Kurzgeschichte 3 – Entmusung für Anfänger
(Kunden Sicht)
Ich ging in mein Arbeitszimmer, zum Schreibtisch. Vielmehr: Ich schlich ins Zimmer und zu meinen letzten Aufzeichnungen. Gestern Abend hatte ich die geschriebenen und ausgedruckten Seiten in meine Manuskriptmappe gelegt und die Mappe geschlossen.
Sie war noch geschlossen, die Mappe lag genauso, wie ich sie zurückgelassen hatte. Alles wie immer. So, wie es sein sollte.
Ich zog die Seiten heraus.
Schon wieder! Und dieses Mal hatte ich mir nichts eingebildet. Kein bisschen.
Ich starrte auf den Text. Das war nicht meiner!
Buchstaben wurden zu Worten, Worte zu Sätze und Sätze zu einem Roman, der auf skurrile Art und Weise gut war – aber eben nicht meiner.
Ich schüttete die zerknüllten Zettel mit angefangenen und verworfenen Ideen aus dem Papierkorb. Keines davon gehörte zu meinen Aufzeichnungen. Shit!
Ich erinnerte mich genau an die letzte Szene und die Protagonistinnen. Keine von ihnen war eine schlaksige Rothaarige gewesen.
Verwirrt überflog ich die neue Episode und versuchte mich an etwas zu erinnern, was in meinem Text vorgekommen war. Da war nichts. Die Worte glitten in eine Erotikszene über, der Held küsste die Rothaarige, wanderte mit seinen Händen über ihren Rücken, strich ihr die Träger von den Schultern und …
Wow!
Die Beschreibung war wirklich sexy. Mehr als sexy. Meine Libido regte sich, beflügelt von meiner Fantasie und der geweckten Vorstellungskraft. Kleine Impulse schossen durch meinen Unterleib und … Ich legte das Papier zur Seite.
Wollte sie mich mit Sinnlichkeit in den Wahnsinn treiben?
Wirklich?
So einfach würde ich es ihr nicht machen!
Tief einatmend heftete ich die neuen Ergüsse zu den Anderen und überflog noch einmal den Gesamttext. Er hatte nichts mehr mit der vom Verlag abgesegneten und vertraglich fixierten Idee zu tun.
Das hier war ein reiner Erotikroman, in dem der Autor von seiner Muse verfolgt wurde. Sie vertrieb alle anderen Frauen und bettete ihn auf Ideen. Verlockte ihn dazu, sich in sie zu verlieben und nur noch für sie zu leben. Früher hatte sich meine Muse wenigstens an mein Skript gehalten. Heute tat sie alles, um Teil meines Lebens zu sein.
Ich setzte mich an den Schreibtisch und starrte meine Schreibmaschine feindselig an. Dann eben anders. Wenn sie es so wollte, würde ich sie eben betrügen. Auf die alte Art und Weise. Und mit Kopie. MEINE Kopie. Ihr Original – zum Ändern.
Musenbetrug.
***
Am nächsten Morgen gab ich mir keine Mühe zu schleichen. Meine Kopie war sicher im Safe versteckt und was mit dem Original konnte sie sich austoben, wie sie wollte. Vielleicht würde ich so sogar zwei Bücher zum Preis von einem bekommen und konnte noch als Erotikautor reich und berühmt werden?
Bei dem Gedanken kam mir das erste Lächeln seit Tagen.
Nein!
Ich starrte fassungslos in meinen leeren Safe.
Weg! Mein Skript!
Stattdessen lag dort eine Fassung des Buches, die ich gestern überflogen hatte. Mit neuen Seiten. Exakt genau so vielen neuen Seiten, wie ich gestern getippt hatte.
Unmöglich!
Wo zum Teufel war MEIN Text?
Wütend überprüfte ich die Sicherheitsvorkehrungen. Nichts. Dabei hatte niemand außer mir die Kombination!
Und ich hatte noch 3 Wochen bis zur Abgabe. Eine Katastrophe.
