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Tagebuch

 

 

Mein Therapeut hat mir geraten Tagebuch zu führen. Das helfe mir, mich selbst zu betrachten. Doch wenn ich an mich in meinen „Calvin Groß“ vor ‘m Badspiegel denke, hätte ich lieber ein Mittel, das hilft zu ertragen, mich selbst zu betrachten. Aber gut, damit der Leutepflüsterer sein Rezept abrechnen kann und den Poolboy nicht mit überlagertem Kaviar bezahlen muss, tue ich ihm den Gefallen. Aber erst morgen.

 

TAG 1

 

6.30 Uhr

 

Liege im Bett und stelle fest, Tagebuch schreiben ist scheiße. Habe mir extra den Wecker gestellt, um mit einer fabelhaften Startzeit zu beeindrucken, doch mir fällt auf, dass ich das hier auch gegen zehn schreiben könnte. Hätte vor fünfundsiebzig Jahren schon jeder drauf gepfiffen, ob nun exakt 5.45 Uhr oder kurz nach dem Kaffeetrinken zurückgeschossen wird, den Stecker vom Volksempfänger gezogen und sich nochmal rumgedreht, wäre die Geschichte vielleicht anders verlaufen und der Irre hätte wieder Postkarten malen können. Wer schläft, sündigt nicht.

 

7.20 Uhr

 

Liege immer noch im Bett. Land der Frühaufsteher für ’n Arsch. Die Einzigen, die hier früh aufstehen, sind Bäcker und übermotivierte Hausfrauen, die noch vor Sonnenaufgang die gefühlt  letzten Brötchen des Planeten erbeuten wollen, die ja die Bäcker extra für sie backen. Würden die sich mal besser absprechen, könnten beide Parteien locker zwei Stunden länger pennen. Früh raus müssen dann nur noch Hundebesitzer, die wie Zombies von Cäsar, Nero, Titus und dem Rest der römischen Führungsriege von einem Pissfleck zum nächsten gezerrt werden, nur um signalisiert zu bekommen „Nö. Nix Neues in der Morgenpost. Lass mal in ’ner halben Stunde nochmal gucken.“

 

8.40 Uhr

 

Aus einem Traum hochgeschreckt, in dem Nazibäcker und Zombiehunde um das letzte Brötchen kämpfen, hatte ich immer noch den modrigen Schlachtdunst in der Nase. Ich entdeckte zwischen Matratze und Bettrahmen am Kopfende den Quell des Fäulnisbuketts. Eine Sportsocke. Sport?! Ich sehe an mir herunter. Muss ’ne Weile her sein. Das motiviert mich, es mal mit Aufstehen zu versuchen.

 

9.20 Uhr

 

Geschafft. Während ich mich streckte, gelang es mir Ober- und Unterdeck zeitgleich lautstark zu lüften. Hat nur keiner gehört. Was für eine Verschwendung von Talent, schade. Bevor sich meine Ausdünstungen mit denen der Sportsocke zu Senfgas verbinden, ziehe ich mich lieber in die Küche zurück.

 

9.50 Uhr

 

Morpheus war es wohl, der mir die Hand beim Frühstück führte. Anders kann ich mir Rührei mit Nutella und Croissants mit Maggiwürze nicht erklären. Denn eines wusste ich genau, ich war nicht schwanger. Als ich abermals an mir herunter sah, beschloss ich, mir doch mal einen Test zu besorgen. Nur zur Sicherheit. Wer weiß, mit welcher Arglist die Natur uns Gengemüse und Akkordmast heimzahlt.

 

10.00 Uhr

 

Zeit für das erste Bier. Wenn das mein Therapeut wüsste. Mist. Das Tagebuch ist verdammt gerissen. Ich muss höllisch aufpassen, was ich schreibe. Wenn sich diese künstliche Intelligenz verselbstständigt, beherrschen bald Tagebücher die Welt. Wie in diesem Film mit dem Roboter, der irgendwann Gouverneur wird.

 

10.30 Uhr

 

Ich bin entsetzt! Hielt ich vor einer halben Stunde die Tagebuchdiktatur noch für eine schaurige Vision in weiter Ferne, muss ich nun in den Nachrichten vernehmen, dass ein einziges Tagebuch bereits Millionen von Menschen im Griff hat. Der Therapeut von diesem Zuckerberg wird wohl nicht sehr glücklich darüber sein, dass er ihn einst dieses Facebook hat schreiben lassen. Na, ich sehe schon meine Schlagzeilen „Tagebuch eines komplett Wahnsinnigen kandidiert für Bürgermeisteramt“. Zeit für das dritte Bier.

