und nickt mir zur Begrüßung freundlich zu. Ein ähnliches Lächeln auf den Lippen wie Dan.

 

„Also hast du endlich mal jemanden gefunden, was? Und dazu auch noch so etwas Bezauberndes. Du solltest sie festhalten!“, wendet er sich anerkennend an Dan.

 

Ich spüre die Röte in meinem Gesicht aufsteigen und sende abermals ein Dankesgebet an Mimi.

 

„Ich bin Danny“, stellt er sich mir dann noch vor und streckt mir die Hand entgegen.

 

„Annie“, stelle ich mich vor und lächele ihn an.

 

Er bleibt erst erstarrt, dreht sich zu Dan und beugt sich ihm entgegen. Das darauf folgende Gespräch kann ich leider nicht verfolgen, da sie extrem leise miteinander tuscheln und die Musik lauter gestellt worden ist. Ich kann nur erkennen, wie Danny irgendwo in den Raum zeigt und Dan ernst anblickt. Dann wirft er kurz einen Seitenblick in meine Richtung. Dan nickt und Danny zieht mich plötzlich hoch zu sich. Fragend schaue ich von einem zum anderen, doch keiner sagte etwas. Mit ein wenig Protest von Dans Seite aus hätte ich schon gerechnet, als Danny mich hinter sich herzieht und wir in ein kleines Zimmer treten, welches hinter der Bühne liegt. Es wird auf einmal viel leiser. Die Wände verschlucken die Lautstärke von vorne. Leider wird die Luft nicht besser, sondern bedeutend schlechter. Sie ist trocken und noch viel mehr von dem ganzen Zigarettengestank geschwängert. Das Hinterzimmer ist sehr klein und scheint mir eine Art Empfangsraum zu sein. Eine weitere Tür führt nämlich wieder aus dem Raum, vor der aber ein in schwarz gekleideter furchteinflößender Hüne steht und bewacht, wer rein und raus gehen will. Hinter mir bewegt sich etwas und kurz zucke ich zusammen, als mich jemand am Rücken berührt. Als ich mich umsehe, entdecke ich erleichtert Dan, der uns wohl gefolgt ist.

 

„Bring uns zu FatJoe“, fordert Danny den Hünen auf und dieser antwortet nur mit einem tiefen Grunzen.

 

Daraufhin tritt er zur Seite und öffnet uns die Tür. Dieser Raum ist bedeutend größer und mit einem einladenden roten Teppich ausgelegt. Allerdings wird er nur von einem riesigen Sekretär aus dunklem Mahagoni ausgeführt. Dahinter sitzt ein stark übergewichtiger Mann und zieht genüsslich an seiner Zigarre. Ich komme mir vor wie in einem Mafioso Film. Sein fahles Haar fällt strähnig in die Stirn. Als er uns wahrnimmt, fährt er sich durch seine nicht existierende Frisur, um sie zu richten und versucht sich hastig zu erheben. Überschwänglich begrüßt er uns, als wäre das hier ein fröhliches Familientreffen.

 

„Dan, Danny ihr seid da. Fantastisch! Willkommen in meinem bescheidenem Reich.“

 

Sein Blick liegt jedoch die ganze Zeit über auf mir. Gierig begutachtet er meine Erscheinung und bleibt kurz anrüchig an meinem Dekolleté hängen. Mir läuft ein ekelerregender Schauer über den Rücken. Was zur Hölle wollen wir hier?

 

„Wer ist denn dieses Prachtstück?“, fragt er unverwandt und versucht hinter seinem Schreibtisch hervor zu eilen.

 

Widerlich leckt er sich die Lippe und wackelt mit den Augenbrauen.

 

„Ist meine“, sagt Dan besitzergreifend und markiert mich damit offensichtlich als seine Spielgefährtin.

 

Erbost blitze ich ihn an. Für solch ein Benehmen hätte ich ihm am liebsten eine gescheuert. Als wäre ich ein Stück Ware, direkt vom Fleischer gekauft und fertig zum Verzehr. Dan hingegen ignoriert mein Aufbegehren voller Coolness und legt seine Hand um meine Taille.

 

„Wir müssen mit BlackEye reden“, erklärt ihm Danny.

 

„Der ist nicht da“, sagt er schulterzuckend und blickt mich immer noch an.

 

„Aber Finn ist da drin, mit dem könntet ihr auch reden.“

 

Diese ganzen Namen sind verwirrend. Wer ist BlackEye oder Finn? Und wieso haben sie solche Spitznamen? Ich versuche nicht ängstlich auszusehen und blicke mit vollem Selbstvertrauen zu Dan und Danny, um aus FatJoes Blickfeld zu verschwinden.

 

„Ich mache euch ein Angebot“, sagt FatJoe grinsend zu den Zweien. „Ich lasse euch mit Finn reden und in der Zeit leiht ihr mir das Püppchen aus“, mit seinen dicken Fingern zeigt er auf mich.

 

Erschrocken schaue ich schnell zu Dan. Mein Blick ist nun flehend. Himmel, NEIN! Lass mich nicht allein! Du hast es mir versprochen! Kurz blitzt Zorn in seinen Augen auf, dann spricht er erregt mit Danny. Dan wird wütend, als ihm Danny bedeutet, dass es besser so wäre und beruhigt ihn damit schnell. Zufrieden sieht er trotzdem nicht aus, als er zu einer Antwort ansetzt.

 

„Nur für zwei Minuten, dann gehört sie wieder mir“, lächelt Dan bissig und meidet meinen Anblick.

 

Wie bitte? Das ist ja wohl nicht sein Ernst? Was ist mit seinem Versprechen, er würde mich beschützen? Nach dem die Sache zwischen den Männern geklärt scheint, begibt er sich geradewegs zu einer weiteren Tür und verschwindet, ohne noch einmal nach mir zu sehen. Panik steigt in mir auf, als sich die Tür hinter Dan und Danny schließt und ich mit diesem ekelhaften Widerling alleine im Raum bin. Er schnalzt begeistert mit der Zunge und lockert seinen Kragen. Dann kommt er langsamen Schrittes auf mich zu. Angstschweiß bildet sich sekundenschnell über meinen Körper und jetzt verfluche ich Mimi, dass sie mich so fantastisch verwandelt hat. Mit jedem Schritt, den er auf mich zu tritt, gehe ich einen zurück. Doch nach wenigen Momenten spüre ich auch schon die Wand in meinem Rücken. FatJoe, so nannte ihn auf jeden Fall Danny vorhin, grinst als wäre er die Katze und ich die Maus, die soeben in die Ecke gedrängt wird und bereit für die Schlachtbank ist. Ich will zu einem Flehen ansetzen, er soll mich in Ruhe lassen, doch mein Mund ist viel zu trocken dafür. Ich schließe die Augen und warte auf mein Ende. Ich hasse dich Dan!

Kapitel 10

 

Was hätte ich nur alles gegeben, jetzt an einem anderen Ort zu sein! In der Karibik oder in Hawaii. Wäre das traumhaft. Aber nein, ich bin ja in diesem beschissenen Club und werde verscherbelt wie ein Stück Vieh auf dem Markt. FatJoe hat mich mittlerweile durch die Bar in einen anderen Raum gezerrt, weit weg von der Tür in der Dan und Danny verschwunden sind. Dabei hat er mir die Arme so zugedrückt, dass ich jetzt schon leichte Blutergüsse ausmachen kann. In so einem Moment fragt man sich wirklich, was man dem Herrn da oben so schlimmes angetan hat? Das Zimmer, in welches mich dieser gruselige Fettsack zerrt, ist an allen Wänden mit dunkelroter Tapete bestückt. Es gibt keine Fenster, nur einen Sessel und einen Tisch, an dem ein paar verwaiste Stühle lehnen. FatJoe hat sich vor den einzigen Sessel im Raum gestellt und fingert bereits an seiner Gürtelschnalle herum. Panisch drehe ich mich zur Tür, reiße und ruckele fanatisch daran herum. Doch bei der Lautstärke in der Bar befürchte ich, dass meine Hilfeschreie untergehen werden. Die Tür hat er verschlossen und ich sehe meinem grauenvollen Ende entgegen. Er würde mich hier und jetzt vergewaltigen. HILFE!


„Für dich mach ich extra langsam“, sinniert er und schwubs liegt sein Gürtel auch schon in der Ecke.

 

Gemächlich kommt er auf mich zu. Als er direkt vor mir steht, kann ich seinen widerwärtigen Mundgeruch ausmachen, sowie die Fettflecken am Kragenrand seines Hemdes. Außerdem riecht er nach abgestandenem Schweiß. Er fixiert mich mit seinen Augen, dann schließt er sie und wirft seinen Kopf ruckartig an meinen Hals. Erschrocken quieke ich auf und glaube, dass mein Herz vor Angst aus der Brust springen wird. Er nimmt einen tiefen Atemzug meines Geruchs und saugt ihn genüsslich ein.

 

„Bist wohl schüchtern“, raunt er mir in den Nacken und zieht mich fest zu sich.

 

Ich knalle gegen seine Brust und versteife mich. Der Geruch zwingt mir ein unterdrücktes Würgen hervor. Da entdecke ich neben mir einen kleinen Tisch, auf dem eine Lampe steht. Ihr Messingständer erscheint mir plötzlich wie ein rettender Anker. Blitzschnell schaffe ich es mich ein wenig von ihm zu befreien, greife nach dem Ständer und schlage ihm kräftig damit in die Magengegend. Einen Augenblick lang bin ich frei. Er schnauft vor Schmerz und hält sich den Magen gekrümmt. Dann blickt er zu mir auf und stößt einen erbosten Fluch laut aus. Oh mein Gott. Jetzt habe ich ihn richtig wütend gemacht. Er erinnert mich an einen wild gewordenen Stier. Fehlt nur noch, dass ihm die Rauchschwaden aus den Nasenlöchern kommen. Den Ständer klemme ich schützend an mich und mache mich kampfbereit. Sollte er mich noch einmal anfassen, dann werde ich ihm das Ding über die Rübe ziehen. Er geht in die Startlöcher und kommt schnellen Schrittes wieder auf mich zu. Seine Hände streckt er mir bereits entgegen.


„Du kleines verruchtes Weibsbild! Ich hab nicht mehr lang Zeit! Also hör gefälligst auf dich zu wehren!“

 

Unerwartet bückt er sich und reißt mich von den Füßen. Er wirft mich über die Schulter und schleppt mich wie einen nassen Sack zum Tisch hinüber. Ich schreie und klopfe so stark ich kann mit dem Ständer auf seinen Rücken ein, doch das scheint ihn wenig zu stören. Mit einem unsanften Knall lande ich mit dem Rücken auf der Tischplatte. Schnell schlägt er mir den Ständer aus der Hand und umfasst grob meine Hände. Schmerzhaft streckt er mir die Arme über den Kopf und fixiert beide Handgelenke mit einer Hand. Wimmernd liege ich vor ihm und die Tränen der Verzweiflung rennen mir die Wangen hinab. Ich versuche mich unter ihm zu winden, doch er demonstriert mir seine komplette Kraft. Ekelhaft beginnt er über meinen Körper zu streichen und umfasst grob meine Brüste. Ich beiße mir verzweifelt auf die Unterlippe, bis ich Blut schmecke. Mit seiner freien Hand macht er sich nun an seinem Hosenstall zu schaffen. Dabei grinst er mich nur weiter dreckig an. Ich nehme meine ganze Kraft zusammen, als er kurz etwas lockerer hält, da er nicht so ganz mit einer Hand den Reißverschluss öffnen kann, und trete ihm reflexartig mit einem High Heel in seine Weichteile. Sein Gesicht verzieht sich schmerzhaft und er krümmt sich quengelnd auf dem Boden hin und her. Dabei betitelt er mich mit einer Unmenge an Schimpfwörtern. Froh über diese freie Sekunde springe ich vom Tisch zur Tür.

 

„Du Miststück!“, brüllt er lauthals durch den Raum und rappelt sich mühsam wieder aufrecht.

 

Währenddessen rüttele ich wie eine Furie an der verschlossenen Tür.

 

„Bitte! Bitte lieber Gott!“, wimmere ich und hämmere gegen die Tür.

 

Schnell schaue ich nach FatJoe, der wieder auf die Füße gekommen ist und in meine Richtung humpelt, immer noch mit schmerzverzerrtem Gesicht. Wirr suche ich mit den Augen nach einer geeigneten Waffe, mit der ich ihn mir vom Hals halten kann. Mein Blick fällt auf meine Schuhe. Die Blitzidee scheint mir plötzlich sinnvoll, also ziehe ich diese mörderischen Schuhe aus und hole aus. Zack! FatJoe duckt sich und der High Heel verfehlt sein Ziel nur knapp. In Windeseile pfeffere ich den Zweiten bereits hinterher. Treffer! Der Absatz knallt gegen seine Stirn und hinterlässt eine klaffende Platzwunde, die sofort stark anfängt zu bluten. Es rennt ihm wie Wasser über die rechte Gesichtshälfte. Nun sieht er noch viel gruseliger aus und ich habe ihn mit meiner Aktion aufs Äußerste gereizt. Ich sehe in seinen Augen, dass er nun keine Gnade mehr walten lassen wird. Da helfen auch nicht mehr meine liebenswürdigen Welpen Augen in denen das Wasser nur so steht. Er rennt auf mich zu, donnert mit seinem kompletten Gewicht gegen mich, sodass ich glaube meine Lunge würde zerbersten. Er hebt mich abermals hoch und schleudert mich gegen die nächstbeste Wand. Mein Kopf knallt zuerst dagegen. Ich sehe nur noch Sternchen. Plötzlich höre ich ein donnerndes Klopfen an der Tür.


„Nicht jetzt!“, schreit der Fettsack und pustet vor Anstrengung die Luft aus seinen aufgeblasenen Nasenlöchern.

 

Dann schaut er mich wieder an und leckt sich anzüglich die Lippen. Er blickt mich an als wäre ich eine Süßigkeit. Je näher er zu mir kommt, desto mehr läuft ihm der Sabber die Mundwinkel heraus. Ekelhaft. Derjenige vor der Tür hat offenbar wenig Geduld, denn es rummst unablässig dagegen. Ich bekomme beinah einen Herzinfarkt, als die Tür aufspringt und Dan wie ein wild gewordener Neandertaler im Türrahmen steht. Wütend starrt er von mir zu FatJoe. Mein Anblick und die Verwüstung im Raum sind aufschlussreich genug, um die Situation zu erfassen.

 

„Dan, verdammt! Gib mir noch fünf Minuten. Ich muss deiner Kleinen nur noch Manieren beibringen, wenn du verstehst was ich meine“, meinte er trocken.

 

Ich spüre Erleichterung und eine riesige Wut in mir als ich ihn sehe. Ich weiß, dass nun wo er da ist, er sich nicht mehr einfach umdrehen wird. Keine Sekunde will ich länger mit diesem Bastard in einem Zimmer sein.

 

„Du Arschloch! Wie konntest du nur!“ , bringe ich heulend heraus und werfe ihn mit einer meiner Schuhe ab, die ich auf dem Boden aufgegabelt habe.

 

„Ist ja gut!“, flucht er und macht kehrt marsch.

 

Er läuft zu mir, schnappt mich mit einem Ruck und hievt mich in seine Arme. Anschließend sammelt er noch meine Schuhe ein und dreht sich dann zur Tür.

 

„Das mit den Manieren zeige ich ihr schon“, zwinkert er FatJoe ernst zu und trägt mich aus diesem Höllenzimmer.

 

Verärgert und aufgewühlt trommele ich mit meinen Fäusten auf seinem Rücken herum.

 

„Du SCHWEIN!!!“, „VOLLIDIOT!“, „BASTARD!“, beleidige ich ihn auf dem Weg aus der Bar.

 

Ich spüre einen kühlen Wind, als wir auf die Straße treten und Regen, der auf meine Haut prallt. Erleichtert über die frische Brise schnappe ich hastig nach Luft wie eine Ertrinkende. Wütend mache ich mich von seinen Armen los, lande barfuß auf dem nassen Asphalt und zerre ihm meine Schuhe aus der Hand, um sie sofort anzuziehen. Der Regen ist eiskalt und der Wind macht die Sache kein Stück besser. Dann, immer noch wutgeladen, schlage ich mit meinen Händen auf seine Brust.

 

„Wie konntest du nur!“, schreie ich ihn an.

 

„Ich kann nichts dafür, das musste sein“, wehrt er sich.

 

Sein Satz schwirrt nur so in meinem Kopf und ich werde noch wütender. Das soll seine Ausrede gewesen sein? Wo ist die Entschuldigung? Wie aus Reflex hebt sich meine Hand und ich verpasse ihm eine schallende Ohrfeige. Erst als ich den kühlen Wind auf meinem nassen Körper wahrnehme, fühle ich mich schuldig wegen der Backpfeife. Etwas benommen und überrascht blickt Dan auf die Seite und legt eine Hand auf seine Wange. Ich zittere wie Espenlaub und reibe wärmend meine Arme. Plötzlich zieht Dan seine Anzugsjacke aus und legt sie mir über wie eine Decke. Seine Haare sind komplett nass, genauso wie meine. Mit seinen strahlenden grün blauen Augen fixiert er mich und zieht mich anschließend zu sich. Mit strengem Gesicht legt er seine Hände auf meine Haare und drückt meinen Kopf etwas weiter zu seinem.

 

„Es tut mir leid was ich dir da drinnen angetan habe“, sagt er ernst. „Ich weiß, ich habe dir versprochen auf dich aufzupassen, aber das Gespräch war extrem wichtig. Doch das ist keine Entschuldigung!“

 

Das ist schon besser. Es war nett, dass er mir seine Jacke gegeben hat. Sie duftet nach ihm, das lässt mich das Geschehene etwas verarbeiten. Ich bin immer noch sauer, aber immerhin habe ich nun eine Entschuldigung von ihm bekommen. Gerade will ich etwas antworten, da legt er hast seinen Finger auf meine bebenden Lippen.

 

„Als ihr gegangen seid, habe ich das Gespräch so schnell beendet wie nur möglich. Dann musste ich euch noch suchen, doch das war nicht so schwer, da schon viele Leute argwöhnisch auf ein bestimmtes Zimmer geblickt haben. Und ich als ich die Tür dann auch noch aufbrechen musste und gesehen hab, dass deine Wangen ganz nass waren, wurde ich so wütend, dass ich Angst hatte ich würde meine Kontrolle verlieren.“

 

Die ganze Zeit hat er mir in die Augen gesehen und mir wird ganz schwindelig von so viel Aufmerksamkeit von ihm. Trotzdem macht es die Situation nicht wieder gut.

 

„Wieso hast weder du noch Danny eingegriffen?“, frage ich zitternd.

 

„Danny kannst du schon im vornherein vergessen. Und was mich angeht, so durfte ich nicht, sonst hätte ich alles kaputt gemacht“, sagt er, blickt weg und sieht ein wenig verzweifelt aus.

 

„Kaputt gemachen? Aber was?“, frage ich weiter.

 

Warum Danny mir nicht helfen wollte, nehme ich mir morgen vor mit ihm zu besprechen. Seine Augen sehen traurig aus und ich bin mir sicher, dass das alles keine Lüge sein kann. Er meint es wirklich ernst. Dan scheint es leid zu tun, sein Versprechen gebrochen zu haben.

 

„Das kann ich dir nicht sagen.“

 

Vermutlich wäre ich jetzt sauer gewesen, aber als er seine Stirn gegen meine lehnt, vergesse ich die Wut. Ich will ihn nicht von mir wegschieben. Ich kenne ihn zwar nicht so lange, aber ich habe noch nie gesehen, dass ihm etwas so leidgetan hat. Zwar liegt mir das Geschehene mit FatJoe immer noch im Magen, aber in dem Moment scheint alles etwas vergessen zu sein.

 

Es ist wie in einem schlechten Hollywood Film. Das Paar steht im Regen, ganz nah einander und der gut aussehende Typ blickt das Mädchen in seiner Jacke an. Beide spüren dieses Gefühl in sich und während ihre Augen sich nicht voneinander losreißen können, kommen sich ihre Lippen immer näher. Die Schmetterlinge in meinem Bauch schwirren wie verrückt während ich weiß, dass es gleich soweit ist. Doch dann! HUUP HUUP. Das Hupen eines Autos lässt uns beide so verschreckt hochfahren, dass uns bewusst wird, was gerade beinahe passiert wäre. Räuspernd läuft Dan zum Straßenrand und winkt ein Taxi heran. Als eines stehen bleibt verfrachtet er mich auf die Rückbank und setzt sich neben mich. Dann erklärt er dem Taxifahrer kurz wohin er uns fahren soll und lehnt sich müde auf seinem Sitz zurück. Die Stille zwischen uns ist seltsam und etwas peinlich, also decke ich mich weiter in seine Jacke rein.

 

So schnell wie ich die Aktion mit FatJoe verdrängt habe, so schnell kommt sie wieder zurück. Ich weiß nicht was los mit mir ist. In der einen Sekunde versucht ein widerlicher Kerl mit etwas Schreckliches anzutun und in der anderen Sekunde kommt es beinahe zu einem Kuss mit Dan. Meine Gefühle spielen gerade Achterbahn und so fühle ich mich auch. Entschieden öffne ich das Fenster eine Stückbreite, um frische Luft zu bekommen.

 

„Du hast ihn aber relativ gut zugerichtet“, sagt Dan plötzlich.

 

Zuerst verstehe ich nicht was er meint, doch dann fällt es mir sofort wieder ein.

 

„Ich musste ja irgendwie handeln“, sage ich.

 

„Ich glaube nicht jeder hätte gewusst wie er in so einer Situation handeln sollte“, gibt er leise zu.

 

Das Lob von ihm tut gut, doch es lindert nicht die Erinnerung. Ich brauche unbedingt Zeit für mich, um mit dem Abend klar zu kommen. Doch mir wird klar, dass die Gefühle für Dan sich extrem verändert haben. Natürlich ist das nicht gut, er ist ja immer noch mein Entführer. Aber die Tatsache, dass er sich um mich gesorgt hat als ich krank war oder der beinahe entstandene Kuss von vorhin, lassen mich die Entführungsgeschichte Stück für Stück vergessen. Er ist kein schlechter Kerl, zwar auch nicht der perfekte Nachbarsjunge, aber er kann wenn er will zärtlich und freundlich sein.


Als wir ankommen reicht Dan dem Taxifahrer das Geld und wir steigen aus. Dann laufen wir schnell, da es immer noch regnet, in die Eingangshalle des Hotels.

 

„Sag mal, dürfte ich morgen vielleicht meine Mutter anrufen?“, frage ich Dan vorsichtig, als wir im Fahrstuhl stehen.

 

„Sicher“, sagt er gelassen und legt seine Hände in die Hosentasche. „Wenn du dir sicher bist, dass dieses Mal keine Polizei euer Gespräch belauscht.“

 

„Danke, ich probiere es einfach aus“, sage ich lächelnd.

 

Als der Lift „PONG“ macht, wir ankommen und zu unserer Tür laufen, zückt er den Schlüssel und öffnet sie.

 

„Sag mal“, sagt er etwas unsicher. „Was ist eigentlich mit deinem Vater? Über ihn hast du noch kein Wort gewechselt.“

 

Als wir in die Wohnung laufen blicke ich ihn etwas verunsichert von der Seite an. Soll ich ihm davon erzählen? Die Geschichte meines Vaters ist zwar nicht mein größtes Geheimnis, trotzdem aber ein Teil von mir und sehr persönlich. Außerdem bin ich ziemlich müde von dem Abend. Sofort ziehe ich die ungemütlichen Schuhe aus und laufe ins Schlafzimmer, um aus den nassen Klamotten zu steigen.

 

„Wieso fragst du?“, rufe ich fragend aus dem Zimmer.

 

„Weil es mich interessiert“, ruft er zurück.

 

Mit einem warmen Pulli und Jogginghose angekleidet komme ich aus dem Zimmer und finde Dan in der Küche stehen. Müde setze ich mich auf einen Hocker und lenke mich damit ab, dass ich meine Fingernägel begutachte.

 

„Ich kenne meinen Vater nicht, er hat meine Mutter und mich kurz nach meiner Geburt verlassen“, sage ich und fahre fort. „Meine Mutter hat mir manchmal Dinge von ihm erzählt, aber niemals ein Foto gezeigt. Sie meinte, er hätte gute Gründe gehabt uns zu verlassen und ist der Meinung, dass er irgendwann zurückkehren würde. Am Anfang, als ich noch klein war, klang die Geschichte ja schön, aber nun will ich ihn nicht mehr kennenlernen.“

 

„Was ist mit dir?“, frage ich.

 

Er hat wirklich noch kein Wort über seine Vergangenheit erzählt. Nun scheint Dan sich unsicher zu sein, ob er es mir sagen soll und macht Anstalten aus der Küche zu gehen und mich alleine zu lassen.

 

„Was hindert dich daran es mir zu erzählen?“, frage ich empört.

 

Es war nicht gerade eine leichte Entscheidung ihn das über meinen Vater zu erzählen. Aber nach meiner Gegenfrage einfach zu fliehen finde ich gemein und unfair.

 

„Die Tatsache, dass es bei mir fast verkehrt herum ist“, sagt er nur und verschwindet ins Badezimmer.

 

Da ich viel zu müde bin belasse ich beleidigt das Thema und stolziere ins Schlafzimmer. Ich lasse mich wie ein nasser Sack auf das Bett fallen und decke mich warm zu. Im Halbschlaf merke ich, wie die Matratze neben mir sinkt und weiß, dass Dan nun auch schlafen geht. Ich nehme mir vor die Wahrheit aus ihm heraus zu kitzeln. Vielleicht nicht gleich morgen, aber in den nächsten Tagen auf jeden Fall. Zuerst einmal muss der Abend verdaut werden. Mit dem Wissen schlafe ich schließlich auch ein.


Kapitel 11

 

Nach Atem ringend und schweißgebadet erwache ich aus meinem Traum. Ich habe geträumt, wie ich an einer Haustür klingele und eine Frau, mit langen schwarzen Haaren und einem kleinem Mädchen in ihren Armen, aufmacht. Dann fragte ich nach meinem Vater, doch sie schaute mich nur entgeistert an. Immer wieder stellte ich dieselbe Frage „Wo ist mein Vater? Bitte sag mir, wo mein Vater ist“, bis er schließlich erschien. Seine Augen trotzten vor Kälte und Wut. „Was willst du hier? Ich habe dir doch gesagt du sollst meine Familie in Ruhe lassen! Verstehst du denn nicht, dass keiner dich hier haben möchte!“, brüllte er mich an. Plötzlich tauchte FatJoe von hinten auf und griff gewaltsam nach meinem Arm. „Wir beide sind noch nicht fertig miteinander.“ Gleich nach diesem Satz bin ich aufgewacht. Gerade will ich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr legen, als ich merke, dass sich meine Hand nicht bewegen kann. Verblüfft erkenne ich, wie meine Hand in der von Dans liegt. Ich merke, wie ich mich langsam beruhige und decke mich wieder komplett zu. Schließlich drehe ich mich so, dass ich Dan im Dunkeln erkennen kann. Dankbar, dass er meine Hand hält, merke ich, dass es mir nun etwas besser geht und ich kann wieder einschlafen.

 

„Wann?“

 

In meinem Hinterstüblein nehme ich wahr, dass jemand redet.

 

„Gut, ich warte. Bis dann.“

 

Ich rekele mich im Bett und ziehe die Decke etwas weiter zu mir hoch.

 

„Darling, aufwachen!“, kommt es von der Tür und ich erinnere mich sofort an den Albtraum.

 

Der Traum hat sich so real angefühlt und ich hatte tatsächlich das Gefühl, meinen Vater gesehen zu haben, obwohl ich nicht weiß, wie er aussieht. Der von ihm darauffolgende Korb hatte mir wirklich zu schaffen gemacht, darum fühlte ich mich auch um einiges besser, als ich Dans Hand bemerkte. Richtig wach werde ich, als ich seine Schritte auf mich zukommen höre und er mir die Decke wegzieht. Die Erinnerung an das nächtliche Händchenhalten ist sofort verschwunden. Brummend liege ich da und suche nach etwas zum überziehen.

 

„Wie spät?“, bringe ich mit kratziger Stimme hervor.

 

„Zehn, wieso?“.

 

„Viel zu früh“, stöhne ich müde.

 

„Danny kommt um zwölf Uhr, mach dich fertig.“

 

Ich öffne meine Lider und setze mich behutsam auf. Doch bei seinem Anblick hätte ich mich am liebsten wieder unter eine Decke versteckt. Ich spüre wie warm meine Wangen werden und versuche an etwas anderes zu denken. Schuld an meinen lüsternen Gedanken ist meine Müdigkeit, ansonsten hätte ich ihn bestimmt nicht angehimmelt. Aber selbst bei diesem Gedanken spüre ich, dass dies eine Lüge ist. Sein weißes Achselshirt betont seine athletische Muskulatur perfekt. Um nicht weiter über sein Aussehen nachzudenken, hüpfe ich vom Bett und laufe ins Badezimmer.

 

„Was soll ich denn anziehen?“, rufe ich durch die Badezimmertür.

 

„Was weiß ich“, höre ich ihn antworten.

 

„Ja, muss ich genauso aufgebrezelt aussehen wie gestern?“

 

Als ich ihn auflachen höre werde ich böse.

 

„Willst du denn gut aussehen vor ihm?“, ruft er zurück.

 

Ich höre, wie er den Fernseher anschaltet.

 

„Ich kann auch nur in Unterwäsche rumlaufen“, zische ich laut.

 

„Nur zu“, sagt er mit gelangweilter Stimme.

 

Genervt rolle ich die Augen. Es geht mir wirklich gegen den Strich, dass ihn das so kalt lässt! Dann blitzt der Schalk in meinen Augen.

 

„Wäre es dir denn egal?“, frage ich betont desinteressiert.

 

Ich nehme ein weißes Hemd von Dan, welches an der Duschtür auf einem Bügel hängt, streife es mir über die Unterwäsche und knöpfe die mittleren drei Knöpfe zu.

 

„Ja, doch. Ich sagte doch bereits: Du fällst sowieso nicht in mein Raster“, gibt er überzeugt zurück.

 

Auf diesen Satz hatte ich gewartet. Wollen wir doch mal sehen, wie sehr der Herr sich reizen lässt. Mister Obercool, du bist nicht attraktiv genug für mich. Fix wühle ich noch meine Haare durcheinander, öffne die Tür und schlendere leger in die Küche.

 

„Das ist jammerschade“, sage ich auf dem Weg und öffne den Kühlschrank.

 

Gelassen schenke ich mir ein Glas Milch ein, stelle die Packung langsam wieder zurück und spüre seinen Blick auf mir. Dann laufe ich zu ihm an das Sofa und grinse ihn unverschämt über den Rand meines Glases an. Volltreffer! Typisch Mann halt. Von wegen ich bin nicht attraktiv genug. Offensichtlich lässt ihn mein Auftreten nicht ganz so kalt, wie er vorgibt. Ich schubse ihn ein wenig zur Seite, um mir Platz zu verschaffen und strecke meine nackten Beine über seinen Schoß. Sprachlos verfolgt er jede meiner Bewegungen. Genüsslich trinke ich mein Glas leer und setze es auf dem Couchtisch ab. Mir ist bewusst, wie weit der Einblick in mein Dekolleté geht, und lehne mich etwas an ihn.

 

„Weißt du“, flüstere ich und laufe mit den Fingern seine Brust hinauf. „Das ist wirklich schade, dass ich nicht dein Typ bin. Stell dir doch nur vor, was wir alles machen könnten“, grinse ich unverschämt anzüglich.

 

Dabei wandert meine Hand wieder hinab und gleitet unter sein Shirt. Zart streiche ich über seinen muskulösen Bauch, schmiege mich noch ein kleines bisschen näher an ihn und hauche ihm einen angedeuteten Kuss auf den Mundwinkel. Sein Atem ist indessen schwerer gegangen und seine Hände stark verkrampft. Innerlich jubele ich über meine schauspielerischen Fähigkeiten und wie weit ich ihn beeinflussen kann. Mein Mund wandert hinter sein Ohr.