Aufgewühlt änderte ich die Aufteilung auf meinem Tisch und wechselte an den Computer. Sollte sie doch versuchen, alle Sicherheitskopien, -sticks, externe Festplatten und Online-Speicherorte zu ändern! Ha!
Eine Stunde später saß ich noch genauso da wie zuvor. Und war genauso weit. Zumindest mit meinem Buch. Dem, auf das der Verlag wartete.
Das andere war ja schon halb fertig.
Das andere streng genommen ja auch – es war nur verschwunden. Und fiel mir einfach nicht mehr ein. Lag am Computer. Ich konnte es einfach nicht. Der leere Bildschirm war unerträglich. Weißes Papier auf der Schreibmaschine ging, weil es endlich war. Der Computer war unendlich. Zumindest von meiner Perspektive aus betrachtet. Während dass weiße Papier ein Universum an Möglichkeiten bot, bot der Computer alle potentiellen Universen gleichzeitig an.
„Verdammt!“
„Nicht fluchen!“
Lucy bog mit einem Tablett um die Ecke. Ein großer Krug Apfelschorle, ein Glas und mein Mittagessen (es roch verführerisch nach Linsensuppe mit Würstchen), wurden auf den Beistelltisch gestellt und das Frühstück (nicht angerührt), mit einem vorwurfsvollen Blick (Ich musste Lucy nicht einmal ansehen, um diesen Blick wahrzunehmen) abgeräumt.
„Wieso habe ich gewusst, dass du ausgerechnet in so einem Moment reinkommen würdest?“
„Weil ich dein gutes Gewissen bin“, flachste sie und stellte die Suppe direkt vor mir auf meine Unterlagen.
Was würde ich bloß ohne sie tun?
Nachdenklich sah ich ihr hinterher, wie sie, hüftwiegend, mein Büro verließ und leise, ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen, die Tür hinter sich zuzog. Stolz und Zuneigung hielten sich die Waage und tobten auch noch in meinem Inneren, während ich wieder zurück an die Schreibmaschine wechselte. Irgendwie fühlten sich diese Tasten authentischer an. Sekunden später war ich wie im Rausch. Was hatte meine Muse noch gleich fabuliert? Erotik? Die sinnlichen Szenen formten sich fast wie von selbst vor meinem inneren Auge, bannten sich wie von selbst in Buchstaben, Worte, Sätze. Ein Thriller, mit mir in der Hauptrolle und mit einer eifersüchtigen Muse.
***
Zwei Stunden später war ich sehr zufrieden mit mir selbst. Lucy nicht. Ich hatte immer noch nichts gegessen.
Dieses Mal blieb sie einfach stehen. Mitten im Raum. Allein ihre Anwesenheit und ihr mürrischer Blick zwang mich dazu, meine Arbeit zu unterbrechen. Einen Keks in meinen Mund stopfend, sah ich sie an. Doch sie verschwand nicht. Jeder andere Mensch hätte sich vor mir in Sicherheit gebracht. In dieser Laune konnte meine Fantasie wirklich grausam werden – und sich direkt auf meinem Gesicht widerspiegeln.
„Und noch einen!“, forderte Lucy. Kleine, furchtlose Lucy.
Während ich meinen Keks in den Kaffee tunkte, betrachtete ich ihre Gestalt. Anmutig. Ihre Finger feingliedrig, das sptizbübische Lächeln, die Grübchen. Die Augenringe.
Die Augenringe?
„Ist alles in Ordnung?“
Lucy zuckte zusammen. Ihre Aufmerksamkeit hatte bis zu meinen Worten der Welt hinter meinem Bürofenster gegolten. Gar nicht mir.
Sie schenkte mir ein scheues Lächeln. „Ich bin nur ein wenig müde.“
Schlagartig erwachte mein schlechtes Gewissen. Das arme Ding! Wann hatte sie eigentlich ihren letzten freien Tag gehabt? Am liebsten hätte ich mein Gesicht in meinen Händen vergraben, um nachzudenken. Ich kannte Lucy seit sie 15 Jahre alt war und ihre Mutter begonnen hatte für mich zu arbeiten. In all der Zeit hatte sie ihre Schule beendet, eine Ausbildung gemacht, erste Freunde gehabt. Schließlich bei mir angefangen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass sie je nicht dagegewesen war. Selbst als ihre Mutter geheiratet hatte und fortgezogen war. Lucy war geblieben. Mein Fels in der Brandung. Immer. Tag für Tag.