 

10.45 Uhr

 

Bier ist alle. Was nun? Seit mich die Redaktion wegen Burnout Verdachtes beurlaubt hat, bekommt das Raum-Zeit-Gefüge eines Tages eine völlig neue Dimension. Hat schon Einstein erkannt und dem fiel dann nix besseres als die Atombombe ein. Da bekommt doch der Begriff „tödliche Langeweile“ einen ganz anderen Beigeschmack. Apropos Beigeschmack, mein Magen meldet zwölf Uhr mittags. Schaue zur Uhr.

 

10.46 Uhr

 

Na super. Was heißt hier überhaupt Burnout? Nur weil ich „versehentlich“ die Texte der Sterbe- und Kontaktanzeigen vertauscht habe und sich Hinterbliebene über Anrufe Nekrophiler wunderten, während Todesanzeigen wie „Herbert, 53, schon ganz steif“ oder „Liege im Darkroom und warte auf dich, Rosa, 47“ in einem durchaus unterhaltsamen Licht schienen. Doch die wollen mir gleich so eine neumodische Yuppiekrankheit für arbeitsscheue Heimscheißer unterjubeln. Ein Trend, der wohl mal nicht aus Fernost stammt, denn die kennen in ihren menschlichen Ameisenkolonien doch nur Burndead.

 

11.10 Uhr

 

Beschließe mir heute mal was zu gönnen und auswärts zu essen.

 

11.30 Uhr

 

Boris‘ Bouletten Bomber ist dicht. Aus hygienischen Gründen. Dachte immer der gute, alte Boris serviert Gammelfleisch, weil die Russen kein H kennen. Echt traurig. Seine Frittenfettschnitten waren delikat. Zwar war der Mund danach taub, aber trotzdem. Dann heißt es wohl Selbstversorgung.

 

12.15 Uhr

 

Ich betrete einen dieser kapitalistischen Großraumtempel, die dem Überfluss huldigen und bemerke aufkommende Hektik, als ich beobachtet werde, wie ich diese Zeilen in mein Tablet tappe. Sofort wird eine zweite der zehn Kassen mit einer Praktikantin besetzt, die gerademal dem Schoß der Grundschule entsprungen scheint und deren Eisenanteil am Kopf augenscheinlich über dem, verwertbarer Zellen darin liegt. Man hält mich wohl für eine Art Kontrolleur. So, so …

 

13.30 Uhr

 

Nachdem ich unter fachmännischer Wiedergabe der Inhaltsstoffe auf den Verpackungstexten sämtliche Wurst- und Käseangebote einer mündlichen Probe unterzogen hatte, war ich einigermaßen satt und gab der etwas überfordert wirkenden Zwei-Euro-Vollzeitkraft zu verstehen, dass ich nun noch einen Kasten Bier zur Hefepilzanalyse mit ins Labor nehmen müsse.

 

13.35 Uhr

 

Während mir das Buntmetallhörnchen von Kasse zwei, namentlich Prätoria*, den Kasten Bier nach draußen trug, gab ich ihr den Rat, sich eine Hündin anzuschaffen, diese „Vagina“ zu taufen und zu Hause lautstark auszubilden. Das würde ihre Eltern ein wenig mehr Feingefühl bei der Namensvergabe an Kreaturen mit Recht auf etwas Würde lehren.

 

*kein Scheiß!

 

14.20 Uhr

 

Zu Hause angekommen, hockte ich mich mit meiner erbeuteten Löschmittelbatterie unbefangen vor die Flimmerkiste. Laiendarsteller mit dem Talent eines Flusensiebes mimten pubertierende Brüllaffen, phlegmatische Staatsdiener oder klugscheißende Hobbygastronomen. Angewidert sah ich Z-Promis beim Einkaufen zu und ertrug kurzzeitig Landeier, auf der Suche nach Geschlechtsverkehr mit der menschlichen Rasse. Nie war die Mattscheibe so kulturfern wie in der heutigen Zeit. Was soll da noch kommen? Landesgerichtspförtner Lasse-Kain Rhein?! Traumscheidung?! Rein in die Schulden?! Extrem blöd?!  Sockentausch?!! Ich versuche mir das Ganze irgendwie unterhaltsam zu saufen und bleibe schließlich auf einem Shoppingkanal hängen, der so unterirdisch ist, dass er mich auf eine morbide Art und Weise fesselt. Fast erliege ich dem Drang für dreißig Euro ein Paar mundgenähte Opossumhaarsocken mit transzendender Mulchsohle und Palliativfußbett auf Meerschaumbasis zu bestellen, als plötzlich die Laborwerte vom Bier reinkommen. Mein lieber Scholli. Die haben es in sich, kann kaum noch das Tablet festha

 

15.15 Uhr

 

Suche immer noch das Tablet und wundere mich später sicher über diesen Eintrag

 

15.23 Uhr

 

Fand das Ding schließlich in einem hüfthohen Wulst aus Hemdärmeln, Jeans, Pulloverstoff, Zeitungspapier, Sofakissen, Chipstüten, Tagesdecken und leeren Bierflaschen. Müsste mal wieder aufräumen. Wer weiß, welche biomechanischen Lebensformen außer Sportsocken noch darauf lauern, mir die Atemwege zu lähmen. Seit meine Frau abgehauen ist, kriege ich irgendwie nix mehr gebacken.