 

„Ich frage mich allmählich, was deine Favoriten sind? Rothaarige vielleicht?“

 

Ja, es machte mir Spaß ihn zu provozieren. Nachdem, was ich gestern erlebt habe, kann er ruhig ein wenig leiden. Kurz überlege ich, ihn leicht am Ohrläppchen zu knabbern, verwerfe diesen Gedanken aber schnell wieder, da es bei mir dann auch an Selbstbeherrschung mangeln würde. Ich fahre mit meiner Raterei fort.

 

„Oder doch blond?“ , ich blicke ihn überlegend in die Augen. »Schwarz? «

 

Schnell muss ich wegsehen. Ich soll es nicht zu weit treiben. Seine Gier steht ihm sprichwörtlich ins Gesicht geschrieben. Fehlt nur noch, dass er anfängt zu sabbern. Also lege ich meinen Finger auf seine Lippen und blicke ihm noch einmal kurz in die Augen.

 

„Aber soll ich dir was sagen? Du bist auch nicht mein Typ“, ende ich kurzerhand.

 

Dann schwinge ich meine Beine von ihm, stehe auf und will wieder in Richtung Badezimmer laufen. Weit komme ich allerdings nicht. Er ist ebenfalls schnell aufgestanden, umfasst grob meine Taille, dreht mich zu sich und drängt mich wieder auf das Sofa zurück. Er drückt seinen Oberkörper gegen meinen, fährt mit der linken Hand durch mein Haar, um meinen Kopf zu packen und legt mit einem dominanten Griff mein linkes Bein um seine Hüften. Das geht alles so schnell, dass ich erst begreife, was passiert ist, als seine Lippen verlangend auf meine drücken. In meiner Brust brennt ein loderndes Feuer. Seine rechte Hand umklammert grob meinen linken Oberschenkel und presst mich noch mehr gegen seine Hüften. Ich lasse mich auf den Kuss ein und öffne ergeben meine Lippen. Unsere Zungen verschmelzen miteinander und nur am Rande nehme ich wahr, dass sich etwas Hartes in seiner Lendengegend an mich drängt. Der Kuss wird immer stürmischer und wir verlieren uns in ihm, wie viel Zeit vergeht weiß ich nicht. Einzige, was mir in diesem Moment klar wird, ist, dass ich dabei bin, mich unwiderruflich in meinen Entführer zu verlieben. Ich meine, ich spüre Feuerwerke in meinem Bauch explodieren. Mein Herz trommelt gegen meine Brust und mein Atem verläuft unregelmäßig. Das ist nicht gut. Schließlich kann ich mich doch nicht in meinen Entführer verlieben, oder etwa doch?

 

Kurz lässt er von mir ab. Völlig verwirrt öffne ich die Augen und sehe seinen Blick, der verlangend auf mir ruht. Nervös blinzele ich.

 

„Das war nicht so schlau von dir mich zu provozieren“, flüstert er rau und beugt seinen Kopf an meine linke Schläfe.

 

Mein Atem stockt für einen Augenblick. Er fährt mit seiner Nasenspitze an meinem Ohr entlang und plötzlich spüre ich etwas Warmes, Feuchtes meinen Hals hinab wandern. Dafür, dass mein Atem vorher gestockt hat, beginne ich nun fast zu hyperventilieren, als mir bewusst wird, dass das seine Zunge ist, die mich da gerade in den Wahnsinn treibt. Ungewollt klammert sich mein Bein enger um seine Hüfte und ein leises Seufzen entrinnt mir. In meinem Hinterkopf versuche ich mich zu sammeln, verliere mich allerdings immer kurz bevor ich dahinter komme, warum eigentlich. Mist, ich muss mich jetzt sofort, aber wirklich SOFORT zusammenreißen, bevor noch etwas passiert. Oh Gott! Warum aber muss er auch nur so unwiderstehlich sein?


„Hab ich gar nicht“, versuche ich zwischen einem Kuss hervorzubringen.

 

Als unsere Lippen sich wieder berühren, habe ich gar keine Kontrolle mehr über mich und alle Hemmungen fallen von mir. Gierig greife ich in seine Haare und ziehe ihn noch näher zu mir. Da das Sofa so klein ist, können wir uns nicht richtig ausbreiten. Das stellt er nun auch fest und mit einem Ruck hebt er mich in die Luft. Mit Leichtigkeit schwingt er meine Beine um sich und meine Arme krallen sich um seinen Hals. Dann trägt er mich durch die Schlafzimmertür zum Bett. In der Zwischenzeit lasse ich meine Lippen über seinen Hals fahren und atme zufrieden seinen unwiderstehlichen Duft ein.

 

Vorsichtig legt er mich auf sein Bett und stützt sich über mir ab, um mich nicht zu zerdrücken. Wieder folgt ein intensiver Blick beiderseits, in dem ich mich verliere. Und dann sind seine Hände überall. Auf meinen Hüften, entlang meiner Oberschenkel, bis sie plötzlich unter mein Hemd wandern und seine Hände langsam, aber geübt, die Knöpfe öffnen. Sein verlangender Blick löst sich gequält von mir, als ich ohne Hemd vor ihm liege und er sich sein Unterhemd in einem Zug über den Kopf streift. Die Schönheit seines Körpers erschlägt mich förmlich. Doch seine Muskulatur zu betrachten reicht mir nicht und ich bin erleichtert, als ich seinen warmen Körper wieder auf mir spüren kann. Nun lasse ich meine Hände über seinen Körper gleiten, dabei beobachtet er mich intensiv. Ich stelle fest, dass auch sein Atem unrhythmisch schneller geht. Zufrieden zaubert sich ein verschmitztes Lächeln auf meine Lippen. Kurz bevor wir jedoch zum Höhepunkt der ganzen Veranstaltung kommen können, nämlich auch noch den Rest unserer Kleidung und Hemmung zu verlieren, surrt es an der Wohnungstür. Wir versuchen es anfangs zu ignorieren, aber beim gefühlten zehntausendsten Mal knurrt Dan verärgert auf und lässt seufzend von mir ab. Bevor ich mich versehen kann, ist er aus dem Zimmer gestampft und ich richte mich blinzelnd auf. Ich stöhne genervt auf und kann mich nun etwas sammeln. Was zum Teufel ist gerade passiert? Ich habe doch gerade nicht tatsächlich mit meinem Entführer geknutscht?

 

Schlagartig erinnere ich mich wieder an das Geschehen von gestern. Hat mich das kalt gelassen, dass ich mich gleich auf Dan stürzen konnte? Die Aktion mit BigJoe ist nicht einmal vierundzwanzig Stunden vorbei. Etwas verlegen lege ich meine Haare zurück und betaste meine Lippen, auf denen ich immer noch den Kuss von Dan spüre. Vielleicht habe ich das ja auch gebraucht, um zu vergessen was da beinahe in diesem Zimmer geschehen ist.

 

„Wieso schon so früh da?“, kommt es aus dem Wohnzimmer und ich spitze die Ohren.

 

„Je früher ich komme, desto mehr Zeit kann ich mit meinem geliebten Bruder verbringen.“

 

Bei dem Wort „Bruder“ stockt mein Atem. Was für ein Bruder bitte? Moment, ich glaube das könnte Danny sein, der da gekommen ist. Ich knöpfe schnell mein Hemd zu. Aber Dan hat doch gesagt, dass er keine Familie und auch keine Geschwister hat! So ein verdammter Lügner!

 

„Mistkerl!“, fluche ich leise.

 

Ich erzähle ihm also gestern die Geschichte von meinem Vater und dieser Mistkerl kann nicht einmal zugeben, dass Danny sein Bruder ist! Zum Teufel noch mal.

 

„Wo ist denn deine Kleine, diese Annie?“, fragt Danny.

 

„Sie schläft noch, warte, ich weck sie kurz auf.“

 

Ich höre seine Schritte in meine Richtung kommen. Schnell stolpere ich aus dem Bett zum Schrank und durchwühle ihn nach etwas geeignetem für meinen restlichen Körper. Als er das Zimmer betritt schließt er die Tür hinter sich. Ich blicke ihn erst gar nicht an. Aber nicht nur weil er mir das mit Danny verschwiegen hat, sondern auch weil mir das Geschehene etwas peinlich ist.

 

„Danny ist da“, sagt er trocken.

 

So ein Blitzmerker! Ich spüre, dass ich immer wütender werde. Es ist ja nicht so gewesen, als hätte er nie Zeit gehabt mir das zu erzählen. Dafür gab es genug Gelegenheiten!

 

„Du meinst deinen Bruder?“, frage ich mit bitterem Ton.

 

Daraufhin blickt er verlegen weg.

 

„Du musst dich nicht rechtfertigen“, bringe ich zähneknirschend hervor und steige in eine Boxershort.

 

„Das ist kompliziert“, sagt er, als er die Wand hinter mir anstarrt.

 

„Nein. Da liegst du falsch. Rein gar nichts ist kompliziert.“

 

Ich richte mich mit erhobenem Haupt vor ihm auf, soweit mir das zumindest gelingt, da er mich immer noch um mehr als einen Kopf überragt.

 

„Er ist dein Bruder, wenigstens das hättest du mir sagen können. Vielen Dank!“ , spucke ich hervor.

 

Ich weiß, dass ich mich gerade aufführe wie eine Ehefrau, aber das ist mir egal. Schließlich hat er auch von mir Vertrauen verlangt und bisher habe ich ihn auch nicht enttäuscht. Er setzt noch einmal zum Sprechen an, aber ich halte stoppend die Hand vor sein Gesicht und strafe ihn mit einem verletzten Blick. Dann öffne ich die Tür und trete mit einem aufgesetzten Lächeln hindurch. Ich entscheide mich Dan den weiteren Tag einfach wie Luft zu behandeln, auch wenn das kindisch ist.

 

„Hey, du kennst mich schon, ich bin Annie, Dan’s Geisel“, begrüße ich seinen Bruder und reiche ihm höflich die Hand.

 

Er nimmt sie dankend entgegen.

 

„Wie geht es dir?“, fragt mich Danny, ich lächele ihn süß an.

 

„Gut und dir?“

 

Dabei schlendere ich lässig in die Küche, hole mir mein Glas von vorhin, das noch auf dem Couchtisch steht und schlendere in die Küche. Als ich mir einen Schluck Wasser gönne, den ich mir gerade aus der Leitung eingelassen habe, lehne ich mich an die Wand und betrachte Danny. Die Beiden sehen sich tatsächlich ähnlich. Beide Männer besitzen diese klare Augenfarbe, deutliche Gesichtszüge und gutes Aussehen. Nur Danny sieht man an, dass er älter ist und ihm steht die längere Lebenserfahrung ins Gesicht geschrieben. Verstohlen schaue ich seine Narbe an der Stirn an und bemerke weitere kleine Kratzer im Gesicht. Da fällt mir wieder ein, dass er mir gestern genauso gut helfen hätte können. Aber ich beschließe mich ihn nicht anzufahren, laut Dan Aussage von gestern, scheint es Danny nicht zu interessieren was mit mir geschieht.

 

„Jetzt schon besser“, zwinkert er mir zufrieden zu.

 

Dann fährt er seine Hände gekonnt cool in die Hosentaschen zurück. Von der Größe ist er wohl genauso groß wie Dan.

 

„Hast du Durst?“

 

Fragend halte ich mein Glas hoch und blicke in seinen blauen Augen, ähnlich wie Dan seine.

 

„Gerne, es gibt aber nur Wasser, hab ich recht?“, sagt er lachend.

 

„Nein, wieso?“, frage ich verdutzt und fahre fort. „Wir haben Saft, Kaffee und auch Tee.“

 

Er blickt mich erstaunt an und dann Dan, der hinter ihm in der Schlafzimmertür steht. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er mir gefolgt ist.

 

„Jetzt bin ich überzeugt, dass sie dir gut tut“, grinst er ihn an.

 

Etwas überrumpelt von seiner Aussage blicke ich beschämt weg und tue so, als hätte ich das gar nicht gehört.

 

„Wir wollen nicht gleich übertreiben“, höre ich ihn in das Lachen einsteigen.

 

Böse blicke ich ihn an und zeige ihm meinen Mittelfinger.

 

„Ach?“, kommt es von Dan überrascht und er hebt abwehrend die Hände.

 

„Ich dachte du willst mich ignorieren.“

 

Daraufhin verdrehe ich nur meine Augen und blicke wieder weg.

 

„Du hast bestimmt nichts dagegen, wenn ich kurz duschen gehe, oder?“, fragt Dan Danny.

 

Sofort frage ich mich, wer seinen Kindern denn solche ähnlichen Namen gibt. Wirklich komisch.

 

„Lass dir Zeit“, antwortet er.

 

Dan verschwindet im Bad und ich hantiere in der Küche nach einem Glas für ihn.

 

„Also, was möchtest du?“, frage ich wieder lächelnd.

 

„Wasser wäre wirklich in Ordnung“, nickt er.

 

„Weshalb habt ihr euch gestritten?“, fragt er mich als ich ihm das volle Wasserglas rüber reiche.

 

Als ich ihm das Glas reiche, überlege ich kurz, ob ich es ihm sagen soll. Ich entscheide mich für die Wahrheit.

 

„Ich hab erst vor ein paar Minuten erfahren, dass ihr zwei Brüder seid und das von dir und nicht von Dan“, ich setze mich ihm gegenüber hin.

 

Anhand seines Gesichtsausdruckes kann ich sehen, dass das nichts Neues für ihn ist. Er sieht verständnisvoll aus.

 

„Nimm es ihm nicht übel“, meint er und trinkt einen Schluck.

 

Trotzdem muss ich ihn kritisch anblicken.

 

„Als ich ihn gefragt habe, ob er Geschwister hat, verneinte er dies sofort ohne mit der Wimper zu zucken“, sage ich vorwurfsvoll.

 

„Dan spricht nicht gerne von unserer Kindheit.“

 

Er spricht nun schon etwas leiser und dreht das Glas gedankenverloren in seinen Händen. Wäre es jetzt unhöflich zu fragen warum? Aber von Dan werde ich sowieso nichts rausbekommen können.

 

„Weshalb?“, kommt es da auch schon über meine Lippen.

 

Ich will es einfach unbedingt wissen. Kurz schaut er mich ernst an, dann scheint er sich in seinen Gedanken zu verlieren. Nach einer gefühlten Ewigkeit beginnt er dann doch zu reden.

 

„Kurz, nachdem unsere Mutter starb, hatte unser Vater sich nicht mehr unter Kontrolle. Dan war da gerade erst vier Jahre alt und ich sieben.“

 

Ich schaue ihm aufmerksam entgegen. Er setzt an, um fortzufahren, doch da kommt Dan auch schon wieder aus dem Badezimmer.

 

„Du bist aber schnell“, bemerkt Danny und räuspert sich, als wäre er bei etwas verbotenem erwischt worden.

 

„Ich musste mich nur kurz abduschen“, sagt er klärend und streift mit seinem Blick kurz meinen.

 

Er läuft zum Kühlschrank und greift sich eine Flasche Orangensaft. Plötzlich fällt Danny in schallendes Gelächter. Erschrocken verschluckt sich Dan an seinem Saft und auch ich zucke zusammen.

 

„Seit wann trinkst du denn Orangensaft!“

 

Danny lacht schallend und blickt ihn verständnislos an. Jetzt schaue selbst ich Dan verdutzt an. Sein Blick liegt ebenfalls verwirrt auf mir. Ich kann nicht wegsehen und mein Bauch fährt gerade wieder Achterbahn. Ich drehe noch durch bei diesem Typen! Mit seinen noch nassen schwarzen Haaren würde ich ihn am liebsten einfach wieder zu mir ziehen und da weiter machen, wo wir vorhin unterbrochen wurden.

 

„Hallohooo?“

 

Danny wedelt mit seiner rechten Hand in unser beider Blickfeld herum. Wie lange haben wir uns denn angestarrt? Schnell zwinge ich mich zu Danny zuschauen, der mich misstrauisch begutachtet.

 

„Dan, wir müssen reden“, stellt er dann ernst fest.

 

Erst schaut er Dan an, dann folgt sein Blick zu mir.

 

„Unter vier Augen“, fügt er hinzu und verzieht seinen Mund zu einem Strich.

 

Irgendetwas geht hier vor. Über was wollen sie denn sprechen? Ich spüre den Blick von Dan auf mir. Bevor er noch etwas sagen kann stehe ich auf und winke abwehrend die Hand, als ich mich ins Schlafzimmer begebe. Demonstrativ laut schließe ich die Tür hinter mir. Doch so einfach werde ich mich nicht geschlagen geben. Blitzschnell lehne ich mich an die Tür und presse mein Ohr an das Holz.

 

„Also, was gibt’s?“, kommt es dumpf von Dan.

 

„Es geht um sie.“

 

„Was sollte mit ihr sein?“

 

„Du kannst mir nichts vor machen Dan.“

 

„Red nicht so viel und sag endlich, was du von mir willst.“

 

Er klingt nun etwas verärgert.

 

„Du empfindest etwas für sie“, zischt Danny wütend.

 

Kurz tritt Stille ein. Ich glaube mein Herz ist stehengeblieben. Auf die Antwort bin nun auch ich gespannt.

 

„Red kein Stuss.“

 

Ich spüre wie schlecht mir wird. Am liebsten hätte ich mich selbst geschlagen für meine Gedanken. Was habe ich mir denn gedacht? Dass er ihm jetzt sagt, dass er sich in mich verliebt hat? Er ist mein Entführer und hat wohl nur das Geschäftliche mit dem Nützlichen verbinden wollen.

 

„Das kannst du nicht mit ihr machen! Was glaubst du, in was für einer Gefahr sie stecken würde, wenn ihr beide zusammen sein würdet! Ich würde ihr einen Tag geben, dann wars das mit ihr und PENG!!!“

 

„Was geht dich das an!“, Dans Ton ist nun auch ungehaltener geworden.

 

„Du bist mein Bruder, du bist schon so in Gefahr.“

 

„Du bist nicht mehr mein Bruder“, zischt Dan. „Also halt dich zurück.“

 

„Hör mir zu, lass sie in Frieden. Sie hat was Besseres verdient.“

 

Das Gespräch gefällt mir ganz und gar nicht. Was Besseres? Was könnte besser sein, als dieser Kerl? Gut. Er ist in ein paar kriminelle Sachen verwickelt, aber ...GOTT Annie! Ich muss mit meinen Gedanken aufhören.

 

„Halt den Mund! Glaubst du, ich weiß das selbst nicht?“, brüllt Dan da auch schon und seufzt anschließend. „Ich werde es dir nur noch einmal sagen: Ich empfinde rein gar nichts für sie! -  Sie nervt! Ich habe sie nur entführt, zufrieden?“

 

Ich glaube mein Herz zerspringen zu hören. Die Tränen sind nicht mehr aufzuhalten. Ich habe genug gehört und verkrieche mich aufs Bett. Was habe ich mir denn gedacht? Dass er jetzt seine Liebe zu mir gestehen würde? Welche Liebe, Annie? Ich habe doch nicht wirklich geglaubt, dass dieser Kerl etwas für mich empfinden würde. Er hat vollkommen Recht. Er ist nur mein Entführer. Ich das kleine Schulmädchen, dass er notgedrungen nehmen musste. Er hat mich doch auch nur geküsst, weil er gerade Lust hatte. Es hatte nichts mit Gefühlen zu tun, höchstens mit Lust. Warum bin ich nur so naiv? Wer bin ich schon, dass gerade ich mich in sein Herz stehlen könnte?

 

Verdammt! Jetzt heule ich sogar. Das kann doch alles nicht wahr sein? Wo ist meine Mama? Peinlich berührt versuche ich mein Gesicht zu trocknen. Kurz atme ich drei Mal durch und fasse einen Entschluss. Schnell werfe ich mir die Perücke, einen Schal und eine Jacke über. Ich will so schnell wie möglich weg von hier. Nicht abhauen, das nicht. Schließlich halte ich meine Versprechen. Ich brauche einfach eine kurze Pause von der ganzen Geschichte, ich kann gerade nicht hier sein. Als ich mit der Perücke auf dem Kopf und der Jacke angezogen aus dem Zimmer trete, werde ich erst einmal von den Blicken der beiden Brüder durchlöchert, die sich weiterhin ein Wortgefecht der übelsten Sorte geliefert haben.


„Wohin?“, fragt mich Danny und nicht Dan.


„Lass sie gehen. Um sechs bist du wieder hier“, sagt Dan bestimmend, schaut mich dabei aber nicht einmal an.

 

In dem Moment bin ich ihm unendlich dankbar. In schnellen Schritten durchquere ich die Wohnung. Ein kurzer Blick auf die Uhr verrät mir, dass mir 4 Stunden Zeit gegönnt wurden. Ohne ein weiteres Wort trete ich auf den Gang und schließe die Tür hinter mir. Zufrieden, etwas mehr Raum von den Zweien zu haben, besonders von Dan, warte ich im Lift auf das rettende "Pling", das das Erdgeschoss ankündigt.

Kapitel 12

Ich entscheide mich zu einer Pizzeria in der Nähe zu laufen, da ich sowohl heute Morgen, als auch heute Mittag noch gar nichts zu mir genommen habe. Es dauert, bis ich eine Pizzeria gefunden habe, die entweder normal und nicht schäbig aussieht oder wo nicht viele Menschen sind. Als ich in “Luigi's Pizzeria“ eintrete, suche ich einen Platz weit hinten. Erleichtert über die Ruhe bestelle ich mir etwas besser gelaunt eine Schinken-Pizza und eine Cola, welche auch kurz darauf vor mir steht. Während ich auf die Pizza warte nippe ich an meiner Cola und beobachte die Leute im Restaurant. Genervt stelle ich fest, dass sich besonders viele Pärchen hier aufhalten. Die Hände ineinander verschlungen blicken sie sich glücklich und verträumt in die Augen. Ich verrolle meine Augen und wende meinen Blick schnell ab. Am liebsten würde ich sie jetzt alle vergiften. Diese blödsinnige Glückseligkeit und Verliebtheit.

 

Als die Pizza kommt ist mir der Appetit vergangen und ich kaue verdrossen darauf herum. Nachdem ich bezahlt habe drängt es mich weg von dieser ganzen Turtelei. Im Park ergeht es mir allerdings nicht besser. Gefühlte hundert Pärchen sind hier unterwegs und werfen sich diese lästigen Blicke zu. Was ist denn heute nur los? Valentinstag, oder was? Kurz überdenke ich: nee, es ist doch Herbst. Ich beobachte das Treiben um mich herum und sehe zeitweilen in Gedanken versunken in den Himmel.

 

Nach einiger Zeit setzt sich ausgerechnet ein Pärchen auf die Bank gegenüber von mir und fängt an wie verrückt miteinander zu knutschen. Wütend blicke ich zur Seite und stelle erschrocken fest, dass mich ein Mann beobachtet. Schnell versuche ich mich wieder zu fassen. Hoffentlich hat er mein Entsetzen nicht bemerkt. Wie lange habe ich das nicht mitbekommen? Unauffällig greife ich an meine Perücke, um sicherzugehen, dass sie nicht verrutscht ist. Mein Herz bleibt beinahe stehen, als der Mann sich in Bewegung setzt und auf mich zusteuert. Nervös zwinge ich mich woanders hinzusehen. Als er sich auf die Bank neben mir niederlässt, beginnt mein Herz immer schneller zu schlagen. Ich muss mich hier so schnell wie möglich vom Acker machen. Wie spät ist es überhaupt? Meine Armbanduhr zeigt kurz nach halb sechs an. Mist, wenn ich nicht vor sechs bei Dan bin, dann wird es Probleme geben!

 

Bedacht darauf möglichst gelassen zu wirken, stehe ich auf und trete den Weg aus dem Park an. Vorsichtig werfe ich an jeder Biegung einen Blick hinter mich und stelle dabei jedes Mal ängstlicher fest, dass der Mann mich weiterhin verfolgt. Als ich nur noch eine Straße von unserem Hotel entfernt bin und die Straße überqueren möchte, ist der Unbekannte nicht weit entfernt. Erschrocken schnappe ich nach Luft und in meinem Gehirn rattert es fürchterlich. Ich kann jetzt unmöglich zurück zum Hotel laufen, das wäre viel zu riskant. Mit schnellen Schritten entschließe ich in eine nahe gelegene Gasse zu biegen, um ihn irgendwie abwimmeln zu können. Doch plötzlich werde ich von dem Gehweg weggezogen und als ich um Hilfe schreien möchte presst sich eine große Hand unnachgiebig gegen meinen Mund. Panisch zapple ich herum und versuche mich zu befreien. Doch derjenige ist viel zu stark. Mittlerweile sind wir in eine weitere dunkle Gasse gekommen und ich werde unsanft gegen eine Hauswand gedrückt.

 

„Beruhig dich, ich bin’s doch!“, flüstert mir eine raue aufgebrachte Stimme entgegen.

 

Die Stimme erkenne ich sofort. Es ist Dan. Sofort werde ich ruhiger und horche meinem holpernden Herzschlag. Langsam zieht er seine Hände weg von meinem Gesicht und ich blicke ihn perplex an.

 

„Was machst du hier?“, spucke ich gereizt aus.

 

„Ich hab eine bessere Frage: was machst DU hier?“, sein Ton ist deutlich angesäuert.

 

„Naja, ich wollte gerade zurück zum Apartment laufen, als mich dieser Mann wieder verfolgt hat“, gebe ich gereizt zurück, meine Knie sind immer noch am Schlottern.

 

„Wieder?“seine Augenbrauen ziehen sich zu einem ernsten Strich zusammen.

 

„Ich glaube es ist der gleiche Mann von letztem Mal.“

 

Da mir immer noch sehr mulmig von der ganzen Aufregung ist verspüre ich gerade auch keinerlei Lust dieses Thema jetzt weiter auseinander zu nehmen. Offenbar ist er derselben Ansicht.

 

„Wir reden später weiter.“

 

Dann zieht er mich mit sich, allerdings nicht zum Hotel, sondern in eine völlig andere Richtung.

 

„Wie hast du mich überhaupt gefunden?“, frage ich verdutzt.

 

„Als ich dich gesucht habe und sah ich dich panisch vor etwas weglaufen, also schnappte ich nach dir“, erklärt er.

 

„Glaubst du der Mann hat mich erkannt? Ich meine ich trage doch eine Perücke?“, und deute unterstreichend auf dieses verhasste Ding.

 

„Er vermutet es bestimmt nur“, bringt er knapp entgegen.

 

Nach ein paar Abzweigungen kommen wir an einem Restaurant an.

 

„Du hast Hunger?“, frage ich, als er die Tür öffnet und wir hindurchtreten.

 

„Nein, ich dachte du hättest vielleicht. Egal, wir können sowieso noch nicht zurückgehen.“

 

Wir setzen uns an einen zweier Tisch und wie üblich, an diesem Tag, sitzen unzählige Pärchen Hand in Hand hier. Ich ziehe die Jacke aus und zupfe noch einmal prüfend die Perücke zurecht. In der Stille wird mir bewusst, was heute Morgen zwischen uns passiert ist. Wird das jetzt peinlich? Werden wir darüber sprechen? Oder wird er so tun, als wäre nichts geschehen? Aber eigentlich weiß ich schon was er sagen wird, genau dasselbe was er auch Danny gesagt hat. Er hat kein Interesse an mir. Aber will ich das wirklich aus seinem Mund hören? Möchte ich mir das wirklich antun?

 

„Dir steht schwarz“, sagt er plötzlich, als er sich mir gegenüber setzt.

 

„Wann ist Danny gegangen?“wechsele ich das Thema, da ich gerade nicht für scheinheilige Schleimerei aufgelegt bin.

 

„Keine Ahnung. Kurz nach dir.“

 

Er betrachtet die Karte, die die Kellnerin inzwischen gebracht hat.

 

„Über was habt ihr geredet?“, frage ich.

 

„Nichts Besonderes.“

 

Also wenn unser Gespräch weiter so läuft, dann würde ich mich doch lieber erschießen.

 

„Nichts besonderes, häh?“, erwidere ich nun genervter.

 

Er grinst mich mit seinem frechen Lächeln an und ungewollt schwebt mir ein heißer Schauer über den Rücken.

 

„Über das Geld“, antwortet er gelassen und schweift über die Speisekarte.

 

Und was ist mit mir? Will er so tun als hätten sie nicht über mich geredet?

 

„Wieso hast du mir nicht gesagt, dass ihr Brüder seid?“

 

Scheiß auf das Geld, ich will jetzt die ganze Wahrheit wissen! Was sollte diese ganze Geheimnistuerei? Und was verbirgt er noch vor mir?

 

„Musste ich es dir sagen?“, kommt es wegwerfend.

 

Autsch. Mit dieser Antwort hätte ich rechnen sollen.

 

„Du bist so ein arrogantes Arschloch, weißt du das? Ich hab dir auch die Wahrheit erzählt!“

 

Meine Stimme wird schwach, ich blicke ihn verächtlich an und spüre, dass mir die Tränen hochsteigen. Verkrampft kämpfe ich dagegen an. Mein Name ist Annie Jenkins und ich bin kein Weichei!

 

„Ich habe dir vertraut und habe dir meine Geschichte erzählt. Die ganze Geschichte von meinem Vater ist dir bekannt. Nicht einmal Miriam weiß davon. Aber von dir  weiß ich immer noch nichts. Mir kommt es so vor, als würde nur ich die ganze Zeit reden und du hättest sogar Angst mir deine Lieblingsfarbe zu sagen“, zische ich empört über den Tisch.

 

Ich mache Anstalten aufzustehen und meine Jacke zu schnappen, doch Dan greift nach mir und hält mich fest.

 

„Bitte bleib“, flüstert er leise und sein Blick bohrt sich in meinen.

 

Dann schaut er weg, lässt mich aber nicht los. Also setze ich mich wieder hin. Er blickt wieder zu mir und eine Ernsthaftigkeit, wie ich sie noch nicht in seinem Gesicht gesehen habe, zeigt sich plötzlich.

 

„Ich schätze deine Ehrlichkeit Annie“, bringt er heraus. „Aber ich kann nicht so einfach darüber reden.“

 

Sein Blick schweift wieder ab und verliert sich in der Ferne. Auf seiner Stirn bilden sich Falten.

 

„Ich bin geduldig“, sage ich sanft und warte bis er wieder anfängt zu reden.

 

Er nickt nur, dann sammelt er seine Worte. Ich sehe wie sich seine Fäuste auf dem Tisch kurz zusammenballen. Reflexartig nehme ich seine eine Hand in meine. Er schaut kurz auf, dann wieder auf den Tisch. Letztendlich beginnt er zu erzählen.

 

„Kurz nachdem meine Mutter starb, hatte mein Vater sich nicht mehr unter Kontrolle. Er war in tiefer Trauer, fühlte sich schuldig und konnte uns erst recht nicht anblicken, da wir unserer Mutter so ähnlich sehen. In seiner Trostlosigkeit griff er leider zur Flasche und ertrank seine Trauer. Ich selbst war da gerade einmal vier Jahre alt. Je älter ich wurde, desto mehr verlor mein Vater durch den Alkohol seinen Verstand. Sein ganzes Wesen hatte sich vollkommen verändert. Da war nichts mehr übrig von dem liebenden Vater und Ehemann meiner Mutter. Als Danny 18 war, hat er seine Sachen gepackt und ist in einer Nacht- und Nebelaktion ausgezogen. Er hat den Druck mit unserem Vater nicht mehr ausgehalten und mich mit meinen 15 Jahren einfach alleine bei ihm gelassen. Tja, das war dann...wie soll ich sagen?“, er grübelt kurz, um nach den passenden Worten zu suchen.

 

„Scheiße. Einfach nur die Hölle“, schließt er, ich ziehe erschrocken die Augenbrauen nach oben.


