J stand mit einer Staffelei an einem See und malte ihn. Tag für Tag verwendete sie einige Stunden um hierher zu radeln, die Staffelei einzurichten und die Landschaft auf Leinwand zu bannen. Aus spontanem Trieb und der Gelegenheit, war eine ernsthafte Tätigkeit entwachsen. J war immer mehr fasziniert von diesem See, er hatte eine ganz besondere Aura, die nicht zu beschreiben war. Doch sie hatte die tiefe Überzeugung, mit dem letztem Bild, mit dem abgeschlossenem Erkunden der Gesamtheit dieser schönen Landschaft, würde sie seine Geheimnisse kennen, ihm endlich nahe gekommen sein.
Begonnen hatte es an einem schönen Sonntagnachmittag. Ein Freund lud sie ein zum Picknick, genauer gesagt zu einem Seepicknick. Noch war nicht klar ob aus einem Freund der Freund werden würde, doch war sie in beiderlei Hinsicht froh über die Bekanntschaft im fremden Land. Sie war hier auf Auslandssemester, und hatte noch keine Kenntnis über derlei schöne Schauplätze, versteckt in der Natur, verschwiegen von den meisten Leuten.
Unter einem kräftig wirkenden Baum, mit auffallend grünem Farbton, kamen sie zum Sitzen. Während sich die Augen an der friedlich scheinenden Natur weideten, füllten sich auch ihre Mägen mit dem Mitgebrachtem zu Speis und Trank.
Es war still, friedliche Ruhe legte sich um die 2 jungen Menschen, gelegentlich hörte man einen Vogel zwitschern. Sie spürten die pure Natur, die nächstgelegene Straße war weit genug entfernt um nicht mit gelegentlichen Geräuschen die Idylle zu stören. Beim Blick in den Himmel fanden sich wunderliche Formen. Es wirkte alles ganz harmonisch, fast alles, denn der See besaß bei genauem Erkunden der Begrenzungen eine künstliche Bändigung, er war durch eine Talsperre entstanden, zwischen den Schluchten spann sich eine weite Mauer, südseitig abfallend mit Erde und Bäumen zu einer mutmaßlichen Natürlichkeit zurückgestaltet, das nur einem ganz kleinem Fluss das Weiterfließen auf alten Bahnen gestattete. Auch die Straße, welche auf der Staumauer entlang führte, war gesäumt mit viel Grün, kleine Bäume, herrliche Blumen. Man hatte sich sichtlich viel Mühe gegeben, eine träumerische Kulisse entstehen lassen wollen, dennoch konnte man bei genauem Hinsehen die Baumaßnahmen und Landschaftspflege nachvollziehen. Lediglich wenn man die Mauer aus dem Blickfeld verbannte und einzig den See und die Bergrücken, die sich hinter ihm aufbäumten, sowie die dichten Wälder, genoss, hätte man sich kein schöneres Naturbild vorstellen können. Gesunde Bäume, strahlende Farben, blaues, sich spiegelndes Wasser, nahe dem See auch einige Wiesen mit dichten, herrlich duftenden Blumenfeldern, voll von unterschiedlichsten Pflanzen aller Formen und Farben. Herrliche Insel abseits der Zivilisation, in die man sich sinken lassen konnte und seine Sinne betört von den Reizen erst ganz besänftigt wieder fand.
Eine Frage jedoch brannte ihr auf der Zunge, und so bekam sie ihr Begleiter gestellt: „Warum ist hier denn sonst niemand, es ist doch so wunderschön, ist es gar verboten?“ Er aber zuckte zuerst zusammen, fasste sich aber wieder und ging über ihn ein unschuldiges Hochziehen der Schultern, wollte vermutlich zuerst unwissend, oder nicht wissen wollend, den Mund verziehen, fasste sich neuerlich und flüsterte lächelnd und voller Zärtlichkeit: „Weil das alles nur für uns zwei da ist. Nicht alle können wohl die tiefe Schönheit hier erkennen.“
Sie lächelte auch, hatte die zögernden Facetten gar nicht gesehen. „Weißt du“, fing sie an, „ich glaube ich werde diesen See, ja die ganze Landschaft, malen. Öfters aus mehreren Perspektiven. Von ihm erzählen, ihn festhalten und seine Wunder weiterreichen. Vielleicht gelingt mir sogar der Stoff für einen schönen Bildband.“ „Gute Idee“, befand er, „ich kaufe dir jedenfalls sofort eins ab, ich suche eh solch ein Motiv, mit schönen persönlichen Erinnerungen verbunden, und mit guter Wirkung auf Seele und Geist, zumindest laut Feng Shui.“ „Welche schöne Erinnerung verbindest du denn mit dem See?“ „Dich und den heutigen Tag“, flüsterte er nahezu, rückte näher zu ihr auf, fühlte ihre Nähe und gab ihr einen noch ganz sachten Kuss auf die Wange. „Und weißt du was“, fuhr er fort, „meine Eltern haben hier am See sogar einen Schuppen, den kannst du verwenden, deine Sachen lagern“ „Prima, einfach Prima“ und leise dazusetzend, „auch dass ich für dich eine schöne Erinnerung bin“. Sie lächelten sich an, sahen sich tief in die Augen, kamen sich ganz langsam näher, wie in schrecklich gemächlicher Zeitlupe, ohne jedes Geräusch, nur die Augen glitzerten und versanken ineinander. Und erst nach endlos scheinender Zeit getrauten sie sich wirklich, drückten ihre Lippen fest aufeinander, umarmten sie sich fest und innig, hatten sich endlich gefunden, sanken gemeinsam auf die Decke nieder, und ließen sich nicht mehr so schnell wieder los.
