Ordell war schon seit den frühen Morgenstunden mit seinen Jungs unterwegs. Seine Jungs, das waren Surfarians wie er. Studenten, Lebenskünstler, Punks, allzeit bereit für einen Rausch, einen launigen Gesetzesverstoß oder einen guten Fick. Es sei denn, der Wind stand gut und türmte des Meer Richtung Strand, um es geschickt zu biegen, zu rollen und letztendlich zu brechen. Sich mit ihren Brettern in dieses Naturorigami zu stürzen, lies alles zweitrangig werden. Den Alk, den Spaß, die Chicks. Nur sie, die Welle und dazwischen sieben Zentimeter Fiberglas.
Ordell hatte am Abend zuvor an alle eine Nachricht geschickt, dass er gegen fünf zum Beach aufbricht. Ob jemand Bock hätte, er müsse unbedingt raus. Es dauerte keine Minute, bis sich alle, nicht nur fast alle, zurückmeldeten. Niemand störte sich daran, dass eine Sommerflaute über dem Land lag, dass es am nächsten Morgen bewölkt und kühl sein würde, nichts davon. Nur ein kurzes Message Stakkato aus „Yo.“, „Bin dabei.“ „Word.“ und „Meine Idee, Digga.“.
Natürlich hatte niemand von den „Boys“ eine Karre. Sparen, Führerschein machen, gesetzeskonforme Anpassung stand ganz unten auf ihrer Spaßagenda. So teilten sie sich im Moment nicht nur einen dicken Doobie, sondern auch die Pritsche eines fünfundfünfziger Studebaker Pickups. Der Fahrer, ein sonnengegerbter Farmer aus Winslow Arizona mit spillerigen Armen, aber Händen wie Fangeisen, hatte sie, nachdem sie ihr Ziel nannten, ohne weitere Fragen zu einer Spritztour auf seinem Hühnertaxi eingeladen. Denn er wollte auch zum Strand, was das Shirt mit „Welcome California“ Aufdruck und die ausgebeulten, kurz unter den Knien abgeschnittenen Jeans zwar unterschrieben, aber dennoch ein unnatürliches, wenn nicht sogar lächerliches Bild abgaben. Zudem musste er schon seit den frühen Abendstunden des Vortages, als Ordell noch dabei war, die Kavallerie zu mobilisieren, unterwegs gewesen sein. Aber das und auch der Fahrtwind, der ihnen mit gefühlten fünf Grad um die Ohren pfiff, war den Jungs egal. Sie wärmten ihre Sinne mit Cannabis, grinsten debil auf ihre, im hinteren Teil der Pritsche gestapelten Boards und fieberten gemeinsam mit dem Fahrer nur einem entgegen, dem Meer.
Die Sonne warf gerade ihre ersten gleißenden Strahlen über den Pazifik und wandelte die Wasseroberfläche in ein strassbesetztes Morgenkleid, dessen sanfte Wölbungen säuselnd lockten. Für einen nicht wirklich optimalen Sommermorgen, was in Kalifornien immerhin noch achzehn Grad in der Morgendämmerung bedeutete, war schon mächtig Betrieb hier am Miramar Beach nahe Santa Barbara.
Ein Rentnerehepaar pellte sich gerade etwas wackelig aus ihrer sandfarbenen Sommerkollektion, ein anderes, weitaus jüngeres Pärchen hatte dies bereits hinter sich, machte aber keine Anstalten diese Blöße wieder zu bedecken, was in diesem Staat eigentlich mit mehr als einem mahnenden Zeigefinger gestraft wurde, und sprang im Adamskostüm in die Fluten. Ein Hobbytaucher warf seine, scheinbar etwas widerspenstig verknoteten Flossen in den Sand und stapfte mit wippendem Schnorchel Richtung Meer, vorbei an einem Vater, der seine vielleicht fünfjährigen Zwillinge in Schwimmhilfen mit Mickey Mouse Aufdruck stopfte. Auch einige Surfer waren schon auf dem Wasser. Weiter oben und unten am Strand schienen sich ebenfalls außergewöhnlich viele an diesem schrecklich gewöhnlichen Tag den Strand, aber vor allem das Meer, eigen machen zu wollen.
Doch wie auch die zwei kalkweißen Halbmonde, die der mittlerweile nackte Farmer vor ihnen zum Meer trug, nahmen Ordell und seine Jungs das alles nur beiläufig wahr. Sie hatten ihre Planks unter die Arme geklemmt und nahmen dieselbe Richtung, wie scheinbar alle an diesem Morgen.