„Früher konnte man die Beziehung mit ihm noch als friedlich bezeichnen. Als er nur ab und zu trank und uns dadurch manchmal nicht erkannte. Er brachte es teilweise nicht zu Stande unsere Namen zu nennen. Doch als Danny schließlich auszog, wurde Dad richtig aggressiv. Er fing an sich mit mir zu prügeln, ohne jeglichen Grund. Warf seine Flaschen nach mir, schrie und brüllte wie ein Verrückter. Meine Kindheit war seit dem Tod meiner Mutter zu Ende. Ich habe kaum noch Erinnerung an meine Mutter, genauso erinnere ich mich mehr an die Streitigkeiten mit meinem Vater als die guten Geschehnisse. Hauptsächlich ist mir nur das problematische Verhältnis zu meinem Vater in Erinnerung geblieben und das Weichei, das sich mein Bruder nennt“, setzt er fort und verzieht verbittert sein Gesicht.

 

Ich fühle mich sprachlos. Es ist toll, dass er mir endlich etwas von sich erzählt, doch ich wünschte es wäre etwas Erfreulicheres gewesen. Dan hatte eine schreckliche Kindheit, er tut mir wirklich leid. Während ich meinen Vater nicht kenne, hat er die schlechte Seite von ihm kennengelernt.


„Darum kannst du Danny nicht ausstehen“, schlussfolgere ich. „Weil er dich alleine mit ihm gelassen hat.“


Komisch. Ich hatte eigentlich den Eindruck gehabt, dass sie gut miteinander auskommen würden. In der Bar hatten sie sich doch schließlich auch umarmt. Vielleicht war das wirklich nur zur Höflichkeit und Tarnung. Eine kleine, vielleicht zu banale Frage schwirrte noch in meinem Kopf, welche ich wirklich noch loswerden wollte.


„Entschuldige, es mag vielleicht unhöflich klingen, da es nicht ganz zur Thematik passt, aber wieso gab euch eure Mutter solch ähnlich klingende Namen? Dan und Danny?“

 

„Wir hießen früher eigentlich ganz anders. Unser Vater gab uns die Namen, da er sich nur diese einigermaßen merken konnte. Und nach so langer Zeit gewöhnten wir uns daran.“

 

„Mhm“, mehr fiel mir im Augenblick nicht ein.

 

Erst einmal musste ich über all das nachdenken. So viel Schlimmes was ihm in seinem Leben bisher widerfahren ist. Das kann ich gar nicht nachvollziehen. Meine Mutter ist dagegen ein Engel. Und die Sache mit meinem Vater nicht mal annähernd nennenswert. Er hatte einen und der war grausam. Nach ein paar Minuten Stille in der jeder seinen Gedanken hinterher hing, brach ich das Schweigen.


„Wie geht es dir?“, frage ich vorsichtig, in der Hoffnung nicht das Falsche zu sagen.

 

Ein kleines Lächeln huscht über seine Lippen, als er mir in die Augen sieht und zu einer Antwort ansetzt.

 

„Gut“, versichert er mir und nickt bestätigend.


Als die Kellnerin kommt, nehme ich vorsichtig meine Hand von Dans weg und blicke schüchtern auf die Tischdecke. Es ist schwer zu erklären, warum mir das etwas peinlich war. Ich habe schon ein paar Freunde gehabt, aber ich habe nie so etwas starkes Kribbelndes empfunden. Darum ist es auch nicht so leicht die Hand in Dans zu lassen. Ich habe das Gefühl, dass mein Herz bald bis zum Hals schlägt und womöglich noch herausspringen könnte. Und die Erinnerung an das von heute Morgen macht die Situation auch nicht besser.


„Was kann ich Ihnen bringen?“, fragt die Kellnerin Dan.

 

Und siehe da, sie macht ihm schöne Augen, wie sollte es auch anders sein. Am liebsten würde ich ihr die Augen auskratzen. In meiner Vorstellung würde das ganze hier jetzt wie in jedem Schnulzenroman ablaufen: Sie versucht seine Aufmerksamkeit zu bekommen, während er nur mich anstarrt. Aber falsch geträumt. Er blickt der blöden Wasserstoffblondine natürlich direkt in die Augen und sie erwidert seinen Blick daraufhin mit einem fantastischen Zahnpasta lächeln und unglaublich erröteten Wangen.


„Ich habe keinen Hunger“, sagt er ruhig und wirft anschließend einen Blick auf mich.

 

Verbittert kaue ich auf meiner Wangeninnenseite. Arschloch.


„Ich hätte gern eine Cola“, bringe ich letztendlich raus.

 

Sie beäugt mich von Kopf bis Fuß äußerst kritisch und notiert meinen Wunsch. Dabei verzieht sie naserümpfend das Gesicht. Das ist ja wohl unglaublich. Genervt entschließe ich mich was zu ihrem unverschämten Verhalten zu sagen.

 

„Haben Sie ein Problem mit mir?“, maule ich sie an und verziehe meine Augenbraue ebenso, wie sie es gerade noch getan hat.


„Nein“, sagt sie überrumpelt.

 

Dann dreht sie sich um und verschwindet vor zur Bar. Ich blicke ihr noch stinkig hinter her, bis ich sie nicht mehr sehen kann. Natürlich muss ich der Blondine zustimmen, dass ich nicht ganz restauranttauglich gekleidet bin, schon allein wegen der billigen Perücke, aber der Gast sollte normalerweise der König sein.


„Alles klar?“, fragt Dan mich sehr erheitert über das soeben Geschehene.


„Ja natürlich, wieso?“, bringe ich spitz heraus und meide seinen Blick.

 

„Weil du die arme Kellnerin fast zum Heulen gebracht hast mit deinem Killerblick“, sagt er und grinst.

 

Ich finde das ganz und gar nicht witzig, schließlich war sie sehr unverschämt zu mir.


„Was? Hätte ich sie so anschauen sollen wie du?“, frage ich herablassend und verschränke schützend meine Arme vor mich.


„Ach, wie habe ich sie denn angeschaut?“

 

Jetzt wird er auch stinkig, lehnt sich zurück und verschränkt ebenfalls herausfordernd seine Arme. Kurz verwandle ich meinen zornigen Blick in einen schmachtenden, wie er ihn ihr zuvor entgegen gebracht hat. Natürlich bemühe ich mich zu sehr und übertreibe, aber das ist mir egal.


„Den Blick kenne ich doch woher“, lacht er dann auf und ich blicke ihn nur fragend an.


„So hast du doch heute meinen Bruder angestarrt“, seine Augen werden schmaler und sein Lachen verstummt wieder.

 

„Oder habe ich mich da etwa getäuscht?“, fragt er eindringlich und wackelt wieder einmal mit seinen Augenbrauen.


„Ich habe mich nicht an deinen Bruder rangemacht“, verteidige ich mich.

 

Er will schon protestierend antworten, aber da kommt die Kellnerin schon mit meiner Cola auch. Dieses Mal schert er sich nicht um sie und heftet seine Augen weiterhin auf mich.


„Kann ich Ihnen noch etwas bringen?“, fragt sie stupide und klatscht mir die Cola förmlich auf den Tisch.


Hoffnungsvoll wirft sie Dan ein unwiderstehliches Lächeln zu, doch dieser schaut immer noch nur mich an.


„Sie können gehen“, bringt er etwas zu unhöflich heraus.

 

Sie dampft beleidigt ab. Ich versuche vom ursprünglichen Gespräch abzulenken.


„Ich verstehe dich nicht“, setze ich an.

 

„Zuerst lächelst du die Kleine an, als wäre sie die einzige hier und danach wirst du so unhöflich. Meinst du nicht, dass du ihr damit das Herz gebrochen hast?“, frage ich gespielt empört.


„Na und jetzt?“

 

Meint er das ernst? Vielleicht habe ich mich ja überhört und es klang nicht so gleichgültig. Aber als ich sein Gesicht ansehe, merke ich, dass ich alles richtig gehört habe.


„Wie vielen hast du schon das Herz gebrochen ohne es zu merken?“


„Man kann keinem Menschen das Herz brechen“, korrigiert er mich belehrend.

 

„Du weißt ganz genau wie ich das meine.“

 

„Ich hatte noch nie eine Beziehung, Annie. Also habe ich auch niemand bisher das Herz gebrochen.“

 

Tadelnd schaue ich ihn an und denke dabei an die Tussi, die er zu Besuch hatte. Er hat womöglich meinen Gedankengang erraten und setzt zu einer Rechtfertigung an.

„Ich habe nie jemanden gezwungen mit mir zu schlafen, sie sind von selbst gekommen. Also schau mich nicht so entsetzt an. Die Mädels, die mich heulend angerufen haben, sind selbst daran schuld. Ich habe ihnen von Anfang an klar gemacht, dass das nur eine Affäre wird, wie offensichtlicher kann man es denn noch machen? Ich habe nie etwas versprochen, nie eine Beziehung in Aussicht gestellt!“

 

Kann mir irgendein Schwein mal sagen, wieso sich das gerade wie ein Tritt in die Eier angefühlt hat? Wütend beginne ich wieder auf meiner Wangeninnenseite zu kauen. Er will keine Beziehung? Ich auch nicht! Quatsch was denke ich da, ich will doch gar nichts von ihm! Irgendwie wird mir bei diesem Gespräch ganz schlecht. Ein blöder großer Klumpen hat sich in meinem Magen gebildet und krampft gerade alles zusammen. Kurz schnipse ich mit meinen Fingern, sodass die Wasserstoffblondine wieder kommt. Mittlerweile sieht sie schon wieder etwas freundlicher aus.


„Ich habe mich anders entschieden, ich hätte doch noch gerne etwas zu essen. Haben Sie vielleicht eine ganz normale Pizza Margarita?“, frage ich höflich und ignoriere Dans verwirrten Gesichtsausdruck.


Stop, ich habe doch heute schon Pizza gegessen!


„Nein, warten Sie! Ich hätte doch lieber einfach eine Pasta.“

 

Sie blickt mich verwirrt an, dann wechselt sie hinüber zu Dan, dieser blickt mich wiederum weiter unruhig an als würde er sich Sorgen machen.


„Holen Sie noch normales Leitungswasser, ich glaube meiner Freundin geht es nicht so gut“ , meint er dann plötzlich und wirft mich damit komplett aus der Bahn.

 

Er betont sogar besonders das Wort “Freundin“ und grinst die Kellnerin frech an. Mal wieder beleidigt dreht sie sich um und läuft zurück zur Küche. Er hat mich seine Freundin genannt! Ich hätte jetzt am liebsten losgeschrien und wäre wild durch das Restaurant gerannt. Was ist denn nun passiert?


„Pizza aber dann doch Pasta? Alles in Ordnung mit dir?“, fragt er etwas belustigt über mein Erstaunen.

 

Macht er sich etwa Sorgen um mich?


„Ich habe heute Mittag schon Pizza gegessen“, erkläre ich trocken und versuche mir nichts weiter anmerken zu lassen, doch innerlich schmeißt mein Herz gerade eine Party.

 

„Alleine?“

 

Höre ich da Eifersucht? Gut, dann steigen wir mal auf das Spiel ein.


„Nein mit meinem Freund“, meine ich ironisch und setze ein freches Grinsen auf.


„Name und Adresse?“

 

Ich hatte es jetzt eigentlich als Scherz gesehen, würde er mich nicht so ernst anschauen. Also lache ich gespielt, nicht sicher ob er gerade ernst macht.


„Wozu?“

 

Ich finde das äußerst komisch, da er tatsächlich eifersüchtig zu sein scheint.

 

„Du fragst wozu? Nenn mir seinen Namen und seine Adresse, dann sag ich dir wozu“, lacht er nun auch finster und funkelt mich verschwörerisch an.


Jetzt muss ich doch nervös lächeln und er beginnt darüber so zu feixen, dass er in ein lautes schallendes Lachen fällt. Ich habe ihn noch nie so Lachen gehört und ich hätte nie gedacht, dass es so fröhlich klingen würde!


„Tom Koch“, sage ich dann plötzlich, als die Kellnerin kommt und das Wasser vor meine Nase hinknallt.


„Bist du dir sicher, dass ich es dir sagen soll?“, grinst er, als die Kellnerin verschwindet.


„Er ist sowieso nur mein Ex Freund, also sag!“, meine ich mit einer wegwerfenden Handbewegung.

 
„Wie lange wart ihr zusammen?“fragt er dann interessiert.


„Einen Monat, glaube ich“, überlege ich kurz und nippe anschließend an meinem Wasser.


„Nachdem ich herausgefunden habe wo er wohnt, kaufe ich ihm eine Herzlichen- Glückwunsch-Karte und gratuliere ihm, dass er es einen Monat mit dir überstanden hat“, zwinkert er mir zu.

 

So ein Schwein! Eingeschnappt hole ich Luft und spieße ihn mit meinem Todesblick förmlich auf. In meinem Hirn spinnt sich schon ein Racheplan zusammen, für diesen blöden Witz. Als wäre ich eine Furie.


„Entschuldige dich und ich hol dir ein Handtuch“, lächle ich geheimnisvoll und umgreife unauffällig etwas fester mein Wasserglas.


„Wozu ein Handtuch?“


„Zu spät“, kommt es da von mir und ZACK!

 

Kurz schwenke ich mein Glas in meine Richtung, um Schwung zu holen, und kippe ihm dann das ganze Glas entgegen. Völlig überrumpelt springt er mit seinem Stuhl etwas zurück und schaut mich mit nassem Gesicht entsetzt an. Alle Gäste im Restaurant starren uns an, die einen Grinsen die anderen schauen nur empört. Dann verwandelt sich sein Gesichtsausdruck in Erheiterung und er schnappt sich eine Serviette vom Tisch, trocknet sich sein Gesicht und antwortet.


„Ich hab noch nie ein Mädchen kennengelernt, das sich das getraut hat“, sagt er erstaunt.


Seine Haare sind zwar noch etwas nass, aber das ist ja nicht tragisch. Er hat Glück, dass ich nicht die Cola genommen habe!


„Also?“, frage ich auffordernd.


„Also was?“


„Eine Entschuldigung! Das war echt gemein von dir, was du da gesagt hast!“

 

Ich nehme das Cola Glas in die Hand. Er blickt mich mit großen Augen an. Schnell legt er seine Hand auf meine, um mich daran zu hindern. Ich lache nur kurz auf.


„Darf ich nicht einmal was trinken?“, bemerke ich echauffiert.


„Bei dir kann man nicht so genau wissen.“

 

Dann lässt er leider wieder los und lehnt sich entspannt zurück.

 

„Es tut mir Leid, es war echt nicht nett was ich da gesagt habe“, entschuldigt er sich, ich lächele ihn dankbar an, da es aufrichtig klingt.


„Darf ich wissen, wieso ihr nicht mehr zusammen seid?“


„Er hat mich betrogen“, flüstere ich beschämt und bemerke wie sich sein Kiefer zusammenspannt.


Auch wenn ich Tom nicht geliebt habe, fühlt es sich trotzdem scheiße an, wenn man hört, dass ich tatsächlich betrogen wurde. Ich habe in unserer Beziehung nichts falsch gemacht, außer halt, dass ich mich nicht sofort flach legen lassen wollte. Gut, ich bin 18 Jahre und es wird langsam Zeit seine Jungfräulichkeit zu verlieren, aber bei dieser Sache bin ich eben sehr ernst. Ich will nicht von irgendeinem Typen den ich nicht mal wirklich liebe entjungfert werden! Das ist echt ein No-Go für mich. Plötzlich spüre ich seine Hand wieder auf meiner, wehe er macht sie jetzt weg!


„Hat er dir das Herz gebrochen?“, er blickt mich liebevoll an.


Mist! Wieso schaut er mich so an?! Zum dahin schmelzen…

 

„Man kann kein Herz brechen“, erinnere ich ihn, er verdreht die Augen.


„Mir hat noch nie ein Typ das Herz gebrochen“, beantworte ich schließlich seine Frage.


„Ich hatte nicht so starke Gefühle für ihn, also hat es auch nicht so weh getan“, erkläre ich, er runzelt die Stirn.


„Wieso warst du dann mit ihm zusammen, wenn du nichts für ihn empfunden hast?“, er blickt mich fragend an.

 

„Er hat mir gefallen, vielleicht war ich ein wenig verknallt. In manchen Beziehungen ist es eben so, dass du mit jemand zusammenkommst, den du gern hast. Aber du liebst ihn noch nicht. Ich habe einfach irgendwie gedacht, dass ich vielleicht irgendwann zu diesem Punkt kommen würde, wo ich sage, dass ich ihn liebe. Zum Glück ist das nicht passiert“, beende ich meine Erzählung.


„Wie fühlt es sich an, wenn man verliebt ist?“, fragt er mich, blickt mich aber nicht an, er scheint in Gedanken zu sein.

 

Ich überlege kurz und denke über die letzten Tage nach, in denen ich mich so merkwürdig gefühlt und benommen habe.


„Ich glaube...ich glaube du siehst diese Person an und siehst keine Fehler an ihr. Es ist fast so als wäre sie perfekt für einen. Dann hast du Angst, wenn du daran denkst, dass sie womöglich nicht dasselbe für dich empfinden könnte. Blickst du ihr in die Augen, dann verlierst du dich in ihnen. Man hat so ein komisches Gefühl in der Magengegend. Diese bekannten Schmetterlinge im Bauch. Dein Herz fängt beim Anblick dieser Person immer so stark zu hämmern an, dass du denkst, dass es dir herausspringt. Es schlägt sogar so wild, dass du Angst bekommst, dass es aufhören könnte zu schlagen. Du hast keinen Appetit und bist satt von der Liebe“, ich hatte ohne Luft zu holen geredet und wahrscheinlich auch sehr schnulzig, er allerdings hat mir ruhig und aufmerksam in die Augen gesehen und zugehört.

 

„Wenn du das fühlst, dann bist du verliebt?“, fragt er perplex.


„Nein, dann liebst du die Person wohl eher schon.“

 

Ich blicke geschockt weg, da ich mir gerade eingestanden habe, dass ich echte und starke Gefühle für Dan habe. Jetzt ist es wohl amtlich. Shit, shit, shit! Was habe ich da bloß erzählt! Um irgendwie das Thema zu wechseln, blicke ich auf die Uhr, die an der Wand hängt.


„Es ist schon ziemlich spät, findest du nicht?“, wechsele ich das Thema.


„Du bist schon müde? Du hast aber noch nicht einmal gegessen“, fragt er, obwohl es bereits neun Uhr ist.


„Sie können es uns ja einpacken lassen“, sage ich flüchtig.

 

Sofort steht er auf und läuft zur Theke um zu bezahlen. Toll und bei wem bezahlt er? Na klar, der Wasserstoffblondine! Schnell schnappe ich mir meine und seine Jacke und laufe ihm hinterher.


„Und das Essen?“, fragte sie ihn freundlich.

 

„Könnten Sie es bitte einpacken lassen?“, fragt er sie in einem schmeichelnden Ton.

 

Sie überlegt kurz und überschaut die Bestellungen, als Dan sie aber anlächelt nickt sie sofort. Unglaublich. Irgendwie kommt mir da das Bild von einem Hund in den Sinn, dem man gerade ein Leckerchen gegeben hat. Blondie nimmt die Kreditkarte von Dan entgegen und nach ein paar Sekunden gibt sie sie ihm wieder zurück.


„Sie müssen nur noch hier unterschreiben.“


Habe ich mich gerade versehen oder liegt unter dem Kassenzettel ein kleiner Zettel mit einer Telefonnummer?


„Hier.“

 

Er unterschreibt mit einer komischen Unterschrift und übergibt die Quittung dann wieder der Kellnerin. Diese wird daraufhin so rot wie eine Tomate, da wir beide ihre Telefonnummer kritisch anstarren, die auf dem Tisch zurückgeblieben ist. Daraufhin drehen wir uns um, Dan nimmt mich in seine Arme und wirft der Kellnerin einen genervten Blick entgegen.


„Habe ich denn nicht schon offensichtlich genug gezeigt, dass sie meine Freundin ist?“, fragt er die Kellnerin dunkel.

 

„Entschuldigung! Ich hole schnell Ihre Bestellung“, sagt sie flüchtig und trampelt zur Küche.

 

Als sie mit einer Tüte zurückkommt, in der wohl meine Pasta liegt, übergibt sie es schnell Dan und blickt daraufhin zu Boden. Ich kann nicht leugnen, dass mir Dans Reaktion gefallen hat. Nun fühle ich mich sogar total wohl und lebendig. Als wir aus dem Restaurant laufen kann ich meine gute Laune kaum verstecken.


„Dan der Herzensbrecher“, lache ich als wir auf die Straße treten.

 

„Ich sah einfach keine Zukunft für uns zwei“, meint er mit einer schlechten schauspielerischen Stimme und lässt mich wieder los.

 

Enttäuscht stöhne ich innerlich. Er hätte mich auch ruhig etwas länger in den Armen halten können… Auf dem Weg zum Hotel zurück unterhalten wir uns nicht mehr, sondern halten dauernd Ausschau nach dem Mann, der mich heute Nachmittag verfolgt hatte. Ich habe Dan genaustens informiert wie er aussah und wie groß er war. Als wir am Hotel ankommen, atme ich erfreut aus, da wir ihm nicht noch einmal über den Weg gelaufen sind.

 

„Wir hatten Glück, dass er uns aus den Augen verloren hatte“, meint Dan vor dem Fahrstuhl.

 

Der Aufzug öffnet sich und wir treten ein.

 

„Was glaubst du, wer er war?“, frage ich, nachdem sich die Türen geschlossen haben, doch er zuckt nur mit den Schultern.


„Vielleicht ein Polizist.“


„Würde ein Polizist sich so kleiden?“, frage ich ihn als er die Tür zu seiner Wohnung öffnet.

 

Der Mann trug einen Mantel, einen Hut und eine schwarze Brille und er sah eher aus wie ein Detektiv und nicht wie ein Polizist.

 

„Keine Ahnung“, er wirft seine Jacke aufs Sofa.

 

„Geh du zuerst ins Bad“, ruft er auf dem Weg zur Küche.

 

Also schlendere ich gemütlich ins Badezimmer und schlüpfe aus meinen Klamotten. Ich dusche, putze mir die Zähne und kämme meine Haare kurz durch. Mir fällt auf, dass wir tatsächlich nicht über den Kuss und über das geredet haben, was beinahe passiert wäre. Ich muss wissen, wie er darüber denkt. Auch wenn es ihm wahrscheinlich viel weniger bedeutet hat als mir. Also öffne ich die Tür, doch da Dan dort nicht zu sichten ist, nehme ich an, dass er bereits im Bett liegt.

 

„Ich bin fertig“, sage ich, als ich ins Schlafzimmer marschiere.

 

„Freut mich“, er klingt etwas genervt und liegt breit auf seinem Bett.

 

„Sag mal, willst du mir jetzt verraten über was ihr noch so geredet habt? Ich durfte ja nicht zuhören“, frage ich interessiert und kuschle mich neben ihn unter die Decke.

 

„Nichts Besonderes“, antwortet er mit geschlossenen Augen, die Arme hinter den Kopf verschränkt.

 

Ouuu er ist mal wieder sehr gesprächig, stelle ich fest. Doch so leicht gebe ich nicht auf!

 

„Wieso willst du es mir nicht sagen? Wir sind sozusagen Partner, da musst du mir deine Geheimnisse erzählen“, versuche ich es aus ihm heraus zu bekommen.

 

Das mit dem Partner stimmt auf jeden Fall, ohne mich platzt das ganze Geschäft er bekommt das ganze Geld nicht. Also ist er sozusagen von mir abhängig. Dann habe ich doch gewisse Rechte über Situationen aufgeklärt zu werden.

 

„Muss ich nicht.“

 

Wie nett! Genervt setze ich mich auf, nehme mein Kissen in die Hand und schlage es ihm aufs Gesicht.

 

„Annie!“, knurrt er und öffnet verärgert seine Augen.

 

„Dan“, sage ich mit einer dunklen Stimme und ziehe seinen Namen damit lang.

 

Sofort schlage ich ihn noch einmal mit dem Kissen auf den Kopf. Plötzlich springt er auf, schnappt sich das Kissen, wirft es in die nächstbeste Ecke und umklammert meine Hände. Er zieht sie nach oben über meinen Kopf und setzt sich halb auf mich, so dass ich nicht zerquetscht werde. Keine Ahnung, wie er das gemacht hat, aber er hat mich vollkommen überrumpelt.

 

„Was ist dein Problem?“, zischt er genervt.

 

„Du erzählst mir nichts und wir haben noch kein Wort über heute Morgen gewechselt!“, sage ich aufgebracht unter ihm.

 

„Ich finde ich habe dir heute schon genug von mir erzählt und was das andere angeht, wüsste ich nicht, über was wir reden könnten.“

 

„Ja, das schätze ich auch. Aber ich weiß, dass das nicht euer einziger Gesprächsstoff war, UND es gibt einiges über was wir reden könnten du verdammter Eisblock!“, spucke ich ihm entgegen.

 

„Eisblock? Dein ernst? Sind das die einzigen Schimpfwörter die du kennst?“, fragt er belustigt.

 

„Du glaubst doch nicht wirklich, dass du das Thema wechseln kannst, indem du dich über mich lustig machst, oder?“

 

„Ein Versuch war es wert“, meint er und lässt von mir ab, indem er sich neben mich legt.

 

„Wieso weigerst du dich, immer so mir etwas zu erzählen. Egal ob wegen deiner Vergangenheit, der Entführung oder deinen Gedanken“, zähle ich unsicher auf.

 

„Was bringt es dir, wenn du mehr über mich erfährst?“, fragt er und ich spüre förmlich, wie er die Stirn runzelt.

 

„Ich lerne dich kennen“, gebe ich kleinlaut zu.

 

„Aber wieso willst du das denn Annie?“, fragt er verärgert. „Ich habe dich entführt, dich aus deinem Leben gerissen! Du solltest mich hassen und nicht mich küssen.“

 

Am Ende des Satzes wurde er leise und klingt selbst unsicher. Ich fühle mich wie betäubt, da er genau das gefragt hat, worauf ich selbst keine Antwort habe. Eine Zeit lang bleiben wir einfach so liegen, ohne etwas zu sagen. Ich überlege währenddessen nach angemessenen Sätzen.

 

„Ich glaube nicht, dass du zu diesen gewalttätigen Entführern gehörst, sonst hättest du mir schon von Anfang an etwas angetan“, erkläre ich und denke weiter nach. „Ist es so abwegig von mir den Gedanken zu haben, du wärst eigentlich ein ganz normaler netter Kerl? Macht mich das gleich zu einem naiven Dummchen?“, flüstere ich.

 

Dann drehe ich mich auf meine Schulter und blicke ihn auffordernd und ernst an.

 

„Dan, schau mich an“, bitte ich ihn. „Ich bin mir so sicher, dass sich hinter dieser ganzen Geschichte eine Erklärung versteckt, wieso du mich entführt hast. Du bist kein Bösewicht, kein Monster. Darum möchte ich mehr wissen, um endlich eine Antwort auf meine Ahnung zu bekommen.“

 

Als er mich angeschaut hat, sah ich das erste Mal etwas Zerbrechliches an ihm. Es ist schwer für ihn, mir Vertrauen zu schenken. Die Luft scheint schwer zu sein, niemand von uns kann sich regen, wir blicken uns nur in die Augen.

 

„Es gibt eine Erklärung, aber dafür ist es noch zu früh“, sagt er schwer atmend und setzt sich auf.

 

Bevor er jedoch vom Bett aufstehen kann, greife ich nach seiner Hand und halte ihn davon ab, wegzulaufen.

 

„Dieser Kuss“, flüstere ich und habe Angst den nächsten Satz nicht herauszubekommen. „Hat er dir etwas bedeutet oder nicht? Du kannst mir die Wahrheit sagen, ich bin nicht so schwach wie du mich vielleicht hältst.“

 

Ich spüre wie meine Hand ganz leicht zittert und meine Augen etwas feucht werden. Auf keinen Fall werde ich weinen, eher sterbe ich. Alles was ich brauche ist eine Antwort. Er hingegen schaut unschlüssig zu Boden. Sofort nehme ich meine Hand weg, meiner Meinung nach war der Blick Antwort genug.

 

Plötzlich bückt er sich aber zu mir nach unten und blickt mir mit einem Lächeln in den Augen. Und bevor ich noch weiter nachdenken kann, gibt er mir einen Kuss auf die Lippen. Der Kuss dauert nur Sekunden, doch umso schöner ist er für mich. Als er von mir ablässt, steht er wieder auf, dreht mir den Rücken zu und verschwindet ohne Worte aus dem Zimmer.

Kapitel 13

 

Ich laufe eine Straße entlang. Es ist nachts und keine Menschenseele ist zu sehen, außer mir. Der Weg scheint endlos lange zu sein und ich schaffe es nicht, stehen zu bleiben. Die ganze Zeit geht es nur geradeaus. Nach und nach wird mir klar, wohin ich laufe. Es scheint als würde ich mich stückweise daran erinnern: Ich gehe zu Dan. Ich weiß, dass am Ende meines Weges Dan auf mich warten wird, also laufe ich schneller. Plötzlich sehe ich jemand auf der anderen Straßenseite stehen. Ich brauche nur einmal hinzusehen und erkenne sofort meine Mutter. Voller Schock sie hier zu sehen, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Ausdruckslos und ohne sich zu bewegen, sieht sie mich an. Ich bringe kein Wort über meine Lippen, die ganze Zeit habe ich nur den Gedanken im Kopf, dass Dan auf mich wartet. Ich spüre die Unsicherheit in mir aufkommen. Wohin soll ich gehen? Zu meiner Mutter, die mich vermisst? Oder zu Dan, der auf mich wartet? Traurig wende ich mich von ihr ab und laufe weiter, als hätte ich sie nie dort stehen sehen. Als ich mich irgendwann umdrehe, steht niemand mehr dort.

 

Als ich von meinem Traum erwache, hängt der Duft von Speck in der Luft. Vermutlich macht Dan etwas zum Frühstück. Trotzdem bleibe ich noch eine Weile im Bett liegen und denke über meinen Traum nach.

 

Bin ich eine schlechte Tochter, weil ich zu einem Mann gelaufen bin, der im Übrigen mein Entführer ist und nicht zu meiner Mutter? Macht mich das zu einem schlechten oder gar unverständlichen Menschen? Ich kann mir nicht vorstellen, was mir mein Unterbewusstsein damit sagen will. Aber ich habe längst eingesehen, dass ich Dan nicht mehr als normalen Typ sehe, sondern mich tatsächlich in ihn verliebt habe. Ich kann es nicht leugnen, dass er mir etwas bedeutet und ich vermutlich unglücklich darüber wäre, wenn ich ihn nicht mehr sehen könnte.

 

Dieser Gedanke lässt mich noch mehr erschauern, denn darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Was passiert, wenn er fertig mit mir ist? Werde ich ihn nie wieder sehen? Aber die Frage lässt sich schon von selbst beantworten, da es nicht üblich ist, dass der Entführer nach seiner Aktion noch Kontakt mit seinem Opfer hat. In was habe ich mich da bloß hineingeritten? Es wird so oder so übel enden, mit dem Gedanken sollte ich mich schon einmal anfreunden.

 

Nach einiger Zeit entscheide ich aufzustehen, mach das Bett zurecht und öffne die Tür. Der Duft von Speck und Eier wird nun noch deutlicher und ich spüre sofort, dass ich hunger habe. Dan scheint mich noch nicht gehört zu haben, denn er blickt ungerührt auf sein Handy und scheint etwas durchzulesen.

 

„Guten Morgen“, begrüße ich ihn und werde ganz schüchtern, als ich mich an gestern erinnere.

 

Als ich gefragt habe, ob ihm der Kuss etwas bedeutet hat, schien er keine Antwort darauf zu haben. Dann küsste er mich aber plötzlich und verließ ohne etwas zu sagen das Zimmer. Was soll ich davon halten und was soll das nun bedeuten?

