Angespannt ruhten seine Finger auf der glatten, von regelmäßigen Linien durchbrochenen, Oberfläche. In seinem Kosmos, begrenzt durch den Lichtkegel einer Schreibtischlampe, waren nur sein gleichmäßiger Atem und das Surren des Mainbordlüfters seine einzigen Begleiter. Seine Finger bewegten sich kurz spinnengleich über die Tastatur und Buchstaben auf weißem Grund erschienen. Ein Druck auf eine der Tasten und die Buchstaben verschwanden wieder.
Er vermisste das Rattern der Schreibwalze seiner Schreibmaschine, wenn er eine unnütze Idee aus ihrem Maul riss und das Blatt, auf das er sie entbunden hatte, in dem Papierfriedhof zu seiner Rechten bestatte. Jetzt hatte er nur dieses seelenlose Klacken und Surren. Ein schlechter Tausch, aber seiner Situation durchaus angemessen, wie er fand. Seine Seele hatte, durch seine Unterschrift verifiziert, auch den Besitzer gewechselt und lag jetzt in Form eines Vertrages über fünf Bücher in fünf Jahren im Tresor eines Verlagshauses.
Der Winter des dritten Jahres war gerade angebrochen und er hatte bisher nur ein einziges Buch abliefern können. „Vom Kolumnisten zum Bestsellerautor“. Das ein Glückstreffer kein Garant für unbegrenzten Ideennachschub ist, kam ihm nie in den Sinn.
Er schloss das Schreibprogramm und öffnete eine Suchmaschine. „Hilfe bei Schreibblockaden“ hatte er tippen wollen, startete die Suche jedoch schon versehentlich nach „Hilfe b“.
Gleich im ersten Eintrag stand „Sie brauchen Hilfe?“, mehr nicht. Suchte er nicht gerade nach Hilfe? Ein blöder Scherz konnte es sicher auch nicht sein, sonst würde das Ergebnis seiner Suche ja nicht an erster Stelle in einer der größten Internetsuchmaschinen stehen. Die lassen sich sicher nicht so einfach manipulieren. Was sollte schon passieren?
Den weltweiten Webmonopolen hörig, waren alle aktuellen Sicherheitsprogramme installiert und die virtuelle Feuerwand lauerte lodernd anrückenden Viren und Würmern auf. Ein Klick auf den Link öffnete ein weiteres Fenster. Der Aufbau dieses Fenster kam ihm bekannt vor, hatte er doch schon ähnliche auf dem Macbook seiner Tochter gesehen. Ein Chatroom. Bewohner: er und … nein, nur er.
Hallo
Er war fast ein wenig erschrocken über die plötzlich erscheinende Anrede, hatte er doch hier dieselbe Leere erwartet, wie sie auch momentan in seinem Kreativzentrum herrschte. Sicher der (wie hieß das doch nochmal?) Leiter des Chatrooms.
Hallo
Wie kann ich dir helfen?
Entschuldigen sie, ich weiß gar nicht, ob ich hier richtig bin
Du suchst Hilfe?
Ja, im Prinzip schon.
Nicht direkt Hilfe, eher Tipps zu einer Schreibblockade
Eine ganze Weile geschah gar nichts. Wahrscheinlich hatte er seinen einzigen Zuhörer bereits verschreckt. Konnte er ihm nicht verübeln. Im Internet gab es sicher ebenso viele Einträge über das Schreiben, wie über Pornographie.
Ich helfe dir. Wie ist deine Postadresse?
Meine Adresse? Wieso?
Ich habe hier noch einige Schreibmaschinenseiten voll mit Ideen, Manuskripten und Entwürfen eines Freundes
Das wird ihrem Freund doch sicher nicht gefallen
Er wird es nicht erfahren
Das klingt nach keiner guten Idee
Er ist letztes Jahr verstorben
Nun klingt es noch weniger nach einer guten Idee
Ich weiß, dass er es so gewollt hätte
Noch ein Winter und zwei Jahre, dann wäre eine Vertragsstrafe in äußerst unangenehmer Höhe fällig und sein kurzes Glück als Erfolgsautor würde von einem Abgrund, angefüllt mit Schuld und Schulden, verschlungen werden. Er tippte seine Adresse und fuhr sein Notebook herunter, ohne eine Antwort abzuwarten.