So kam sie fortan immer wieder zu diesem See. Immer lieber hatte sie ihn gewonnen in diesen Tagen, und so befand sich im Schuppen schon eine beträchtliche Anzahl an schönsten Landschaftsbildern.
Sie ging wieder an ihre Arbeit, Pinselstrich um Pinselstrich fuhr über die Leinwand, mal sanft und unscheinbar, mal ganz fest und bestimmend. Sie tänzelte vollends in sich aufgehend um die Staffelei und bannte in mühevoller Kleinstarbeit Stück um Stück der berührenden und ausdruckstarken Landschaft auf ihre Leinwand. Erst dünn und blass, erstrahlten die Bilder nach und nach in farbenfrohem Glanz, blühten in der Umgebung, deren Abbild sie waren, sowie unter der liebevollen Hand der Künstlerin, immer mehr auf.
Und trotzdem, gegen Ende ihrer Arbeit, bekam sie manchmal ein schlechtes Gefühl, hier sah man einfach zu wenige Menschen, es war etwas zu still, in manchen Momenten fühlte sie sich im Gegensatz dazu dennoch beobachtet, meinte sie irgendein verdächtiges Rascheln in den Wäldern wahrzunehmen.
Eines Tages war es dann soweit, sie war mit ihrer Arbeit fertig, erfüllt und stolz meinte sie die Arbeit nach bestem Gewissen und Können abgeschlossen zu haben, und wollte nun ihre Werke und Arbeitsutensilien abholen. Die Früchte der Arbeit ernten, Lob sammeln, die Kräfte verspüren.
Doch der Anblick des Schuppens ließ sie erstarren. Er war aufgebrochen, das Schloss lag am Boden, ihr Herz klopfte und fühlte sich immer enger werdend an. Mit den schlimmsten Befürchtungen stolperte sie in das dunkle Innere, machte sich augenblicklich Vorwürfe ihre Bilder nicht im eigenem kleinen WG-Zimmer aufbewahrt zu haben.
Ohne zu atmen oder klare Gedanken finden zu können sank sie vor den Bildern auf die Knie, raufte sich die Haare. Sie waren noch da, lagen zerstreut auf dem Boden herum. Dann dachte sie daran, ihren Freund anzurufen: „Bitte komm sofort her, ein Einbruch, ja vielleicht auch Polizei …“
Mit Tränen in den Augen blickte sie von Bild zu Bild. Jedes war verunstaltet, mit roter Spraydose war auf jedes ein Wort gesprüht worden, bis auf drei, denn eines war grässlich zerrissen und mit einem Messer an die Wand gerammt, ein Anderes war übermalt mit einer hässlichen roten Fratze, die fast das ganze Bild abdeckte, ein Drittes war verschwunden, und würde sie niemals wieder finden, natürlich das Schönste und Natürlichste wie sie fand.
Sie versuchte die Bilder nach den willkürlich erscheinenden Worten zu ordnen, als ihr Freund eintraf, hatte sie es gerade geschafft, die Botschaft war entziffert, sie lautete: „Lass unser Tal endlich in Frieden, wir haben genug gelitten.“
Ihr Freund legte den Arm um sie, zuerst erschrak sie, ihr Körper erschauderte, dann nahm sie aber seine so bekannte Nähe und Wärme wahr, fühlte sich sogleich von neuer Kraft durchflossen.
„Ich glaube, ich muss dir etwas erzählen“, begann er, „der See war früher ein kleines Tal, ein kleines Dörflein von Einsiedlern lebte am ehemals kleinem Fluss, man hat hier alles überschwemmt. Und es gibt Gerüchte darüber, dass nun ein Fluch über dieser Gegend liegt, manche verließen nicht freiwillig ihre Häuser, sie sollen noch immer in den Wäldern leben, und das beschützen, was von ihrem Tal übrig geblieben ist. Man hat aber nie jemanden gefunden, es geschehen jedoch manchmal noch immer verdächtige Ereignisse, Ereignisse wie diese …“
Die Ausstellung der Bilder, einige Wochen später, in einem regionalem Kunstatelier, war ein voller Erfolg, trotz oder gerade wegen der Verbindung von wundervoll verträumten Landschaften, und einer geheimnisvollen Gefahr, die auf den Bildern wortwörtlich lauerte und dabei eine Botschaft verkündete, die leise auf eine verschwiegene Vergangenheit anspielt und diese damit gleichzeitig dauerhaft dokumentiert.
Tag der Veröffentlichung: 08.04.2009
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