 

„Morgen“, sagt er überrascht.

 

Vermutlich hat er nicht damit gerechnet, mich schon so früh auf zu sehen. Schließlich räuspert er sich und schiebt sein Handy in die Hosentasche.

 

„Hast du hunger?“, fragt er und ich nicke.

 

„Wie hast du geschlafen?“, fragt er mich, als er das Essen auf einen Teller legt.

 

„Ganz in Ordnung, und du?“

 

„Abgesehen davon, dass das Sofa bei jeder Bewegung gequietscht hat und unbequem war, gut“, sagt er ironisch.

 

Während ich mit der Gabel das Essen in meinen Mund schiebe, tippt Dan wieder auf den Tasten seines Handys herum. Augenblicklich frage ich mich, wem er da schreibt. Doch das geht mich wohl wieder nichts an. Also sitze ich einfach auf dem Stuhl und esse stumm das Frühstück.

 

„Ich muss gleich wieder gehen“, sagt er nach einer Weile und steckt das Handy wieder in seine Hosentasche.

 

„Wohin geht das Abenteuer?“, frage ich ohne eine richtige Antwort zu erwarten.

 

„Danny.“

 

Überrascht, dass er mir tatsächlich eine Antwort gibt, bleibt mir ein Pfefferkorn im Hals stecken, sodass ich panisch anfange zu husten, bis mir die Tränen kommen. Hilfsbereit klopft mir Dan mir auf die Schulter und nach mehreren Sekunden geht es mir besser.

 

„Wieso gehst du zu Danny?“, frage ich neugierig.

 

Seitdem ich weiß, dass zwischen den Brüdern wohl doch kein gutes Verhältnis besteht, traue ich dem älteren Bruder nicht. Die Tatsache, dass er Dan in der Vergangenheit so im Stich gelassen hat, wirft nun ein schlechtes Bild auf ihn,

 

„Es muss etwas geregelt werden“, sagt er nur.

 

„Natürlich“, zucke ich mit der Schulter. „Es muss etwas ganz Geheimes und Gefährliches geregelt werden, von der keine Menschenseele erfahren darf. Was habe ich mir nur dabei gedacht, eine Antwort von dir zu bekommen? Ich bin wirklich ein schlechtes Entführungsopfer.“

 

Dan verdreht nur die Augen, doch das ignoriere ich schlicht. Also lege ich meinen leeren Teller und das schmutzige Besteck ins Spülbecken und laufe ins Bad, um mir die Zähne zu putzen.

 

„Ich habe ein kleines Problem, bei dem du mir eventuell behilflich sein könntest“, ertönt die Stimme von Dan.

 

Als ich aufsehe, lehnt er am Türrahmen und wirft lässig die Schlüssel in seiner Hand hoch, um sie dann wieder aufzufangen. Das Hoch und Runterfliegen des Schlüssels wirft mich kurz aus der Bahn, weswegen ich erst einige Sekunden später antworte.

 

„Bei was könnte ich dir schon behilflich sein?“, frage ich ironisch und greife nach einem Handtuch.

 

„Heute kommt jemand vorbei und bringt einen sehr wichtigen Umschlag. Doch in der Zeit bin ich bei einem Treffen, das nicht verschoben werden kann«, erklärt er ernst. »Und da ich nicht an zwei Orten gleichzeitig sein kann, kommst du ins Spiel.“

 

„Mit wem triffst du dich denn wichtiges, das es nicht verschoben werden kann?“, frage ich neugierig.

 

Kurz scheint er zu überlegen, ob er mir antworten soll, als er es schließlich tut bin ich wirklich verwundert.

 

„Eine Person hat tatsächlich vor, dein Entführungsgeld zu zahlen, um dich zu befreien.“

 

„Wer?“, schießt es aus mir heraus. „Das war so eine große Summe Geld! Das kann doch nicht wahr sein.“

 

Hunderttausend ist wirklich viel Geld, jedenfalls für eine stinknormale Person wie mich. Wer das wohl sein mag? Meine Mutter kann es nicht gewesen sein, sie würde niemals so viel Geld zusammen würfeln können. Und was wenn doch? Sie hätte das Haus verkaufen können, das hätte bestimmt gereicht. Entgeistert setze ich mich auf den Klodeckel und atme tief ein und aus. Hoffentlich hat sie das nicht getan, dann hätten wir gar nichts mehr.

 

„Hey, du bist ganz bleich geworden. Alles klar bei dir?“, fragt Dan erschrocken und hockt sich vor mich hin, um mich besser betrachten zu können.

 

Ich schaffe nur ein Schütteln von mir zu geben, um ein Nein klarzumachen. Anschließend muss ich mit mir kämpfen, um mich nicht zu übergeben. Ich würde niemals mit der Last leben können, das sie alles verkauft hat, um mich aus einer Situation zu befreien, in der es mir eigentlich gut geht.

 

„Der Geldgeber ist nicht deine Mutter“, erwähnt Dan nun, als hätte er meine Gedanken gelesen.

 

„Aber“, schnaufe ich und beruhige mich erst kurz. „Wer ist es dann?“, frage ich stirnrunzelnd.

 

„Vermutlich die Polizei“, beruhigt er mich. „Ich habe dir doch gesagt, dass sie alles regeln werden.“

 

Gerade habe ich es geschafft mich zu beruhigen, da erinnere ich mich wieder an meine Gedanken von heute Morgen. Nachdem der Geldgeber mich befreit hat, werde ich Dan vermutlich nie wieder sehen. Und diese Feststellung lässt mein Herz für eine Sekunde stillstehen. Schockiert blicke ich in sein Gesicht und versuche mir die Einzelheiten einzuprägen. Die etwas buschigen schwarzen Augenbrauen, die seine stechenden Augen betonen. Seine markanten Wangen, auf denen Bartstoppeln zu sehen sind, weisen auf seinen unberechenbaren Charakter hin. Und zuletzt seine wohl geformten Lippen, die mich letzte Nacht geküsst haben.

 

„Ich bin verwirrt, was beschäftigt dich denn noch, wenn du schon weißt, dass es nicht deine Mutter war?“, fragt er stirnrunzelnd.

 

Entgeistert blicke ich ihn an und bin mir nicht sicher, wie ich reagieren soll. Er scheint keine Ahnung zu haben, dass ich mir gerade Sorgen mache, dass wir uns bald zum letzten Mal sehen werden. Ob er wohl dasselbe Stechen im Bauch spüren wird wie ich, wenn er die Tatsache realisiert? 

 

„Nichts“, hauche ich und versuche den Kummer zu verbergen. »Also, was soll ich tun? «

 

Mit einem prüfenden Blick sieht er mich noch einmal an, bevor er mir meine Aufgabe nennt.

 

„Ich weiß nicht genau wann, aber später wird jemand vorbeikommen, an der Tür klopfen und dir einen Umschlag überreichen. Diesen wirst du an dich nehmen, nicht öffnen und einfach auf den Tisch legen. Das wäre deine ganze Aufgabe. Glaubst du, du bekommst das hin?“

 

Meine Aufgabe besteht nur darin, einen Umschlag entgegenzunehmen? Das klingt ja extrem schwer.

 

„Wenn’s weiter nichts ist“, murmele ich unbegeistert und stehe auf, um aus dem Bad zu gehen.

 

„Danke, dass du das für mich erledigst“, höre ich ihn rufen.

 

Derweilen habe ich mich schon längst auf das Sofa gesetzt und den Fernseher angeschaltet. Bloß irgendeine Serie anschauen, beste Ablenkung! Ich habe Glück, denn es läuft gerade eine Ärzteserie, da kann man sich immerhin auf ein Gemetzel konzentrieren. Dan scheint sich umgezogen zu haben, denn als er aus dem Schlafzimmer läuft, trägt er einen schwarzen Kapuzenpulli, eine schwarze Hose und eine schwarze Mütze, die er tief bis zu seinen Augenbrauen gezogen hat.

 

„Wo hast du die schwarze Strumpfhose versteckt?“, frage ich ihn bitterernst und kassiere einen genervten Gesichtsausdruck.

 

„Ich meine, du kannst doch keine Bank ausrauben, ohne dein Gesicht mit etwas zu verstecken«, tadele ich. »Erste Regel im Sträfling Handbuch.“

 

„Sehr witzig“, sagt er nur und zieht sich seine Schuhe an der Haustür an.

 

Ich stehe vom Sofa auf und wende mich von meiner hoffnungslosen Ablenkungsquelle ab, um zu Dan hinüber zu laufen.

 

„Wann kommst du wieder?“, frage ich.

 

„Ich weiß es nicht, voraussichtlich gegen Abend“, meint er nur und blickt mir in die Augen, als er die Schnürsenkel zugebunden hat.

 

Es bleibt kurz still zwischen uns, während wir uns in die Augen blicken. Gerne hätte ich gewusst, worüber er gerade nachdenkt, aber er ist und bleibt ein geschlossenes Buch für mich. Alles, was ich erkenne ist, dass sich kleine Sorgenfalten auf seiner Stirn bilden und sich sein Mund zu einem eisernen Strich formt.

 

„Du weißt, was zu tun ist?“, fragt er leise, als wäre er unsicher mich alleine zu lassen.

 

„Warten, bis es klingelt, Tür aufmachen, einen Umschlag entgegennehmen und danach wieder abschließen“, wiederhole ich meine Aufgabe, wie ein kleines Kind.

 

Bei so einer Kleinigkeit wird er mir wohl vertrauen können! Ich frage mich langsam, ob er wohl denkt, ich wäre auf den Kopf gefallen und könnte sowas nicht erledigen. Unser Augenkontakt wird beendet und Dan dreht sich zur Tür um. Er legt seine Hand auf die Klinke, öffnet sie aber nicht.

 

„Pass bitte auf dich auf“, flüstert er, ohne mich dabei anzusehen.

 

Und bevor ich noch sagen kann, dass er ebenfalls auf sich achtgeben soll, ist er schon auf und davon. Ich atme tief ein und blicke mich in dem leeren Apartment um, wer weiß, ob ich morgen noch hier sein werde.

 

Um mich nicht weiter mit den Gedanken zu beschäftigen, lege ich mich wieder aufs Sofa und widme mich der Serie. Der Schauspieler der den Arzt spielt ähnelt Dan, stelle ich nach Minuten fest. Mit dem Gedanken an Dan überwältigt mich die Müdigkeit und ich schlafe ein.

 

 

„Lass mich los“, schreie ich voller Panik.

 

Irgendjemand zerrt an mir und zieht mich hinterher. Ich kann nichts sehen, ich spüre nur einen eisernen Griff um meinen Arm. Stolpernd versuche ich hinterher zu kommen, aber der Schmerz an meinem Arm wird immer schlimmer und die Schritte schneller.

 

 

„Du sollst mich loslassen!“, schreie ich nun lauter und höre ein Schnauben.

 

Plötzlich bleiben wir stehen und ich laufe direkt in die Arme der Person. Doch sofort schubst er mich gewaltsam weg. Endlich kann ich sein Gesicht sehen, was dazu führt, dass ich zu schockiert bin, um etwas zu sagen.

 

“Glaubst du mich interessiert, was mit dir ist? Ich brauche dich nicht. Du bist nur eine Spielfigur in meinem Spiel. Der erste Schachzug von mir: Die Entführung“, schreit Dan mich hasserfüllt an.

 

Ich spüre Tränen meine Wange hinab laufen.

 

„Bitte, du lügst doch“, höre ich mich wimmern.

 

„Sieh dich doch an“ sagt er verächtlich. „Hast dich tatsächlich in mich verliebt“, lacht er.

 

 

Sofort schlage ich meine Augen auf. Ich merke, wie nass geschwitzt ich bin und mein Herz hört nicht auf, wie wild zu hämmern. Da der Fernseher zu laut ist und mir förmlich ins Ohr schreit, schalte ich ihn aus, laufe in die Küche und hole mir ein Glas Wasser. Ich muss mir ungefähr zehnmal sagen, dass das nur ein kleiner Albtraum war, damit ich mich wieder halbwegs beruhigen kann. Da ich wirklich etwas zum Ablenken brauche, öffne ich den Kühlschrank und hole die Zutaten heraus, die für ein leckeres Mittagessen zusammenpassen. Stumm koche ich und versuche nicht über den Traum nachzudenken. Träume erfüllen sich nie und haben auch keine große Bedeutung! Es war einfach nur ein Albtraum, das hat jeder einmal. Als das Essen fertig ist, setze ich mich wieder auf die Couch und fühle mich besser als davor. Irgendwann bin ich fertig und erinnere mich, dass ja noch jemand vorbei kommen soll. Kurz bekomme ich Panik bei dem Gedanken, dass die Person vielleicht schon geklingelt hat, als ich geschlafen habe. Dem widerspreche ich aber, da ich die Klingel ganz bestimmt gehört hätte. Also spüle ich das Geschirr und entscheide mich anschließend, ein Buch zu lesen. Nach einiger Zeit ertönt die Klingel und lässt mich erleichtert aufschnaufen. Gelassen laufe ich zur Tür und öffne einen kleinen Spalt.

 

Als ich die Person vor der Tür stehen sehe, kreische ich auf und will die Tür wieder schließen, doch ein Fuß drängt sich dazwischen. Trotzdem versuche ich mit aller Kraft die Türe zu schließen, indem ich meinen ganzen Körper dagegen stemme. Doch mit einer Wucht knallt er sie auf, was dazu führt, dass meine Stirn zuerst dagegen kracht und ich zu Boden fliege. Nun steht FatJoe mit seiner ganzen Statur vor mir und grinst mich siegessicher an.

Kapitel 14

„Ich soll einen Brief vorbei bringen“, sagt er und fängt an laut zu lachen. „Wer hätte gedacht, dass ich dich dabei wiedersehe.“

 

Meine Hand schnellt zu meiner pochenden Stirn, die sich warm und feucht anfühlt. Voller Angst nehme ich meine Hand runter und sehe Blut an meinen Fingern kleben. Schockiert blicke ich abwechselnd die rote Farbe an meinen Fingern und FatJoe an. Ich muss hier so schnell wie es geht weg und Dan finden!

 

„Du bist selbst schuld, du hättest mich auch freundlich hineinbitten können“, tadelt er.

 

„Du hättest den Umschlag auch einfach auf den Boden legen können“, antworte ich frech und atme schwer.

 

Sofort ermahne ich mich nicht so vorlaut zu sein, da ich weiß wozu der Mann vor mir fähig ist. Der Gedanke daran hinterlässt mir eine Gänsehaut am ganzen Körper.

 

„Ohne hallo zu sagen?“, fragt er schockiert.  „Erkennst du den Unterschied zwischen uns? Ich bin viel freundlicher, als du.“

 

Das ist nicht gut. Es ist einfach schrecklich, wie in einem Albtraum, dass gerade er direkt vor mir steht. Und Dan ist weg, was soll ich tun? Ich habe keine Chance gegen ihn! Er ist ein Paket und ich bin nur Annie, klein und zierlich. Wieso ist Dan in solchen Momenten nicht da? Ich kneife mich selbst in meinen Arm, um zu überprüfen, dass ich nicht in einem schlimmen Traum gefangen bin.

 

„Bei unserem letzten Treffen warst du ziemlich unfreundlich zu mir“, erinnert er sich und macht einen beleidigten Gesichtsausdruck.

                       

Unauffällig versuche ich, mich nach etwas Handgreifbaren umzusehen. Um an ein Messer ranzukommen, müsste ich zur Küche gelangen. Wenn ich jetzt einfach schnell aufstehe und dorthin renne, könnte ich es doch schaffen, oder? Nein, das Risiko, dass er mich einholt und mir skrupellos eine reinhaut ist zu groß.

 

„Vielleicht war das nur eine Reaktion auf dein Verhalten“, verteidige ich mich.

 

Ich darf ihm nicht das Gefühl geben, dass er eine Chance hat, mich hier zu überlisten. Je mehr ich den Anschein mache, dass er mir nichts antun kann, desto besser. Eine Beute ist nur leicht zu fangen, wenn man seine Angst riechen kann. Trotzdem kann ich nicht gegen die Erinnerung ankämpfen die mir ins Gedächtnis schießen. Die Bilder in der Bar, als ich ihm schon einmal völlig ausgeliefert war.

 

„Du bist nur Dans Hure, also durfte ich dich ohne Probleme ausleihen“, sagt er wie selbstverständlich und legt den Umschlag auf den Küchentresen.

 

„Bin ich nicht!“, schreie ich ihn wie aus der Pistole geschossen an.

 

Seine Worte erinnern mich sofort an meinen Traum, weswegen ich eben die Beherrschung verloren habe. Ich hätte ihn nicht anschreien sollen, denn er blickt mich nun nachdenklich an und mir wird klar, dass ich den perfekten Moment zum Aufstehen durch meine Reaktion verpasst habe. Gerade als er den Umschlag weggelegt hat, hätte ich schnell aufstehen können!

 

„Wer hätte das gedacht“, lacht er plötzlich und blickt mich an, als könne er seinen Gedanken nicht glauben. „Du hast dich in deinen Entführer verliebt.“

 

Auf einmal wird mit kotz übel. Das liegt aber bestimmt nicht an seiner Aussage, viel mehr ist meine Verletzung an der Stirn der Auslöser. Vermutlich habe ich zu viel Blut verloren. Oder rede ich mir nur irgendetwas ein?

 

„Habe ich nicht“, sage ich trotzig und versuche mich aufzurappeln.

 

Es ist mir egal, ob er jetzt sieht, wie ich versuche in die Küche zu gehen. Ich will ihn einfach nicht ansehen!

 

„Verliebt in den eigenen Entführer“, lacht er schallend.

 

Es ist schwer zu erklären, wie wütend mich seine Worte machen. Entweder liegt es daran, dass er recht hat oder, dass Dan genau dasselbe in meinem Traum gesagt hat. Das Einzige, was ich ganz sicher sagen kann ist, dass mir die Wut eine neue Kraft gibt. Die Stärke hilft mir aufrecht dazustehen, und den Schmerz in meinem Knöchel zu ignorieren. Entweder machte sich der Schmerz erst bemerkbar, als ich meinen Fuß belastet habe oder weil die Wut viel größer war.

 

„Halt den Mund“, schnauze ich ihn an und laufe rückwärts in die Küche, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

 

„Was glaubst du wird aus euch beiden?“, grinst er, wie ein Schuljunge und läuft mir im selben Tempo hinterher. „Ein Liebespaar, das durch den Park schlendert und sich in ferner Zukunft ein Haus baut, um dort Kinder aufzuziehen?“

 

„Dich hat keiner gefragt“, zische ich ihn an, wie eine Raubkatze und laufe weiter vorsichtig nach hinten, um nicht gegen irgendetwas zu stoßen.

 

„Oder denkst du, er wird dir seine Liebe gestehen und anschließend einen Heiratsantrag machen?“, stellt er mich weiterhin dumm dar, als hätte er mich nicht gehört.

 

Währenddessen versuche ich ihm einfach nicht zu zuhören. Ich beiße mir wie verrückt auf die Zunge, bis ich etwas Metallisches in meinem Mund spüre und mir ein Aufheulen verkneifen muss. Bald habe ich es geschafft und werde ihn zum Schweigen bringen.

 

„Denkst du wirklich, er könnte dich genauso lieben, wie du ihn?“, fragt er plötzlich bitterernst und bleibt stehen.

 

Wegen seinem Tonfall muss ich ebenfalls abrupt stehen bleiben. Mit weit geöffneten Augen blicke ich den verschwitzten, dicken Mann vor mir an und muss mir eingestehen, dass seine Frage gar nicht so dumm ist. Ja, ich denke wirklich, dass er mich lieben könnte. Wieso sollte der Gedanke auch so abwegig sein? Ich bin nur ein Mensch, der sich in jemanden verliebt hat, der nett zu mir gewesen ist. Nur weil ich in ihm keinen Entführer sehe, heißt das noch lange nicht, dass ich naiv bin. Er hat sich nie wie ein böser Mensch verhalten, wieso also ist es so abwegig, dass ich die Gedanken habe, er könne genauso verliebt in mich sein, wie ich in ihn?

 

„Du würdest nie verstehen können, was es heißt jemanden zu lieben“, sage ich abfällig und setze meinen Gang in die Küche zielstrebig fort. „Du wurdest noch nie von jemandem geliebt und niemand hat je deine Gefühle erwidern wollen.“

 

Das ist das erste Mal, dass ich sehe, wie FatJoe bleich im Gesicht wird. Er sieht fast so aus, als würde er gleich umkippen, da sein ganzes Blut aus seinem Gesicht gewichen ist. Ich genieße seinen Gesichtsausdruck und sehe es als Rache dafür, was er mir antun wollte. Dafür, dass seine ekligen Wurstfinger mich ohne meine Erlaubnis angefasst haben. Dafür, dass er mit mir geredet hat, als wäre ich eine Hure. Und dafür, dass er eine Zukunft für mich und Dan so abfällig verneint hat.

 

„Und willst du wissen, warum dich niemand liebt?“, grinse ich ihn schelmisch an.

 

Ich lasse mir Zeit mit der Antwort und habe es endlich in die Küche geschafft, ohne ihn aus den Augen zu lassen. FatJoe steht immer noch stocksteif da, als wäre er an der Stelle festgefroren. Derweilen schnappe ich das größte Messer, das es in der Schublade gibt, und richte es auf ihn.

 

„Weil du ein Ungeheuer bist und niemand könnte jemals so ein Monster wie dich lieben!“, schreie ich ihn an und blicke angewidert.

 

Schockiert blickt er abwechselnd mich und dann das Messer in meinen Händen an. Noch größer werden seine Augen, als ich ihm sicher entgegen laufe. FatJoe sieht so verunsichert aus, dass er im selben Tempo rückwärts läuft und schützend eine Hand vor sich hält.

 

„Und jetzt mach, dass du verschwindest! Sonst, schwöre ich bei Gott, wird das hier dein letzter Moment im Leben sein!“, brülle ich ihn an und laufe noch schneller ihm entgegen.

 

Die Panik steht ihm ins Gesicht geschrieben. Vermutlich hätte er nie gedacht, dass ich zu so etwas fähig wäre. Gerade als er an der Tür steht und ich schon kurz davor bin erleichtert aufzuschnaufen, bleibt er stehen.

 

„Du hast großes Glück, dass mein Boss mir strengstens verboten hat dich je wieder anzufassen, ansonsten hätte dein kleines Messerspielchen nichts gebracht“, sagt er verächtlich und blickt raus zum Flur.

 

Auch wenn mir viele Fragen durch den Kopf schweben, halte ich es nicht aus ihn noch länger in der Wohnung zu sehen.

 

„RAUS!“, schreie ich.

 

Im gleichen Moment, als die Tür ins Schloss fällt, sinke ich auf meine zittrigen Beine und lasse das Messer fallen. Alles an meinem Körper scheint zu zittern: Meine Hände, meine Zähne, meine Lippen, einfach alles. Der Schock saß schon von Anfang an tief in meinen Knochen und kommt erst jetzt richtig zum Vorschein. Ich spüre gleichzeitig großes Adrenalin durch mein Blut sausen und auch Erleichterung, dass ich es gegen FatJoe aufnehmen konnte. Niemals hätte ich gedacht, dass ich ihn wiedersehen würde, aber ich habe es geschafft! Ich, die kleine und zierliche Annie Jenkins, hat gegen den großen, dicken FatJoe gesiegt. Aber was meinte er zum Schluss? Hat sein Boss ihm tatsächlich verboten mich anzufassen? Das klingt falsch in meinen Ohren.

 

Es dauert noch einige Minuten, bis das Zittern abschwächt und ich es schaffe aufzustehen. Der Schmerz in meinem Knöchel macht sich gleich bemerkbar, was das Laufen aber nicht sehr beschränkt. Vorsichtshalber laufe ich noch einmal zur Tür und drücke fest gegen sie, um sicherzugehen, dass sie verschlossen ist und er nicht wiederkommen kann. Dann hebe ich das Messer vom Boden auf und lege es zurück in die Schublade. Kurz beschäftigt mich die Frage, ob ich ihn hätte umbringen können. Doch darauf finde ich keine Antwort. Ich hätte mir nie ausmalen können, dass ich gegen einen Feind so eine Stärke beweisen könnte, umso stolzer bin ich auf mich, dass ich Erfolg hatte. Ich weiß nicht, ob ich ihn in einer Notsituation umgebracht hätte. Aus Angst oder in Wut tut man vieles, zu dem man im normalen Zustand nicht in der Lage ist

 

Da ich mich nicht weiter mit dem Thema Mord beschäftigen will, laufe ich ins Badezimmer und stelle mich vor den Spiegel. Die Wunde auf meiner Stirn ist gar nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt habe. Es sieht eher aus wie eine aufgeplatzte Beule, aber die Wunde ist nicht so tief, dass man sie nähen muss. Vorsichtig säubere ich sie und ignoriere den kleinen Schmerz, der beim Anfassen aufkommt. Als das Blut weg ist, suche ich nach einem Pflaster oder immerhin einem Erste-Hilfe-Kasten. Gerade als ich eine Box mit einem roten Kreuz im Schrank entdecke, höre ich wie die Tür aufgeschlossen wird und jemand reinkommt.

 

Mein Herz beginnt wieder wie verrückt zu pochen und die Angst schwirrt in meinem Kopf herum. Ob das wohl FatJoe ist? Doch als ich Dans Stimme höre, kann ich ein erleichtertes Aufatmen nicht verhindern.

»Annie? Wo bist du? «, fragt er.

 

Reflexartig will ich sofort zurückrufen, dass ich im Bad bin. Doch dann halte ich mich zurück, da ich nicht weiß, wie er auf die Wunde und die Geschichte mit FatJoe reagieren wird. Was soll ich ihm erzählen? Soll ich es ihm überhaupt erzählen? Wenn ja, alles?

 

„Bist du im Bad?“, fragt er und klopft an.

 

„Ähm ja… Also ja, schon… Ähm“, stottere ich.

 

„Ist alles in Ordnung?“, fragt er nun unsicher.

 

Fraglos blicke ich mich selbst im Spiegel an und weiß nicht, was ich sagen soll. Einerseits würde ich für eine Umarmung und Trost von Dan alles tun und ihm auch alles erzählen. Andererseits habe ich mich selbstständig gewehrt, worauf ich auch stolz bin. Nichtsdestotrotz kann ich die Wunde an der Stirn nicht einfach wegzaubern. Selbst wenn ich ihn anlügen würde, könnte ich keine gute Ausrede finden, die einen Unfall mit der Verletzung beschreiben könnte.

 

„Ja… Also… Du darfst nicht ausflippen“, sage ich im vornherein.

 

„Mach sofort die Tür auf“, sagt er nun ungeduldig.

 

„Ja, sofort… Aber nicht böse werden“, versuche ich vorsichtig zu erklären.

 

„Annie“, höre ich ihn meinen Namen brummen.

 

Sofort mache ich die Tür auf und denke angestrengt darüber nach, wie ich alles am besten erklären könnte.

 

„Was zum Teufel ist passiert? Warum blutest du?“, fragt er schrill und schockiert.

 

Bevor ich auch nur was sagen kann, drückt er mich gegen das Waschbecken, dreht den Wasserhahn auf und macht das wieder aufkommende Blut mit Wasser weg. Ich hätte das Pflaster viel schneller suchen sollen!

 

„Halb so schlimm“, versichere ich.

 

„Ich will, dass du mir jetzt erzählst, was passiert ist“, fordert er ernst.

 

„Ich weiß nicht, wie ich anfange soll, ohne dass du böse wirst“, verteidige ich mich.

 

Er streckt sich, um den Erste-Hilfe-Kasten zu holen, holt ein mittelgroßes Pflaster heraus und klebt es mir auf die Stirn.

 

„Ich werde sowieso böse, also fang jetzt einfach an“, sagt er schlecht gelaunt.

 

„Du lässt mich ausreden“, sage ich noch auffordernd, bevor ich anfange. „Ich sollte doch den Umschlag entgegen nehmen und als es an der Tür klingelte, habe ich sie ganz normal geöffnet“, erzähle ich langsam, während er mich ungeduldig anblickt.

 

„Plötzlich stand da aber FatJoe mit dem Umschlag in der Hand, und bevor ich die Tür zu machen konnte, war er bereits in der Wohnung.“

 

Das Ende der Geschichte scheint Dan gar nicht mehr zu interessieren, seine Augen werden dunkel und seine Backen zieht er mit einem scharfen Atemzug ein. Er dreht sich abrupt um und läuft aus dem Bad.

 

„Dan! Wohin gehst du?“, rufe ich ihm aufgebracht hinterher, da er bereits seine Jacke ausgezogen und auf die Seite geworfen hat.

 

Zielsicher läuft er aus der Wohnung und schmeißt die Tür mit einem lauten Krach zu. Ohne darüber nachzudenken, laufe ich ihm hinterher und verlasse ebenfalls die Wohnung. Vor dem Aufzug steht er nicht, vermutlich kam es nicht schnell genug hoch. Deswegen muss er wohl die Treppen benutzt haben, denn soweit kann er noch nicht weg sein. Schnell mache ich also die Tür zum Treppenhaus auf und höre, wie jemand die Treppen runter läuft.

 

„Dan!“, rufe ich durch das ganze Treppenhaus und eile ihm hinterher.

 

Ohne zurückzusehen, läuft er die Treppen weiterhin hinunter und ignoriert meine Rufe. Als ich es fast geschafft habe und seinen Pulli bereits in den Händen halte, stolpere ich über eine Stufe, verliere das Gleichgewicht und falle auf ihn. Ich höre gleichzeitig, wie Dan meinen Name ruft und wir beide die Stufen runterfallen. Ich weiß nicht wie, aber Dan hat es geschafft, dass ich auf ihm liege und außer ein paar Prellungen keine Schäden abbekommen habe.

 

„Oh nein, Dan! Es tut mir so leid, tut dir was weh?“, frage ich panisch und sehe zu, wie er seine Hand an seinen Kopf hält.

 

„Du Tollpatsch“, sagt er müde.

 

Erleichtert muss ich ausatmen und stütze meinen Kopf gegen seine Brust.

 

„Das kommt davon, wenn du einfach vor mir wegläufst“, tadele ich ihn und kann nicht verhindern, dass ich traurig klinge.

 

„Ich laufe doch nicht vor dir davon!“, sagt er verwirrt und ich spüre, wie seine Hand nun auf meinem Kopf liegt.

 

„Natürlich tust du das“, schnaufe ich und verstecke mein Gesicht immer noch auf seiner Brust.

 

„Schau mich an Annie“, höre ich ihn sanft sagen.

 

Vorsichtig hebe ich meinen Kopf und blicke ihn unglücklich an. Er schluckt schwer, bevor er mein Pflaster auf der Stirn sachte berührt.

 

„Ich hätte niemals aus der Wohnung gehen dürfen“, sagt er niedergeschlagen.

 

„Du hast mich gar nicht ausreden lassen“, überrumpele ich ihn verärgert.

 

Ich kann nicht weiter mit ansehen, wie niedergeschlagen er aussieht, und muss ihm die Geschichte einfach zu Ende erzählen. Entschuldigend für meine Reaktion auf seine Niedergeschlagenheit fahre ich langsam die Konturen seiner Wangenknochen nach und erzähle ihm den Rest des Vorfalles.

 

„Verstehst du jetzt?“, frage ich ihn lächelnd, nachdem ich fertig erzählt habe. “Ich habe es ganz alleine mit ihm aufnehmen können! Du hättest sein Gesicht sehen sollen. Er war so schockiert von meiner Stärke und meinem Mut, wie ein verscheuchtes Reh ist er aus der Wohnung gestürmt.“

 

Als er immer noch nichts sagt und weiterhin ins Leere starrt, drücke ich seinen Kopf so in meine Richtung, dass er gar nicht an mir vorbei sehen kann.

