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Das Leben ist schön

Passant erschießt Hundebesitzer Schlagzeilen, die wie ein Küchenhobel Schicht für Schicht seine Empathie abtragen Baby tot in Mülltonne gefunden Dieses Schmierblatt ist wie ein Autounfall, man sollte, aber kann einfach nicht wegsehen. Denkt sich, hoffentlich ist niemanden etwas geschehen Amoklauf eines Studenten und bemerkt gar nicht, wie man nach der Farbe Rot Ausschau hält Zwölf Tote Plötzlich wird einem bewusst, wie gut man es doch hat, soviel mehr Glück, wie diese armen Teufel zu haben und fährt einfach weiter. Er blättert um.

Titten. Okay, schöne Titten, aber keine Oberstufenlehrerin, die unseren verirrten Nachwuchs in die Spur bringt. Keine Laborantin, die, statt Nächte ans Komasaufen zu verschwenden, tatsächlich ein Heilmittel gegen Diabetes gefunden hat. Keine Literaturpreisträgerin, die mit ihren Visionen das Füreinander in unserer Mitte erst sichtbar gemacht hat. Nein, einfach nur Titten. Brot und Spiele. Ein dummes Volk regiert sich leicht. Ein geiles Volk entbehrt jeglicher Führung.

Die nächste Seite blendet ihn fast. Es ist eine doppelseitige Annonce für alternative Energiegewinnung. Riesige Windräder, erstaunlich anmutig unter einem strahlend blauen Himmel ins Bild gesetzt, ragen aus einem sonnengelben Rapsfeld. Fast kann er den Raps riechen. Es ist ein intensiver Geruch, der viel Kraft und Energie in sich trägt. Er hört das sonore Summen und Zirpen der Fauna, spürt wie warme Sonnenstrahlen durch ihn hindurch scheinen und sein Innerstes mit Licht füllen. Ein kaum spürbarer Windhauch streicht ihm durchs Haar. Es klingt oberflächlich, aber das Leben könnte doch so schön sein. Als er die Augen wieder öffnet, pulsiert immer noch die Wärme dieses Gedanken durch seinen Kopf, verliert aber schnell den Kampf gegen die Tristesse, die ihn umgibt. Verzweifelt versucht er ihn festzuhalten. Das Leben ist schön. Er hat diese fünfzehn Quadratmeter, muss nicht auf der Parkbank schlafen. Er ist zweiunddreißig und, bis auf einen Hallux Valgus am rechten Fuß, einer leichten Kurzsichtigkeit und gelegentlichen Magenverstimmungen, kerngesund. Er hat weder Frau noch Kinder, die er durchfüttern müsste. Auch keine Freundin. Geschweige denn Freunde. Selbst seinen Eltern geht er am Arsch vorbei. Hauptsache die Stütze kommt regelmäßig.

Genervt knüllt er die Zeitung zusammen und schleudert sie in eine Ecke, wo sie klirrend einige leere Bierflaschen wie Kegel umstößt. Kein Zufallstreffer, denn sein karger Wohnraum ist übersät mit Formationen aus Bierpins. Was dann folgt, ist so zur Routine geworden, dass er erst am Brennen in der Kehle merkt, dass er am Kühlschrank war, um sich mit Russenmedizin zu betäuben. Auf der Matratze am Boden liegend genießt er die kleine Walzerfahrt, schließt die Augen und steht wieder auf dem Rapsfeld. Die gigantischen Windräder bewegen sich majestätisch geräuschlos, der Raps umspült in sanften Wogen riesige Worte, den Slogan der Anzeige. Er streicht mit seinen Handflächen über die Spitzen der Pflanzen, bewegt sich langsam vorwärts und flüstert dabei die fünf Worte, die den Horizont seines Tagtraumes begrenzen, gebetsartig vor sich hin. Diese Worte haben Kraft. Kraft, die aus der Erde durch seinen Körper in den Himmel fließt. Er beginnt zu rennen. Er flüstert nun nicht mehr. Die Windräder beginnen sich schneller zu drehen und stimmen in seine Melodie mit ein. Die Worte tanzen auf ihn zu. Alles dreht sich, bewegt, verändert sich. Er kann sich selbst sehen, wie er diesen Satz in die Welt schreit. Es ist seine eigene Stimme, die ihn hochschrecken lässt.

Als er endlich angekommen ist, hallen die Worte im Kopf immer noch nach, als würde er sich selbst vom Rapsfeld aus zurufen: Ja, tu es! Es ist das Richtige! Du musst endlich etwas unternehmen! Das Leben ist schön!

