Das stetig wachsende Muster auf ihrer blütenweißen Seidenbluse glich einem Rorschachtest. Was konnte Curt darin erkennen? Er sah, oh ja, wie schön, er sah tatsächlich ein Herz. Dunkelrot, warm, fast schwarz. Es war so ein köstliches, romantisches Gleichnis. Vor einem Wimpernschlag hatte er direkt in das Herz dieser wunderschönen Frau geschossen und nun zeichnete es auf dieser verführerisch duftenden Seidenleinwand ein ebensolches. Fasziniert konnte er kaum den Blick davon lassen, obwohl die Uhr ab jetzt gegen ihn lief. Es war fast wie ein kleiner Bonus für den goldenen Schuss in die Hundert. Jackpot. Seinen Feinden schoss man in den Rücken, Verrätern in den Bauch und Freunden in den Kopf. Aber Frauen, ja Frauen, denen schoss man mitten ins Herz. Curt war halt ein unverbesserlicher Galan, was seiner Tätigkeit durchaus zuträglich sein mochte.
Die Branche, in der er sich bewegte, arbeitete ja schon fast zwanghaft mit ritualisierten Attitüden. Er hörte von Sniper Piper, der sein Zielobjekt durch einen scharfen Pfiff auf sich aufmerksam macht, bevor er ihm mit einem Militärgeschoss aus seiner Tac-50 über eine Entfernung von einem Kilometer den Kopf regelrecht von den Schultern sprengt. Die Toxic Twins arbeiteten ausschließlich im Team und mit den widerlichsten Giften, keine große Überraschung. Béla das Beil bedarf keiner weiteren Definition, wobei der durchgeknallte Ungar weniger für finale Dienstleistungen gebucht wird, sondern vielmehr im Mahnwesen aktiv ist.
Doch als Curt Walker mit nichts als einer schallgedämpften Glock und etwas jungenhaftem Charme die Bühne zum Totentanz betrat, wurde er erwartungsgemäß belächelt. Vierundzwanzig erfolgreiche und vor allem saubere Liquidationen später hatte er sich Respekt, aber auch einiges an Missgunst in der Szene erworben.
Oft wurde er gebucht, wenn es mal nicht um Rache, Denkzettel, Geld, Frauen oder puren Terror ging, sondern der Auftraggeber sich mit seinem Gewissen einig war, dass die Zielperson nicht bestraft, schockiert oder überzeugt, sondern am Ende einfach nur tot sein sollte. Ohne das viele Tamtam, über das sich die Tatortreiniger meist noch Wochen später unterhielten.
Dabei übersahen alle, dass seine Methode äußerst infam, ja regelrecht verwerflich war. Nie forderte er Daten, Verhaltensmuster oder Bildmaterial. Ein Bündel unregistrierter Hunderter, einen Fingerzeig und sein perfides Spiel konnte beginnen.
Einmal half Curt einem Scheich beim Reifenwechsel am Lamborghini und wurde zum Dank auf eine Spritztour eingeladen, auf der er mit gespielter Begeisterung über Kamelrennen und Ölpreise lamentierte. Einen Abend später saßen sie schon nebst spendierten Escortblondinen gemeinsam beim Abendessen. Bald kam das „du“ inklusive Einladung auf seine Yacht, wo sie sich bei einem 57er Bowmore ein Spiel der Yankees ansahen. Als im Hafen angelangt die Kettenhunde des Scheichs frohgemut in den Feierabend geschickt wurden, erklärte ihm Curt, dass er den Reifen am Lamborghini zerstochen hatte und schoss ihm in den Kopf.
Dann war da dieser Cheng, ein Widerling durch und durch, ständig besoffen und auf allem, was das Chemielabor hergab. Aber dummerweise auch der einzige Sohn eines ranghohen Yakuza Paten, der ihn ebenso verachtete, wie er ihn nicht verlieren wollte, weswegen das Arschloch pausenlos von hunderten Möchtegern Ninjas umringt war. Doch bei einem illegalen Straßenrennen, bei dem der Lamborghini eines kürzlich Dahingeschiedenen Curt gute Dienste leistete, gewann er Chengs Respekt und im folgenden Wettsaufen sein Vertrauen. Da Curt beschloss, dass dies keine ausschweifende Liaison werden sollte, verabredete man sich zum Ausnüchtern für den anbrechenden Morgen in einer Sauna, die Curt etwas später alleine wieder verließ.
So gewann er manch vermeintlich gutherzigen Auftraggeber für seine vermeintlich humane Vorgehensweise. Daddys starben beim lauschigen Barbecue mit Bier und Baseball, Mommys in zerwühlten Laken vor einem Kamin. Oder auch in seinen Armen, wie eben jene wunderschöne Frau, die ihm gerade ihr Herz ein zweites mal schenkte.
Sicher wäre es genau so abgelaufen, das hätte ihm gefallen, dachte sie sich, während sie auf den Führerschein sah, den sie aus seiner Brieftasche genommen hatte. Curt Walker, besser bekannt als „Friendship“, da er sich mit den Zielpersonen tatsächlich anfreundete, bevor er ihnen das Neun Millimeter Ticket ins Jenseits ausstellte. Und jetzt hatte ihn jemand auf sie angesetzt. Sie zog ihm die Glock aus dem Jackethalfter und strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Er sah gut aus, die makellose Haut eines Teenagers über den kantigen Zügen eines Texas Ranchers und diese engelsgleiche Unschuldsmiene, die ihm Haus und Hof geöffnet hatte. Hey Buddy, wie kann ich dir helfen? Entschuldigen sie die Störung, Miss. Kein Problem, Partner, das haben wir gleich.
Er war gut in dem was er tat, richtig gut. Während sich die Grobiane der Szene damit abmühten rohes Fleisch zu Hack zu verarbeiten, lies er es langsam garen, bis es ganz sanft zerfiel.
Curt war fast zwei Wochen mit ihr ausgegangen, recht untypisch für ihn, wie sie wusste. Fast schien es ihr, als wären ihm Zweifel gekommen, den Auftrag tatsächlich auszuführen. Kein Wunder, denn sie war ja auch gut in dem was sie tat. Vorsichtig zog sie den Giftdorn aus seinem Nacken, der ihn nach einer Umarmung paralysiert und wenig später sein Herz zum Stillstand gebracht hatte. Sie war zwar neu in der Szene, aber hatte ein sehr gutes Gespür für drohende Gefahr. Er hatte sich nicht offensichtlich verraten, bemerkte aber nicht, dass er es eigentlich war, der langsam garte. Denn sie hatte seine Methode nicht nur übernommen, sondern verbessert. Ihr war es nicht genug, sich mit Opfern oder Gegnern anzufreunden, sie wollte es stärker, tiefer und absoluter.
Und so trat Ellen Fuller, bald nur noch als „Love“ bekannt, mit einer Glock, einer gefüllten Brieftasche und einem zauberhaften Lächeln hinaus in die Nacht, um den ältesten aller Kriege zu führen. Im Namen der Liebe.
Free at last, they took your life.
They could not take your pride.
In the Name of Love.
What more in the Name of Love.
U2 „Pride“
Tag der Veröffentlichung: 28.07.2016
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