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Ich blieb stumm, und wollte stumm bleiben, doch in mir schrie und schrie es unentwegt. Ich konnte den Anblick nicht mehr ertragen, ich konnte mich aber auch nicht abwenden. Es ist durchaus nicht so, dass ich mich allzu schnell in den Bann ziehen lasse, ich betrachte mich als äußerlich zu kalten Menschen, doch hier in diesem Moment flackerte mein Herz regelrecht.
Es war Sonntag und ich durchwanderte frohen Mutes den Park, ein kühler Wind strich mir entgegen, ließ das ein oder andere leichte Blatt locker über den Boden treiben. Mein Schritt war fest, der Blick sanft lächelnd, ich hatte schöne Gedanken und feine Zeilen im Kopf. In jenem Moment verschwendete ich keinen einzigen Gedanken an die Vergangenheit und verschenkte auch nichts unnütz an die Zukunft. Ich lebte hier, genoss die Atmosphäre, den freien störungslosen Raum, welchen ich durchqueren durfte und ruhig meinen Gedanken nachgehen. Fast nur im Blickwinkel ersah ich ein Pärchen auf einer Bank, ich schlenderte unbeeindruckt vorbei, ja verspürte höchstens noch ein paar schöne Gefühle das Ambiente verfeinernd vorbeischweben. Doch der Augenwinkel ist trügerisch, vor allem wenn der Augenwinkel nur Vorbote ist des schwenkenden Kopfes, der alles wahrnehmen wollenden Augen. Und so erblickte ich ihre Augen, die Augen unter denen gerade sanft eine Hand vorbei strich, über jene eine Wange die ich einst so gut kannte, die ich täglich mit meinen Lippen liebkoste.
Ich stockte im Schritt, schwenkte überrascht den Kopf und fixierte sie. Wir fanden uns auf Anhieb, sahen uns wie einst direkt in die Augen. Blickten tief hinab in das Innere des Anderen, durchschauten alles. Ich aber sagte nichts, bewegte mich nicht, ich stand stumm, wollte stumm bleiben, konnte nichts sagen, bekam keine Luft mehr. Alles in mir stockte, nichts mehr funktionierte. Nach ewiglich scheinendem Nachträumen hatte ich die letzten Wochen fast nie mehr an sie gedacht. Während die Erinnerungen früher tagtäglich, ja ohne gezielte Beschäftigung fast stündlich, über mich kamen, ereilten sie mich zu jener Zeit schon nur mehr in seltenen Momenten, die klaffende Wunde verheilte, der Geist überdeckte. Jene willkürlichen Rückfälle waren zwar noch immer tief, und warfen mich stets wieder zurück, doch ich hatte mich an die Situation gewöhnt, mich eingepasst in mein Schicksal, hatte endlich neue Wege eingeschlagen. Es fügte sich Schicht um Schicht auf meiner Lebensbahn aufeinander. Ich bastelte mir Einklang, das lockere Sein und runde dahintrotten des Daseins hielt wieder Einkehr in mein Leben.

In diesem Moment aber öffnete sich das Ganze wieder brachial, ich fühlte mich wie ein kleiner stummer Junge und ich war zugleich der Jüngling, der sie damals entdeckte und sich bei ihr vollkommen verlor. Jenes halbe Jahr war damals der unumstrittene erreichte Höhepunkt in meinem Leben gewesen. Und jene Wucht intensiven Erlebens ereilte mich jetzt in einem einzigen Moment. Ich war aus meiner Trance des Alltäglichen rausgerissen, raus aus dem Einklang eines dahinplätschernden Lebens. Vor wenigen Minuten hatte mich dennoch feine Wohligkeit beherrscht, nun explodierte etwas in mir drinnen.
Ihr Begleiter wurde nervös, zog langsam seine Hände von ihr zurück, blickte ratlos zwischen uns Zweien hin und her. Wir schauten uns nun schon sehr lange in die Augen, wir lächelten beide, bemerkten nichts mehr in unserer Umgebung. Doch ich konnte die Wucht der Erinnerung nicht tragen, eine Schockwelle durchfuhr mich und so rannte ich, antriebsschnell wie selten, los. Weg, weg, weg, egal wohin, ich wusste nicht wohin, ich wusste nicht mal wie ich mich bewegt hatte. Ich sah mich nur getrübt, mein Hirn schlug Loopings, ein Bilderablauf meiner selbst in dritter Person stand mir danach ins Gedächtnis geschrieben. Ich rannte manisch über das Pflaster, verwirrte Blick, müde Beine, und dennoch eine unmenschliche Hast, ich erfasste mit meinem Blick rein gar nichts mehr. Irgendwann fand ich mich dann unter einem Kastanienbaum wieder, erschöpft darunter sitzend, halb liegend, mit Kopf und Rücken am Stamm lehnend, die Füße leblos weit von mir gestreckt. Die schmerzenden Füße hatte ich ihrer Schuhe beraubt und in ein nahes Gewässer geworfen, in einem Wutanfall über mich selbst, meine mangelnde Souveränität. Abwechselnd schloss ich die Augen oder starrte nur wirr geradeaus in eine endlose Entfernung und neuerlich ungewisse Zukunft …

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Tag der Veröffentlichung: 01.07.2009

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