Das Wasser war kühl, erfrischend, betörend. Kurz lagen sie einfach nur auf ihren Bugz', BIC's und McCoy's, zwinkerten sich zu, rissen ein paar Zoten, planten schon den Nachmittag. Aber zunächst sollte es hinaus gehen. Hinaus auf die cobaltblaue Mutter aller Seen, die sie streicheln, wiegen, mit ihnen spielen würde.
Wie zum Gruß kraulte eine Brise ihr Haar und trug auch einen Schrei aus der Ferne an sie heran. Aber das war nicht das Startsignal. Die kleinen Wellenberge, die dieser Windstoß aus der Oberfläche grub, waren es, die Ordell's Jungs aus der Lethargie lösten und sie wild drauf lospaddeln ließen, als wären sie bei der ASP World Tour. Von nun an gab es keine Blicke, keine Scherze, keine Gedanken an Sex und Saufen mehr. Jeder für sich war alleiniger Herrscher über sein Board und die paar Quadratmeter Ozean, die er brauchte, um sich dem Kampf mit dem Element zu stellen. Doch manchmal drangen auch Ranghöhere der Nahrungskette in dieses Hoheitsgebiet. Seit Jahrmillionen Wächter über diesen Teil der Erde und mit einem dreireihigen Revolvergebiss bewaffnet, dass sich selten auf Diskussionen einließ.
Den Schrei, den Ordell nun vernahm, konnte er schlecht ignorieren, kam er doch von einem seiner Jungs direkt neben ihm. Mental hatte er sich auf solche Momente vorbereitet, schien es ihm leicht einen kühlen Kopf zu bewahren, alle Kniffe in diesen Situationen anwenden zu können. Doch das hier war kein Spielbergfilm, das war das reale Leben und das riss Matt Hooper einfach in die Tiefe. Kein weiterer Schrei, kein Aufbäumen in hellrosa schäumendem Wasser, keine wilde Flucht mit atemlosen Kraulen. Nur ein Schmerzensschrei als der drei Meter Bullenhai achtzig Zähne in Matts Rippen rammt und ein schmatzendes Glucksen. Dann war er von der Oberfläche getilgt.
Während sein Freund sechs Meter unter ihm von zwei weiteren Haien zu Nahrung verarbeitet wurde, bemühte sich Ordell dennoch einen kühlen Kopf zu bewahren. Wieso war er nur so weit vom Strand entfernt? Er sah jetzt, dass alle, die am Strand waren, mittlerweile auch im Wasser waren. Irgendwie rief sein Unterbewusstsein jetzt den Schrei von vorhin wieder auf. Hier muss ein ganzes Rudel zum morgendlichen Brunch eingetroffen sein.
Der Vater, der seine zwei Kinder in den Ringen hinter sich herzog, war keine fünfzehn Meter mehr von Ordell entfernt. Die Alten, der Farmer, Adam und Eva, ganz verdammt Kalifornien ging hier baden und der nächste Hai packte sich Chris Brody. Ein großer Weißer. Sieben, vielleicht sogar acht Meter lang. Er verschlang Chris samt Board bis zur Hüfte und biss einfach zu. Dieses Mal kein Schrei, nur ein Torso, der auf dem Wasser wie ein Korken schaukelte und von einem kleineren weißen Hai in die Tiefe gezerrt wird.
Ordell schaut in die entsetzten Gesichter seiner Jungs, seiner Boys, denen die große Fresse eingefroren scheint. Niemand bekommt auch nur einen Ton heraus. Warum sieht das hier niemand? Warum zur Hölle schwimmen alle weiter? Wo zum Teufel kommen diese ganzen Scheißhaie her?
Während Ordell immer noch krampfhaft versucht, auf seinem Board kauernd nicht den Verstand zu verlieren, dringen nun vom gesamten Küstenstreifen Schreie an ihn heran. Das hier ist kein Gelage, das gleicht einer Hinrichtung. Er sieht den Farmer verschwinden und wie der letzte der Zwillinge hilflos in einer roten Lache strampelt. Adam kämpft vergebens um Eva und ein blutiger Schnorchel treibt vorüber. Immer noch kann sich Ordell, vor Angst dem Wahnsinn nah, nicht rühren, während auch die Letzten seiner Boys Teil der Nahrungskette werden. Er schafft es noch ein zitterndes Gebet zu stammeln, dann kommen die Zähne und ein letzter Schrei gellt über das blutrote Wasser.
Wie lange kannte sie Sebastian schon? Obwohl, die Frage war rein rhetorisch, da sie, im Gegensatz zu ihm, den Kennenlerntag nie vergaß. Sie sollte sich eher fragen, wie gut sie ihn kannte. Er ist witzig, kümmert sich wunderbar um die Kinder, besonders wenn ein dritter Mann beim Toben gefragt ist. Fleißig ist er auch, gebildet, charmant, stark, kurz, das Paradebeispiel eines tollen Hechtes. Nur Spontanität kam in seinem Sprachschatz nicht vor. Alles, vom Picknick bis zum Heckeschneiden, musste haarklein geplant werden, meist Wochen voraus. Ausflüge wurden quartalsweise besprochen, der Sommerurlaub im Sommer des Vorjahres geplant.