Der Umschlag, den er schon am nächsten Tag in seinem Briefkasten fand, war nicht adressiert oder frankiert. Er war hier gewesen (Hallo). Während sie schliefen, war er hier und hat diesen braunen, mit schätzungsweise fünfzig Blättern gefüllten Umschlag eingeworfen. Das gefiel ihm nicht. (Ich helfe Dir).
Als er an seinem Schreibtisch die Blätter, sie waren auf einer guten, alten Hermes Baby geschrieben wurden, aus dem Umschlag fischte und kurz überflog, war sein Unbehagen schnell vergessen. Jeder Abschnitt, jede Zeile war einfach brilliant. Die Kreativität dieser Ideen war niederschmetternd. Sein bisheriges Schaffen trennten Welten von dem, was er da in seinen, vor Aufregung zitternden Händen hielt. Das fütterte sein Misstrauen.
Sofort fuhr er den Rechner hoch, startete sämtliche Suchmaschinen und hämmerte stundenlang Zitate, Versatzstücke und ganze Absätze des kursiven Blattgoldes auf seinem Tisch in die Suchzeilen. Nichts davon wurde tatsächlich irgendwo publiziert.
Gefallen sie dir?
Er hatte nicht bemerkt, wie sich unter den Schichten von Suchfenstern ein weiteres geöffnet hatte. Das eines Chatrooms. Durch die eingegebene Frage sprang es nun nach vorne und er wich irritiert vom Bildschirm zurück.
Sie sind unglaublich. Ich kann das nicht verwenden. Ich käme mir wie ein Dieb vor.
Mein Freund hat sie mir geschenkt, nun schenke ich sie dir.
Dieses Mal zögerte er.
Also gut. Was ist der Preis?
Ein Preis? Für ein Geschenk?
Ich dachte nur, weil die Sachen so verdammt gut sind und ich sicher Geld damit verdienen werde
Du brauchtest Hilfe. Ich helfe dir.
Warum?
Braucht Hilfe einen Grund?
Darf ich auch ihre Adresse erfahren, um mich zu bedanken?
Das wird nicht nötig sein.
Wenigstens Ihren Namen?
Das Fenster schloss sich. Er dachte an einen Verbindungsfehler und öffnete es erneut über die Suchmaschine.
Hallo? Sind sie noch hier?
Er wusste nicht, wie lange er auf das schwarze Quadrat auf seinem Bildschirm gestarrt hatte, als sich seine Tochter über ihn beugte. Er fuhr zusammen und hätte ihr fast mit der Schulter den Kiefer ausgerenkt.
„Oh, Schatz, das tut mir leid. Ich war nur ...“
„Wen suchst du denn?“ zeigte sie auf den Bildschirm, während sie sich das Kinn rieb.
„Ach das. Das ist nichts.“
Er klappte den Bildschirm herunter, ohne den Rechner auszuschalten. „Was gibt es denn, Engel?“
„Bei Pixxies haben sie gerade so ein total limitiertes, megacooles Neonröhrenschild von Coca Cola, so mit einem Saxophon und … „
„Ja.“
Seine rechte Hand thronte auf fünfzig Schreibmaschinenblättern, die locker hunderttausend wert waren.
„Was ja?“
„Ja. Kauf es dir. Meine Kreditkarte liegt in der Flurkommode, rechte Schublade.“
Normalerweise ewige Debatten über Verschwendungssucht contra Sparsamkeit gewohnt, wollte seine Tochter die überraschende Großzügigkeit nicht durch unnötiges Nachfragen gefährden, gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verschwand so plötzlich, wie sie erschienen war.
Er nahm sich die erste Seite vom Stapel, klappte seinen Rechner auf und klickte auf das x in der rechten Ecke des schwarzen Nichts, in dem nach wie vor unbeantwortet Hallo? Sind sie noch hier? schwebte.
