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Mein ganzer Körper schüttelte sich, ich hatte die Kontrolle verloren. Unfähig noch einen einzigen weiteren Schritt zu machen, sank ich auf die Knie, musste mich auf den Boden legen. Ich war müde, wollte nicht mehr, einfach hinlegen, schlafen, dann wird alles wieder gut. Die Reste eines einst kraftvollen Knaben fanden sich nunmehr in einer verlassenen kleinen Seitengasse wieder. Etwa zwei Kilometer müssen es gewesen sein, ich war gelaufen und gelaufen, einfach nur mehr gelaufen. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, war nicht mehr fähig irgendeinen logischen Schluss zu erarbeiten, zu schockierend waren die vergangenen Erlebnisse.

Jetzt liege ich da, auf den abstoßenden Pflastersteinen, neben mir klebt ein ekliger Kaugummi, es riecht irgendwie unfein. Ein Hauch von Ekel, den meine Nase mir da noch bieten will, eine Empfindung, ein Gefühl, welches versucht mir wieder Einstieg zu bieten in die Welt. Doch es verging wieder, es war mir egal, scheißegal. Der einzig klare Gedanke war der, das alles unwirklich scheint, träume ich? Dies kann doch einfach nicht Wirklichkeit sein. Es war eine derart schöne Nacht gewesen, ich hatte schon Träume, fasste Pläne, doch vor einer halben Stunde endete alles so abrupt. Ich weiß im Moment nicht ob sich mein Schicksal nun dem Ende naht, warum lebe ich überhaupt noch, warum nur.
Dann allerdings fiel mein Blick auf meinen blutbefleckten Pullover, doch das Blut am Pulli gehörte nicht mir. Es gehört ihr. Ihr! Doch sie lebt nicht mehr. Mein Blut floss auch, oder woher kommt das hier neben mir eigentlich? Es sammelte sich gerade auf den Pflastersteinen neben und unter mir zu einer netten Lache. Es war kein Ketchup, es war nicht so künstlich rot, hatte einen düsteren Glanz. Ich verlor mich in der Blutpfütze und alles verschwamm neuerlich vor meinen Augen. Es darf nicht wahr sein, dies darf nicht Realität sein.

Von der Straße her war dumpf der Bass eines vorbeifahrenden Autos zu hören. Dann rennende Schritte. Der Gedanke an die rennende Gestalt machte mich wahnsinnig. Mit ihnen passierte es. Peng, Peng, Peng, die Schuhsohlen klatschten rhythmisch auf dem Asphalt auf, und dann geschah es. Direkt hinter mir...
Der Gedanke daran schmerzte, doch langsam gesellte sich auch noch ein zweiter Gedanke dazu, Rache!
Ich hatte mich kurz aufgerafft, kurz, dann fiel ich wieder nieder, und zwar direkt in das eigene Blut, warm war es. Doch mit dieser vorerst letzten Gefühlswahrnehmung, dieser undeutlichen Erinnerung des Geschehens, fiel ich in Ohnmacht.

Ich hatte mich an diesem Abend aufgerafft, hatte das Buch mal beiseite gelegt, mich begeben in die Räumlichkeiten eines Szeneclubs, in dem ich mir in letzter Zeit öfters die Nächte um die Ohren schlug. Eine gewisse Ruhe, ein Nichtstun, ein Kurzurlaub aus dem Alltag, das war mein Segen denn ich dort meist erfuhr.
Zuletzt nahm die abfeiernde, tanzende Masse wieder zu, es wurde zu eng, sie beliebte sich, mich zu nerven. Ja die Masse, manchmal ist man dort integriert und manchmal eben nicht. Steht man daneben, kann man sich schon ein wenig als Außenstehender fühlen. Eine kleine aber feine Schutzhülle trennt die Tanzenden und die nicht Tanzenden. Selbst wenn man mittendrin steht, gehört man manchmal einfach nicht dazu. Man ist getrennt von der tanzenden Masse, so oft sie einen auch anrempeln mag.
Viele unterschiedliche Charaktere sind in der Menge auszumachen. Da wären einerseits dümmlich Eingebildete und Intellektuelle, die Schönen und die Hässlichen, die Verrückten und die Vernünftigen, die Herausgeputzten und die Natürlichen, die Zugekifften und die Alkoholisierten. Und manchmal auch ein Nüchterner. Ich gehöre in der Regel zu Letzteren.