„Möchtest du eine Woche frei haben?“
„Nein, sie brauchen mich doch.“ Ihre Stimme war sanft. Voller Gewissheit. Als erkläre sie einem kleinen, störrischen Kind, warum es nicht allein bleiben konnte.
Ich runzelte die Stirn, aber sie zeigte anklagend auf den Teller mit dem Mittagessen. Er war noch voll.
„Ohne Sie würde ich verhungern und verdursten!“, gab ich zu. Also nur einen Tag frei, höchstens zwei.
Lucys Lächeln verdunkelte sich ein wenig, wurde trauriger.
„Ist wirklich alles in Ordnung?“ Wie gerne hätte ich die Sorge von ihrer Stirn geküsst.
„Jaja!“, behauptete sie und machte eine wegwerfende Geste, bei der sie sich aber schon zum Gehen wandte. Wahrscheinlich um weiteren Fragen und meiner Aufmerksamkeit zu entkommen.
Was für eine Frau!
Ich seufzte.
Unwillkürlich stellte ich mir meine Angestellte als Protagonistin vor. Ich ihr Held. Ich vergrub meine Hände in ihrem rotblonden Haar, während ich sie küsste. Ihre helle Haut unter mir. Große, dunkle Augen statt der Musenbeschriebenen grünen. Welche Augenfarbe hatte Lucy eigentlich?
Wie von selbst floss ihre Beschreibung von meinen Fingern auf das Papier. Das neckende Grinsen, während sie sich irgendeinen Blödsinn ausdachte, um mich zu ärgern und zu aus dem Alltagstrott zu reißen.
Gegen so einen Text hätte ich nichts gehabt. Aber die Muse schien sehr eifersüchtig zu sein. Bisher hatte sie alle Protagonistinnen gelöscht und die wenigen, die noch in „meinem“ Text geblieben waren, starben wie die Fliegen.
Etwas, was ich meiner fantasierten Lucy nicht zumuten wollte. Und meiner echten Lucy schon gar nicht.
***
Der Besuch trat ins große Esszimmer und wirkte dabei so durchschnittlich, als hätte ich Prototypen aus dem 08/15 Katalog bestellt.
„Schön, dass sie Zeit finden konnten.“ Ich gab mir Mühe nicht zu begeistert zu wirken. Begeisterung wurde in jedem Gewerbe der Welt in barer Münze umgerechnet und konnte einen teuer zu stehen kommen.
Ich hatte ein Problem, dass wussten die Mitarbeiter der Matching-Myth. Dass sie vermutlich die einzigen waren, die es lösen konnten, nicht.
„Sie wissen, warum ich sie herbestellt habe?“ fragte ich, um aus diesem vermeintlichen Date einen Termin zu machen.
„Da ich von einer Partnervermittlung geschickt wurde, vermutlich nicht, um Parkett zu verlegen.“ Gut, schlagfertig war er ja schonmal. Inwiefern das noch nützlich sein könnte, wird sich zeigen.
„Vielleicht könnten sie mir mit einigen Details zu ihrer Person behilflich sein.“ hakte ich nach „Rein äußerlich gibt es zwar nichts zu bemängeln, aber die Matching-Myth hat sich doch wohl das Vermitteln liebesbedürftiger Fabel- wesen auf die Fahnen geschrieben und sie, mit Verlaub, erinnern mich an meinen Steuerberater.“
„Ich bin ein Vampir.“
Ach bitte, das soll doch wohl ein Witz sein. Ich komme mir vor, wie der Protagonist einer satirischen Kurzgeschichte.
„Ich ernähre mich jedoch nicht von Hämoglobin, sondern reinem Chlorophyll.“
Ein vegetarischer Vampir. Ich b i n Protagonist einer satirischen Kurzgeschichte.