 

„Ich habe mich noch nie stärker gefühlt und ich war noch nie so stolz auf mich wie heute.“

 

Plötzlich drückt er mich von sich weg und steht auf. Ohne zu etwas sagen, hilft er mir ebenfalls aufzustehen und läuft die Treppen wieder hoch, ich ihm hinterher. Ich kann aus seinem Verhalten nicht deuten, was in ihm vorgeht. Ist er sauer? Ist er enttäuscht? Oder ist er nun erleichtert? Als wir wieder auf unserer Etage ankommen, macht er stumm die Türe auf. Kurz erhasche ich einen Blick auf sein Gesicht und weiß sofort, dass er über etwas nachdenkt. Aber was geht ihm denn so durch den Kopf?

 

Bevor ich ihn auch nur irgendetwas fragen kann, verschwindet er im Badezimmer. Ich hasse es, wenn er mich so zurücklässt, dass ich nicht weiß, was mit ihm los ist. Jeder normale Mensch zeigt immerhin mit irgendeiner Reaktion, was gerade in ihm vorgeht. Aber Dan, nichts! Ein reines Ratespiel.

 

Also laufe ich müde ins Schlafzimmer und lasse mich flach aufs Bett fallen. Seufzend blicke ich die Decke an und frage mich, wie es nun wohl weiter geht. Mit den wichtigsten Fragen habe ich mich noch gar nicht beschäftigt. Was wurde aus dem Entführungsgeld? Was war in diesem verfluchten Umschlag?

 

Es vergehen Minuten bis Dan wieder aus dem Badezimmer tritt und ich seine Präsenz im Schlafzimmer spüre. Da ich merke, dass er bereit ist zu reden, stütze ich mich wieder von der gemütlichen Position hoch und blicke ihn geduldig an. Seine Augen strahlen vollen Ernst aus und seine gesenkten Mundwinkel zeigen, dass es sich um keinen Witz handeln wird. Langsam kommt er auf mich zu und setzt sich neben mich aufs Bett.

 

„Wie geht es dir?“, frage ich ihn vorsichtig, nachdem er mehrere Male geseufzt hat.

 

„Das müsste ich dich fragen du Dummerchen“, lächelt er nun leicht, bis er wieder ernst wird. „Es tut mir leid Annie.“

 

„Ich habe dir doch bereits gesagt, dass es nicht deine Schuld war“, beruhige ich ihn sofort.

 

„Nicht nur das tut mir leid. Ich entschuldige mich für alles, was ich dir angetan habe.“

 

Stirnrunzelnd blicke ich ihn von der Seite an und werde das Gefühl nicht los, dass gleich etwas passieren wird. Es fühlt sich an, als würde er mit mir Schluss machen, obwohl wir doch noch gar nicht zusammen waren.

 

„Hör auf“, flüstere ich und will ihn unterbrechen.

 

„Ich hätte dich niemals entführen sollen.“

 

„Es reicht.“ Es scheint, als würden die Sätze in meinem Hals ersticken und nicht richtig rauskommen können.

 

„Ich wünschte ich hätte dir die ganzen Lügen ersparen können“, redet er weiter, als würde er mich nicht hören.

 

 „Halt den Mund“, sage ich nun verzweifelter und spüre, wie meine Augen feucht werden, da ich weiß, wohin das Gespräch führt.

 

„Hätten wir uns anders kennengelernt, wäre das alles nie passiert.“

 

Nun kann ich gar nichts mehr sagen. Ich erkenne nichts mehr vor mir, nur einen Tränenschleier. Der Kloß in meinem Hals hält mich auf, etwas zu sagen. Mein Herz hämmert nicht mehr gegen meine Brust, sondern schmerzt einfach nur noch, als hätte mir jemand direkt auf die Brust gestochen. Mir ist kotz übel und ich spüre gleichzeitig eine Kälte von außen und eine Hitze im Inneren.

 

„Das alles muss ein Ende haben. Ich kann nicht weiter mit ansehen, wie dich das alles zerstört. Morgen bringe ich dich nach Hause“, flüstert er und kann mich nicht ansehen. „Es tut mir so leid.“

Kapitel 15

Jeder Mensch auf der Welt hat seinen Weg im Leben. Manche Wege kreuzen sich und viele andere trennen sich. Schließlich gibt es noch Wege, die über Berge gehen, mit Scherben überfüllt sind oder zu Abgründen führen. Die Gemeinsamkeit aller Wege sind die Ziele, entweder führen sie zum Glück oder zum Unglück. Dabei werden unsere Entscheidungen mitgezählt. Jeder darf entscheiden, welche Richtung er einschlagen will. Ob nun weiterhin geradeaus, mal nach links oder nach rechts. Manchmal werden wir von anderen mitgezogen, nehmen teil an ihrem Weg und sind ihnen vollkommen ausgeliefert. Bis der Moment kommt, an dem der Mensch uns einfach loslässt und darauf besteht, seinen eigenen Weg weiter zu gehen. Zurückgelassen und orientierungslos sucht man nach den Spuren des eigenen Weges.

 

Ich habe mich noch nie so zurückgelassen gefühlt, wie in dem Moment, als Dan mit mitgeteilt hat, dass er darauf besteht, mich nach Hause zu bringen. Es kommt mir vor, als würden Stunden vergehen und er immer noch neben mir sitzen. Doch in Wirklichkeit sind nur Minuten vergangen und die Stille zwischen uns erdrückt mich beinahe.

 

„Du willst mich also wirklich nach Hause bringen?“, frage ich unsicher und blicke zum Fenster.

 

„Ja, ich lasse dich endlich frei“, sagt er und ich meine ein Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen.

 

Vermutlich scheint er von seiner Idee, so begeistert und erleichtert zu sein, mich endlich loszuwerden, dass er ein Lächeln nicht verkneifen kann. Schön zu wissen, dass es mir genau andersherum ergeht. Da ich merke, dass ich immer wütender werde, stehe ich auf und verlasse das Schlafzimmer. Mir ist zum Heulen zumute und der Mistkerl lächelt vor sich hin, als hätte er heute Geburtstag. Sofort spüre ich den Drang in mir, irgendetwas gegen die Wand zu werfen.

 

„Endlich“, rufe ich aus der Küche und spüre das Beben in meiner Stimme.

 

Demonstrativ werfe ich die Arme in die Luft, als wäre ich nun frei, auch wenn er es gar nicht sehen kann. Ich öffne allerlei Schränke, nur um das Gefühl zu haben, etwas zu tun und nichts gegen die Wand zu schlagen.

 

„Ich kann es kaum erwarten, bald meine Mutter und Miriam zu sehen. Endlich wieder draußen herumlaufen zu können und in meinem eigenen Bett zu schlafen“, sage ich und knirsche mit meinen Zähnen.

 

Mir wird bewusst, dass ich mich im Moment kein bisschen darauf freue, meine Mutter wieder sehen zu können und bekomme Schuldgefühle. Im Augenblick schwirrt mir einfach nur der Gedanke im Kopf herum, dass ich Dan vermutlich nie wieder sehen werde. Schließlich taucht er in der Küche auf und lehnt sich lässig gegen die Wand.

 

„Das freut mich für dich Annie“, sagt er erleichtert.

 

Mit großen Augen blicke ich ihn schockiert an und kann es nicht fassen, dass er mir kein bisschen ansieht, wie sehr es mir etwas ausmacht, ihn zu verlassen. Es schmerzt zu erkennen, dass es ihn nicht genauso fertig macht, wie mich.

 

„Wieso?“, frage ich total in Gedanken versunken. „Ich meine, wieso kann ich nach Hause? Warum erst jetzt und nicht schon viel früher?“

 

„Weil nun alles erledigt ist und du nicht mehr benötigt wirst“, antwortet er.

Diese Antwort schmerzt mehr, als ich gedacht hätte. Er braucht mich nicht mehr, darum gibt es auch keinen Grund mehr hierzubleiben. Ich muss mich räuspern, bevor ich etwas sage, da der Kloß im Hals mich beinahe ersticken lässt.

 

„Du hast also tatsächlich das Entführungsgeld bekommen“, stelle ich fest und laufe an ihm vorbei, um mich auf einen Stuhl zu setzen.

 

Ich schnappe nach Luft, als ich am Tisch sitze, und stütze meinen Kopf auf meine Hände, um nicht die Fassung zu verlieren.

 

„Nein, das war alles nur erfunden.“

 

Sofort blicke ich auf und schaue ihn völlig entgeistert an. Was redet er da? Vielleicht ist er beim Sturz auf der Treppe zu hart auf den Kopf gefallen?

 

„Wie meinst du das?“, frage ich skeptisch und runzele die Stirn.

 

Dan läuft gelassen zu an den Tisch und setzt sich mir gegenüber auf den Stuhl.

 

„Da gibt es eine Sache, die ich dir verschwiegen habe“, seufzt er müde.

 

Klar, es gibt viele Dinge, die mir Dan verschwiegen hat. Trotzdem dachte ich, dass er mir die Wichtigsten erzählt hätte. Dieses Geheimnis muss wohl ziemlich groß und wichtig gewesen sein, dass er es mir erst jetzt sagen kann.

 

„Ich muss vom Anfang anfangen“, stellt er fest und blickt nachdenklich auf die Tischplatte, ehe er mir ernst in die Augen sieht.

 

„Du weißt, dass ich früher ein schlechter Mensch war. Abgesehen davon, dass ich vielen Frauen nicht genügend Respekt entgegenbrachte, war ich auch sehr kriminell. In Geschäften klaute ich das Meiste nur, ich nahm Drogen und prügelte mich viel zu oft. Ich gehörte zu einer strafwürdigen Gang, die in der Stadt nur ungern gesehen war. Viele Teilnehmer der Gang hast du in der Bar sehen können“, erzählt er, während ich gebannt zuhöre.

 

„Jedenfalls war Danny damals unser Anführer. Wir haben Pläne geschmiede,  wie wir in irgendwelche Läden einbrechen könnten. Das Geld vom Dealen und Stehlen wurde an den Boss von Danny weitergeleitet, man nennt ihn BlackEye. Schließlich gab es irgendwann einen schrecklichen Unfall, als wir in einem Laden einbrachen, in dem Danny den Verkäufer erschoss. Noch nie sind wir so weit gegangen, es war einfach nur schrecklich und es gab so viel Blut.“

 

An dieser Stelle stoppt er und blickt total in Gedanken versunken auf die Tischplatte. Vermutlich muss sich das Bild des Blutes in seine Erinnerung gefressen haben.

 

„Normalerweise haben wir uns immer nur so lange geprügelt, bis ein Arzt kam, aber es wurde noch nie jemand getötet. Damals waren die Meisten in der Gang, wie auch ich, erst sechzehn Jahre alt, weswegen es nie unsere Absicht war, jemanden umzubringen“, er nimmt kurz Luft, bevor er weiter erzählt.

 

„Direkt nach dem Schuss rannten alle aus der Gang weg, nur mein Bruder und ich blieben zurück. Ich schrie ihn an, was er sich nur dabei gedacht hat und ehe die Polizei im Laden war, konnte mein Bruder abhauen und ich blieb mit der Pistole und der Leiche zurück. Da sie damals meinen Bruder nicht ausfindig machen konnten und es keine Augenzeugen für die Tat gab, wurde ich fünf Jahre ins Gefängnis verfrachtet. Der Aufenthalt dort war kein Zuckerschlecken“, sagt er nun finster.

 

„Als ich wieder freigelassen wurde, nahm mich das FBI direkt zur Seite, um mit mir zu reden. Da Dannys Gang während ich im Gefängnis war, immer krimineller wurde und lange gesucht wird, machten sie mir ein tolles Angebot. Das FBI wusste, dass Danny mein Bruder ist und war sich sicher, dass er wieder auf mich zukommen würde. Daher sollte ich wieder Teil seiner Gang werden, sodass das FBI alle schnappen kann. Also sollte ich eine Entführung begehen und Geld für die Freilassung verlangen. Durch diese Tat würde mein Bruder mir wieder seine Beste Seite zeigen und mich in die Gang aufnehmen, um Teil des Geldes zu bekommen. Als Belohnung für meine Kooperation gab mir das FBI eine schöne Summe Geld, aber auch ohne das Geld hätte ich ihnen geholfen. Kein einziges Mal kam Danny mich im Gefängnis besuchen und eigentlich saß ich dort nur wegen ihm, ohne etwas getan zu haben. Mein Bruder war schon immer ein Arschloch, es wurde Zeit, dass er für seine Verbrechen einsteht.“

 

Ich spüre, wie trocken mein Mund geworden ist und einfach kein Laut von mir kommt. Leider bin ich viel zu schockiert, um irgendetwas zu sagen.

 

„Jedenfalls tat ich alles, was das FBI wollte. Ich entführte dich, Danny bekam großes Interesse und nun sitzen sie endlich im Knast, ohne zu wissen, dass ich sie verpfiffen habe.“

 

„Wieso hast du mir das nicht schon früher gesagt?“, frage ich verärgert, als ich wieder reden kann.

 

„Es war viel zu gefährlich“, antwortet er schnell, als wüsste er, dass ich mich aufregen würde.

 

Daraufhin bin ich wieder still und blicke auf die Tischplatte. Das alles war nur ein Plan, um eine Gang ins Gefängnis zu stecken.

 

„Also bist du gar kein richtiger Entführer“, stelle ich nachdenklich fest und komme mir dumm vor.

 

„Nicht wirklich“, sagt er vorsichtig.

 

Ich spüre seinen prüfenden Blick auf mir, aber ich kann ihn einfach nicht ansehen. Die ganze Zeit habe ich mit mir selbst gekämpft, herauszufinden, ob er ein schlechter Mensch ist oder nicht. Ich dachte, er hat mich wegen des Geldes entführt. Am Anfang war ich so stinkwütend auf ihn, weil er mich von meiner Mutter getrennt hatte. Sogar Angst hatte ich am ersten Tag, als ich auf dem Sofa aufgewacht bin. Doch in Wirklichkeit hat er das alles nur getan, um eine üble Gang ins Gefängnis zu bringen.

 

„Wieso hast du mich entführt? Es gab so viele andere Menschen auf der Straße“, bemerke ich und blicke einen kleinen schwarzen Punkt auf dem Tisch an.

 

Er scheint nicht mit der Frage gerechnet zu haben, denn ich merke wie sprachlos er umherschaut. Vermutlich weiß er einfach keine Antwort darauf, da es purer Zufall war.

 

„Du warst zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort“, antwortet er schulterzuckend und mit vorsichtiger Stimme.

 

Da die Rückmeldung keine Überraschung für mich ist, stehe ich einfach auf und gehe wieder zurück in die Küche. Im Moment komme ich mit gar nichts mehr klar. Meine Gefühle und Gedanken sind so verworren, dass ich selbst keinen Überblick mehr über meinen Standpunkt habe. Einerseits bin ich glücklich, endlich meine Mutter wieder treffen zu können, andererseits bin ich so traurig Dan nie wieder sehen zu können. Dann ist da noch die Sache mit der Entführung. Es war alles nur ein Zufall, dass gerade ich von ihm entführt wurde. Aber warum enttäuscht mich dieser dumme Gedanke? Welcher normale Mensch will schon entführt werden? Egal ob durch Zufall oder mit Absicht. Das alles scheint mir gerade einfach über den Kopf zu wachsen.

 

Um meinen Gedanken zu entfliehen, schiebe ich eine Tiefkühlpizza in den Backofen, da ich auch langsam merke, wie ich langsam Hunger bekomme. Dan scheint sich nicht vom Tisch wegbewegt zu haben, er sitzt immer noch dort und ist in Gedanken vertieft. Vermutlich ist es auch besser so. Ein weiteres Gespräch darüber, warum die ganze Entführungsgeschichte nicht echt war, würde mich nur noch mehr verwirren.

 

Während ich darauf warte, dass die Pizza fertig ist, rühre ich mich nicht vom Fleck. Zu sehr bin ich in Gedanken vertieft. Nachdem ich sie heraushole, sie auf eine Platte lege und in acht Teile schneide, laufe ich zum Tisch zurück und setze mich wieder vor Dan hin.

 

„Auch ein Stück?“, biete ich es ihn höflich an.

 

Mit hochgezogenen Augenbrauen blickt er von der Pizza zu mir und schüttelt den Kopf. Also nehme ich mir ein Stück und kaue darauf herum.

 

„Deine Mutter wird ebenfalls heute darüber informiert, dass du gar nicht wirklich entführt wurdest“, sagt er plötzlich.

 

Bei dem Gedanken an meine Mutter wird mir schlecht und der Appetit an der Pizza verschwindet. Sofort, wenn ich nach Hause komme, wird sie mich mit Fragen und Besorgnis überschütten. Auch wenn ich sie vermisst habe, würde ich es trotzdem bevorzugen allein gelassen zu werden.

 

„Das ist toll“, sage ich nur und schlucke weitere Bisse hinunter.

 

„Was ist eigentlich mit FatJoe?“, frage ich plötzlich, da mir der Gedanke schon vorhin kurz kam.

 

„Was meinst du?“, fragt er und ich merke, wie sein Gesicht eine härtere Form annimmt.

 

„Gehört er nicht zu dieser Gang? Denn in der Zeit, als du weg warst und alle ins Gefängnis befördert hast, war er ja bei mir“, erkläre ich beängstigt.

 

„Er hat nicht offiziell zur Gang gehört, da er erst zum Schluss dazu gestoßen ist. Deshalb war lange darüber diskutiert worden, ob er dieselbe Strafe bekommen soll, wie die anderen. Dennoch werden sie ihn zumindestens wegen Drogenhandel verhaften. Heute konzentrierten sie sich hauptsächlich auf die Gang“, antwortet er finster.

 

Ihm scheint der Gedanke wohl ebenfalls nicht zu gefallen, dass FatJoe gerade irgendwo da draußen herumspaziert.

 

„Aber sie versprachen mir ihn ebenfalls noch festzunehmen“, sagt er schnell, da meine Miene sich immer verfinsterte.

 

„Was stand in dem Brief, das er überbringen sollte?“, frage ich kritisch.

 

„Darin waren die Daten von BlackEye“, antwortet er kurz.

 

Da ich keine Ahnung habe, was ich mit dem Namen anfangen soll, vergesse ich es einfach und tröste ich mich lieber mit dem Gedanken, dass ich schon bald nach Hause gehen kann.

 

„Und was machst du jetzt?“, frage ich neugierig. „Ich meine, nun, wo alles beendet ist. Was wirst du jetzt tun?“

 

Mit der Frage scheint er ebenfalls nicht gerechnet zu haben. Vermutlich hat er noch nicht darüber nachgedacht, was er alles tun kann, wenn er frei ist. Fünf Jahre lang in einem Gefängnis zu verbringen ist kein Leckerbissen und schon allein der Gedanke, dass der Mann vor mir wirklich so viel  von seinem Leben verloren hat, macht mich fuchsteufelswild. Ein unschuldiger Mensch sitzt im Knast, während die echten Täter draußen freudig weiter leben können. Dan hat schon einiges im Leben erlebt und dafür verdient er auch meinen Respekt.

 

„Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung Annie“, sagt er und seufzt. „Ich habe immer nur darüber nachgedacht, wie ich Danny gegenüberstehen soll, wenn ich aus dem Gefängnis komme. So richtig über die Zukunft konnte ich nicht nachdenken, weil die Wut gegen die Gang viel zu groß war.“

 

„Du hast noch dein ganzes Leben vor dir“, meine ich und muss ein wenig lächeln, da Dan so verunsichert aussieht. „Du bist endlich ein freier Mann und an nichts gebunden. Es wird Zeit, dass du dir ein paar Gedanken über die Zukunft machst.“

 

„Wer hätte gedacht, dass ich mich mal mit meinem Entführungsopfer über meine Zukunft unterhalten werde“, lacht er und grinst mich anschließend unverschämt an.

 

„Wer hätte schon gedacht, dass du in Wahrheit gar kein Entführer bist, sondern ein Held“, sage ich und lächele leicht.

 

„Ich bin doch kein Held“, widerlegt er, wie aus der Pistole geschossen.

 

„Du hast für Gerechtigkeit gesorgt, das tun normalerweise Helden“, erkläre ich selbstsicher und merke, wie seine Mundwinkel herabsinken.

 

„Ein Held hätte niemals zugelassen, dass jemand wie du in Gefahr kommt“, sagt er leise und klingt miserabel.

 

„Das hätte niemand voraussehen können“, antworte ich schulterzuckend. „Außerdem geht es mir gut.“

„Ich hätte für dich da sein sollen, das war viel wichtiger, als irgendwelche Typen ins Gefängnis zu bringen“, sagt er nun böse und ballt seine Hand zur Faust.

 

„Vielleicht bist du ja wirklich kein Held“, sage ich nach einer Weile und lege meine Hand beruhigend auf seine Fäuste. „Aber du bist trotzdem ein guter Mensch und das solltest du nie vergessen.“

 

Er sieht so aus, als würde er am liebsten etwas dagegen einwenden, doch da sein Telefon genau in dem Moment anfängt zu klingeln, wendet er sich von mir ab und läuft ins Schlafzimmer. Währenddessen räume ich die Platte, auf welche die Pizza lag, in die Spülmaschine und beschließe mich bettfertig zu machen.

 

„Wundervoll“, höre ich Dans erfreute Stimme und laufe ins Badezimmer.

 

Nachdem ich mich geduscht habe, laufe ich hinaus und sehe Dan wieder nachdenklich am Tisch sitzen.

 

„Wer war am Telefon?“, frage ich neugierig.

 

„Ein Mitarbeiter vom FBI“, antwortet er und dreht sich zu mir um. „Sie haben FatJoe festgenommen.“

 

„Das ist super!“, sage ich erleichtert und entscheide mich noch zu ihm zu setzen, bevor ich schlafen gehe.

 

Doch sofort erinnere ich mich, was morgen folgen wird und spüre, wie meine Laune erheblich sinkt.

 

„Du schickst mich morgen früh weg?“, frage ich nach einer Weile und höre, wie verletzt es aus meinem Mund klingt.

 

Es scheint, als wäre die Tonlage nicht an ihm vorbeigegangen. Mit weit geöffneten Augen blickt er mich an und ich erkenne Ärgernis in seinen Augen.

 

„Wegschicken“, spuckt er das Wort aus und blickt mit aufgeblähten Nasenflügeln weg. „Als wärst du ein Hund, den ich nicht mehr haben will und irgendwo absetze.“

 

Daraufhin blicke ich zum Fenster, wo der Himmel immer dunkler wird. Er hätte das nicht so drastisch formulieren müssen. Ich muss zugeben, dass seine Reaktion darauf hinweisen könnte, dass er doch nicht will, dass ich gehe. Trotzdem hat er es nicht wortwörtlich gesagt. Da ich keine Antwort mehr von ihm erhalte und ich auch sehr erschöpft von dem ganzen Tag bin, stehe ich auf, um ins Schlafzimmer zu laufen. An der Tür bleibe ich noch einmal stehen und blicke zurück zum Tisch.

 

„Gute Nacht“, sage ich und lege mich ins Bett.

 

Der letzte Gedanke, der mir im Kopf herumschwirrt, bevor ich endgültig einnicke ist, dass dies womöglich die letzte Nacht sein wird, die ich mit Dan verbringen werde. Das Gefühl, dass ich von Anfang an recht hatte, dass Dan kein richtiger Entführer sein kann und somit kein schlechter Mensch ist, lässt mich dafür ruhiger schlafen.

 

Am nächsten Morgen ist es der Duft von Pfannkuchen, der mich aufweckt. Ein kurzer Seitenblick auf das Bett zeigt, dass Dan wohl in der Küche sein muss. Bevor ich mich entscheide ebenfalls in die Küche zu gehen, laufe ich ans Fenster. Der Regen peitscht gegen die Scheibe und die dicken, schwarzen Wolken sehen böse und gefährlich aus. Das Wetter lässt meine Laune erheblich sinken. Noch schlimmer wird es, als ich mich erinnere, dass ich Dan zum letzten Mal sehen werde.

 

Trotzdem drehe ich mich um und öffne die Tür, um in die Küche zu gehen. Dort treffe ich wie erwartet auf Dan, vor dem ein Berg von Pfannkuchen steht.

 

„Guten Morgen“, begrüßt er mich und lächelt.

 

Augenblicklich spüre ich, wie sich mein Herz sich wegen seines Lächelns zusammenzieht. Doch ich zwinge mich, meine Gefühle herunterzuschlucken und mich auf einen Stuhl zu setzen.

 

„Morgen“, antworte ich höflich. „Du machst Pfannkuchen?“, frage ich erstaunt.

 

„Das habe ich schon eine Ewigkeit nicht mehr gemacht“, gibt er ehrlich zu und stellt den Teller voller Pfannkuchen vor mir auf den Tisch. „Bediene dich bitte, ich hoffe, sie schmecken dir.“

 

Eigentlich hatte ich ja keinen Appetit, aber da er sie mit so viel Mühe hergerichtet hat, wäre es unfair keinen Einzigen zu essen. Außerdem blickt er mich voller Neugierde an, weswegen ich es gar nicht abschlagen könnte. Also nehme ich einen Bissen und bin begeistert von dem Geschmack, sodass ich gleich drei weitere esse. Während wir beide glücklich essen und er mir erzählt, wie anstrengend es war zu lernen, wie man sie zubereitet, vergesse ich für ein paar Minuten, dass es die letzten Pfannkuchen von ihm sein werden.

 

„Also wenn dir meine Pfannkuchen so gefallen haben, solltest du mal meinen Haferbrei probieren“, sagt er schließlich.

 

Daraufhin wird uns beiden gleichzeitig dasselbe klar, weswegen wir uns erst anblicken und danach beschämt in die jeweils andere Richtung schauen. Ich werde seinen Haferbrei nicht mehr probieren können und das weiß er.

 

„Wann bringst du mich weg?“, frage ich und räuspere mich.

 

„Das hatte ich jetzt vor“, sagt er und atmet tief aus.

 

Daraufhin blicke ich ihn mit großen, schockierten Augen an, als hätte gerade jemand auf mich geschossen. Mir war bewusst, dass ich mich heute verabschieden müsste, aber schon jetzt, so früh? Ich konnte nicht sofort darauf antworten, da mein Herz für einige Sekunden stillstand. Und ich weiß auch, dass Dan meinen unglaubwürdigen Blick bemerkt hat, aber das ist nicht so wichtig.

 

»Gut, dann ziehe ich mich um. «

 

Ohne ihn anzusehen, stehe ich langsam auf, da mir schlecht ist und will mit wackeligen Beinen zum Schlafzimmer laufen. Doch bevor ich auch nur den Tisch richtig verlassen konnte, hält er meine Hand fest.

 

„Warte“, sagt er nervös.

 

Seine Hand fühlt sich gut in meiner an und ich wünschte, er würde sie nie wieder loslassen. Hoffnungsvoll blicke ich ihn an und werde den Gedanken nicht los, dass es vielleicht doch ein Fünkchen Hoffnung gibt, indem er mir sagt, dass ich bleiben soll.

 

„Was ist?“, frage ich heiser.

 

„Wie hast du dich gefühlt, als dein Exfreund dich betrogen hat und ihr euch getrennt habt?“, fragt er unsicher. „Ich meine“, fährt er fort, da er nach der Frage mein Stirnrunzeln bemerkt hat. „Natürlich war es bestimmt schrecklich, aber würdest du das alles noch einmal durchmachen, wenn du wüsstest, wie es endet?“

 

Mein Stirnrunzeln verschwindet nicht aus meinem Gesicht, da ich keine Erklärung auf seine Antwort habe.

 

„Wieso willst du das wissen?“, frage ich verwirrt.

 

Ich kann keinerlei Verbindung zwischen seiner Frage und der Tatsache erkennen, dass ich jetzt nach Hause gehe.

 

„Beantworte sie einfach“, sagt er genervt.

 

Mir fällt erst jetzt auf, dass seine Hand immer noch meine umfasst. Ein wohliges Gefühl umschleicht mein Herz und ich gebe seiner Frage eine Chance. Meine zweite Hand lege ich nun ebenfalls auf seine und schließe meine Augen, um mich an meine alte Beziehung mit Tom zu erinnern. Betrogen zu werden ist der schlimmste Vertrauensbruch, den man jemand antun kann. Ich weiß noch, wie ich am Anfang ziemlich verletzt war. Doch da ich ihn sowieso nicht geliebt habe, tat es nach wenigen Wochen nicht mehr so weh.

 

„Es hat mich verletzt“, sage ich nur, da ich mir unsicher bin, was genau er von mir hören will.

 

Doch ich merke schnell, dass dies wohl das Falsche war. Denn sein Gesichtsausdruck verhärtet sich sofort und nach mehreren Überlegungen zieht er seine Hand aus meiner. Benommen stehe ich da und blicke ihn verwirrt an, da ich keine Ahnung habe, was mit ihm los ist.

 

„Du solltest dich umziehen gehen“, räuspert er sich und blickt an mir vorbei ins Schlafzimmer.

 

Dabei klang er nicht so, als wäre er böse auf mich, sondern einfach nur sicher eine Entscheidung getroffen zu haben. Also will er wohl wirklich, dass ich gehe. Da sich mein Herz schmerzhaft zusammenzieht, werde ich sofort wütend, weil es seine Schuld ist. Er hat mich entführt, einfach aus meinem Leben herausgerissen. Dan ist schuld daran, dass ich mich in ihn verliebt habe, da er mich geküsst hat, mir seine andere Seite gezeigt hat. Das hätte alles nicht passieren dürfen, nun bin ich diejenige, dessen Herz gebrochen wird.

 

Abrupt drehe ich mich um und laufe ins Schlafzimmer. Ohne weiter darüber nachzudenken, ziehe ich mir eine Jeans und einen Pullover an. Ich beschließe, die Sachen, die er mir gekauft hat in seinem Schrank zu lassen. Vielleicht braucht er sie ja für das nächste Mädchen, das er entführen wird. Sofort wird mir klar, wie stinksauer ich auf ihn bin. Meine Hände zittern und meine Nasenflügel blähen sich auf. Ich merke, dass sich vor Wut Tränen bilden, doch ich blinzele einfach kräftig und verdränge sie.

 

„Unten steht ein Taxi bereit“, ruft Dan aus dem Flur.

 

Böse knirsche ich mit meinen Zähnen, da er es wirklich darauf abgesehen hat mich schnellstmöglich loszuwerden.

 

„Bin schon längst fertig, habe nur darauf gewartet, dass du das sagst“, brülle ich zurück.

 

„Was soll das heißen >>Habe nur darauf gewartet, dass du das sagst<<?“, äfft er mich mit einer schrillen und verärgerten Stimme nach.

 

„Genau wortwörtlich habe ich es gemeint, du Schlaumeier“, sage ich provokant und strecke ihm die Zunge raus, als ich aus dem Zimmer laufe.

 

Da ich hier nichts habe, das ich wieder mit nach Hause nehmen könnte, laufe ich schon zu Dan, der neben der Haustür steht und wartet. Als ich fast bei ihm bin, stellt er sich mit verschränkten Armen vor die Tür und versperrt mir den Weg.

 

„Nicht so schnell“, sagt er böse. „Die Tage, die du hier verbracht hast, waren sehr anstrengend! Mit einer Nervensäge wie dir, war das alles nicht sehr einfach. Ich habe dir etwas zu Essen gegeben, dich nicht auf dem Boden schlafen lassen und war mit dir sogar draußen an der frischen Luft. Da verlange ich immerhin ein kleines Dankeschön.“

 

Ganz automatisch ziehe ich eine Augenbraue hoch und blicke ihn skeptisch an.

 

 „Wirklich?“, frage ich ihn unglaubwürdig. „Danke, dass du mich entführt hast? Ich glaube, ein >>Du kannst mich mal<<, trifft es eher.“

 

Ich sehe, wie sich sein Kiefer anspannt, und höre das Knacken seiner Fäuste. Kurz merke ich, wie glücklich es mich gemacht hat, ihn damit beleidigt zu haben, laufe aber trotzdem vorsichtig ein paar Schritte vor ihm zurück.

 

„Na, was hat Godzilla nun vor?“, frage ich schelmisch.