Das Abendprogramm bestand im Club vorerst aus einem Konzert. Einer der angesagtesten Künstler aus dem alternativem Elektrogenre beehrte unseren Club. In der vorderen Hälfte der Halle stand kaum einer ruhig. Alle ließen sich von der Musik treiben.
Die Stunden des Konzerts vergingen wie im Flug, die einen gingen zufrieden und glücklich nach Hause, die anderen genossen noch die anschließende Party danach. Nach einem Blick auf mein Handydisplay, dem “needful thing“, entschied ich mich dafür der tanzenden Menge noch kurz treu zu bleiben, ich ließ mich jedoch in etwas ruhigere Gefilde zurückdrängen. Da sah ich sie dann wieder. Ich war im ersten Moment eigentlich eher gelähmt. Ein eigenartiges Gefühl bildete sich in der Magengrube.

Es war nunmehr wieder 4 Wochen her, seit ich sie zuletzt sah. Aber meine Gedanken schweiften doch hin und wieder zu ihr ab. Und jetzt sah ich sie wieder. Ihr Name war Sandra. Im ersten Augenblick hatte ich sie nicht mal erkannt, denn ihr hübscher Kopf trug nunmehr eine gänzlich andere Frisur, ihre Gesichtszüge jedoch waren liebevoll vertraut. Die Ahnung stieg in mir auf, dass ich dabei war mich in dieses Wesen zu verlieben. Ob dies auch gut so war, dessen war ich mir noch nicht so sicher. Ich hatte sogar kleine Zweifel, aber es wäre ein Fehler sich gegen Gefühle zu sträuben, dies zerstört einen nur innerlich, man sollte sich einfach treiben lassen.
Ansonsten lehnt man plötzlich zusammengekauert an der Wand des Clubs, wenn sie fort ist, wenn es zu spät ist und wenn du allein bist, in der Nacht.

Es sollte einer der seltenen Fälle folgen, in denen ich kurz entschlossen eine Handlung setze, in der ich dem ersten Gedanken folge, und mich nicht ablenken lasse von den vielen die noch folgen, alles sezieren und in Möglichkeiten und Folgemöglichkeiten zerpflücken. Dieses Streuen von Zweifel um Zweifel ist gefährlich, denn letztlich ist der Boden gepflastert von spitzen Nägeln, die zu überschreiten man nicht mehr schafft. In jener Nacht riss ich mich zusammen und sprach sie gleich an, die Erkennungsfreude war zu groß, die Freude, dass auch sie mich sah. Die Belohnung, ihr wundervolles Lächeln, ließ mein Herz Purzelbäume schlagen. Und da der Rhythmus noch in meinen Beinen steckte, der momentane Augenblick doch so schön war, bewegten wir uns. Nein noch berührten sich unsere Körper nicht. Aber wir bewegten uns einander gegenüber und unsere Blicke konnten nicht mehr voneinander lassen. Wir sahen uns immer tiefer in die Augen, blickten uns gar fast bis in unsere zarten Seelen. Die ganze Welt um uns herum verschwamm, es gab nur mehr uns zwei. Nur wenige Worte flüsterten wir uns ins Ohr, nur das Wesentliche.

Die Zeit hielt für uns still, doch als diese Momente der harmonisierenden Phase sich vom Ort beansprucht sahen, setzten wir uns nebeneinander an die Bar um unsere Körper ein wenig zu erfrischen. Sehr viel sprachen wir nicht, es knisterte jedoch regelrecht zwischen den Luftschichten die uns gleichzeitig trennten und verbanden. Ein Mann und eine Frau, die von der Natur so kunstvoll kreierte Konstellation.
Unsere Beine fanden in jenem Augenblick plötzlich zueinander, und sie genossen die wahrnehmbare Körperwärme seines Gegenübers. Der Druck, der Drang des Beisammenseins kam von beiden Polen, eine weitere nicht unmittelbar nachvollziehbare Anziehungskraft bildete sich.
Doch sie beschränkte sich keineswegs auf eine materielle, sachliche Ebene. Nein die Tiefe, und der Umfang, die Wirkungen dieser Anziehungskraft war mit keinem Messgerät aufnehmbar. Tausende Gefühle lösten sie aus, trieben sie von Höhepunkt zu Höhepunkt.