„Ich schlafe nur nachts, bin 590 Monate alt und sterbe lediglich durch tödliche Verletzungen, Krankheit oder Altersschwäche. Und ganz nebenbei …“, entweder hatte Drakohla etwas im Auge oder er versuchte tatsächlich zu zwinkern „… ich kriege sie alle.“
„Alle?“ Ich hob interessiert die Brauen.
„Alle?“ echote es hinter Mister Alle. Lucy war gekommen, um den Mittagstisch abzuräumen, bevor er intelligent genug war, eigene Fluchtpläne zu schmieden.
„Was geht hier vor?“ wollte sie mit einigem Nachdruck wissen.
„Keine Bange, Lucy, ein Kundengespräch. Herr, äh…“
„Esco. Roman Esco.“
„Herr Roman Esco“, ich erwartete jeden Moment das Team von versteckte Kamera durch die Tür stürmend „möchte mir bei der Fertigstellung meines Manuskriptes behilflich sein. Wenn Du uns jetzt entschuldigen würdest.“ wies ich sie schweren Herzens ab.
„Nun“ ergriff Roman das Wort, als er sich sicher war, daß wir allein sind „Was genau macht denn meine Anwesen- heit so wünschenswert? Ich meine, ich bin sehr offen, was meine Beziehungen angeht. Wenn sie ...“
„Bitte?!!“ kurzzeitig verwirrte mich dieser Gedanke, der ja fast einer Offerte glich „Sie meinen, daß ich …nein, nein, für derlei Techtelmechtel habe ich weiß Gott keine Zeit. Immerhin habe ich ja abzuliefern, also meinen Text.“ suchte ich mich aus dieser unangenehmen Situation zu winden. „Nein, ich möchte Ihnen jemanden vorstellen, sofern mir das möglich sein wird. Es handelt sich um ein recht schüchternes Wesen, daß nur im Schutze der Dunkelheit in Erscheinung tritt. Dem Treffen müssten sie also schon ihre Schlafgewohnheiten anpassen.“
„Das klingt nach einem Abenteuer, dem ich mich gerne stellen würde.“ verkündete Roman mit verwegenem Blick. „Muss man denn immer vernünftig sein? Die Rübe putzen vor‘m Verzehr? Immer eine Schleife binden? Mit Kappe ins Bad? Was soll‘s! Ich lass die Mütze zu Hause, mach die Jacke nicht zu und ja, ich tue es.“ Mir verschlug es fast die Sprache, ob solcher Kühnheit.
„Sie sind ein Teufelskerl! Wir sollten in diesen Räumlich- keiten ein Candlelightdinner vorbereiten. Lucy wird uns dabei sicher behilflich sein.“ Wirklich nur ungern benutzte ich die Klingel, da ich ja Lucy vor einigen Minuten noch angeboten hatte, sich für einige Tage frei zu nehmen und nun verdonnerte ich sie zu Überstunden.
„Eure Lordschaft haben geläuet.“ maulte sie sarkastisch, als sie das Arbeitszimmer erneut betrat.
„Liebste Lucy, mein Geschäftsfreund und ich würden gerne am Abend eine Kleinigkeit zu uns nehmen. Wenn du die Güte hättest, uns gegen Acht ein einfaches Menü zu bereiten? Danach möchte ich mir erlauben, dich für den Rest der Woche zu beurlauben. Ich komme schon klar.“ erklärte ich etwas unsicher.
„Ihr Papierkorb.“
Ich verstand diese Reaktion auf meine Anweisungen nicht recht. „Ja? Was ist damit?“
„Er steht in Flammen.“ meinte Lucy erstaunlich gelassen.
Roman und ich hingegen verloren fast zeitgleich die Nerven. Mit infernalischem Gejaule stürmten wir in wilden Elipsen wie aufgescheuchte Hühner durch den Raum, bis mir Lucy einen Feuerlöscher in die Hand drückte, als ich zufällig an ihr vorrüber tobte. Die Geistesgegenwart ihn auch zu benutzen, erstaunte nicht nur mich. Eine Ursache für das Feuer konnten wir allerdings nicht finden. Roman stammelte irgendetwas von spontaner Selbstentzündung, Feuerdämonen, finsteren Mächten und war sich seines Vorhabens nun nicht mehr so sicher.