Schwankend steht er vor seiner Schlafstätte und fast hätte ihm ein rebellierender Kreislauf seinen frisch gewonnen Lebensmut wieder entrissen, aber ihm gelingt es, sich wieder auf sein Vorhaben zu konzentrieren. Zunächst muss er seinen Kühlschrank von all dem Gift befreien. Dann braucht er wieder diese verdammte Zeitung. Er würde sich die Doppelseite mit dem magischen Worten an die Kühlschranktür pinnen und dann die Stellenanzeigen durchforsten. Er ist jung, er ist gesund, er hat keine Familie, der Traum eines jeden Arbeitgebers. Warum hat er nur solange gezögert? Der erste Teil seines neuen Lebensplanes gelang ihm erstaunlich gut. Natürlich nicht ohne sich mit einem innigen Kuss von jeder einzelnen Flasche zu verabschieden. Den Presseball, das Wortspiel gefiel ihm, entdeckt er inmitten seiner gefallenen, gläsernen Kameraden, von denen er leider einen übersieht. Die Flasche zerbricht nicht unter seinem Fuß, nimmt ihm aber das Gleichgewicht. Ironischerweise denkt er: Ein Glück! bevor die Lehne seines einzigen Stuhles Dunkelheit über ihn bringt.

 

Er fühlt sich leicht, keine Schmerzen. Er öffnet die Augen, revidiert das mit den Schmerzen und schließt sie schnell wieder. Zu grell ist das Draußen. Aus weiter Ferne hört er jemanden rufen: Er ist wach!

Er kann sich an den Sturz erinnern. Liegt er noch auf dem Boden seiner Sozialsuite? Ist jemand bei ihm? Er denkt nicht weiter, öffnet nochmals die Augen. Trotz der Schmerzen hält er stand und erkennt nach kurzer Zeit neonhelle Deckenleuchten, vor die sich jetzt ein hübsches Gesicht schiebt und so den Schmerz etwas lindert. Das Gesicht lächelt.

„Hallo. Schön, dass sie wieder bei uns sind. Sie haben lange geschlafen.“

„Ich … ich bin gestürzt. Bin im Krankenhaus, oder?“

„Aber ja!“ strahlt das Gesicht „Wunderbar! Oh, verzeihen sie, natürlich nicht, dass sie gestürzt sind. Aber sie können sich erinnern, also sind scheinbar keine weiteren Folgeschäden zu befürchten.“

„Wer hat mich …?“

„Der Mieter unter ihnen hörte ihren Sturz und hat, nachdem sie auf sein Klingeln nicht reagierten, sofort den Notruf gewählt. Der Chefarzt wird ihnen alles weitere erklären. Ich richte sie ein wenig auf.“

Das Kopfende des Bettes fährt mit einem leisen Surren etwas nach oben und langsam schiebt sich die Kulisse einer Intensivstation in sein Sichtfeld. Der Mann am Fussende hat eine wesentlich ernstere Mine aufgesetzt, was wohl sicher seiner Autoritätsstufe geschuldet ist.

„Schwester, ist der Patient stabil?“

„Ja, Vitalparameter ausgezeichnet.“ antwortet sie mit konzentriertem Blick auf die Monitore.

Nun wendet sich der Halbgott an ihn und versucht tatsächlich etwas wie ein Lächeln in sein massiges Gesicht zu konstruieren, was aber eher in einer Grimasse endet.

„An was können sie sich erinnern?“

„Naja, bin wohl auf so 'ne verdammte Bierflasche gelatscht und hab mich lang gelegt. Dann weiß ich nix mehr.“ Fängt ja gut an, mein neuer Plan vom Leben, denkt er sich.

„Sie haben sich bei diesem Sturz im Halswirbelbereich akut verletzt, was eine irreparable Läsion des Zervikalmarkes zur Folge hatte.“

Der Arzt kommt um das Bett herum und gibt den Blick auf die Glasscheibe frei, hinter der sich der Wartebereich für Angehörige befindet. Natürlich wartet dort niemand auf ihn. Dennoch kann er etwas Vertrautes entdecken. Ein großformatiger Druck einer Zeitungsanzeige.

„Die Folge ist eine Tetraplegie.“

„Eine was … ?“ Er sieht immer noch gebannt auf das Rapsfeld mit den Windrädern.

„Eine … eine Komplettlähmung vom Hals abwärts. Tut mir leid.“

Er kann sich ein wirres Grinsen einfach nicht verkneifen, denn ja, irgendwie hatte er es geschafft. Das Grinsen wächst zu einem hysterischen Lachen, wobei sein Blick auf den Worten im Rapsfeld haftet, die ihn erst motivierten und nun mit ihrer zynischen Wahrheit verhöhnen Ab morgen wird alles anders

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Tag der Veröffentlichung: 11.05.2016

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