 

16.20 Uhr

 

Die Wohnungstür geht. Frauchen kommt. Frauchen? Die Rückbildung einfachster sozialer Strukturen innerhalb eines asozialen Tages ist erschreckend. Sie erkundigte sich, wie wohl mein Tag gewesen wäre. Das Vierzig-Stunden-Monster, das mir im Nacken hockt, mir Würde und Empathie absaugt und mich im Delirium durch des Alltags Unbill peitscht?! Hätte ich gerne gebrüllt, beließ es aber bei einem genuscheltem „gut“. Doch das dezent masochistische Informationsbedürfnis meiner Frau war längst nicht gestillt und ich war gezwungen, mich zu offenbaren, wenn ich heute noch Essen wollte.

 

16.55 Uhr

 

Nach einem flammenden Vortrag in potenzierender Lautstärke über Nazis, Schwangerschaftstests, Facebook, Atombomben, Russen, Prätorias Vagina und Opossumhaarsocken, schloss sich meine Frau verstört im Schlafzimmer ein.

 

17.10 Uhr

 

Zwischen Zeigefingern und Daumen jeweils eine Nase und eine Sportsocke haltend, betrat meine Frau unseren Wohnbereich und erkundigte sich, ob das ein Übungsobjekt des Kampfmittelräumdienstes oder tatsächlich meine sei. Ich gratulierte zu ihrem scharfsinnigen Humor, verwies jedoch auf meinen völlereigestählten Körper und dass Sport in meinem Sprachgebrauch maximal mit Schau oder Getränk in Verbindung zu bringen ist, was der Socke ein jähes Ende im Müllschlucker bescherte.

 

18.30 Uhr

 

Zum Abendbrot gab es mal wieder der Hausfrauen liebstes Gericht: Reste. Restegratin, Reste au four, Reste an nicht mehr ganz so jungem Gemüse, Omelett á la Pomme dè Vorgestern.

 

19.10 Uhr

 

Um meinen Verdauungstrakt bei der Restmüllverwertung ein wenig zu stützen, werde ich ihm noch eine abendliche Patrouille um meinen Block gönnen. Inklusive mir natürlich, sehe sonst komisch aus.

 

19.25 Uhr

 

Tja, nun stehe ich hier und weiß meine Eindrücke so gar nicht recht zu fassen. In der Ferne legt sich ein Rollbrettfahrer beim Versuch über ein Kackhäufchen zu hüpfen elegant auf die Fresse und eine kühle Brise zupft sich ein Cellophantütchen aus einer übervollen, gelben Tonne. Man sollte bunte Tonnen einführen, in denen vom Ohrstäbchen bis zum Brennstab alles versenkt werden darf. Daraus könnte man wunderbar Pellets pressen, die locker tausend Jahre brennen.

 

19.35 Uhr

 

Majestätisch glänzt in der Abendsonne die Sperrmauer, die seit drei Monaten den einzigen Spielplatz in unserem Viertel hermetisch abschließt. Ist wohl irgendwo eine Schraube locker. Wenn ich hundertzwanzig Quadratmeter Bauzaun oder einen Schlosser, der das Malheur in seiner Frühstückspause richten könnte, ins Verhältnis setze, weiß ich wohl, wo noch einige Schrauben locker sind. Und seit die Bratzen nicht mehr Energie in ihrem Reservat verbrennen können, häufen sich in der Gegend Klingelstreiche, zerschossene Fensterscheiben und Papierkorbbrände.

 

19.42 Uhr

 

Plötzlich wird mir die Trostlosigkeit meines Unterfangens, die Umwelt mit meiner Präsenz zu adeln, bewusst und ich trete resigniert den Rückzug an.

 

21.20 Uhr

 

Nachdem ich noch ein wenig mit meiner Supermarktbeute gespielt habe, liege ich nun wieder hier, wo alles begonnen hatte. Dank meiner Frau wieder eine dekontaminierte Zone. Wenn ich mir den Tag nochmal betrachte, bin ich wohl auf dem besten Wege durchzudrehen und eine Niederschrift dieser Wandlung schafft auch nicht wirklich Erleichterung. Deswegen beschließe ich, die Sache ab morgen ein wenig zu straffen. Gute Nacht.

 

TAG 2

 

2014

 

Die Hälfte ist fast geschafft. Mal gucken, was der Rest bringt, ich gehe erstmal kacken.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 07.05.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:

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