"Bártand."
Schmerz zieht vom Kniegelenk bis in die Hüfte. Der Frost fordert seinen Tribut.
"Bártand.“
Die Leber drückt Gift in den Kreislauf und die Lunge beginnt mit den Flügeln zu schlagen, füllt sich mit kalter Nachtluft. Trockener Husten bellt den Schlaf in die Flucht und er öffnet zitternd die Augen.
"Bártand."
Nacht für Nacht läßt die Straße ihn spüren, dass sie ihn langsam verdaut. Er tritt gegen einen Karton voller Lumpen.
"Pierre?! Bist du da, Pierre?! Kannst du auch nicht schlafen?"
"Gustave, was soll das? Was veranstaltest du hier für ein Theater?"
"Hast du nach mir gerufen?"
"Was ist nur los mit dir? Du warst es doch, der mich gerufen hat und dazu noch mitten in der Nacht."
"Hast du das auch gehört?"
"Was gehört? "
"Jemand hat nach mir gerufen."
"Wer um alles in der Welt soll schon nach dir rufen? Niemand erinnert sich an dich. Oder mich.“
"Du warst es also nicht?"
"Du hast mich doch gerade erst geweckt und glaube mir, mein Lieber, wenn ich träume, dann gewiss nicht von dir. Du solltest nicht die Fuselreste aus den Tonnen fischen. Geh zum Hypermarché in der Rue Cuvier, dort gibt es guten Stoff. Jetzt schlaf, wird morgen’n harter Tag. Seit gestern spielen Schausteller in unserer Zone, da wird es verdammt schwierig etwas zu schnorren."
"Wahrscheinlich hast du recht, Pierre. Meine Birne ist wohl über die Jahre ganz schön weich geworden."
"Wohl wahr. Und nenn mich nicht Pierre. Mein Name ist Philippe."
Der Wind treibt Tränen in tiefe Furchen, die mit dem Schmutz des Tages die Wimpern versiegeln. Graue Flecken tanzen im Pulstakt durch die Dunkelheit. Die Stadt schreit aus der Ferne. Die Nacht flüstert ganz nah.
„Bártand!"
***
„He! Philippe!“
Die Lumpen kriechen tastend aus dem Karton in die Sonne und halten eine löchrige Tiefkühltüte wie ein Schutzschild in die Höhe.
„Was zum Teufel willst du? Wer bist du? Woher kennst du meinen Namen?“
„Immer langsam, Philippe. Eigentlich bin ich immer derjenige, der die Fragen stellt.“
Das Tiefkühlschild senkt sich und gibt den Blick auf ein schmutzstarrendes Fellgesicht frei, dem trotz des wuchernden Gestrüppes die Überraschung deutlich anzusehen ist.
„Inspektor Giroud. Sie müssen entschuldigen. Ist’n gefährliches Pflaster. Selbst wenn man nix hat, woll’n sie einem das noch klauen. Ich würde sowas natürlich nicht mehr machen, Inspektor, ich klau nix, hab ich auch nicht. Ich will doch einfach nur meinen Frieden, tue niemanden was. Früher …“
„Stop, Philippe. Du musst dich nicht verteidigen, ich bin nicht hier, um dich anzuklagen.“
„Oh, das ist gut, Inspektor, das ist gut. Gäbe auch keinen Grund. Keinen Grund.“
„Warst du gestern abend allein?“
„Mein Kumpel Gustave war auch hier. Keine Ahnung, wo er jetzt steckt. Hat er was ausgefressen, Inspektor?“
„Ein Anwohner hatte in den Morgenstunden gemeldet, dass sich ein Obdachloser hier in der Strasse verdächtigt verhält.“
„Verdächtig? Gustave? Der hat zwar nicht mehr alle Tasten am Klavier, aber verdächtig?“
„Er soll sich sich an der Abdeckung zur Kanalisation zu schaffen gemacht haben. Ist dir denn nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Hat er gesagt, wo er hin will? Normalerweise haben solche Fälle geringe Priorität, aber wir haben hier eine etwas besondere Situation.“
„Nein, nein. Hat er nicht.“
„Sicher?“
„Ja. Naja …“
„Was?“
„Er hatte mich in der Nacht geweckt, weil er der Meinung war, dass jemand nach ihm gerufen hat.“
„Und?“
„Nichts und. Ich habe ihm gesagt, dass er spinnt und weiter gepennt. Was ist das denn für eine besondere Situation?“
„Menschen werden vermisst, Philippe. Cirka sechshundert.“
„Oh, diese Stadt ist ein Monster, dass sie in diesem, noch so jungen Jahr so viele Seelen verschlingt.“
„Dieses Jahr? Nein, Philippe, nur in der letzten Nacht. Nur die letzte Nacht. Ich würde an deiner Stelle in der Mission schlafen. Pass auf dich auf.“
„Ja, Inspektor. Sie wissen doch, Unkraut vergeht nicht. Viel Glück. Ich bete für die Vermissten.“
„Tu, was du nicht lassen kannst. Salut, Philippe.“
„Au revoir, Inspektor Giroud.“
„Ach, Philippe. Wie war nochmal der Name deines Kumpanen?“
„Gustave. Gustave Bártand. Wieso?“
„Nur für die Akten, keine Sorge.“
Der Inspektor wendet sich zum Gehen und überläßt Philippe wieder seinem Schicksal in der Lumpenburg. Am Wagen angekommen, versorgt ihn sein Assistent sofort mit eingehenden Neuigkeiten auf dem Tablet PC.