Bis zu diesem Moment waren wir brav, verhielten uns wie keusche Jugendliche, es hatten sich bisher keine weitern Körperteile zum Kontakt überwunden, bis auf die immerzu aktiven Hände. Nein, diese ließen es sich nicht nehmen, zögerlich, aber langsam Vertrauen findend, seinem gegenüber ein angenehmes Prickeln zu bereiten. Wie sehr doch jede Berührung eines geliebten Menschen genossen werden kann.
Unseren Gefühlen Rechnung tragend, vereinbarten wir, uns jetzt nicht zu trennen. Dies wäre einfach zu grausam. Somit verabschiedeten wir uns gemeinsam von den ehrwürdigen Hallen des Clubs und machten uns auf den Weg zum nächtlich verkehrenden Bus, der uns an eine neue vertraute Örtlichkeit bringen sollte.

Im Bus war es endlich soweit, unsere Lippen entdeckten das Wunder des Küssens. Und es war eine Freude welche Euphorie und Hingabe sie dabei entdeckten. Doch die ob des Glücks strahlenden Augen entdeckten, dass die Ausstiegsstelle nahte. Der Nightliner hielt gerade an der davor liegenden Haltestelle.

Meine manchmal fast zu wachen Augen erkannten eine weitere Einzelheit, denn vor uns stieg gerade ein Mann mittleren Alters aus, an seinem Platz, noch weiter vorne, lag aber noch ein Koffer auf dem Boden, unterm Sitz. Er musste ihn vergessen haben.
Und da derzeit meine Menschenliebe neue Dimensionen entdeckte, dachte ich mir, eine gute Tat in dieser Nacht kann auch nicht schaden.
Und so sprang ich auf, machte die 2 Schritte nach vorne und rief ihm zur Türe hinaus nach. Allerdings hörte er mich wohl nicht. Der Koffer lag noch vorne an seinem Platz, doch ich sprang der Aufmerksamkeit des Chauffeurs gewiss, schnell raus auf den Asphalt, machte ein paar Schritte vom Bus weg, und rief wiederholt, mit verstärktem Einsatz des Stimmbandes, hinein in die Gasse, in der er eilig davonging. Aber er entfernte sich immer weiter, schien ganz woanders zu sein. Seine Schritte hallten verstummend auf dem Asphalt. Ganz dumpf, schien es in Rennen überzugehen. Dann durchwirbelte ein monströser Knall hinter mir die filigranen Luftschichten. Ich wurde weitere Meter vom Bus weggeschleudert, irgendein Metallstück verpasste mir einen lähmenden Schlag am Rücken.

Betäubt lag ich da. Nie in meinem Leben hätte ich so etwas auch nur im entferntesten in den Bereich des Möglichen eingeordnet. Ein Anschlag, hier in unserer Stadt. Eine Bombe in einem Bus. In einem Bus in dem ich saß. In dem sie sitzt, sie saß. Sie, die ich eben erst gefunden hatte. Nun sitzt sie nicht mehr da drinnen. Wenn man es überhaupt noch als drinnen bezeichnen kann. Der Bus war so ziemlich zerstört. Nur einzelne eckige Glasstücke ragten noch aus dem Rumpf vom Bus. Doch diese Dreiecke aus Glas waren nunmehr nicht mehr durchsichtig. Denn sie waren rot gemahlt von Blut. Kein Laut drang aus dem was früher mal ein Bus war. Langsam breitete sich eine Stille aus. In mir jedoch herrschte keine Ruhe, ich rappelte mich auf und torkelte irgendwie an die Stelle im Wrack an der ich gesessen hatte. Auch dort war Fleisch vorhanden, und selbst ein paar Haare konnte ich erkennen. Dann wurde es schwarz vor meinen Augen, und ich musste nur mehr weg von hier. Das kann nur ein Traum sein. Oder ich bin hier nur mehr als Geist vorhanden, aber woher dann diese Schmerzen? Mein ganzer Körper war geschunden, so muss wohl auch meine Seele im Moment aussehen, dachte ich mir. Doch zu weiteren Gedanken war ich nicht mehr fähig. Lediglich mein Zusammenbruch in der Gasse war mir später noch im Gedächtnis, jede Aufraffung wäre zwecklos gewesen. Ich war zu unlebendig für jegliche weitere Rettung oder Alarmierung, ich konnte einfach nicht mehr.