„Und sie meinen tatsächlich die nächsten 24 Stunden ohne mich zu überstehen?“ triumphierte Lucy über ihre augen- scheinliche Unabkömmlichkeit.
„Mach dir keine Sorgen.“ versuchte ich möglichst selbstsicher zu klingen und tappte dabei die schwelenden Reste in meinem Ideenkrematorium aus. „Bereite bitte nur das Diner vor. Nichts weiter. Und bitte keine Kerzen!“
„Kerzen? Wieso Kerzen? Läuft da etwas zwischen ihnen beiden?“ Nicht der vermutete Hintergrund der Frage, sondern Lucys ernsthafter Unterton mit dem sie diese stellte, beunruhigte mich.
„Nein, nein, ich meinte nur, es wäre deine Idee, als ich die Zündhölzer in deiner Hand sah.“ bekam ich gerade nochmal die Kurve, ohne gewisse Zusammenhänge zu erkennen.
„Also gut, gegen acht.“ Nervös verließ Lucy das Büro.
***
Während ich nun flüchtig an einem neuen Manuskript arbeitete, erläuterte ich Roman nebenbei Umstände und Details unseres Treffens. Meine Ausführungen über die Muse fand er äußerst anregend und er war sich sicher, daß nach einem Treffen mit ihm, sich niemand mehr für mich interessieren würde. Das war nicht sonderlich galant, aber stimmte mich optimistisch.
Als Lucy Punkt acht Uhr tatsächlich Kressesüppchen, Gemüseauflauf und Blattsalat servierte, die Gute hatte sogar die Vorlieben unseres Gastes berücksichtigt, war sie sichtlich erleichtert, daß immer noch nur wir zwei zugegen waren. Meine Bitte an sie, sich nach Hause zu begeben, wies sie selbstverständlich mit Hinweis auf den Papier- korbzwischenfall ab. Meine Lucy, fast könnte ich mich …aber nein.
„Nun, Herr Esco.“
„Roman.“
„Ich halte die förmliche Anrede für vorteilhafter, um die geschäftliche Natur unseres Treffens zu wahren. Immerhin sitzen wir gerade bei einem gemeinsamen Diner in Abendkleidung.“
„Also schön. Herr …“
„Lassen wir das, die Muse könnte jederzeit in Aktion treten. Ich habe mein neues Manuskript, in dem ich mit Amourösitäten wahrlich nicht gegeizt habe, als Köder auf meinem Schreibtisch „vergessen“. Wir dimmen das Licht etwas und wenn die Zielperson den Raum betritt, um mich mal wieder all meinen fiktiven Liebesabenteuern zu entreissen, sollten sie alles daran tun, zu beweisen, was für ein toller Hecht sie doch angeblich sind. Ich ziehe mich derweil in meinen Schlafraum zurück. Viel Erfolg.“
An Schlaf war natürlich nicht zu denken. Da war das provokante Manuskript, was für meine Muse wie Honig auf Bienen wirken musste. Und da war Roman Esco, der Saftsauger, eine recht schräge Type, aber ein Vampir. Und Vampire sollen ja Meister der Verführung sein. Es musste einfach gelingen. Als ich dann doch fast eingenickt wäre, lies mich ein Geräusch von der Tür aufhorchen. Lucy betrat mein Zimmer.
„Sind sie noch wach?“ fragte sie zögerlich, ja fast ängstlich.
„Lucy? Was machst du denn noch hier?“ Eigentlich war ich ja froh über ein wenig Gesellschaft.
„Bitte entschuldigen sie, daß ich sie ausgerechnet hier und um diese Zeit störe.“
„Du störst nicht. Setz dich doch.“
„Ich …ich muss etwas gestehen.“ Wieder dieses Zögern. Als sie in dem altem Ohrensessel am Fenster Platz nahm, erkannte ich etwas in ihren Händen, daß meinem Manu- skript sehr ähnlich sah.