 

„Ich pfeife auf dein Dankeschön, du kannst dich also verziehen“, sagt er genervt.

 

Davon lasse ich mich nicht beeindrucken und anstatt verletzt zu sein, werde ich wütend, weswegen ich mich mit den Klamotten, die noch in seinem Kleiderschrank hängen, umentscheide.

 

»Schau mal im Lexikon unter Arschloch, da ist dein Gesicht abgebildet! «

 

Ich zeige ihm meinen Mittelfinger, drehe mich um und laufe wieder ins Schlafzimmer zurück, da ich beschlossen habe, alle Kleider mitzunehmen.

 

»Ich will ja nichts sagen, aber ein Arsch gehört in die Hose«, höre ich ihn räuspern.

 

Wie vom Blitz getroffen bleibe ich stehen, da ich nicht fassen kann, was er gesagt hat. Soeben hat Dan tatsächlich meinen Hintern beleidigt!

 

»Noch so ein Spruch und du kannst dein Essen in Zukunft aus der Schnabeltasche lutschen«, zische ich böse, als ich mich umdrehe und ihn herausfordernd anblicke.

 

Die Kleider im Kleiderschrank habe ich abrupt vergessen.

 

»Du drohst mir? «, fragt er amüsiert und lächelt.

 

„Angst?“, frage ich und hebe eine Augenbraue.

 

„Eigentlich nicht“, antwortet er und blickt mich von unten bis oben prüfend an. „Wobei ich vor deinen Knochen, die bei dir wie bei einer Hundehütte rausschauen, Respekt habe.“

 

Jetzt ist das Fass übergelaufen! Ich stürze mich wie ein Jaguar auf ihn, womit er nicht gerechnet hat, weswegen er mich nicht halten kann und mit mir umfällt.

 

„Nicht schlecht Kätzchen“, hustet er und muss erstaunt lachen.

 

Nachdem wir auf den Boden geprallt sind, habe ich schon überprüft, ob ich ihn arg verletzt habe. Die Wut ist beim Hinfallen sofort verraucht und mit Gewissensbissen liege ich auf ihm. Erst jetzt wird mir klar, wie kindisch das Ganze war.

 

„Es tut mir leid“, sage ich ehrlich und blicke ihn mit Absicht nicht an.

 

Zur Antwort spüre ich, wie er seine Hand auf meinen Kopf legt und mich beruhigend streichelt. So liegen wir eine Weile da, während niemand etwas sagt. Erst in diesem Moment wird mir klar, dass er mich nicht wirklich loswerden will, sonst hätte er das unmissverständlich klargemacht. Trotzdem könnte es nicht schaden, wenn er es einfach zugibt.

 

 „Ich will nur das Beste für dich Annie“, flüstert er.

 

Dann spüre ich, wie er sich hochhebt und mir ein Kuss auf den Kopf gibt. Während sich mein Herz zusammenkrümmt, entscheide ich schnell etwas zu tun, um den Schmerz zu stoppen. Also hebe ich vorsichtig meinen Kopf, blicke ihn kurz an und schon liegen meine Lippen auf seinen. Während ich registriere, wie weich sich seine Lippen anfühlen, meine ich ein Feuerwerk in mir explodieren zu spüren. Es liegt so viel Gefühl in diesem Kuss, dass ich es nur bedauern kann, als er sich mir entzieht.

 

„Du solltest lieber gehen“, räuspert er sich und blickt weg.

 

Enttäuscht schaue ich ihn an, doch er guckt weiterhin in die andere Richtung. Ich merke, wie die Feuerwerke schnell erlöschen und ich bereue, ihn geküsst zu haben. Vermutlich wollte er das gar nicht und ich habe ihn dazu gedrängt. Peinlich berührt hebe ich mich von ihm hoch und ziehe mein Oberteil richtig hin, um den Anschein zu erwecken, etwas Wichtiges zu tun.

 

„Ja, du hast recht“, stottere ich beklommen und ziehe mir eine Jacke an.

 

Währenddessen ist Dan ebenfalls aufgestanden und tippt ungeduldig mit seinem Fuß auf den Boden. Da ich ihn nicht länger aufhalten möchte, öffne ich die Haustür und laufe zum Aufzug. Ich höre, dass er mir nachgeht und sich wohl doch noch einmal bei mir verabschieden möchte. Während wir warten, sagt niemand von uns beiden etwas und wir blicken nur in die jeweils andere Richtung. Als der Aufzug mit einem Bling auftaucht und sich die Türen öffnen, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Mir kommen sofort die Tränen hoch, als mir klar wird, dass ich ihn nie wieder sehen werde.

 

„Es tut mir leid“, stammele ich und höre, wie fremd sich meine Stimme durch den Kloß im Hals anhört. „Ich hätte dich nicht küssen dürfen.“

 

Dann laufe ich ins Innere des Aufzuges, drücke auf den Knopf für das Erdgeschoss und blicke ihn hilfesuchend an. So viele Erinnerungen gehen mir auf einmal durch den Kopf: Wie ich in seiner Wohnung aufgewacht bin, das erste Mal mit ihm geredet habe, einkaufen war, gestritten habe, in der Bar saß, gegessen habe und wie er mich geküsst hat. Ich spüre, wie mir eine Träne die Wange hinabläuft, doch ich habe keine Kraft sie wegzuwischen.

 

„Leb wohl Annie“, sagt er leise.

 

Ich weiß nicht, ob er genauso leidet, wie ich. Oder ob er mich überhaupt vermissen wird. Für einen kurzen Moment konnte ich eine Sehnsucht in seinem Gesicht erkennen, doch dann schlossen sich die Türen und alles war vorbei. In dem Moment, als der Aufzug beginnt nach unten zu fahren, fange ich laut an zu schluchzen, da der Schmerz sich in meiner Brust entfaltet und immer stärker wird. Das Weinen kann ich nicht unterbrechen, auch nicht, als ich unten ankomme und durch das Foyer nach draußen laufe.

 

Ich steige in irgendein Taxi, das gerade vor dem Hotel steht. Kurz reiße ich mich zusammen und nenne dem Taxifahrer meine Adresse. Danach weine ich weiter und gebe mir auch nicht die Mühe, meine Tränen zu stoppen.

 

„Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“, höre ich den Taxifahrer mich fragen.

 

„Nein“, schluchze ich. „Nichts ist in Ordnung.“

Kapitel 16

Ich gebe dem Taxifahrer das Geld, steige aus und stehe vor unserem Haus. Gebannt blicke ich die Klingel an und habe keine Ahnung, wieso ich nicht endlich darauf drücke. Weinen kann ich nicht, ich habe das Gefühl, als gäbe es keine Flüssigkeit mehr in mir. Nun fühle ich mich endgültig leer und schrecklich müde. Ich weiß nicht, wie lange ich da stehe und die Klingel anstarre, doch irgendwann drücke ich einfach drauf. Was werde ich ihr sagen? Die Wahrheit? Dass ich gar nicht wirklich entführt wurde? Aber das müsste sie eigentlich schon wissen. Kann ich Dan einfach so aus meiner Geschichte raushalten? Bevor ich aber weiter darüber nachdenken kann, öffnet sich die Tür und ich blicke in das strenge Gesicht meiner Mutter. Ich erkenne, wie sich kleine Tränen in ihren Augen sammeln und sie vor Überraschung immer größer werden.

 

„Ich bin so froh, dass es dir gut geht!“, schluchzt sie und zerrt mich sofort in ihre Arme.

 

Ich habe meine Mutter noch nie weinen sehen, sie war immer zu stolz dafür, um zu zeigen, wie sie sich fühlt. Es kommt mir vor, als läge ich in den Armen einer fremden Frau. Irgendwann lässt sie mich los, wischt sich ihre Tränen weg und zieht mich mit ins Haus. Ohne mich aufzufordern, meine vom Regen nassen Schuhe auszuziehen oder meine Jacke abzunehmen, hält sie immer noch meine Hand fest und nimmt mich mit ins Wohnzimmer. Nichts scheint sich verändert zu haben, alles steht am alten Platz. Eine besondere Stelle auf dem Laminatboden quietscht immer noch und die Delle an der Küchentür ist auch noch da. Ich weiß nicht, weshalb ich erwartet hatte, dass sich etwas verändert. Es fühlt sich einfach nur seltsam an, dass alles so aussieht, als wäre ich nie weg gewesen.

 

Nachdem sie mich auf das Sofa gedrückt hat, setzt sie sich direkt neben mich und hält immer noch meine Hand fest gedrückt. Ich kann ihr nicht in die Augen sehen, auch wenn ich ihren aufdringlichen Blick auf mir spüre. Natürlich habe ich sie schrecklich vermisst, aber ich werde das Gefühl das beklemmende Gefühl einfach nicht los. In dem Moment, als ich das Haus betrat, spürte ich, wie die Erinnerungen an Dan gefährdet wurden. Mir kommt es so vor, als wäre alles nur ein Traum gewesen, ein Abenteuer in eine andere Welt und nun bin ich wieder in der Realität angekommen. Also traue ich mich nicht meine Mutter anzusehen, aus Angst, dass ich dieses Gefühl akzeptiere und Dan in meiner Erinnerung verliere. Stumm sitze ich da und blicke den Boden an, als hätte ich meine Stimme verloren.

 

„Das FBI hat mir schon alles erzählt und sich kräftig entschuldigt. Am Anfang hätte ich ihnen am liebsten die Köpfe abgerissen…“

 

Ich höre ihr kaum richtig zu. Alles, was ich weiß ist dass ich ihr jetzt nichts mehr berichten muss und somit wieder in mein normales Leben einsteigen kann. Das FBI hat ihr wohl wirklich alles erzählt, nur die Beziehung zwischen meinem Entführer und mir ist ihr fremd. Und das wird wohl auch so bleiben, da ich keine Kraft habe, ihr von ihm zu erzählen. Womöglich will ich das auch nicht.

 

„Annie?“

 

Ich merke, wie meine Mutter mich an meiner Schulter rüttelt. Erschrocken blicke ich sie an und hoffe, dass sie mich einfach in Ruhe lässt.

 

„Ich habe dich etwas gefragt. Ist alles in Ordnung mit dir? Du bist so still“, stellt sie besorgt fest.

 

Am liebsten würde ich ihr sagen, dass Schweigen manchmal die einzige Möglichkeit ist, zuzugeben, wie verletzt man ist. Aber damit könnte sie nichts anfangen und würde nur noch mehr Fragen an mich haben.

 

„Ich bin müde“, sage ich mit krächzender Stimme.

 

„Na gut“, seufzt sie nach einer Weile. „Das Ganze muss dich sehr mitgenommen haben. Selbstverständlich darfst du dich hinlegen, wir können auch morgen weiter reden.“

 

Dankbar stehe ich auf und lasse meine Mutter auf dem Sofa zurück. Wie benommen laufe ich die altbekannten Stufen hoch zu meinem Zimmer. Als ich die Tür öffne, dachte ich zuerst ich würde noch mehr Kummer bekommen. Doch zufrieden spüre ich eine Erleichterung in mir und laufe geradewegs auf mein Bett zu, um mich darauf fallen zu lassen. Es reicht ein Blick aus um zu sehen, dass sich auch in meinem Zimmer nichts verändert hat. Das finde ich aber nicht schlecht, sondern ich fühle mich geborgen.

 

Da es noch zu hell draußen ist, ziehe ich die Rollladen nach unten und lege mich geschwind wieder ins Bett. Mein Kummer um Dan wird immer größer, weswegen ich wieder das Bedürfnis bekomme zu weinen. Auf einmal erinnere ich mich aber an die Worte meiner Großmutter. Sie erklärte mir früher, dass ich meine Tränen für weit schlimmere Sachen aufbewahren sollte. Ist dies eine schlimme Sache?

 

Vermutlich schon. Ich kann an nichts anderes denken. Ständig frage ich mich, wie er mit der Situation ohne mich klarkommt. Will er sich vielleicht bei mir melden? Denkt er überhaupt an mich? Was macht er gerade? Vermisst er mich genauso, wie ich ihn vermisse?

 

Plötzlich bekomme ich eine Heidenangst. Wie lange wird es wohl dauern, bis ich über Dan hinwegkomme? Ich vermisse jetzt schon sein Lachen, seine Stimme und seine strahlenden Augen. Wie gerne würde ich nun seine Hand spüren, seine Lippen berühren oder einfach nur mit ihm reden. Die größte Sehnsucht, die mir fehlt, ist einfach die Nähe zu ihm. Wie könnte ich ihn je vergessen?

 

Obwohl sich meine Augen wegen der Müdigkeit und dem Weinen immer weiter schließen, will ich nicht einschlafen. Doch vielleicht werde ich dadurch den Gedanken an Dan verhindern? Den Drang wissen zu wollen, was er gerade macht, stört mich. Die dumme Hoffnung zu haben, dass er sich bei der Trennung genauso quält, wie ich mich. Ich wünschte, ich hätte mich nicht in ihn verliebt.

 

Ich weiß, was du mit dem Satz sagen willst, aber so hört sich das eigenartig an. Vielleicht irgendwie so: „Obwohl das Weinen mich müde gemacht hat ...“. Und dann vielleicht irgendwie noch, dass ihre Augen schwer geworden sind bzw. den Liebeskummer noch mit einbauen.

 

Wieso müssen Menschen denn auch lieben, enn es doch so eine Qual sein kann… Liebe war schon immer heilig und einzigartig für mich. Nie hätte ich gedacht, wie intensiv dieses Gefühl für einen anderen Menschen sein könnte. Vielleicht wäre alles anders verlaufen, wenn ich ihm gesagt hätte, dass ich mich in ihn verliebt habe. Weshalb habe ich es dann nicht gemacht? Weil ich feige bin. Mit diesem Gedanken schlafe ich endlich ein, auch wenn die Reue an meinem Herz nagt.

 

 

„Mensch Annie!“, höre ich eine altbekannte hohe Stimme.

 

Ich erwache sofort aus meinem Schlaf und runzele die Stirn, da ich die Stimme schon lange nicht mehr gehört habe.

 

„Du kannst dich doch nicht die ganze Zeit in deinem Zimmer verkriechen!“, sagt sie verärgert.

 

Ich muss mehrmals blinzeln, da ich im Schlaf wohl geweint habe und sich meine Wimpern verklebt haben. Doch als ich sie offen habe und alles wieder klar sehen kann, starre ich meine beste Freundin an, die mit gekreuzten Armen vor meinem Bett steht.

 

„Wurdest du dieses Mal von deinem Hausgeist in dein Zimmer entführt und eingesperrt?“, fragt sie und hebt eine Augenbraue.

 

Immer noch blicke ich sie ohne Worte an, da ich ihren Anblick vermisst habe und nicht wirklich weiß, was ich sagen soll.

 

„Das ist nicht witzig“, murre ich nur, blicke beschämt weg und setze mich aufrecht hin.

 

Ich erkenne von der Seite, wie Miriam stutzt und sich besorgt ans Herz fasst. Vorsichtig setzt sie sich neben mich und legt behutsam ihre Hand auf meinen Oberschenkel. In dem Moment wird mir klar, dass ich sie ebenfalls nicht ansehen möchte. Doch es ist eine ganz andere Situation als bei meiner Mutter. Hier habe ich nur Angst, dass Miriam erkennen könnte, dass ich todunglücklich bin.

 

 „Das FBI hat nur deiner Mutter und mir die Hintergründe der Entführung geschildert. Laut denen kam es jedoch zu keinem gewalttätigen Überfall auf dich, stimmt das auch wirklich?“, fragt sie mich und ich höre eine große Sorge in ihrer Stimme.

 

„Ja, es nichts passiert“, versichere ich sofort.

 

Die Sache mit FatJoe verdränge ich, da ich ansonsten viel zu viel erklären müsste, wozu ich momentan nicht imstande bin.

 

„Also kann man die Entführung als eine Art Auszeit von der Schule sehen, nicht wahr?“, fragt sie nun etwas erleichtert.

 

„So würde ich das nun auch wieder nicht formulieren“, meine ich nach einigen Überlegungen.

 

Währenddessen schaue ich die Sonnenuhr über meinem Schreibtisch an und folge dem Sekundenzeiger. Es ist bereits sieben Uhr abends, was bedeutet, dass ich lange geschlafen haben muss.

 

„Was ist passiert Annie?“, fragt Miriam nun entschlossen und ich spüre einen drängenden Blick auf mir.

 

„Ich wurde entführt“, antworte ich und bringe ein leichtes Lächeln zustande, meine Augen haften weiterhin auf dem Sekundenzeiger.

 

„Und was noch?“, fragt sie ungeduldig.

 

Auf diese Frage bleibe ich still, weil ich nicht weiß, wie ich sie beantworten kann. Bin ich schon bereit über die Beziehung zwischen Dan und mir zu sprechen? Kann ich meine Gefühle gegenüber meinem Entführer zugeben? Vielleicht ist es doch nicht richtig sich an die Erinnerungen zu klammern, sondern eher sie zu vergessen und zu verdrängen. Schaffe ich es aber Dan jetzt schon zu vergessen?

 

„Annie!“, weckt mich Miriam aus meinen Gedanken. „Schau mich endlich an.“

 

Sofort stockt mir der Atem, da mir alles zu schnell geht. Ich wurde zu schnell von Dan getrennt, zu schnell nach Hause gebracht, zu schnell will man mit mir über die Ereignisse reden und zu schnell setze ich mich mit dem Gedanken auseinander, ob ich Dan vergessen soll. Nun brauche ich Zeit, um über alles nachdenken zu können! Daraufhin blicke ich Miriam böse in die Augen und spüre, wie mein Puls schneller wird.

 

„Was willst du von mir hören?“, frage ich sie und meine Augen verformen sich zu Schlitzen. „Ich wurde mitten am Tag entführt! Ich hatte Todesangst, als ich auf einem stinkenden Sofa aufgewacht bin! Ich durchlebte ein Gefühlschaos, als ich meinen Entführer kennenlernte und mehrere Tage mit ihm verbrachte. Ich wurde krank, hatte Fieber und hatte immerzu Heimweh. Ich lernte schlimme Menschen kennen und wurde letztendlich beinahe vergewaltigt und nun bin ich zu Hause. Man will von mir wissen, wie es mir geht, doch darauf habe ich keine Antwort, weil ich noch keine Zeit hatte, es herauszufinden. Also bitte, geh und gib mir diese kostbare Zeit!“

 

Plötzlich ist es still im Zimmer, wir blicken uns beide an und meine Wut ist bereits in Sekunden verraucht. Ich spüre, dass meine Backen nass sind, was darauf schließen lässt, dass ich geweint habe. Natürlich bereue ich sofort meinen Wutausbruch an Miriam, doch es erleichtert mich, dass sie mich nicht böse anblickt. Im Gegenteil, mit bemitleidendem Blick hebt sie ihre Hand, wischt mir die Tränen aus dem Gesicht und umarmt mich fest.

 

„Na gut“, flüstert sie und steht auf. „Ich komme in einer Woche wieder vorbei, um nach dir zu sehen. Ich gebe deiner Mutter Bescheid, dass du zu erschöpft bist, um runter zum Essen zu kommen. Hier ist deine Zeit, um über dich nachzudenken.“

 

Dann dreht sie sich um und verlässt mein Zimmer. Ich höre nur noch das Ticken der Uhr und spüre mein Herz, wie es gegen meine Brust schlägt. So wie ich Miriam kenne, ist sie nicht böse auf mich. Das ist eine ihrer guten Eigenschaften, dass sie nicht so schnell sauer wird. Ich sitze also immer noch auf meinem Bett und spüre, wie die Müdigkeit sich wieder bei mir meldet. Also lege ich mich wieder hin und schließe meine Augen. Vielleicht will ich schlafen, weil ich mich noch nicht mit dem Thema auseinandersetzen möchte. Trotzdem nehme ich mir vor, über alles gründlich nachzudenken, wenn ich wieder aufwache.

 

 

Ich wache erst am nächsten Morgen wieder auf, als die Sonne gerade aufgeht. Gestern habe ich nichts gegessen, weswegen mein Magen nun enorm rebelliert und ich langsam aus dem Bett steige. Nachdem ich die Tür meines Zimmers leise hinter mir schließe, laufe ich auf Zehenspitzen die Treppen runter. Um diese Uhrzeit schläft meine Mutter noch und ich will sie sicherlich nicht wecken, um mit ihr über die letzten Ereignisse zu plaudern. In der Küche angekommen atme ich erleichtert aus, da sie tatsächlich noch schläft. Schnell schiebe ich mir zwei Toast in den Mund und beschließe wieder zurück ins Zimmer zu gehen und später weiter zu essen. Ich weiß nämlich, dass ich mich mit meiner Entführung auseinandersetzen muss.

 

Als ich wieder in meinem Zimmer bin, fange ich auch damit an. Ich liege im Bett und beginne von Anfang an. Im Kopf erinnere ich mich an das Aufwachen auf dem Sofa, wie ich nach einem Fluchtweg gesucht habe und letztendlich Dan verschlafen aus seinem Zimmer gekrochen ist. Schon da hätte ich wissen müssen, dass das keine richtige Entführung sein konnte. Ich war schließlich weder gefesselt, noch passte jemand die ganze Zeit auf mich auf. Schließlich die Tage, als ich krank wurde und Dan sich um mich gekümmert hat. Schon wieder ein Zeichen dafür, dass ich gar kein richtiges Entführungsopfer war. An dem Abend, als Dan mich mit in die Bar genommen hat, war ich vermutlich nur dabei, weil Danny sichergehen wollte, dass Dan mit seiner Entführungsgeschichte nicht lügt. Was danach geschehen ist, hat Dan nicht voraussehen können.

 

Immer noch verärgert über diese Aktion schlucke ich meinen Kloß im Hals runter und erinnere mich an den Abend im Restaurant. Wäre da nicht die Entführung gewesen, hätte das Ganze wie ein Date aussehen können, was darauf hinweist, dass ich da ebenfalls hätte merken können, dass etwas faul an der Geschichte ist. Dan hat vieles von sich preisgegeben, was ein normaler Entführer nicht gemacht hätte, vor allem nicht in einem öffentlichen Restaurant.

 

Als mir klar wird, was als Nächstes kommt, wird mir übel: FatJoe. Das war wohl das Gefährlichste, was ich während der Entführung erlebt habe. In dem Moment hatte ich wirklich Todesangst. Es hätte alles anders verlaufen können. Tatsächlich hätte er mich vergewaltigen können. Diese Erfahrung trage ich nun in meinem Leben und nehme mir vor, mich in einem Selbstverteidigungskurs anzumelden. Ich hatte großes Glück und bin auch stolz auf mich selbst, dass ich ihm trotzen konnte. Auch wenn das die gefährlichste Aktion gewesen ist, war das Heimschicken von Dan die Schmerzlichste von allen.

 

Ich kann es immer noch nicht ganz glauben, dass ich ihn nie wieder sehen werde. Natürlich ist mir bereits der Gedanke gekommen, dass ich einfach zurück zum Hotel fahren könnte. Doch er hat mich fortgeschickt und nicht aufgehalten! Das ist der Grund, weshalb ich mich dagegen sträube und ihn lieber nie wiedersehe, als erbärmlich vor seiner Tür zu stehen und ihm meine Liebe zu gestehen. Das kann und will ich nicht, auch wenn die Trennung von ihm wehtut. Was am schlimmsten wehtut, ist die Ungewissheit, ob er mich wohl genauso vermisst. Dabei bin ich mir sicher, dass das vermutlich nicht zutrifft.

 

Ich liege noch ein paar Stunden im Bett und denke über dies und jenes nach. Irgendwann ist es genug und ich entscheide mich, runter in die Küche zu meiner Mutter zu gehen. Ich habe sie etwas vernachlässigt, und wie es scheint, hat sie mich wirklich vermisst. Und sie hat es verdient zu hören, wie es mir ergangen ist. Außerdem fühle ich mich schon besser, nachdem ich über alles gründlich nachdenken konnte.

 

Also laufe ich zur Tür, drücke zuversichtlich die Klinke und gehe die Treppen hinunter in die Küche. Stutzend bleibe ich vor dem Eingang der Küche stehen, da es vollkommen still ist und meine Mutter einfach nur da sitzt. Es steht eine Tasse vor ihr und nachdenklich blickt sie zum Fenster. Aus dem Blickwinkel erkenne ich Falten unter ihren Augen. Waren sie davor auch schon da?

 

„Du kannst dich ruhig zu mir setzen“, spricht mich meine Mutter plötzlich direkt an.

 

Ich war so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht gemerkt habe, dass sie sich zu mir gedreht hat.

 

„Gerne“, antworte ich leise und setze mich ihr gegenüber hin.

 

„Möchtest du etwas trinken oder essen?“, fragt sie mich, nachdem sie einen Schluck von ihrem Kaffee genommen hat.

 

„Kaffee wäre toll“, sage ich und setze mich bequemer hin, in Form eines Schneidersitzes.

 

„Hast du gut geschlafen?“, fragt sie, als sie mir gerade Kaffee einschenkt.

 

„Ja“, sage ich. Aals mir klar wird, wie eintönig ich bin, füge ich an. „Es tat gut, mal wieder im eigenen Bett schlafen zu können.“

 

Sekunden nach der Aussage erkenne ich, wie meine Mutter leicht zusammenzuckt. Erschrocken wegen ihrer Reaktion weiß ich nicht, was ich sagen soll. Sie muss sich wohl extreme Sorgen gemacht haben. Doch als sie sich umdreht, ist ihr Gesicht ausdruckslos. Ganz normal setzt sie sich wieder auf ihren Stuhl, ohne mich jedoch anzusehen. Ich trinke erst einmal einen Schluck Kaffee, bevor ich entscheide über die Entführung zu reden. Doch gerade, als ich die passenden Worte gefunden habe, erkenne ich an ihr, dass sie etwas sagen will, da sie immer wieder ihren Mund öffnet. Geduldig trinke ich meinen Kaffee weiter und warte, bis sie etwas sagt.

 

„Ich hatte vor sie anzuzeigen“, gibt sie auf einmal zu.

 

Verblüfft und mit großen Augen blicke ich sie an.

 

„Dafür, was sie dir angetan haben! Du wurdest einfach entführt, herausgerissen aus deinem normalen Leben. Wie konnten sie dir das antun? Wie können sie das überhaupt irgendjemandem antun? Und nach dem ganzen Stress, den ganzen schlaflosen Nächten, geben sie einem Bescheid, dass das alles doch gar keine richtige Entführung war“, lacht sie hysterisch und ich sehe, wie ihre Augen glasig werden.

 

„Ich meine, du wurdest trotzdem entführt, auch wenn sie sagen, dass es keine richtige Entführung war!“, sagt sie laut, um es klarzustellen.

 

Plötzlich wird mir klar, dass das Ganze nicht nur mich betrifft, sondern auch sie. Sie konnte mich nicht beschützen, nicht retten und muss sich total schuldig fühlen. 

 

„Mir geht es gut“, sage ich nach einer Weile leise und greife nach ihrer Hand.

 

Als ich ihre kalte Hand berühre, zieht sich mein Herz sofort zusammen. Die ganze Zeit war ich so egoistisch und habe nur an mich gedacht, wobei es ihr genauso schlecht geht.

 

„Schau mich bitte an“, bitte ich heiser, da ich einen Kloß im Hals spüre.

 

Mehrmals muss sie blinzeln, um die Tränen zu verbergen. Erst nachdem sie tief einatmet, blickt sie mich mit roten Augen an und ich spüre, wie ihre Hand zittert.

 

„Mir geht es gut“, wiederhole ich mit stärkerer Stimme, doch sie schüttelt widerstrebend ihren Kopf.

 

„Nein“, sagt sie sicher und presst ihre Lippen zusammen. „Das glaube ich nicht.“

 

„Niemand hat mir wehgetan“, lüge ich, um ihr ihre Sorge abzunehmen. „Der einzige Schmerz war das Heimweh.“

 

Daraufhin merke ich, wie ihre Anspannung mehr und mehr verloren geht und ihr Blick etwas weicher wird.

 

„Ich habe dich auch unendlich vermisst“, gibt sie zu und lässt ihren Tränen freien Lauf.

 

Sofort stehe ich auf, laufe zu ihr hin und nehme sie in meine Arme. Schluchzend klammert sie sich an mich und ich mich an sie. Natürlich kommen mir ebenfalls die Tränen. Das war schon immer so. Wenn meine Mutter geweint hat, musste ich auch weinen. Das liegt vermutlich daran, dass sie so selten weint und immer nur, wenn sie wirklich verletzt ist. Irgendwann beruhigen wir uns beide und ich setze mich wieder auf meinen Stuhl. Erleichtert blickt sie mich an und hebt sogar ihren Mundwinkel etwas in die Höhe.

 

„Hast du Hunger?“, fragt sie mich.

 

Nachdem ich kräftig nicke, frühstücken wir zusammen ausgiebig und unterhalten uns zuerst über Kleinigkeiten. Sie erzählt mir, wie es ihr auf der Arbeit erging, wie einsam sie sich zu Hause gefühlt hat und wie die Leute sie draußen immer bemitleidend angeschaut haben. Auch wenn wir irgendwann fertig mit dem Frühstück sind, sitzen wir trotzdem noch in der Küche und reden weiter. Nach einiger Zeit entschließe ich mich, ihr von der Entführung zu erzählen. Tatsächlich traue ich mich sogar zu erzählen, was mir an Dan lag und wie ich es am Anfang nicht wahrnehmen konnte, da er ja mein Entführer war. Zuerst hörte sie mit gerunzelter Stirn zu, schließlich ergriff sie aber meine Hand und nickte mir aufmunternd zu. Nur das Erlebnis mit FatJoe erzähle ich ihr nicht, weil ich nicht will, dass sie sich unnötig Sorgen macht.

 

Wir saßen eine lange Zeit in der Küche, irgendwann wechselten wir ins Wohnzimmer auf das Sofa. Anstatt den Fernseher anzuschalten, redeten wir einfach weiter. Mir kommt es fast so vor, als hätte die Entführung meine Mutter und mich näher zusammengebracht. Früher konnte ich nie so offen mit ihr reden, weil sie mich immer unterbrochen hatte und mich wie ein kleines Kind behandelt hatte. Nun sitzt sie vor mir und schaut mich mit ganz anderen Augen an. Sie nimmt mich ernst und lacht mich nicht wegen meiner Gefühle gegenüber Dan aus. 

 

„Ich verstehe auch nicht, warum ausgerechnet ich entführt wurde“, seufze ich zum Schluss.

 

Nachdenklich sitzt meine Mutter neben mir und blickt leer in die Luft.

 

„Vielleicht war es ja Schicksal“, flüstert sie, als könne sie es selbst nicht glauben.

 

„Seit wann glaubst du denn an so was?“, frage ich sie skeptisch und blicke sie mit hochgezogener Augenbraue an.

 

„Ich habe dir das nie erzählt“, räuspert sie sich und blickt immer noch in die Luft. „Ich meine die Geschichte, wie ich deinen Vater kennengelernt habe.“

 

Für einen kurzen Moment merke ich, wie mein Herz einen Sprung macht und mein Puls schneller wird. Das ist das erste Mal, dass meine Mutter von selbst über meinen Vater redet. Sonst habe ich sie immer bedrängt mir von ihm zu erzählen und eingeschnappt erzählte sie mir dann immer, wie er uns verließ. Es ist unfassbar, dass sie ihr Kennenlernen mit mir teilen möchte. Gespannt sitze ich also da und blicke sie mit großen Augen an.

 

„Es war ein ganz normaler Tag. Ich war gerade in der Stadt unterwegs, als ein Mann mich von der Seite anrempelte, meine Handtasche von meinem Arm riss und damit wegrannte. Zuerst war ich so perplex, dass ich nichts sagen konnte, doch dann rief ich nach Hilfe und bat die Leute ihn festzuhalten, die ihm entgegen liefen. Doch keiner reagierte, bis ein Mann sich zum Taschendieb umdrehte und ihm hinterher rannte“, erklärt sie und ich merke, wie ihre Augen anfangen zu leuchten. „Wie angewurzelt blieb ich stehen und hoffte der Mann könne den Dieb fassen. Tatsächlich kam der Mann wieder mit meiner Tasche in der Hand zurück und überreichte sie mir. Sein Lächeln war unfassbar schön und seine Augen wie deine.“

 

Kurz blickt sie mich mit einem Grinsen an und erzählt weiter.

