Cover

Schritt für Schritt

Eine Reise beginnt immer mit dem ersten Schritt. Es hatte zwar etwas gedauert, bis ich mich dazu entschlossen habe, aber jetzt war es soweit.

 

Die Sender auf dem Radio waren mit der Zeit alle ausgefallen, also versuchte ich die Langwellenfrequenzen, um wenigstens einige, wenige Lebenszeichen von der Welt dort draußen zu empfangen. Tatsächlich gelang es mir, einen Typen in das Radio zu bekommen, der über eine Niederfunkfrequenz eines kleinen Radiosenders einer Stadt ganz in der Nähe einen Aufruf für einen Neuanfang im Süden sendete, wieder und wieder. Es klang eigentlich verlockend, diese Tristesse hinter sich zu lassen, aber ich wollte meine Stadt noch nicht aufgeben und warte deshalb vorerst ab. Aber mit jedem weiteren Tag schwand die Hoffnung, dass sich hier noch etwas ändern würde.

 

Alles begann vor einigen Monaten. Eine Krankheit mit grippeähnlichen Symptomen breitete sich aus, schnell wurden Erinnerungen an Ebola, SARS oder die spanische Grippe wach. Sie war ansteckender, als alles, was bisher bekannt war. Niemand wusste zu helfen, alles ging rasend schnell. Innerhalb weniger Wochen war die Seuche fast im gesamten Norden ausgebrochen. War man infiziert, wurde man sieben, acht  Tage von Fieberattacken und heftigen Spasmen gepeinigt, danach verschwand die Infektion so plötzlich, wie sie gekommen war, sofern man die Woche überlebt hatte. Scheinbar genesen, gingen die Menschen wieder ihrem Tagwerk nach, wurden aber schnell von einer merkwürdigen Lethargie befallen. Sie bewegten sich immer weniger, redeten kaum noch, bis ihr Leben komplett zum Stillstand kam und damit auch der Alltag um sie herum. Der Virus schien alle Informationen in ihren Hirnen Stück für Stück einfach vernichtet zu haben. Zurück zum Anfang. Neugeborene. Der öffentliche Verkehr, Lieferungen, Dienstleistungen, Recht, Ordnung, Energieversorgung, alles brach zusammen, nichts ging mehr. Überall saßen und standen die hilflosen Geschöpfe herum und taten nichts. Überhaupt nichts. Bis zum gestrigen Tag.

 

Auf der Straße vor  meinem Appartement begann ein Mann lautstark zu predigen, um die Menschen zu erwecken. Sicher kein Infizierter, aber dennoch an der Grenze zum Wahnsinn, schrie und tobte er immer aufbrausender. Einige der Aufgerufenen scharten sich um ihn. Er schüttelte und ohrfeigte sie. Zornig  warf er mit Psalmen und Bibelzitaten um sich und immer mehr bewegten sich in seine Richtung. Aber wohl weniger aus Interesse an dem, was er von sich gab, es waren wohl einfach nur die Bewegungen, die Laute des Predigers. Inmitten einer flammenden Erweckungspredigt, die einem Exorzismus gleichkam, brach der Mann plötzlich zusammen und blieb liegen. Herzinfarkt vermutlich. Die Gruppe, auf gut dreißig angewachsen, stand einfach nur da und starrte auf ihn herab, eine Stunde vielleicht. Dann hockte sich einer neben den Oberkörper des Gefallenen, zog dessen Hemd auf und langsam, fast behutsam, biss er ihm ein faustgroßes Stück Fleisch aus der Schulter. Seltsamerweise entsetzte mich diese Handlung weniger, als sie sollte. Kannibalismus war längst in der freien Welt angekommen. Auch in zivilisierten Kreisen oder man denke an den Krieg. Verschollene im Gebirge. Überlebende von Flugzeugkatastrophen. Aber das dort draußen war etwas anderes. Warum haben sie sich nicht längst untereinander angefallen? Gab es bereits eine Hierarchie? Wir und sie? Aber ihr Handeln, ihr Denken, sofern noch vorhanden, glich unwissenden Kindern. Mittlerweile haben sich auch andere aus der Gruppe an dem Toten vergangen. Ein Anblick, den ich nicht mit in den Schlaf nehmen wollte.