In den nächsten Tagen und Nächten arbeitete er fast ununterbrochen. Aus drei Seiten seines Gönners waren nun schon fast zweihundert in seinem Rechner geworden. Wenn er so weiter arbeiten würde, könnte er dem Verlag die fünf Bücher schon im nächsten Winter liefern.
Es war weit nach Mitternacht und er arbeitete am letzten Absatz seines zweiten Buches, als sich wieder mal ein Fenster auf seinem Bildschirm öffnete. Es war anders, als das des Chatrooms. Es waren darauf keine Worte zu sehen, sondern dunkle Linien, die Umrissen glichen. Eine Silhouette. Das Fenster einer Webcam. Ein leises Kratzen, wie Sandpapier auf Holz, war aus den Lautsprechern zu hören. Worte bildeten sich. Eine Stimme.
„Du hattest nach meinem Namen gefragt.“
„Sind sie das?“
Er war sich sicher, dass man ihn auf der anderen Seite hören konnte, auch wenn er, bis auf einige gelbe Linien hinter der Silhouette, so gut wie nichts sehen konnte.
„Ja, ich bin es.“
„Ich weiß gar nicht, wie ich ihnen danken soll. Ich bin … „
Unbewusst kam er ins Stocken, als sich der Schatten in dem Fenster bewegte. Irgendetwas beunruhigte ihn.
„Das hast du schon.“
„Wie denn? Ich kenne noch nicht einmal ihren Namen.“
Der Schatten glitt aus dem Sichtbereich der Webcam.
„Finde ihn heraus.“
Die gelben und roten Neonlinien, die er jetzt erkennen konnte, lähmten seinen Verstand. Ein Saxophon vor einem Coca Cola Schriftzug. Krachend fiel der Stuhl zu Boden, als es ihm gelang, sich aus der Starre zu lösen, um in das Zimmer seiner Tochter zu stürzen. Das Zimmer war leer. Ihr Macbook stand aufgeklappt auf dem Schreibtisch und auf dem Bildschirm war sein Arbeitsplatz mit dem umgekippten Stuhl zu erkennen.
Nach drei Monaten gelang es endlich den Täter, den die Presse einfallsreich das „Phantom“ nannte, mittels Lockvogel und Internetfangschaltung zu fassen. Man befreite aus seinen Kellerräumen zwölf Kinder, von denen das jüngste gerade acht Jahre war. Er hatte sie nicht missbraucht, nur gesammelt, wie er es nannte. Er hatte sich in Computer gehackt (Hallo), Vertrauen erschlichen (Ich helfe Dir) und sich so die Kinder geholt (Das hast Du schon).
Sie litten an Unterernährung, Dehydrierung, Hautkrankheiten, doch sie waren am Leben. Vier von ihnen mussten jedoch auf Grund ihres bedrohlichen Gesundheitszustandes sofort auf die Intensivstation. Seine Tochter, scheinbar sein letztes Opfer, war bis auf ihre zerfetzte Kinderseele in physisch stabilem Zustand und konnte bald nach Hause.
Dort stand wieder die alte Schreibmaschine auf seinem Schreibtisch. Das Notebook war längst auf dem Weg zur Mülldeponie. Inklusive fünfzig Schreibmaschinenseiten. Es war nicht nur Vorsicht und Verdruss, weshalb er der modernen Schöpfung abschwor. In den quälenden Monaten auf der Suche nach seiner Tochter, wurde er bei seinen zahlreichen Recherchen und Kontaktversuchen im Internet (Sind sie noch hier?) unfreiwillig Zeuge einer grotesken Legendenbildung rund um das Phantom. In deren Verlauf fanden es einige User wohl originell, den namenlosen Kinderdieb mit einem viel älteren Mythos, der diesen Gräueltaten in keinster Weise gerecht wurde, in Verbindung zu bringen. So kochte jedes mal unsägliche Wut in ihm hoch, wenn er auf diese Verballhornung des Traumas seiner Familie stieß. Diesen widerlich lächerlichen Namen. Diesen grimmschen Hohn. Rumpelstilzchen.
Tag der Veröffentlichung: 21.04.2016
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