Hinter der nächsten Ecke allerdings erlag noch jemand seinem Schrecken, auch dort lehnte jemand zusammengekauert an der Wand.
Sein Verstand konnte dies alles nicht verstehen. Verdammt da war ne Bombe in dem Koffer gewesen. Wie kann das sein, es war doch ein ganz simpler Botengang, den er hier erledigte. Zugegebenermaßen wusste er zwar von seinen Auftraggebern nicht allzu viel. Aber sie bezahlten gut, zuverlässig und sofort. Seit nunmehr 3 Jahren übernahm er solch kleine Aufträge. Es waren schlichte A nach B Botengänge, er wusste weder mit Sicherheit für wen, noch was er da immer transportierte. Es war kinderleicht und ertragreich. Seine Instruktionen bekam er über gesicherte Kanäle im Internet. Auch wenn er insgeheim vermutete seine Tätigkeiten haben irgendwas mit Geheimdiensttätigkeiten zu tun, so hatte er jedoch keinerlei Indizien in irgendeine konkrete Richtung.
Für ihn waren es bisher immer nur kleine Abenteuer gewesen, gut bezahlte Ausrisse aus dem langweiligen, langatmigem Alltag.

Doch nun drängten sich unwiderruflich die Bilder der Businsassen von vorhin auf. Mehrheitlich unschuldige fröhliche Jugendliche. Herausgerissen aus ihrem größtenteils noch bevorstehendem Leben. Was hatte er nur getan. Wie konnte das nur sein. Wer kann nur so etwas planen, geschweige denn Ausführen. Er hatte es ausgeführt ...

Zwiegespalten und völlig zerstreut lehnte er an der Wand. Was nun? Einfach verschwinden, versuchen das Geschehene aus seinem Kopf zu verbannen. Oft genug musste er ja bereits die Kunst des Verdrängens anwenden. Doch hatte es ihm auch gut getan?
Es hatte ihn niemand gesehen, so hoffte er zumindest. Es konnte keinerlei Verbindungen geben zu ihm und der verunglückten Buslinie. Außer es hatte jemand überlebt. War es möglich?
Andererseits falls da noch jemand lebt, war es nicht seine Pflicht zu retten was es noch zu retten gab. War es nicht seine Pflicht dazu beizutragen den Verantwortlichen zu finden. Na gut, in gewisser Weise war ja er der Attentäter. Aber er wurde nur benützt. Er wurde zerstört.

Es drängte ihn nun dennoch wieder zum Wrack zurück. Gab es Überlebende? Hatte jemand solch schier überirdisches Glück? Er musste es wissen! Er war sich allerdings noch nicht im Klaren, ob er helfen wollte oder eher gegenteilig agieren sollte.
Als er aber in die Nähe kam, von dem was von der Explosion übrig geblieben war, wurde ihm plötzlich übel. Alles verschwamm. Er hatte dies mit zu verantworten. Dieses unbeschreibliche Blutbad. Als er hinter sich Schritte hörte, wollte er sich umdrehen, es war jedoch zu spät. Eine Eisenstange krachte auf ihn herab und er ging zu Boden. Zwischen dem zweiten und dritten Schlag konnte er noch kurz das Gesicht des Angreifers erkennen. Es war einer der Jugendlichen aus dem Bus, der nahe dem Ausstieg mit einem hübschen Mädchen saß. Also hatte er sich das wohl doch nicht eingebildet. Es wurde ihm noch hinterher gerufen. Und seine Hilfsbereitschaft rettete diesen jungen Mann, seine Menschenliebe führte ihn auch zur Rache.

Die mit der Eisenstange und starker Wucht auf ihn niederprasselnden Schläge beraubten ihn im nächsten Augenblick des Bewusstseins. Er würde nie mehr aufwachen. Auch wenn er im Gegensatz zu den Businsassen noch als Mensch erkannt werden konnte, war seine Gestalt doch vordergründig vom Eindruck eines blutigen Haufens geprägt.
Und ebenso wie der Junge über ihm, würde er keine Erinnerungen mehr an diese Nacht hervorbringen, nicht wegen traumatischen Erlebnissen, nein, er würde hier sterben. Er hatte Pech, er hatte Glück, er entkam dem Leben.

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Tag der Veröffentlichung: 11.03.2009

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