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Das Erwachen

Die Nebelschleier in seinem Kopf konnten sich nur schleichend lichten, da seine versiegelten Augenlider immer noch den Dienst verweigerten, sein marterndes Hirn mit Tageslicht zu fluten. Die Schmerzen pulsierten mit jedem Herzschlag. Seinen Zustand bezeichnete man gerne mit hundeelend, aber wie mussten sich dann erst Hunde an schlechten Tagen fühlen? Genau so, meinte er.

Langsam zog er die klumpigen Lider auseinander und der Schmerz verzehnfachte sich. Er versuchte sich zu erinnern. Es ging ihm gestern schon dreckig, war auf der Suche nach Hilfe. Da war dieser weiß gekleidete Fremde, der ihm … Ruckartig sprang er auf und musste die tausend Nadeln wegschreien, die jetzt gleichzeitig in sein Hirn stachen. Er griff sich instinktiv an die Stirn und sein beängstigender Verdacht wurde zunehmend realer.

Nachdem er mehrfach Magensäure in die Kloschüssel gebrüllt hatte, wagte er es, in den Spiegel zu schauen. Der Blick, mit dem er ungläubig auf seinen kahlen Schädel starrte, wurde wässrig. Die Erinnerungen an das Gestern waren nur bruchstückhaft, aber dieser Mann, er hatte ihm etwas von Zeit und Ästen oder Zweigen erzählt. Angst lies seinen gesamten Körper zittern. Sein Vater, seine Mutter, beide verließen ihn auf diese Art als er noch jung war und jetzt war er an der Reihe. Seine Zeit war abgelaufen und diese Scheiße, die Metastasen hatten sich bereits verzweigt. Er hatte Krebs. Soviel ist sicher. Die Angst wich langsam der Wut. Er schlug mit der Faust in den Spiegel und der Schmerz lies ihn kurz klarer denken.

Er wollte sich gestern besaufen, genau. Dann ist er wahrscheinlich zusammengebrochen und im Krankenhaus müssen sie ihm die Haare entfernt und mit Schmerzmitteln vollgepumpt haben, woraufhin er sicher getürmt ist. Es fiel ihm nie leicht Regeln zu akzeptieren oder Meinungen zu tolerieren, schon gar nicht von Weißkitteln.

Aber der Typ im weißen Anzug hatte ihm vorher irgendwas in die Hand gedrückt. Er griff an die rechte Gesäßtasche seiner Jeans und zog etwas wie ein Heft heraus. Sicher so ein „Du stirbst – Zehn goldene Regeln“ Dreck. Dabei erinnerte er sich nun doch etwas genauer an die, an ihn gerichteten Worte. Zweige? War es nicht doch ein Baum? Eine Eiche? Eine deutsche Eiche? Und sagte der Fremde nicht, seine Zeit wäre gekommen, nicht abgelaufen ... das ergab keinen Sinn.

Er sah auf den Umschlag der Broschüre in seiner Hand und ihm drehte sich erneut der Magen. Kein Krebs, es war viel, viel schlimmer. Drei scharlachrote Buchstaben. NPD.

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Tag der Veröffentlichung: 06.06.2016

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