Ich erwache schreiend, denn ich komme bestimmt zu spät. Mir ist zwar momentan entfallen wohin ich komme, aber sicher zu spät. Fahrig schlage ich nach links in eine Schale, die daraufhin einen Bombenteppich aus Erdnüssen in Richtung Bettdecke sendet. Der nächste Schlag rechter Hand trifft die Fernbedienung. Wenige Zentimeter weiter und ich hätte heute noch zum Optiker gemusst. Mein Schreien ebbt langsam ab und ich vermisse zunehmend das Geräusch, nach dem ich mutmaßlich schlage. Hinter den Resten der Fernbedienung und meiner glücklicherweise noch intakten Brille erkenne ich verschwommen ein Display mit großen Digitalzahlen, jedoch ohne das Glöckchen dazwischen. Ich hatte den Alarm am Wecker gar nicht eingeschaltet. Erleichtert sinke ich in das Kissen zurück. Was nur die Aufregung soll, denn jetzt weiß ich ja mit Sicherheit, dass ich zu spät komme.
Mit drei katzengleichen Sätzen stehe ich etwas übereilt im Treppenhaus. Während ich verzweifelt an meinen nackten Oberschenkeln nach Schlüsseln suche, bemerke ich, wie sich jemand an meiner Wohnungstür zu schaffen macht. Nachdem die Tür wieder offen ist, nickt mir meine Nachbarin zu, wobei ihr linkes Augenlid etwas flattert, und verschwindet mit meinem Ersatzschlüssel wieder in ihrer Wohnung. Scheinbar Routine, merkwürdig. Aber jetzt ist keine Zeit, sich darüber zu wundern. Hinein in Wohnung und Hose.
Schnell noch die wichtigste Mahlzeit des Tages. Im Brotkasten liegt nur ein Zettel: Brot kaufen. Dann halt ein Stück Käse. Im Kühlschrank wieder ein Zettel: Wurst kaufen. Also müsste ja noch Käse da sein. Doch zum Suchen fehlen Zeit und Nerven. Auf Mundhygiene werde ich aber trotzdem nicht verzichten.
Nach einem kurzen, aber schmerzhaften Abstecher in den Schrank, stehe ich im Bad und überlege, ob jetzt was oben rein oder unten raus sollte. Ich entscheide mich spontan für oben rein und greife mir den Zahnputzbecher. Darin kein Zettel, sondern der Käse. Das nenne ich Effizienz, hätte mir den Küchengang komplett gespart. Um weiter Zeit zu sparen, versuche ich mir beim Essen die Zähne zu putzen, was in recht farbigen Geschmacksnuancen und einer ziemlichen Sauerei endet.
Im Flurspiegel noch fix den Ausgangsstatus prüfen. Es fehlen noch Socken und ein Hemd. Die Zahnbürste muss auch noch aus dem Gesicht.
Endlich stehe ich wieder startbereit im Treppenhaus. Schuhe, Jacke, Haare und vor allem Schlüssel, alles da. Mit zitternden Händen ziehe ich die Tür zu. Verdammt! Das Bügeleisen! Nachdem ich kostbare fünf Minuten mehrfach durch jeden Raum rotiert bin, stelle ich fest, dass ich das Bügeleisen nicht angelassen habe, weil ich keines besitze. Wieder das Treppenhaus. Wieder die Tür. Ungefähr noch dreimal, aber ich besitze weder Heizstrahler, noch Ölradiator oder Lockenstab.
Endlich auf dem Gehweg vor der Haustür spucke ich die Zahnbürste in einen Papierkorb und mache mich, auf das Erinnerungsvermögen meines Unterbewusstseins vertrauend, auf den Weg. Dieses lotst mich im Dauerlauf vor ein Selbsthilfezentrum. Noch begreife ich den Zusammenhang nicht, aber für ein Abenteuer bin ich jederzeit zu haben. Das erste kleine Abenteuer endet bereits nach zwei Minuten in der Damentoilette mit Kreischen und wüsten Beschimpfungen. Bei der nächsten Tür habe ich mehr Glück, zumindest was die Emotionen angeht.
Da jedoch die Antwort auf meine Frage, was ich hier soll, bei den Anonymen Lethargikern einfach zu lange auf sich warten lässt, haste ich weiter. In eine Sitzung der Anonymen Choleriker geplatzt, kann ich mich gerade noch unter einem geworfenen Stuhl wegducken und verstecke mich sicherheitshalber kurz im leeren Raum der Anonymen Deserteure.
Nervös sehe ich auf meinem nackten Handgelenk nach der Zeit und öffne die nächste Tür. Dort sitzen im Halbkreis stumm mehrere Personen, die mit Handschuhen, Mänteln, Schleiern, Tüchern und Masken vermummt sind. Einer der Gruppe, in eine modische Burka mit Motorradhelm gekleidet, dreht sich zu mir und starrt, wahrscheinlich, in mein fragendes Gesicht. Er zeigt mir rasch einen Flyer, der darauf sofort von Kaugeräuschen begleitet unter dem Visier verschwindet. Aha. Die Anonymen Anonymen.
Langsam kommen mir Zweifel noch rechtzeitig zu was auch immer zu kommen, als ich plötzlich vor einer Tür stehe an der ein Schild mit vielen durchgestrichenen Wörtern hängt. Alles, was ich lesen kann, ist die untere Zeile: Die Anonymen … na, hier … Dingens.
Ich öffne die Tür, sehe einen älteren Herrn, der unter seinem Sakko nackt ist und eine junge Frau, in deren hinterem Haarschopf noch eine Bürste hängt, die eifrig Kassenzettel sortiert, und weiß, hier bin ich richtig.
Meine Eile war völlig überflüssig, unser Gruppenleiter ist eh zu spät. Oder er nervt gerade einen Überlandbusfahrer, wann sie denn endlich Ecke Suhrbiergasse sind. Oder hat heute morgen schlichtweg vergessen, warum er überhaupt aufgestanden ist.
Überlegen lächelnd setze ich mich neben die Sortiererin und bestelle fünfhundert Gramm Leinsamenbrot, worauf sie mir mit ehrlichem Bedauern mitteilt, dass das Pfund Leberwurst zehn Mark kostet. Endlich jemand, der mich versteht.
Tag der Veröffentlichung: 05.07.2016
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