„In der letzten Stunde sind noch Dehli, London, Madrid, Kairo, Stuttgart und Petersburg dazu gekommen. Macht bis jetzt 73.585 vermisste Personen. In nur einer Nacht. Weltweit. Was zur Hölle ist hier los?“
„Gibt es schon Genaueres zu den Vorfällen aus den anderen Metropolen? Ich tappe momentan absolut im Dunkeln.“
„Ungewöhnlich ist, also ungwöhnlicher als dieser Fall allgemein schon ist, dass viele der vermissten Personen den selben Namen besaßen. In den Staaten war es Jonas. In Italien Arrtiardo. Skandinavien Kormijag. Und bei uns …“
„Bártand.“
„Ja, genau, Bártand.“
Lange betrachtet der Inspektor den Bildschirm. Dann macht er sich einige Notizen und zeigt sie seinem Assistenten.
„Join us? Andiamo? Kom Jigen? Partons?“
„Sie hatten auf der Akademie doch sicher Fremdsprachen. Fällt ihnen etwas auf?“
„Davon abgesehen, dass dies den besagten Namen recht ähnlich ist, hat es alles in etwa dieselbe Bedeutung … Komm zu uns.“
„Die Betroffenen haben sicher nicht ihre Namen gehört, sie wurden wohl irgendwie beeinflußt, einen bestimmten Ort aufzusuchen.“ Der Inspektor sieht zu den Abwasserkanälen. „Mikael, besorgen sie Hochwasserstiefel und Taschenlampen, wir machen einen kleinen Ausflug in die Unterwelt.“
***
Als Gustave Stunden zuvor die Kanalisation betrat, hielt er sich für auserwählt. Er musste es nicht verstehen, sich nur fügen. Die Stimme führte ihn durch die Dunkelheit, wandelte sie in warmen Sand unter seinen Füssen. Auch andere waren hier. Glückseelig konnten sie das Meer rauschen hören. Woge für Woge kam es näher, umspülte sie, nahm mit jeder Welle ein Teil von ihnen mit auf die Reise, bis nur noch ein ewiges Lächeln auf ihren blanken Schädeln blieb.
***
Unten angekommen und von der Außenwelt abgenabelt, können nun auch die Kriminalbeamten das Rauschen hören. Billionen Gliedmaßen, Kiefer und Klauen treiben die apokalyptische Flut voran. Flimmernde Wellen aus Chitin brechen von allen Seiten der Kanäle über hunderte Skelette. Bevor der Inspektor und sein Assistent begreifen können, dass die Überlegenheit der menschlichen Rasse ein bedauerlicher Irrtum war, werden sie innerhalb von Sekunden durch Soldaten betäubt, Arbeiter zerlegt und jede ihrer Zellen von Pflegerinnen zu gigantischen Brutkammern tief in die Verdauungskanäle der Stadt verschleppt. Seit Anbeginn der Zeit wuchs über Generationen ihre Zahl ins Unermessliche, bis nicht einmal mehr die Generationen gezählt wurden. Sie beobachteten im Verborgenen die Herrschaft des Feuers und das Aufbegehren der Affen. Ernteten auf den Feldern des Todes und waren ihrer Königin ein gutes Volk. Als das Leben oben träger wurde, pilgerten sie zu den Agoniezentren und nisteten in der Tiefe. Immer wieder drang in Zeiten der Stille der telepathische Ruf ihrer Königin durch den Schwarm verstärkt bis an die Oberfläche. So führten sie. Mehrten sich. Und fraßen.
Tag der Veröffentlichung: 12.07.2013
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