„Was hast du denn da, Lucy?“ fragte ich zur Sicherheit.
„Sie haben es schon richtig erkannt. Ihr Manuskript.“
„Aber …“
„Bitte. Ich möchte es ihnen erklären. Immer, wenn sie abends zu Bett gingen, war ich noch hier und schlich mich in ihr Arbeitszimmer, um heimlich ihr Manuskript zu lesen.“
„Aber …“
„Die Safekombination war ein Kinderspiel. Im Internet- zeitalter sollte man schon geistreichere Passwörter parat haben, als seinen Geburtstag.“
„Aber …“
„Ich konnte es einfach nicht ertragen, wie sie ihr Alter Ego in den Geschichten an so viele Heldinen, Konkubinen und Frauenzimmer verschwendeten und …“
„Aber …“
„… dabei nie Augen für mich hatten. Dabei bin ich schon solange Zeit bei ihnen. So dachte ich mir, wenn ich die Manuskripte Nacht für Nacht umschreibe, mit mir als ihre Titelfigur, könnte ich ihnen vielleicht die Augen öffnen. Für mich.“
„Aber …“
„Ja was denn nur aber?!“
„Aber wie konntest du das Manuskript unbemerkt vom Tisch nehmen. Ist Herr Esco etwa doch eingeschlafen?“
„Nein, die zwei waren so sehr mit sich beschäftigt, daß ich unbemerkt Posaune hätte üben können.“
„Die zwei?!“ ich verstand nicht, hatte sich doch Lucy als die vermeintliche Muse herausgestellt.
„Aber ja, ihre Muse hat wie jeden Abend vorbeigeschaut, um sich an mei … ihren Geschichten zu erfreuen.“
„Meine … Muse?“
„Ja. Kommen sie.“ Lucy ergriff meine Hand und mein Herz stand still. In all den Jahren hatte ich Lucy kein einziges Mal berühren können und dieser einzige, kleine Handschlag ließ mich spüren, wie tief die Gefühle waren, die ich für sie hegte.
„Was ist?! Kommen … kommst du?!“ Widerstandlos lies ich mich von Lucy aus dem Zimmer, durch den Flur, bis zur Tür meines Arneitszimmers führen. Hinter dieser war fröhliches Gelächter und angeregtes Geplauder zu hören. Langsam schob Lucy die Bürotür auf. Sie legte den Finger auf den Mund und meinte, daß wir sie nicht stören sollten. Vorsichtig sah ich kurz an ihr vorbei zur Essecke in meinem Arbeitszimmer. Roman gab gerade einen köstlichen Scherz über den Vollbart der Muse zum Besten. Er verstand es tatsächlich vorzüglich seinen Charme … VOLLBART ??!! Ich rieb mir mehrmals die Augen, kniff mir in die Wange und schluckte trocken. Tatsächlich! Meine Muse war ein Muser! Unter dem wallendem, weißen Gewand waren kräftige Oberarme zu erkennen, verziert mit Rosentattoos. Die Brustbehaarung quoll wie wilder Wein aus dem Ausschnitt, der typische Haarkranz bestand größtenteils aus Fetzen und die Papyrusrolle wurde offensichtlich nicht nur einmal als Serviette missbraucht. Da jedoch die zwei Hand in Hand miteinander scherzten, pflichtete ich Lucy bei, sie nicht weiter zu stören. Ein vegetarischer Vampir und eine männliche Muse, irgendwie passte das auch. Und es gab mir und Lucy genügend Gesprächsstoff für einen kurzweiligen Abend.
Am nächsten Morgen waren Roman und mein Inspirator spurlos verschwunden. Spurlos, weil nicht nur abgeräumt, sondern auch abgewaschen wurde. Warum wunderte mich das nicht? Auf meinem Schreibtisch lag lediglich ein Stück abgerissenes Papyrus auf dem in geschwungenen Lettern stand : Mach mal alleine weiter. Bin im Urlaub. Horst.
Das sollte mir nicht schwerfallen, hatte ich doch jetzt eine wahre Muse an meiner Seite.
Tag der Veröffentlichung: 09.10.2012
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