Und doch stand nun dieser Mann, den sie glaubte, eigentlich ganz gut zu kennen, in der Küche und schmierte ein paar Brote für einen Ausflug an die Ostsee. Mitten in der Woche. Hatte sich frei genommen, die Kinder von der Schule abgemeldet und ein Vier-Bett-Zimmer im Ostseehotel Boltenhagen gebucht. Dabei waren gestern nachmittag noch alle eifrig dabei, den Essensplan für heute auszudiskutieren. Max wollte Nudeln, Till Bratklopse und Sebastian Auflauf. Nach einigem Hin und Her hatte sie es geschafft mit einer Nudel-Bolognese-Auflauf-Petition Frieden zu stiften. Doch das war jetzt alles hinfällig, sie fuhren an die Ostsee.
Normalerweise hätte so eine Schnapsidee ihren eigentlich gut ausgeprägten Spontanitätssinn arg strapaziert und sie hätte ihm wohl einen Vogel gezeigt, aber irgendwie fand sie die Idee ganz nett. Richtig nett, ja geradezu umwerfend und die Kinder flippten förmlich aus, als ginge es nach Disneyland Paris. Also saßen sie gegen sechs Uhr morgens in ihrer schwedischen Familienkutsche, bereit, die zweihundertneunzig Kilometer möglichst schnell hinter sich zu bringen, um sich im Sand wälzen und die Fluten stürzen zu können. Doch schon am Dreieck Werder kam die Ernüchterung, dass das Wälzen und Stürzen wohl vorerst noch warten musste. Die Schlange aus roten Lichtern wand sich bis über den Horizont und kroch so gemächlich, wie sie groß war. An Umkehren dachte aber niemand, zu groß war die Vorfreude. Also reihte man sich vorbildlich ein und tanzte mit tausend Anderen im Morgengrauen die Autobahnpolonaise.
Als sie endlich nach acht Stunden Schleichfahrt einen Parkplatz zwei Kilometer vom Hotel entfernt gefunden hatten, hier sah es aus, als ob die gesamte Autobahn in Boltenhagen parkte, gingen sie schnurstracks Richtung Strand. Das Einchecken konnte warten, das Mittagessen konnte warten, sogar die blöde Parkuhr konnte warten, alle wollten im Moment nichts mehr als das Meer.
Die Stadt war übersät mit Pauschaltouristen, aber es war ja auch ein warmer, fast heißer Sommertag mit einem stahlblauen Himmel, dessen Perfektion keine Wolke trübte. Seine eigenen Kinder an den Händen, wunderte sich Sebastian nur kurz über die vielen anderen Kinder hier, fingen doch die Ferien erst in zwei Wochen an. Als sie über die Düne traten, war alles vergessen. Die See lag ruhig vor ihnen und schickte sanft rauschende Lockrufe herüber.
Natalie bat Sebastian hastig, sie doch mit einem Handtuch vor Blicken beim Umkleiden zu schützen, als sie bemerkte, dass sie ihren Badeanzug bereits unter ihren Sachen angezogen hatte. Auch Sebastian und die Kinder ließen die Hosen fallen und waren schon startklar in ihren Badeshorts. Mit der Kleidung fiel auch die Hektik von ihnen ab und sie lachten befreit über ihre unterbewusste Voraussicht. Dann liefen sie langsam, fast andächtig den Strand hinunter. Das Wasser umspülte sanft ihre Knöchel und selbst die Kinder rannten diesmal nicht wie angestochen in die See. Es war einfach perfekt, auch wenn sie diesen Eindruck mit bestimmt fünfhundert Anderen teilen mussten. Einige von denen waren bereits soweit hinaus geschwommen, das ihre winzigen Köpfe selbst hinter den kleinsten Wellenbergen immer wieder verschwanden.
Sie waren alle vier ausgezeichnete Schwimmer, was konnte es also schaden, auch ein kleine Naturbahn zu ziehen. Die Ruhe, die am Wasser in sie einfuhr, setzte sich im Schwimmen fort. Sebastian und Natalie trieben mit weiten, ruhigen Zügen, ihre Kinder sorgsam in die Mitte genommen, auf den Horizont zu. Sie lächelten sich an, wie schön es hier war und wie ruhig. Wie musste die Ruhe erst weiter draußen sein? Die winzigen Köpfchen waren verschwunden. Was für Wunder würden noch auf sie warten? Sie wollten es erfahren, sie mussten nur weiter schwimmen, immer weiter, wie alle anderen auch. Sollte sie die Kraft verlassen, konnten sie sich einfach in ihre kühlen Arme fallen lassen. In die Ruhe. In Frieden. Es war perfekt.
Vor vierundzwanzig Stunden konnte sich Uyeda Nakamura nicht lange darüber wundern, dass seine Winterkirschen bereits jetzt, ein halbes Jahr eher in Blüte standen, war er doch mehr in Sorge über seine prämierten Zuchtrinder. Wurde er jeden Morgen, wenn er Kraftfutter und Hopfensud brachte, lautstark begrüßt, blieb es heute in den Stallungen totenstill. Auch die Milchkühe und die Kurobuta Eber gaben keinen Laut von sich. Jedes Tier war zwar wach, schien aber doch mit offenen Augen zu schlafen. Sie standen oder lagen apathisch in ihren Boxen, atmeten, aber fraßen nicht. Fast schien es, so verrückt das Uyeda auch vorkam, als wären sie irgendwie in Gedanken verloren. Doch schnell suchte er sich wieder zu besinnen und rief bei seinem zuständigen Veterinär an. Als er nach fünf Versuchen endlich durchkam, riet man ihm die Ruhe zu bewahren, seine Tiere zu beobachten und am späten Abend eventuelle Veränderungen oder auch Verschlechterungen zu melden. Das Beunruhigende daran war, dass der Arzt ihm das alles sagte, bevor Uyeda auch nur ein Wort gesprochen hatte. Höflich bedankte er sich und legte wieder auf.
Er setzte sich auf einen Heuballen am Scheunentor, wobei eine gewisse Vorahnung seine Gedanken dominierte. Dabei starrte er blicklos auf das Farbenmeer vor seiner Farm, in dem wirklich jede Pflanze, jeder Strauch, jeder Baum seine prachtvollen Blüten verfrüht ins Rennen brachte. So sehr sich Uyeda auch bemühte, diesen einen Gedanken rational zu entschärfen, hing er doch unüberwindbar in seinem Denken fest. Wir alle. Der besorgte Farmer der Präfektur Tokushima in Japan ahnte nicht, wie recht er hatte.
Der Berliner Zoo, normalerweise Garant für ein artenreiches Seh- und Hörerlebnis, glich einer Geisterbahn, in der die starren Blicke der ruhenden Tiere ganze Familien zum verängstigten Verlassen das Parks zwangen. Die Tiroler Alpen waren übersät mit vorzeitig blühenden Alpenveilchen. Die Kirschblüte fand ein weiteres Mal statt, was besonders von japanischen Nachrichtensendern als achtes Weltwunder gehandelt wurde. In den Tiefen der sibirischen Wälder rotteten sich auf riesigen Lichtungen hunderte Wölfe, Elche, Schwarzwild, sogar Tiger friedfertig zusammen und Cowboys lüfteten verdutzt ihren Stetson, nachdem ihre treuen Begleiter den Dienst verweigerten. Selbst Fliegen und Moskitos unterließen es einen halben Tag lang, lästig zu sein.
Diese außergewöhnlichen Ereignisse traten an diesem Morgen für zwölf Stunden auf der gesamten Welt auf, die Tiere schienen sich in ihrer inneren Mitte zu sammeln, Pflanzen offenbarten sie. Alles verfiel in eine Art meditativen Zustand. Doch es war vielmehr als das. Es war eine Art Impuls, für den nur Säugetiere mit dem am höchsten entwickelten Gehirn empfänglich waren und wären diese nach den zwölf Stunden noch in der Lage gewesen, es sinnvoll nutzen zu können, um die Botschaft zu entschlüsseln, würden auf den Bildschirmen ihrer sklavisch verehrten Götter nur zwei Worte leuchten: Geht zurück.
Die Erde bekam in ihren frühen Tagen zum Schutz einen dickes Fell mit auf den Weg, die Natur. Doch dort hatte sich vor einer weltgeschichtlich relativ geringen Zeitspanne ein irrtümlich hervorgebrachter Parasit festgesetzt, der sich rasant vermehrte und dem einfach nicht beizukommen war. Es half kein Rütteln, Wirbeln, Brennen und letztendlich war die Zeit reif für ein weltumspannendes, reinigendes Bad. So kam es, dass sich die gesamte Spezies des Homo Sapiens am Abend dieses Tages auf den Weg zu ihrem Ursprung machte, wo sie Elemente und Tierwelt bereitwillig in Empfang nahmen. Der Fehler war getilgt.
Tag der Veröffentlichung: 05.07.2016
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