 

Dies war der Augenblick, an dem ich mich zu meinem ersten Schritt entschloss. In Richtung des Nachbarstädtchens, zu dem Funker, zurück zu etwas Zivilisation. Ich machte mich auf einen längeren Fußmarsch gefasst, da das Aufbrechen eines Wagens für mich nicht in Frage kam, zumal ich keine Ahnung hatte, wie man so ein Ding kurzschließt. Also galt es, einige Vorräte zu besorgen. Die Infizierten oder auch Slackers, wie ich sie fortan zu nennen pflegte, standen oder saßen teilnahmslos in der Gegend, nahmen kaum Notiz von ihrer Umwelt, als ich das Freie betrat. Bei manchen konnte man sich nicht einmal mehr sicher sein, ob sie noch am Leben waren. Es lag ein faulig süßer Dunst über der Stadt, was wohl auch daran lag, dass die meisten nach der Erkrankung ihr Heim nicht mehr verließen und dort starben. Was aber wesentlich beunruhigender wirkte, war diese unheimliche Stille. Keine Maschinen oder Automaten waren zu hören, geschweige denn Autos oder Stimmen, nicht einmal Vogelgezwitscher. Alles, was ich hörte, war mein Puls, der mir in den Ohren rauschte. Wie ich den Großstadtlärm plötzlich vermisste.

 

Alle verderblichen Waren im Supermarkt waren natürlich hinüber, aber mit Mineralwasser und Zwieback würde ich schon über die Runden kommen. Als ich wieder aus dem Markt trat, standen dort schon einige Slacker mehr als zuvor. Wahrscheinlich war meine Anwesenheit doch nicht so unbemerkt geblieben, doch ihr Trieb schien nicht mit Intelligenz oder Aggressivität einherzugehen. Mühsam setzten sie einen Fuß vor den anderen. Ich wollte nicht kämpfen und musste es sicher auch nicht. Mit gebührendem Abstand und immer eine Fluchtmöglichkeit im Blick, nahm ich den Weg zur Stadtgrenze. Es war erstaunlich, wie viele von ihnen noch auf den Straßen waren, aber scheinbar war nicht ein Gesunder dabei. Mich beschlich ein immer unwohleres Gefühl. Was, wenn die Meute plötzlich schreiend hinter mir herjagt? Mir fiel auf, dass sie tatsächlich überall waren, ich hätte nicht den Hauch einer Chance. In mir kochte eine Panikattacke hoch. Ich versuchte mich zu beruhigen, mich nicht umzusehen, einfach nur den Blick stur auf die freien Wege zu richten. Wenn ich erst einmal aus der Stadt bin, würde es besser, ruhiger werden. Es waren nur noch zwei oder drei Kilometer. Ich kletterte für eine kurze Rast auf ein Haltestellenhäuschen. Von hier hatte ich einen guten Überblick in alle Richtungen. Wie sie in ihren Autos hockten, mit denen sie einfach stehen geblieben waren. Keine zehn Pferde würden mich dazu bringen, einen von ihnen aus dem Wagen zu zerren. In den Cafés saßen sie vor schimmelüberzogenem Kuchen, standen vor Geldautomaten, in denen noch die Banknoten steckten. Alles schien wie eingefroren. Wenn sie nicht essen würden, wäre die Sache vielleicht bald überstanden. Anfangs hatte man einige Infizierte künstlich ernährt, bis auch das Gesundheitswesen zusammenbrach. Man müsste nur warten. Auch sie schienen zu warten und taten dabei alle dasselbe. Sie sahen mich an.

 

Die letzten zwei Kilometer im Dauersprint hinter mich gebracht, schlug ich mich erschöpft in die Böschung am Straßenrand. Niemand schien mir zu folgen, weit und breit keine dieser verdammten Kreaturen. Ich weigerte mich, sie noch mit ihrem ehemals menschlichen Sein in Verbindung zu bringen. Mögen sie noch so hilflos naiv wie Kinder wirken, es sind viele, verdammt viele. Wieder diese Schreckensvision einer unüberschaubaren Masse, die brüllend über den Horizont auf mich zu rennt. Es war noch früher Vormittag, wenn ich es vor Einbruch der Dunkelheit in die Stadt schaffen wollte, musste ich weiter. Glücklicherweise bestätigte sich meine Vermutung, dass sich außerhalb der Städte so gut wie niemand aufhielt. Vorbei an blühenden Kirschbäumen und goldenen Rapsfeldern vergaß ich fast, was hinter mir lag, als ich auf einem Feld einen Traktor entdeckte. Den könnte  ich durchaus in Gang bekommen und ich würde damit auf jeden Fall vor dem Abend mein Ziel erreichen. Nur dass einer dieser verdammten Slacker zusammengesackt auf dem Sitz hockte. Vielleicht liefen die Dinge mal zu meinem Gunsten und der Typ war bereits über den Jordan. Vorsichtig trat ich auf die erste Sprosse der Leiter, als ich das Gefährt erreicht hatte. Als ich die zweite Sprosse erklomm, schreckte der Slacker plötzlich hoch, schlug wild gestikulierend um sich und begann fluchend etwas zu suchen. Das war sicher kein Infizierter, nur ein Landwirt, den ich bei einem Nickerchen gestört hatte. Erleichert sah ich in den Lauf einer doppelläufigen Jagdflinte und begann freundlich zu schreien, dass ich nicht infiziert bin und er mir bitte nicht ins Gesicht schießen solle, woraufhin er die Flinte gegen meine Brust drückte. Nach einigen weiteren Flüchen und der Belehrung, mich nicht, niemals, besonders in diesen Zeiten, irgendwo anzuschleichen, waren die Wogen schnell geglättet. Wohl auch, weil er froh war, sich mal wieder mit jemanden unterhalten zu können. Deswegen erklärte er sich auch sofort bereit, mich zur Stadt zu fahren. Warum ich ihn den Grund dafür nicht nannte, weiß ich nicht. Der Mensch bewahrt sich wohl auch in der größten Not eine gehörige Portion Egoismus. Zudem schien er mit sich und der momentanen Lage im Reinen.