 

„Als Dank lud ich ihn zum Essen ein und danach trafen wir uns noch einmal und noch einmal, bis er mir einen Heiratsantrag machte. Eins kam auf das Andere und schließlich wurdest du geboren. Das war der Moment, als er uns dann verließ“, seufzt sie und klingt verbittert.

               

 „Wieso erzählst du mir das?“, frage ich sie nach einer Pause traurig.

 

„Weil es Schicksal war, dass wir uns so begegnet sind“, antwortet sie und lächelt mich leicht an. „Durch dieses Erlebnis wurdest du geboren. Und vielleicht hat eine höhere Gewalt entschieden, dass du Dan begegnest, auch wenn das Treffen keine feine Art war.“

 

„Und weshalb erst jetzt?“, frage ich und runzele die Stirn.

 

„Ich weiß nicht“, murmelt sie unsicher. „Vermutlich hatte ich Angst, dass dir die Geschichte so sehr gefällt, dass du etwas Positives an ihm siehst und womöglich nach ihm suchen willst.“

 

„Danke, dass du mir das erzählt hast“, lächele ich leicht und lege mich in ihre Arme.

 

„Ich habe dich wirklich vermisst“, flüstert sie in mein Ohr und seufzt.

 

„Ich dich auch.“

Kapitel 17

Es vergingen genau sieben Tage, bis Miriam wieder bei mir aufgetaucht ist. In diesen sieben Tagen habe ich die schönste Zeit mit meiner Mutter verbracht. Wie kochten zusammen, redeten über alles Mögliche und verbrachten die ganze Zeit nur zu zweit. Wie es scheint, hat sie sich absichtlich freigenommen, damit wir uns in Ruhe aussprechen konnten und ich hatte auch kein großes Bedürfnis nach draußen zu gehen. Die Zweisamkeit mit meiner Mutter tat mir wirklich gut.

 

Vielleicht liegt das auch daran, dass ich dadurch nicht die ganze Zeit über Dan nachdenken musste. Selbstverständlich hat meine Mutter vorsichtig versucht, das Thema „Entführung“ anzusprechen. Am Anfang war ich etwas vorsichtig und wehrte mich dagegen, irgendwann jedoch erzählte ich ihr von Dan, die Zeit mit ihm und die Wahrheit, dass es mir gar nicht wie eine richtige Entführung vorkam. Lange unterhielten wir uns über das Thema und ich merkte, dass ich unbedingt darüber reden wollte und erleichtert war, nachdem alles ausgesprochen war.

 

Nun sitze ich mit Miriam auf meinem Bett und erzähle ihr ebenfalls über meine Zeit der Entführung. Jedoch werden in diesem Gespräch keine Einzelheiten verschwiegen, sondern gelüftet.

 

„Das hast du also die ganze Zeit getrieben“, säuselt sie lächelnd, nachdem ich fertig bin.

 

Daraufhin zucke ich nur mit der Schulter und lächele leicht, weil einige Erinnerungen an die Zeit schön waren. Andere Erinnerungen bringen mich jedoch wieder zur Weißglut, weswegen ich verärgert antworte: „Er ist ein arrogantes, selbstverliebtes Arschloch.“

 

„Aber?“, fragt sie und grinst, als wüsste sie, dass der Satz nicht fertig ist.

 

„Aber ich werde ihn nie wieder sehen“, flüstere ich ehrlich und blicke sie mit wackeren Augen an.

 

Ich habe das Gefühl, als wäre ich in den letzten Tagen etwas reifer geworden. Immerhin muss ich nach solch einem Gedanken nicht wieder stundenlang heulen. Langsam habe ich akzeptiert, dass ich mich damit abfinden muss, dass ich ihn nicht wiedersehen werde.

 

„Wie kannst du so etwas hoffnungsloses sagen, wenn du doch Hals über Kopf in ihn verliebt bist?“, fragt Miriam sichtlich erschüttert.

 

„Ich habe lange über das Wort `Verliebt´  nachgedacht“, antworte ich stattdessen. „Verliebt sein ist das Gefühl Schmetterlinge im Bauch zu haben und die ganze Zeit bei ihm sein zu wollen, aber ich fühle etwas ganz anderes“, versuche ich zu erklären und nehme tief Luft, um neue Worte zu sammeln. „Als ich ins Auto stieg, spürte ich, wie das Band zwischen uns zerriss. Mit dieser Erkenntnis zerbrach auch etwas tief in mir. Tatsächlich ist das nicht nur rhetorisch gemeint, sondern ich habe wortwörtlich gefühlt, wie mein Herz auseinandergerissen wurde. Da waren keine Schmetterlinge mehr, Miriam“, versuche ich ihr zu beschreiben. „Ich will nicht die ganze Zeit bei ihm sein. Es ist eher so, dass ich das Gefühl habe, ich könnte gar nichts mehr anderes. Jetzt, wo ich nicht mehr bei ihm sein kann, weiß ich nicht mehr weiter mit mir. Ich habe keine Lust mehr auf nichts, kein Geschmack und auch meine Gefühle werden immer stumpfer.“

 

„Dann musst du ihn wohl lieben“, meint sie niedergeschlagen und seufzt.

 

Daraufhin sage ich nichts und blicke einfach auf meine Bettdecke, bis ich ihre Hand auf meiner Schulter spüre.

 

„Ich weiß, wie du dich fühlst“, sagt sie mitfühlend.

 

Auch wenn es nicht meinen Schmerz wegnimmt, so tröstet es mich dennoch, dass ich eine Freundin bei mir habe, die mich weder verurteilt noch verständnislos reagiert. Dankbar lächele ich sie leicht an.

 

„Lass uns ausgehen“, sagt sie auf einmal und springt auf. „Weißt du, als ich Liebeskummer hatte, half es mir am besten nach draußen zu gehen“, schlägt sie vor.

 

„Ich weiß nicht so recht“, meine ich kritisch und blicke auf mein bequemes Bett.

 

„Wann warst du das letzte Mal draußen?“, fragt sie mich herausfordernd.

 

Daraufhin brauche ich mir gar nicht die Mühe geben, ihr zu widersprechen. Schlimm genug, dass ich mich tatsächlich nicht mehr erinnern kann, wann ich das letzte Mal einen Fuß nach draußen gesetzt habe. Also stehe ich widerstandslos auf und ziehe mich an. Als wir schließlich beide fertig angezogen im Flur vor der Haustür stehen, berichte ich erst einmal meiner Mutter von unserem Vorhaben.

 

„Bist du dir sicher?“, fragt sie besorgt.

 

Ich glaube viel eher, dass sie Angst hat, mir könne wieder etwas zustoßen, als dass ich wegen Dan noch nicht bereit dazu wäre. Darum nehme ich sie in meine Arme und verspreche ihr hoch und heilig, dass ich auf mich aufpassen werde. Erst nach einer Minute lässt sie mich mit sorgenvollem Gesicht los. Also schnappen wir uns einen Regenschirm und verlassen schnell das Haus, bevor meine Mutter ein Argument für mich findet, dazubleiben.

 

Unter dem Regenschirm laufen wir zur Bushaltestelle, indem wir über Pfützen springen und versuchen, nicht nass zu werden.

 

„Wie sieht’s eigentlich bei dir aus?“, frage ich sie neugierig, als wir an der Haltestelle angekommen sind. „Was habe ich verpasst?“

 

„Was genau meinst du?“, fragt sie und blickt mich mit hochgezogener Augenbraue an.

 

„Hast du jemand Neues kennengelernt?“, stelle ich die Frage nun direkt.

 

Ich muss auf ihre Antwort warten, da der Bus angefahren kommt und wir schnell einsteigen, um nicht nass zu werden. Als wir uns jedoch einen Sitzplatz ergattert haben, blicke ich sie auffordernd an.

 

„Ja und Nein“, antwortet sie genervt und verdreht ihre Augen. „Erinnerst du dich noch an Luca?“

 

Daraufhin entkommt mir sofort ein mühsames Stöhnen. Nicht der schon wieder …

 

 „Wir haben nichts Ernstes miteinander“, wirft sie schnell ein. „Nur ein bisschen Spaß.“

 

„Und da bist du dir ganz sicher?“, frage ich sie unsicher.

 

Mit Luca hatte sie früher eine enge Beziehung, die drei Monaten hielt. Danach hatte sie eigentlich geschworen, nie wieder etwas mit ihm anzufangen.

 

„Ich halte das für keine so gute Idee“, sage ich ihr offen.

 

„Das habe ich mir schon gedacht, aber es ist okay“, sagt sie ehrlich. „Zwischen uns ist nichts Ernstes, das schwöre ich. Aus diesem Grund kann ich am Ende auch nicht verletzt werden.“

 

„Na gut“, sage ich nach einer Weile und blicke trotzdem unzufrieden aus dem Fenster.

 

„Weißt du eigentlich, dass sich alle auf der Schule Sorgen um dich gemacht haben“, sagt sie auf einmal entsetzt. „Und damit meine ich wirklich alle, selbst Cindy! Sie hielten es alle für unfassbar, dass du entführt wurdest, und sprachen mir alle ihr Beileid aus.“

 

Daraufhin weiß ich nichts zu sagen. Ich war nicht wirklich beliebt auf der Schule, jedenfalls kannten mich nicht alle. Aus diesem Grund hätte ich auch nicht erwartet, dass sie sich Sorgen machen.

 

„Wir haben sogar eine Gruppe gegründet, um eine Demonstration gegen deinen Entführer zu planen“, lacht sie heiter.

 

Wegen dieser Idee lache ich sofort mit ihr. Ich kann mir so gut vorstellen, wie skeptisch Dans Gesicht aussehen würde, wenn er die Demonstration mitbekommen hätte. Als der Bus endlich im Zentrum anhält, steigen wir immer noch belustigt von der Idee aus. Gierig zerrt Miriam plötzlich an meine Hand und zieht mich mit. Als wir vor einem Friseurladen stehen bleiben, blicke ich sie neugierig an.

 

„Du willst dir die Haare schneiden?“, frage ich

 

„Nein“, sagt sie lächelnd und öffnet die Tür, um mich mit reinzuziehen. „Aber du.“

 

Völlig perplex stehe ich im Laden und rieche Shampoo, Farbe und Öl.

 

„Was kann ich für sie tun?“, meldet sich eine Friseurin.

 

Immer noch sprachlos blicke ich ihren schwarzen Bob an und bemerke ihre pinken Strähnchen. In diesem Moment wird mir klar, dass wir gerade tatsächlich in einem Friseursalon sind. Geduldig wartet sie auf meine Antwort, während mein Hirn rattert.

 

„Ich würde gerne meine Haare färben“, antworte ich endlich und merke, dass diese Entscheidung noch gar nicht richtig durchdacht ist.

 

Zwar ist es spontan, jedoch habe ich nichts einzuwenden. Wieso denn auch? Ich sollte mal etwas Neues wagen. Vielleicht nicht genau dasselbe wie die Verkäuferin, aber immerhin etwas Ähnliches.

 

„Welche Farbe hättest du denn gerne?“, fragt sie und blickt nachdenklich meine braunen Haare an.

 

„Schwarz“, kommt es wie von einer Pistole aus mir geschossen.

 

Vielleicht wurde ich ja von ihrer Haarfarbe manipuliert … Nachdenklich mustert die Verkäuferin mich von Kopf bis Fuß.

 

 „Ich glaube, schwarz wäre zu radikal für dich“, meint sie ehrlich. „Wie würdest du dich mit dunkelbraun zufriedenstellen?“

 

Dankbar für ihre Ehrlichkeit nicke ich ihr kräftig zu und laufe ihr hinterher zu einem Friseurstuhl. Mit einem schwarzen Umhang deckt sie mich zu und kämmt zuerst meine langen Haare durch.

 

„Ich hatte früher auch solche hellbraunen Haare“, erinnert sie sich. „Dann wollte ich einen neuen Anfang, schnitt sie ab und färbte sie. Ich bin sehr zufrieden.“

 

„Mit dem Schneiden bin ich mir nicht so sicher“, gebe ich zu.

 

„Kein Problem“, zwinkert sie.

 

Dann verschwindet sie erst mal und kommt wieder mit einem Becher Farbe. Anschließend streicht sie die Farbe Stück für Stück auf meine Haare und ich warte artig. Während die halbe Stunde vorbei geht, erzählt Miriam mir den neusten Tratsch. Nachdem es so weit ist, wäscht sie die Farbe raus, kämmt meine Haare durch und föhnt sie. Da ich ziemlich aufgeregt bin, schließe ich lieber meine Augen.

 

„Wow“, höre ich von Miriam.

 

„Du kannst deine Augen jetzt wieder aufmachen“, kichert die Verkäuferin.

 

Langsam öffne ich meine Augen und blicke in mein Spiegelbild. Zufrieden fasse ich meine Haare an und lächele mich selbst an. Der Unterschied zu meiner vorherigen Haarfarbe ist nicht so groß, aber man merkt trotzdem, dass sich etwas verändert hat. Das finde ich toll!

 

„Jetzt wird es Zeit noch irgendwas zum Anziehen zu finden, nicht wahr?“, fragt Miriam ebenfalls glücklich.

 

Also stehe ich auf, bezahle und bedanke mich vielmals bei der Verkäuferin. Bevor wir den Laden verlassen, erinnert die Verkäuferin mich noch einmal zu ihr zukommen, wenn ich mich entschieden habe meine Haare doch noch zu schneiden. In einer Boutique, unweit vom Friseurladen, durchsuchen wir jede Menge Kleidungsstücke. Als ich plötzlich Miriam hinter mir nach Luft schnappen höre, laufe ich sofort zu ihr.

 

„Alles in Ordnung bei dir?“, frage ich besorgt.

 

Sie bleibt sprachlos und zeigt nur mit dem Finger auf ein Kleid, das an einer Schaufensterpuppe hängt. Das Kleid ist schick: Lila, trägerlos und mit Pailletten bestückt.

 

 „Es gefällt dir?“, frage ich grinsend.

 

Tatsächlich würde das Kleid perfekt zu ihren rotbraunen Haaren passen. Energisch nickt sie, schnappt sich das Kleid und verschwindet in den Umkleideraum. Ich mache es ihr gleich nach, als ich ein hübsches Oberteil finde, das gut zu meiner Jeans passen würde.

 

„Hast du was gefunden?“, ruft Miriam von gegenüber.

 

„Jap“, antworte ich und mustere mich im Spiegel.

 

Das rote Oberteil mit schwarzer Spitze passt gut zu meiner neuen Haarfarbe! Also trete ich aus der Kabine raus und warte auf Miriam.

 

„Nicht schlecht“, sage ich erstaunt, als ich das lila Kleid an ihr sehe.

 

„Deins sieht auch toll aus“, sagt sie begeistert und klatscht in die Hände. „Wir behalten das jetzt an, kaufen es und gehen in den neuen, angesagten Club.“

 

Noch bevor ich etwas sagen kann, verschwindet Miriam in die Schuhabteilung. Nachdenklich sehe ich mich im Spiegel an und merke, dass ich lieber nach Hause gegangen wäre. Heute habe ich genug gemacht, ein Club wäre jetzt nicht nötig. Aber da Miriam ganz entzückt von ihrer Idee ist, begleite ich sie. Außerdem habe ich das Gefühl, dass sie sich jetzt noch passende Schuhe zu ihrem Kleid kauft und ihr Outfit sofort in der Öffentlichkeit präsentieren will. Also laufe ich schon einmal zur Kasse und warte artig, bis Miriam fertig ist.

 

 „Das Oberteil passt wirklich gut zu Ihnen“, sagt die Verkäuferin hinter der Kasse und blickt mich strahlend an.

 

„Vielen Dank“, antworte ich.

 

Als ich merke, dass die Verkäuferin ihren Blick gar nicht mehr von mir los wird, wünsche ich mir ganz dringend, dass Miriam endlich fertig ist. Nach einer Minute schnellt sie bereits zur Kasse und ich atme erleichtert aus.

 

„Du bist das Mädchen aus dem Fernsehen, das entführt wurde“, stellt die Verkäuferin schockiert fest und zeigt auf ihren kleinen Fernseher, der schräg vor der Kasse steht. „Dein Gesicht war ständig in den Nachrichten zu sehen!“

 

Sprachlos blicken Miriam und ich sie an. Ich weiß gar nicht was ich sagen soll. Das Einzige, was ich mir wünsche ist, sofort woanders sein zu können. Wird das jetzt überall so ablaufen? Bin ich das Mädchen, das entführt wurde?

 

 „Da müssen Sie sie verwechselt haben“, lacht Miriam peinlich berührt und die Verkäuferin wird sofort rot.

 

„Oh Gott! Das tut mir schrecklich leid“, sagt sie hastig und kassiert schnell ab.

 

Als wir schließlich aus dem Laden treten, ist es draußen bereits dunkel und frisch geworden. Doch das ist gar nicht so schlimm. Viel schlimmer war die Aktion mit der Verkäuferin, worüber ich immer noch nicht hinwegkomme!

 

„Alles klar?“, fragt Miriam mich besorgt und legt ihre Hand auf meine Schulter.

 

„Nein“, sage ich aufgebracht und lege meine Hand auf die Stirn. „Ich weiß es nicht! Das hat mich jetzt total aus der Bahn geworfen.“

 

„Ist doch klar“, sagt sie selbstverständlich. „Das ist das erste Mal, seitdem du entführt bist, dass du wieder in der Stadt bist. Du warst sofort in den Nachrichten, dass du jetzt schon zu den D-Promis gehörst.“

 

„Klasse“, beschwere ich mich und atme tief durch.

 

„Solche Situationen werden jetzt häufiger passieren, Annie“, versucht sie mir klarzumachen.

 

„Ich weiß“, sage ich genervt. „Das habe ich mir schon gedacht, aber es kam trotzdem so überraschend.“

 

„Oder es wird dich dank deiner neuen Haarfarbe niemand mehr erkennen“, muntert sie mich lächelnd auf.

 

„Das wäre zu schön, um wahr zu sein“, sage ich schon etwas beruhigter.

 

„Willst du nach Hause oder präsentieren wir den Menschen da draußen unsere neuen Klamotten?“, fragt Miriam mich begeistert.

 

Auch wenn ich jetzt viel lieber nach Hause gehen würde, entscheide ich mich sie zu begleiten, aber nicht so lange zu bleiben.

 

„Versprochen, sobald du gehen willst, gehen wir“, wiederholt Miriam und schleift mich sofort mit.

 

Der Club, in den sie mich mitzieht, sieht sehr modern aus. Sowohl die Musik als auch die Inneneinrichtung sieht toll aus. Also setzen wir uns an die Bar und bestellen uns ein Getränk. Da es noch relativ früh ist, ist der Club noch nicht überfüllt und angenehm. Während wir an unserem Getränk schlürfen, erzählt mir Miriam, was ich sonst noch alles verpasst habe.

 

Zwar dachte ich, dass ich mich nicht so amüsieren würde, doch Miriam hat den Spieß leicht umgedreht. Schnell wird mir klar, wie sehr ich sie vermisst habe und wie froh ich bin, wieder bei ihr zu sein. Gerade als ich wegen einer ihrer Erzählungen lachen muss, springt sie wie von einer Tarantel gestochen von dem Barhocker auf und blickt in Richtung Eingang.

 

„Was ist los?“, frage ich schnell und blicke ebenfalls dorthin.

 

Da sie sprachlos zu sein scheint, versuche ich ein bekanntes Gesicht zu finden. Tatsächlich erkenne ich dann Luca.

 

„Du kannst ruhig zu ihm gehen“, sage ich locker und blicke wieder zu ihr.

 

Unsicher schaut sie mich an und scheint unentschlossen zu sein.

 

„Nein, ich möchte dich nicht alleine lassen“, antwortet sie und blickt unzufrieden drein.

 

„Nun geh schon“, dränge ich sie genervt und lächele sie an. „Ich werde schon nicht entführt.“

 

Das Stichwort muss sie überzeugt haben zu ihm zu gehen. Zufrieden blicke ich ihr hinterher und freue mich für sie, dass sie immerhin jemanden hat, den sie mag. Schnell werde ich wieder etwas trauriger, da meine Gedanken wieder zu Dan schweben. Wie gern hätte ich ihn jetzt bei mir…

 

„Ganz alleine hier?“, tippt mich jemand von hinten an.

 

Mit weit aufgerissenen Augen merke ich, wie mein Herz für Sekunden aufhört zu schlagen. Diese Stimme kommt mir bekannt vor!

Kapitel 18

Mit einem Grinsen im Gesicht beobachte ich, wie meine süße Annie mit völlig erwartungsvollem und verzweifeltem Blick sich umdreht, weil sie denkt, dass ich ihr an die Schulter getippt hätte. Dabei hätte sie doch schon an der Stimme erkennen müssen, dass das nicht ich bin. Jedenfalls macht ihr enttäuschtes Gesicht bei seinem Anblick wieder alles gut.

 

Soweit ich das aus der Entfernung sagen kann, muss der Typ sie gefragt haben, ob sie alleine hier ist, da sie daraufhin zu ihrer Freundin Miriam schaut. Anschließend zeigt er auf ihr leeres Glas, doch sie schüttelt nur ihren Kopf. Nun scheint der blondhaarige Typ nachzudenken, wie er sie noch rumkriegen könnte. Anschließend scheint er seinen Namen zu nennen, da er mit dem Finger auf sich selbst zeigt und dann fragend zu ihr blickt. Als sie kurz ihren Namen ausspricht, streckt er seine Hand aus, Annie tut es ihm nach und sie schütteln sich brav die Hände. Dann scheinen sie über irgendwas Belangloses zu reden, da Annie gelangweilt mit ihren Fingern auf den Tisch klopft. Als er sie jedoch etwas fragt und sie daraufhin rot wird, ist mir klar, dass er sie zum Essen eingeladen hat. Zuerst scheint sie ihm ein Korb zu geben, was mich zum Grinsen bringt. Doch daraufhin macht sie wohl einen anderen Vorschlag, weswegen er seine Karte rausholt und sich bedankt. Da mir von diesem Anblick ganz schlecht wird, gehe ich aus dem Club hinaus. Ich laufe etwas herum, um frische Luft zu schnappen und werde wieder nachdenklich.

Nachdem Annie aus meinem Appartement verschwunden ist, bin ich ihr kurz darauf hinterher gefahren. Ich musste sichergehen, dass sie gut angekommen ist und ihr nichts fehlte. Natürlich konnte ich ihre Niedergeschlagenheit erkennen, als sie vor ihrem Haus stand, aber ich konnte nichts an der Situation ändern. Seitdem habe ich sie nicht mehr aus den Augen lassen können. In den ersten Tagen war das gar nicht so schwer, da sie sowieso nur zu Hause war. Doch heute ist sie das erste Mal mit ihrer Freundin rausgegangen.

 

Aus einiger Entfernung beobachte ich sie; soweit weg, dass sie mich nicht sehen kann und doch so nah, dass ich sie nicht aus den Augen verliere. Doch das war gar nicht so einfach und damit meine ich nicht die Observation, sondern, dass ich mich ihr nicht zeigen konnte. Doch um zu verstehen, wieso ich so ein Arschloch bin, muss man die Situation vom Anfang aus betrachten.

 

Früher war ich wirklich ein ganz normaler Junge mit einer ganz normalen Familie. Meine Ma und mein Pa liebten sich und ich dachte, ich hätte den besten, großen Bruder auf der Welt. Als meine Mutter schwer erkrankte und kein Arzt ihr mehr helfen konnte, starb sie nach einigen Monaten. Die Zeit war viel zu knapp, vor allem für meinen Dad. Die Abwesenheit meiner Mutter zerriss ihn so sehr, dass er seinen Kummer mit Alkohol zu ertränken versuchte. Von Zeit zu Zeit wurde er immer schlimmer, und nachdem der Alkohol nichts mehr brachte, ließ er seine Wut an uns aus. Trauer, Wut und Alkohol vertragen sich nicht gut zusammen, weshalb er langsam vergaß, wer wir überhaupt waren. Eigentlich ist mein Name Stanley und Danny heißt in Wirklichkeit Christopher. Da mein Dad sich das aber nicht merken konnte, versuchten wir sein Leben etwas zu vereinfachen und nannten uns Dan und Danny. Unter uns behielten wir auch die Namen. Es scheint, als trügen die Namen ein Zeichen mit sich und ich würde auch gar nicht mehr auf Stanley hören, da ich schon längst jemand anderes geworden bin.

 

Jedenfalls ist die Vergangenheit eine reine Horror-Erinnerung, weswegen ich immer wieder wütend werde, wenn ich darüber nachdenke. Vermutlich habe ich das von meinem Vater geerbt. Trotzdem werde ich nie so sein, wie er. Ich bin mir nicht sicher, ob er noch am Leben ist. Ehrlich gesagt, habe ich mir seitdem ich aus dem Gefängnis freigelassen wurde auch nicht die Mühe gemacht, ihn zu suchen. Doch daran ist er selbst schuld.

 

Ich glaube Danny gründete die Gruppe, voller unglücklicher und aggressiver Jugendlichen, weil er sich mit ihnen am besten identifizieren konnte. Er sammelte die seelisch-verkrüppelten Jungs zusammen und gründete eine kleine Familie. Nur so kam er mit dem Tod unserer Mutter klar und der Veränderung unseres Vaters.

 

Jedoch entwickelte sich die kleine Familie nach einiger Zeit zu einer größeren. Somit wurden sie auch immer aggressiver und krimineller. Durch die Gang veränderte sich Danny immer mehr und wurde skrupelloser. Da mich sowieso schon immer alles Schlechte sozusagen magnetisch anzieht, wurde ich ebenfalls ein Mitglied der Gang. Man muss sagen, dass wir am Anfang gar nicht so mies waren. Wir stahlen nur bei unhöflichen Ladenbesitzern und tranken an Orten, wo niemand belästigt wurde. Doch dann wurde es immer schlimmer. So schlimm, dass ich am Ende neben einem toten Mann saß und die Pistole von Danny in der Hand hielt. Weder mein Vater, noch mein Bruder halfen mir aus der Patsche. Glücklicherweise glaubte mir die Richterin, als ich sagte, dass Danny für den Mord schuldig war und nicht ich. Außerdem gab es als Beweis für meine Unschuld eine Kamera im Laden. Nichtsdestotrotz war ich ein Teil der Gang und mein Gesicht war nicht neu für die Polizisten. Auf Grund von unzähligen Diebstählen, Drogenverkauf und Schlägereien kam ich für zwei Jahre ins Jugendgefängnis und mit achtzehn für weitere zwei Jahre ins richtige Gefängnis.

 

Nachdem ich endlich frei war, nahm mich das FBI zur Seite, da sie ein gutes Angebot für mich hatten. Ich sollte ihnen helfen den echten Mörder zu fassen, da dieser mit seiner Gang viele weitere Straftaten begangen seit meiner Haftzeit. Dafür würde ich eine gerechte Geldsumme erhalten, womit meine Resozialisierung leichter gelingen würde. Außerdem würde ich den echten Täter endlich dorthin befördern, wo er hingehört und die Bürger vor den anderen Gangmitgliedern schützen.

 

 „Wir suchen deinen Bruder Christopher und den Rest seiner Gang, darunter Fat Joe, Black Eye, Silver und Chloe. Das sind die Wichtigsten. Wenn wir die Fünf haben, dann löst sich der Rest auf“, erklärte mir Joe damals, ein Mitarbeiter des FBIs.

 

 „Und wie soll ich das anstellen?“, fragte ich.

 

„Wie wäre es mit einem Anruf?“, lächelte er mich nur an.

 

Damit meinte er, ich solle Danny anrufen, womit ich mir Zeit ließ. Als ich mir meiner Freiheit bewusst die Hauptstraße entlanglief, wurde mir klar, dass das FBI ihr Angebot jederzeit zurückziehen konnte. Und um ehrlich zu sein wäre die Geldsumme ein guter Start ins neue Leben und wenn ich dafür noch etwas Gutes tue, hätte ich zwei Fliegen mit einer Klatsche gefangen. Also zückte ich das Handy von Joe und wählte die altbekannte Nummer von Danny. Natürlich ging nicht er ran und einer seiner Mitglieder wollte mir weismachen, dass dies der falsche Anschluss wäre. Nachdem ich ihnen versicherte, wer ich bin, rief mich eine unbekannte Nummer zurück.

 

„Dan? Bist du das?“, hörte ich die Stimme von meinem Bruder.

 

„Ja, lange nichts mehr von dir gehört. Wie geht’s denn so?“, fragte ich und schlenderte weiter die Einkaufsstraße entlang.

 

„Wie heißt du mit richtigem Namen?“, fragte Danny mit kalter Stimme.

 

„Christopher, ich bin es. Dein Bruder Stanley“, versicherte ich ihm ruhig.

 

Ich musste mich zusammenreißen, um so nett mit ihm zu plaudern. Am liebsten hätte ich ihn angeschrien.

 

 „Das kann doch nicht wahr sein“, sagte er dann freudig und lachte. „Du bist draußen!“

 

„Ja, es wurde langsam Zeit“, antwortete ich und kniff mich selbst, um freundlicher zu sprechen. „Was gibt’s denn Neues?“

 

„Ach, gar nichts“, schweifte er ab, doch mir war klar, dass er log.

 

„Du weißt, dass du mir alles erzählen kannst“, meinte ich dann ernst und spielte meinen Joker aus. „Für dich war ich vier Jahre lang im Gefängnis.“

 

Da er an der anderen Leitung daraufhin still wurde, wusste ich, dass ich ihn damit in meinen Fingern hatte.

 

„Wie kann ich euch helfen?“, fragte ich heiter.

 

In diesem Moment war ich dem FBI dankbar für die Chance. Es gibt keinen schöneren Gedanken, als Danny mit eigener Hand ins Gefängnis bringen zu können und ihm alles heimzuzahlen!

 

„Bist du dir denn ganz sicher?“, fragte er leise, da er sich die Reaktion von mir nicht vorgestellt hatte.

 

„Du bist mein Bruder“, versicherte ich ihm.

 

„Nun gut, es gäbe da wirklich etwas, was du tun könntest“, schmunzelte er.

 

„Spuck es aus.“

 

„Du musst jemanden für uns entführen.“

 

Ich glaube, das war mit Abstand die irrsinnigste Idee, die Danny je hatte. Sprachlos blieb ich auf dem Weg stehen und musste mich schnell zusammenreißen. Als ich ihm dann zusagte, und versprach mich bei ihm zu melden, bis es so weit war, legte ich auf. Vielleicht war es gar kein schlechter Zeitpunkt, dass ich ihn angerufen habe. Wer weiß, wen sie dann entführt hätten und wie schlimm es diese Person getroffen hätte.

 

Nach dem Anruf rief ich sofort Joe an und erzählte ihm alles. Ich erklärte ihm, dass er mir jemand von seinen Mitarbeitern als Entführungsopfer geben solle, doch er verneinte es.

 

„Du musst jemanden auf der Straße entführen“, versicherte er mir. „Wenn es einer von uns ist, werden sie es merken und Gott weiß, mit euch anstellen. Es muss tatsächlich jemand von der Straße sein, damit auch wirklich alles zu hundert Prozent klappen kann.“

 

„Aber ich bin kein Entführer“, sagte ich bissig.

 

Daraufhin redete er lange auf mich ein und meinte, ich solle erst einmal jemand Selbstbewusstes finden, der mit der Situation klarkommen könnte. Danach sollte ich ihm Bescheid geben, damit man mir das Betäubungsmittel vorbeibringe.

 

Das war das erste Mal, wo ich Annie vor mir sah. Sie lief circa zwanzig Meter vor mir und unterhielt sich mit irgendeinem Mädchen. Ich konnte nicht richtig hören, was er da noch von sich gab, da jede Menge Polizei Autos mit lauten Sirenen an mir vorbei fuhren. Doch ich war mir auf einmal sicher, dass ich sie entführen musste.

 

„Ich melde mich dann“, sagte ich knapp und legte schon auf.

 

Dann lief ich mit schnellen Schritten auf die zwei Mädels zu und machte es zu einem Versehen, dass ich gegen sie stieß. Als ich ihr dann half, aufzustehen, wusste ich, dass sie es mir mit ihrem Lächeln nicht übel nahm.

 

Als Annie mich gefragt hatte, weshalb gerade sie von mir entführt wurde, konnte ich ihr nicht die Wahrheit sagen. Ich kannte sie bei dem ersten Anblick doch gar nicht, deswegen war das kein guter Grund gewesen, sie zu entführen. Mein Stolz ließ einfach nicht zu ehrlich zu sein und meinte, es wäre reiner Zufall gewesen.

 

In diesen kurzen Sekunden, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, hat sie mich vollkommen in ihren Bann gezogen. Sie hat mich mit ihrer Ausstrahlung sofort bezaubert. Am Anfang war es ihr Aussehen, das mir gefiel, doch später konnte ich auch von ihrer Art nicht mehr genug kriegen. Sie war der erste Mensch gewesen, der sich wirklich dafür interessierte, wie es mir ging und wer ich bin. Deswegen musste ich sie gehen lassen!

 

Ich konnte nicht so egoistisch sein und ihr meine Liebe gestehen, das hätte sie womöglich am Gehen gehindert. Zwar habe ich noch nie jemande  geliebt, doch ich bin mir sicher, dass das was ich fühle, wenn ich sie sehe, mit ihr rede oder gar berühre, Liebe ist. Schon allein wegen meiner Vergangenheit bin ich nicht gut genug für sie. Annie verdient ganz einfach etwas Besseres.

 

Mir fiel das Herz aus der Brust, als ich sie im Badezimmer gesehen habe. Die Wunde, ihre verschreckten Augen und die Nachricht, dass FatJoe da war. In dem Moment hatte ich nur noch Mordgedanken im Kopf. Ich malte mir die verschiedensten Möglichkeiten im Kopf aus, wie ich FatJoe umbringen könnte. Doch am Ende schaffte sie es, die Gedanken verschwinden zu lassen und beeindruckte mich um einiges mehr. Mir wurde klar, dass sie die Fäden in der Hand hatte. Die Fäden mich zu steuern, mir das Herz herauszureißen oder mich vom Hochhaus stürzen zu lassen. Und ich überließ es ihr auch, weil ich wusste, dass es richtig ist und keine andere mich besser im Griff hätte.

 

Sie ist wie ein Engel, der mir geschenkt wurde, als Belohnung für mein Leiden in der Jugend. Nach ein paar Tagen schon konnte ich sagen, dass ich keinen Tag mehr ohne sie aushalten konnte. Es ist stets unmöglich, ohne ihre Gegenwart irgendwo zu sein. Sei es im Supermarkt, auf der Straße oder im Zimmer, die ganze Zeit denke ich nur an sie und will sie bei mir haben. Es ist keine sexuelle Begierde gut, ich kann nicht verleugnen, dass ich daran gedacht habe, es mit ihr zu tun. Aber ich kann nicht, ich kann sie nicht berühren, wenn sie nicht will. Es ist, als bekäme ich einen elektrischen Stromschlag, wenn sie meine Berührung nicht haben möchte. Als ob auf ihrer Stirn „Nur gucken, nicht anfassen“ stehen würde. Ich könnte nie etwas gegen ihren Willen tun.

 

Und doch schickte ich sie nach Hause, weil sie keiner weiteren Gefahr ausgesetzt werden darf. Egal, was ich gerne hätte, ihre Sicherheit ist wichtiger. Außerdem kann ich ihr so vieles nicht geben, was sie verdient hätte. Vielleicht kann es aber der Typ, mit dem sie ausgehen wird…

 

„Hallo?“, höre ich hinter der Ecke eine laute und unzufriedene Stimme.

 

Stirnrunzelnd laufe zu der Ecke und blicke zum Eingang des Clubs. Davor steht der dumme Blondie von Annie und scheint zu telefonieren.

 

„Ja, morgen treffe ich mich mit Jenkins", sprach er ins Telefon. „Es folgt alles nach Plan, du stehst dann mit dem Wagen vor dem Gebäude.“

 

Das klingt gar nicht gut. Was hat er mit Annie vor? Als er auflegt und auf die gegenüberliegende Straße läuft, will ich ihm gerade folgen, als plötzlich mein Handy klingelt. Die Nummer auf dem Display erkenne ich sofort.

 

„Was gibt’s?“, frage ich missgelaunt und schaue dem Blondie hinterher, wie er langsam untertaucht.

 

„Hey Dan“, begrüßt mich Joe mit aufgeregter Stimme.

 

„Warum rufen Sie mich an?“, frage ich alarmiert, da eigentlich abgemacht wurde, dass wir den Kontakt abbrechen, nachdem alle in den Knast gewandert sind.

 

„Wir haben ein Problem“, sagt er ernst.

 

„Hat es etwas mit Annie zu tun?“, frage ich und hoffe, dass mich meine Vermutung täuscht.

 

„Woher wissen Sie das?“, fragt er mich erstaunt und flucht.

 

 „Ich habe meine Quellen“, antworte ich nur kurz.

 

„Also gut“, fängt er unsicher an. „BlackEye ist noch auf freiem Fuß. Wir haben leider den Falschen gefasst, da sie uns reingelegt haben. Der Kerl ist ziemlich clever.“

 

„Und was hat das mit Annie zu tun?“

 

„Ich dachte, Sie hätten da Ihre Quellen“, meint er herausfordernd.

 

„Nun reden Sie schon“, sage ich ungeduldig und verdrehe meine Augen.

 

„Es scheint, als hätten Sie von Anfang an geahnt, was passieren könnte und somit einen Plan angefertigt. BlackEye war früher nicht Mitglied von der Gang deines Bruders, sondern der Anführer einer anderen Gang. Erst später haben sie sich zusammengetan, weswegen wir ihn auf keinen Fall unterschätzen dürfen. Jetzt, wo dein Bruder und der Rest im Gefängnis sitzen und alle wissen, wessen Schuld das ist, hat er es auf euch abgesehen.“

 

„Also eigentlich auf mich und das gilt dann automatisch auch für Annie“, wiederhole ich fassungslos.

 

 „Annie ist leichter zu finden, als Sie“, erklärt er unglücklich.

 

„Das kann doch nicht wahr sein!“, fluche ich und würde am liebsten meine Faust gegen die Wand schlagen.

 

„Meine Männer suchen überall nach ihm und wir werden alles tun, um euch zu schützen“, versichert Joe.

 

„Nein“, widerspreche ich sofort. „Das macht am Ende alles schlimmer.“

 

Nachdenklich blicke ich in den Himmel und frage mich, was das Beste wäre. Wie könnte ich Annie am ehesten schützen?

 

„Ihr sucht weiter nach ihm, schickt aber keine Sicherheitsleute, für den Fall, dass BlackEye persönlich vor ihrer Tür auftauchen will“, erkläre ich.

 

„Wir werden die Gang von Danny befragen, ob sie uns etwas über das Aussehen von BlackEye sagen können, das wäre schon eine große Hilfe“, sagt er eher zu sich selbst.

 

„Falls ich etwas brauche, melde ich mich wieder“, antworte ich knapp und lege böse auf.

 

Mit sicheren Schritten laufe ich in den Club, um Annie wieder im Auge zu behalten. Wann wird das ganze ein Ende finden? Wie kann ich Annie am besten schützen?

Kapitel 19

Eigentlich hätte mir klar sein sollen, dass es nicht Dan ist. Wie naiv von mir zu denken, dass Dan mir bis zum Club folgen würde und mich hier zurück gewinnen will. Das Lächeln, das ich dem Kerl schenke, sinkt sofort nach der Erkenntnis, dass es sich wirklich nicht um Dan handelt. Um nicht unhöflich zu sein, bleibe ich freundlich und blicke ihn neugierig an, als würde es mich interessieren was er von mir will.

 

„Hast du keine Begleitung bei dir?“, fragt er mich.

 

Wie konnte ich diese Stimme mit Dan seiner verwechseln? Bin ich wirklich so verzweifelt?

 

„Nein“, antworte ich nett.

 

„Darf ich dir etwas ausgeben?“, fragt er höflich und zeigt zur Bar.

 

Zu höflich; Dan würde nicht fragen, er würde das Getränk auf den Tisch knallen, darauf zeigen und schreien `trink oder stirb´. Bei diesem Gedanken muss ich grinsen.

 

„Nein, danke“, weise ich ab.

 

Etwas enttäuscht legt er seine fein gekämmten, blonden Haare zurück. Wegen meiner Abfuhr scheint er nicht böse zu sein, eher etwas gekränkt. Er sieht sehr nett aus, aber das war’s dann auch. Er kann es keinesfalls mit Dan aufnehmen, da würde er hochkant verlieren.

 

„Darf ich wissen, wie du heißt?“, fragt er vorsichtig, als wäre er nicht sicher, wie ich reagieren würde.

 

„Annie und du?“, frage ich nett.

 

Warum sollte ich ihn denn abwimmeln? Ich habe doch nichts zu verlieren. Außerdem sieht er aus, als würde er eine Chance verdienen.

 

„Erwin. Du siehst ziemlich jung aus. Wie alt bist du?“, fragt er neugierig.

 

„Ich bin 18“, lächele ich, überrascht blickt er mich an.

 

„18? Okay, du siehst etwas älter aus“, lächelt er amüsiert.

 

„Enttäuscht?“, frage ich herausfordernd.

 

„Nein, keinesfalls“, versichert er sofort.

 

„Arbeitest du?“, frage ich interessiert.

 

„Ja, ich bin Arzt.“

 

Anerkennend lächele ich ihn an und staune in mich hinein.

 

„Der Job muss bestimmt anstrengend sein.“

 

„An manchen Tagen liebe ich meinen Job und an manch anderen wünschte ich, ich wäre ein ganz einfacher Hausmeister“, lächelt er etwas leidig.

 

Schließlich schaut er auf seine Uhr und blickt mich entschuldigt an.

 

„Es tut mir schrecklich leid, ich muss leider gehen. Ich sollte noch etwas erledigen, aber davor wollte ich dich noch fragen, ob du vielleicht Lust und Zeit hättest morgen mit mir Abend zu essen?“

 

Nervös ballt er seine Hände zu Fäusten und schluckt fest. Es muss ihn wohl sehr angestrengt haben diese Frage zu stellen. Trotzdem, schon allein der Gedanke, was Dan darüber denken würde …

 

„Leider habe ich keine Zeit“, räuspere ich mich.

 

In diesem Moment sehe ich sofort, wie er enttäuscht zu Boden blickt. Als würde es Dan etwas angehen …

 

„Aber wie wäre es mit Mittagessen?“, frage ich schnell.

 

Daraufhin wird er ganz aufmerksam und seine Augen beginnen zu leuchten. Sofort kramt er in seiner Hosentasche und zieht eine Karte heraus, die er mir überreicht.

 

„Sehr gut, dann sehen wir uns morgen um ein Uhr vor dem Rathaus?“, fragt er glücklich.

 

„Okay“, antworte ich gelassen und lächele zum Abschied.

 

Zufrieden dreht er sich um und verschwindet zum Ausgang. Als ich ihn nicht mehr sehe, schaue ich mir die Karte näher an. Darauf steht wie gedacht sein Name und seine Telefonnummer. Ich bleibe noch einige Minuten sitzen und drehe die Karte in meiner Hand hin und her. Vielleicht soll das ja so sein. Möglicherweise war das ein Zeichen von Gott, dass ich nur mit jemand anderem über Dan hinweg komme. Jedenfalls muss ich mich morgen ziemlich zusammenreißen, um zu dem Treffen zu gehen. Besonders Lust habe ich nicht, aber er tat mir leid, da er es so sehr wollte.

 

Als ich anfange zu gähnen, wird mir bewusst, wie müde ich bin. Da ich sowieso keine Lust mehr habe hier zu sitzen, stehe ich auf und suche Miriam. Nach langer Suche finde ich sie am anderen Ende des Clubs, wo sie mit Luca in einem schwach beleuchteten Teil sitzt. Unsicher stehe ich einige Meter vor ihnen und warte, bis Miriam mich entdeckt. Als sie mich sieht, läuft sie sofort zu mir.

 

 „Willst du gehen?“, fragt sie.

 

„Wenn es dir nichts ausmacht“, lächele ich unsicher und blicke kurz zu Luca.

 

„Kein Problem, es ist ja schon zehn Uhr abends“, bemerkt sie. „Ein Wunder, dass du es solange ausgehalten hast.“

 

Schnell läuft sie wieder zu Luca und verabschiedet sich mit einem Kuss auf seine Wange von ihm. Er scheint nicht ganz zufrieden mit ihrem Abschied zu sein, doch er beschwert sich nicht und lässt sie gehen. Also laufen wir aus dem Club und ich erzähle ihr von meinem Kennenlernen mit Erwin und dem Date morgen. Miriam reagiert natürlich begeistert und freut sich schon, morgen zu mir zu kommen, um Klamotten auszusuchen. Ich verschweige ihr, dass ich dem Treffen nur zugesagt habe, weil er so unglücklich mit meiner ersten Antwort war. Anschließend berichtet sie mir von ihrer beinahe Wiedervereinigung mit Luca. Sie meint, es bräuchte noch ein paar Treffen um sicher sagen zu können, dass sie wieder zusammen sind.

 

Als wir nach einiger Zeit bei mir zu Hause ankommen, verabschiedet sie sich vor der Haustür. Schnell verspricht Miriam mir noch im Gehen, dass sie morgen früh da sein wird, um mir zu helfen. Anschließend schließe ich die Tür auf und laufe auf Zehenspitzen ins Haus. Wie ich mir schon gedacht habe, finde ich meine Mutter auf der Couch schlafend. Mir war klar, dass sie nicht normal in ihrem Schlafzimmer schlafen konnte, während ich draußen unterwegs war. Vermutlich wird das auch noch eine lange Zeit dauern, bis es dazu kommt. Also laufe ich leise zu ihr, lege meine Hand vorsichtig auf ihre und küsse sie auf die Stirn. Sofort blinzelt sie leicht mit ihren Augen und wacht auf.

 

 „Du bist da“, flüstert sie verschlafen.

 

„Natürlich“, bestätige ich leise und helfe ihr aufzustehen.

 

„Ich hatte Angst, dass …“, klagt sie, doch ich unterbreche sie.

 

„Du brauchst keine Angst haben, dass mir etwas passieren könnte! Ich war nicht alleine unterwegs und ich kann schon viel besser auf mich aufpassen als früher“, erkläre ich ihr.

 

Da sie zu müde ist, um mir zu widersprechen, lässt sie sich mühelos in ihr Schlafzimmer bringen. Als sie endlich in ihrem Bett liegt, wiederholt sie noch einmal, wie glücklich sie ist, dass ich wieder da bin. Dann wünsche ich ihr eine gute Nacht und verspreche ihr, am morgen mit ihr zu frühstücken. Leise gähnend schließe ich ihre Tür hinter mir und laufe in mein Zimmer.

 

Es war gut, dass ich den Tag mit Miriam verbracht habe. Ich habe sie sehr vermisst und es hat mir so sehr gefehlt, mit ihr zu reden. Glücklich, dass der Tag gut verlaufen ist, schließe ich die Tür hinter mir und schmeiße meine Jacke auf das Bett. Gerade als ich den Rest meiner Klamotten ausziehen will, erkenne ich plötzlich eine dunkle Gestalt vor meinem Schreibtisch am Fenster stehen. Kurz bevor ich auch nur irgendeinen Mucks von mir geben kann, schreitet die Person sehr schnell auf mich zu und hält seine Hand auf meinen Mund. Instinktiv beiße ich fest in die Hand und versuche mich mit Beinen und Armen zu wehren.

 

„Annie!“, höre ich eine aufgeregte, flüsternde Stimme. „Ich bin’s, Dan!“

 

Ich brauche mehrere Sekunden, um das Gehörte zu verstehen. Die Aktion hat mich so sehr erschreckt, dass mein Gehirn dadurch lahm gelegt wurde. Aber nachdem die Information in meinen Kopf durchgedrungen ist, höre ich abrupt auf mich zu wehren. Schwer atmend stehe ich wie angewurzelt da und weiß nicht, wie ich reagieren soll.

 

„Versprichst du mir, mich nicht anzubrüllen, sobald ich meine Hand von deinem Mund nehme?“, fragt er vorsichtig.

 

Es ist tatsächlich Dan der mich umschlungen hält und dessen Hand ich gebissen habe! Wie geschockt nicke ich nur leicht mit dem Kopf. Anschließend nimmt er seine Hand weg und ich schnappe nach Luft, als wäre ich minutenlang unter Wasser gewesen. Erschrocken stellt sich Dan vor mich, legt seine Hand auf meine Schulter und blickt mich besorgt an.

 

 „Ist alles in Ordnung?“, fragt er.

 

„Wie bitte?“, krächze ich.

 

Völlig perplex blicke ich ihn an. Was zum Teufel macht er hier? Erst jetzt merke ich, wie verrückt sein Auftauchen ist. Hätte er nicht wie ein normaler Mensch an der Haustür klingeln können? Nein, natürlich musste es eine Herzinfarkt-Überraschung sein.

 

„Was willst du hier?“, frage ich böse.

 

Eigentlich habe ich mir ja nichts sehnlicher gewünscht, als ihn wiederzusehen. Aber in der letzten Woche haben mich die Gedanken um Dan dermaßen verrückt gemacht. Außerdem hätte ich nicht im Traum daran gedacht, dass er sich wieder blicken lässt. Aus diesem Grund habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, ihn langsam zu vergessen. Und nun steht er unangekündigt in meinem Zimmer.

 

Auf meine Reaktion scheint er etwas enttäuscht zu wirken, da er sich daraufhin langsam auf mein Bett setzt. Nachdenklich blickt er seine Hände an und ich entscheide mich das Licht anzuschalten, um ihn besser sehen zu können. Als ich ans Bett zurückkehre trifft mich sein Anblick wie ein Schlag ins Gesicht. Im Dunkeln konnte ich ihn nicht gut erkennen, aber jetzt überfallen mich alle Erinnerungen an Dan auf einmal in meinen Kopf. Beschwerlicher wird es, als ich merke, dass er sehr unglücklich aussieht. Vielleicht ging es nicht nur mir so schlecht wegen der Trennung …

 

 „Ich dachte, du hast mich vermisst“, sagt er auf einmal.

 

Atemlos blicke ich zu ihm runter aufs Bett, doch er blickt immer noch auf seine Hände.

 

„Habe ich auch … Das ist kompliziert … Ich meine“, stottere ich und bekomme keinen richtigen Satz zustande.

 

Unwohl verschränke ich meine Arme und blicke auf meine Socken.

 

„Es tut mir leid, ich wollte mich wirklich von dir fernhalten“, sagt er schuldig und reibt sich müde seine Augen.

 

Eigentlich will ich ihm widersprechen und fragen, wieso er das wollte. Doch meine Lippen sind fest verschlossen. Es ist, als würde ich als Außenstehende einem Autounfall zusehen und könnte nichts dagegen tun.

 

„Du musstest so viel durchmachen wegen mir. Eigentlich hättest du es verdient von mir in Ruhe gelassen zu werden. Und ich schwöre, nachdem ich meine letzte Aufgabe erledigt habe, werde ich für immer aus deinem Leben verschwinden“, sagt er nun mit sicherer Stimme und blickt mir daraufhin in die Augen.

 

„Die letzte Aufgabe?“, frage ich mit wackeliger Stimme.

 

„Du solltest dich hinsetzen“, empfiehlt er.

 

Ich spüre, wie meine Haare langsam zu Berge stehen. Welche schlimme Nachricht wird er mir überbringen? Hat es wieder etwas mit mir zu tun?

 

„Dieser Typ, den du heute kennengelernt hast“, fängt er an, doch ich unterbreche ihn sofort.

 

„Woher weißt du, dass ich heute jemand kennengelernt habe?“, frage ich alarmiert.

 

„Ich bin dir gefolgt“, antwortet er wie aus einer Pistole geschossen.

 

Nachdem er merkt, was er gerade gesagt hat, stöhnt er genervt auf und korrigiert sich.

 

„Nicht gefolgt, wie ein Stalker“, erklärt er. „Eher wie ein Schütze. Ich wollte nur sicher gehen, dass dir nichts geschieht.“

 

Daraufhin nicke ich kommentarlos und bitte ihn somit, weiter seine Nachricht zu überbringen.

 

„Jedenfalls hat der Typ nicht vor mit dir morgen auszugehen, sondern ein Verbrechen zu begehen. Vorhin hat mich nämlich das FBI angerufen und mir mitgeteilt, dass nicht alle Gangmitglieder von Danny gefasst wurden.“

 

Panisch springe ich auf und laufe schockiert ans andere Ende des Zimmers. Bestürzt lege ich meine Hände auf meinen Kopf und blicke starr an die Wand. Das Einzige woran ich denke ist, dass FatJoe draußen noch heilfroh herumspaziert.

 

„Keine Sorge“, sagt er sofort. „Es handelt sich nicht um FatJoe! Er sitzt auf jeden Fall hinter Gitter.“

 

Fassungslos atme ich aus und beruhige mich allmählich. Dann blicke ich zu ihm und frage mich, wen er dann meint und was das mit mir zu tun hat.

 

„Es ist BlackEye, der nicht ausfindig gemacht werden kann“, nennt er den Namen.

 

Fieberhaft versuche ich mich zu erinnern, ob ich ihn jemals gesehen habe oder überhaupt von ihm gehört habe. Der Name ist mir jedenfalls nicht neu. Trotzdem, was hat das mit mir zu tun?

 

„Er ist ein enger Komplize von Danny und einer der meistgesuchten Verbrecher New Yorks“, erklärt er.

 

 „Na gut“, sage ich etwas ungeduldig. „Wieso sollte mich diese Neuigkeit betreffen?“

 

„Stell dir vor, dass nur eine Person daran schuld ist, dass all deine Freunde von der Polizei geschnappt worden sind und du nur aus reinem Glück entkommen bist.“ 

 

„Er ist böse“, verstehe ich.

 

„Genau“, nickt er. „Da ich aber so schwer zu finden bin, wärst du eine leichtere Beute Rache zu nehmen.“

 

Erschöpft lasse ich mich wieder neben ihm aufs Bett falle und blicke die Wand an.

 

„Du glaubst also, dass Erwin Black Eye ist?“, frage ich aufmerksam.

 

„Der Typ nennt sich Erwin?“, fragt er und zieht eine Augenbraue hoch, ich nicke ihm bejahend zu.

 

„Nein, ich glaube, er ist entweder ein Auftragskiller oder ein Entführer“, schätzt er.

 

„Klasse“, klinge ich gedemütigt. 

 

„Das ist meine Schuld“, beteuert er betroffen.

 

„Dann werde ich das Date wohl canceln“, sage ich nachdenklich.

 

„Auf keinen Fall“, sagt er plötzlich und blickt mich auffordernd an.

 

„Wie bitte?“, frage ich ungläubig und setze mich auf.

 

„Erkläre ich dir morgen“, sagt er und steht auf. „Du solltest jetzt lieber schlafen und dich erholen.“

 

Eigentlich hätte ich noch gerne von ihm gehört, wie der Plan denn aussehen soll. Doch er hat recht damit, dass ich die Information erst verdauen muss. Trotzdem bleibt noch eine Frage offen …

 

„Ist das alles weswegen du aufgetaucht bist?“, frage ich mutig.

 

„Wie meinst du das?“, fragt er überfordert.

 

„Wolltest du mir nur mitteilen, dass ein Mörder hinter mir her ist?“

 

„Nun ja … Natürlich … Keine Ahnung“, stottert er, was ein wenig Hoffnung in mir weckt.

 

Ich atme tief ein und sammele dadurch Mut für meinen nächsten Satz.

 

„Ich habe dich vermisst“, sage ich leise und zwinge mich, ihm in die Augen zu sehen.

 

Ich spüre, wie die ganze Anspannung langsam von mir ablässt und ich merke, dass es noch mehr gibt, das ich ihm gerne sagen würde. Wieso denn auch nicht? Ich habe es satt alles in mich hineinzufressen. Selbst wenn er nicht dasselbe für mich empfindet, so hätte ich immerhin meine Gefühle ausgedrückt.

 

„Eigentlich halte ich nichts davon, einem die ganzen Gefühle entgegen zu werfen. Aber in den letzten Tagen hat mich das alles von innen aufgefressen. Ich habe es wirklich bereut gegangen zu sein, ohne reinen Tisch gemacht zu haben. Und es tut mir leid, wenn du davon eigentlich gar nichts hören willst, aber ich muss dir einfach sagen, dass ich mich in dich verliebt habe.“

 

Nach dem Wort `verliebt´ stocke ich selbst und fühle mich auf einmal total unsicher und beschämt. Was, wenn er das lächerlich findet? Das Opfer hat sich in den Entführer verliebt. Aber nein, ich darf jetzt nicht kampflos aufgeben!

 

„Ich habe mich in dich verliebt“, wiederhole ich. „Und das schon seitdem ich dich das erste Mal gesehen habe. Du magst vielleicht denken, wie verrückt das ist. Wie kann sie sich in ihren Entführer verlieben? Krank.“

 

Ich lache beschämt auf, reiße mich aber schnell zusammen.

 

„Aber daran kann ich nun mal nichts ändern. Es hat mich verletzt, als du mich zurück nach Hause geschickt hast. Ich hatte unglaublichen Liebeskummer und jetzt stehst du vor mir“, sage ich und werde immer leiser, da er immer noch nichts dazu gesagt hat.

 

Er steht wie angewurzelt vor mir und sieht mich an, als wäre ich verrückt. Das motiviert mich nicht gerade weiter zu reden …

 

„Ich habe dich unglaublich vermisst und wünschte mir, du würdest dasselbe für mich empfinden“, murmele ich unsicher.

 

„Erst einmal würde es mich aber auch ganz schön freuen, wenn du irgendwas sagen würdest“, sage ich nach weiteren geschlagenen Schweigesekunden ungeduldig.

 

Ich habe ihn in Verlegenheit gebracht. Jetzt weiß er nicht, was er mir sagen soll.

 

„Annie …“, beginnt er.

 

Doch ich springe sofort auf, greife energisch nach seinem Arm und ziehe ihn in Richtung Tür. Der einzige Gedanke den ich momentan habe ist, ihm zu helfen hier zu entkommen.

 

„Vergiss alles was ich gesagt habe“, sage ich schnell und schaue ihn absichtlich nicht an.

 

Beschämt greife ich nach der Türklinke und spüre schon den Kloß im Hals. Hoffentlich ist er hier weg, bevor ich in Tränen ausbreche.

 

„Annie!“, stoppt er mich und zieht mich von der Tür zurück, bevor ich sie öffnen kann.

 

„Setz dich“, fordert er genervt.

 

Verwirrt von seiner Reaktion, setze ich mich widerwillig hin, da er so ernst klingt.

 

„Erinnerst du dich noch an den Abend im Restaurant?“, fragt er mich und ich nicke.

 

„Ich habe dich gefragt, woran man merkt, dass man verliebt ist. Weißt du noch, was du mir daraufhin geantwortet hast?“

 

„Du weißt, du bist verliebt, wenn du keine Fehler an dieser Person siehst“, erinnere ich mich und werde von ihm unterbrochen.

 

„Man ist in diese Person verliebt, wenn sie perfekt für einen scheint. Man empfindet Angst, wenn man daran denkt, die Person könne nicht dasselbe für einen empfinden. Schaut man ihr in die Augen, verliert man sich darin. Es kommt einem vor, als hätte man Schmetterlinge im Bauch, die wild herumfliegen. Vor allem hämmert einem das Herz so stark, wenn man sie sieht, dass man Angst hat, es könne rausspringen“, erzählt er.

 

„Ich kann mich noch an jedes einzelne Wort erinnern“, erklärt er und blickt mir tief in die Augen.

 

„Du weißt, dass ich in diesem Gebiet ein Versager bin. Ich war noch nie in jemanden verliebt. Also verstehe ich nicht, was ich für dich empfinde“, sagt er und runzelt die Stirn.

 

„Als das mit FatJoe geschehen ist und ich dich im Badezimmer gefunden habe, hätte ich alles um mich herum töten können. Meine Entscheidung dich nach Hause zu schicken, hat mich zur puren Verzweiflung gebracht. Kaum warst du weg, wusste ich nicht mehr, wer ich bin. Ich wusste nicht, was ich mit mir anfangen soll und war vollkommen orientierungslos. Verstehst du das?“, fragt er verzweifelt.

 

„Soll das Liebe sein? Wenn ich die ganze Zeit nur an dich denke und ohne dich kein normaler Mensch bin? Du bist die einzige, die mich beeinflussen kann. Ich meine, du hast mich vollkommen in der Hand und kannst alles mit mir machen. Ist Liebe wirklich so krank?“

 

Sprachlos sitze ich da und schaffe es nicht eine anständige Reaktion zu zeigen. Er liebt mich. Und zwar richtig.

 

„Nicht krank“, sage ich leise und reiche ihm vorsichtig meine Hand. „Sondern hingebungsvoll.“

 

Noch nie habe ich Dan so unsicher gesehen. Er scheint traurig und gleichzeitig glücklich zu sein. Mit bedenklichen Augen blickt er auf meine Hand, atmet schließlich tief ein und legt seine Hand in meine. Leicht ziehe ich ihn zu mir und zeige ihm somit, dass ich das auch will. Mit seinem Bein stützt er sich auf dem Bett ab und blickt mich mit unergründlichen Augen an.

 

 „War’s das?“, fragt er vorsichtig und blickt meine Lippen an.

 

„Jetzt fängt es doch erst an“, flüstere ich glücklich.

 

Mit einem leichten Lächeln im Gesicht blickt er mir zufrieden in die Augen. Dann wartet er nicht mehr länger und küsst mich endlich.

 

Keine Geheimnisse. Kein Liebeskummer mehr. Und erst recht kein Leben ohne Dan!

Anmerkung



Liebe Leser!

Zuerst einmal will ich euch allen danken, dass ihr immer fleißig mitgelesen und auch reichliche Kommentar hinterlassen habt. Ohne euch hätte ich nicht so viel Zielstrebigkeit gehabt das Buch zu beenden.

Der 1. Teil ist nun zu Ende, aber die Geschichte geht weiter. Die Entführung ist vorbei, das Buch, indem es um die Entführung ging, ist zu Ende. Nun beginnt ein neuer Teil der Geschichte. Es ist kein Muss weiter zu lesen, da die Geschichte im 1. Teil ein schönes Ende hat und ich noch nicht weiß, wie ich den 2. Teil enden lasse. Wer jedoch nicht genug von Dan und Annie haben kann, kann gerne den 2. Teil lesen und mir reichlich Kommentare hinterlassen! 


Ich hoffe, euch hat die Geschichte gefallen und ihr werdet auch das zweite Buch lesen. Egal wofür ihr euch entscheidet, ich bin froh, dass ihr bis hierher gekommen seid :) 

Liebste Grüße,

eure Steffi

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei mir, der Autorin
Bildmaterialien: PublicDomainPicture
Lektorat: Ein riesen Dank an meine BetaLeserin Tina. Uglaublich, dass wir es nach drei Jahren geschafft haben o_o
Tag der Veröffentlichung: 17.06.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch nicht mir, nicht meinen Freunden und auch nicht meiner Familie. Ich widme dieses Buch nur an meine Leser, da es mich einfach glücklich macht, wie alle mitfiebern und sich freuen, die Geschichte mitzuverfolgen. Vielen Dank!

Nächste Seite
Seite 1 /