 

Hier, am ersten Haus der einzigen Straße meines Zieles, wurde mir bewußt, dass ich, auch wenn gerademal mit sechzig Meilen für unsere Verhältnisse einen Steinwurf entfernt, noch nie in diesem Ort war. Ich hatte davon gehört. Von der hervorragenden Whiskeydestille, den riesigen Barbecuesbanketts, vom German Volksfest und doch habe ich nie einen Fuß aus meiner Stadt bekommen. Ich kam mir fast vor, wie ein dämlicher Slacker. Auch hier war es still, nur passte die Stille in diesem Kaff zum Bild. Man könnte fast von Idylle sprechen. Die Straße war tot, kein Mensch, kein Slacker, worüber ich nicht böse war. Langsam, träge setzte ich mich in Bewegung. Bald würde mich die Zivilisation wieder haben, tief im Süden, wo die Mangroven blühen. Die Sendestation zu finden, würde nicht schwer sein. Der Antennenmast streckte sich schimmernd an die hundert Fuß gen Himmel und überragte somit alles, was dieses Örtchen an Bauwerken zu bieten hatte.

 

Die Tür zum Tonstudio stand offen und als sich meine Augen an die Dunkelheit darin gewöhnt hatten, sah ich jemanden mit dem Rücken zu mir in einem großen Ledersessel vor einem Mikrofon sitzen, völlig regungslos. Vielleicht schlief er, vielleicht war er schon krank, als er noch sendete. Ich rief mehrmals leise, aber bestimmt und als eine Antwort ausblieb, nährte ich mich vorsichtig. Die Lehne war so hoch, das ich nur seine Schultern und Arme links und rechts davon sah. Als ich nahe genug war, stieß ich ihn an, rief nochmals. Langsam, mit etwas Abstand, ging ich um den Sessel herum. Der Mann war mit Basecap, Poloshirt und Jeans gekleidet, das Kinn war ihm auf die Brust gesunken und das Cap verdeckte sein ganzes Gesicht. Das Shirt war blutrot getränkt und unter der aufgerissenen Vorderseite konnte man eine ebenso schreckliche Wunde nicht nur vermuten. Teile der Innereien hingen über die wuchtige Zinnschnalle seines Gürtels, die zwei gekreuzte Revolver darstellte. Jemand hatte ihm gewaltsam das Leben genommen. Das passte nun gar nicht zu meinen momentanen Theorien. Wäre es vor dem Ausbruch der Seuche passiert, hätte man es längst bemerken müssen und später wären doch sicher die Infizierten über ihn hergefallen. War es überhaupt er, der den Funkspruch abgesetzt hatte? Das ergab keinen Sinn. Ich griff mir das Mikro mit der Hoffnung, vielleicht auch eine Botschaft über den Äther senden zu können. Doch die Kabel waren aus dem Mikro gerissen und ich bemerkte, dass der Transmitter mit einem Tonbandgerät verbunden war, das den Aufruf, den der arme Kerl vielleicht vor Wochen das letzte Mal leibhaftig wiedergegeben hatte, in einer Endlosschleife abspielte. Wer weiß, wie lange das schon lief. Und wie viele es gehört und hierher unterwegs waren. Markerschütternd fiel die Tür hinter mir ins Schloss. Mir wurde klar, dass ich es nicht mehr mit Kindern zu tun hatte. Sie hatten gelernt zu jagen, Fallen zu stellen. Ein gurgelndes Knurren erhob sich, dutzendfach. Meine Reise war hier wohl zu Ende. Die, einer neuen Evolution hatte erst begonnen.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 22.05.2014

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /