Cover


Alles……………………………………………………………………………………………… A…l…l…e…s…………………… Alles.Alles.Alles………………… hatte ich versucht. Alles. Alice. Mein Name. Alice. Alles. Was für‘n Zufall.
Wie gesagt, alles hatte ich versucht. Viel zu viel um es hier aufzuzählen. Zuviel um ausgerechnet jetzt darüber nachzudenken. Jetzt, wo ich meine hübschen, schmalen Füße betrachtete mit ihren süßen, kleinen Knubbelzehen, deren Nägel so scheiße zu lackieren waren. Aber heute hatte ich es gut hinbekommen. Verdammt gut. Ausgerechnet heute ist mir diese verflixte French Manicure bis in den kleinsten Zeh gelungen. Meine Flip Flops hatte ich ausgezogen, besser gesagt einen. Den anderen hatte ich verloren. Traf Pater O’Reilly an der Schulter. Ob ich nicht aufpassen könne, hat er mir zugerufen, bevor er in der Kirche verschwand. Ich stand im obersten Turmfenster der Modern Boon & Bane Church, meine wunderschön lackierten Knubbelzehen um den Fenstersims gekrallt, durchaus bereit, das zu tun, wonach es auch aussah und Pater O’Reilly fragte, ob ich nicht aufpassen könnte. Zartbitter ist anders. Wie gern hätte ich ihm ins Gesicht gespuckt. Doch irgendjemand da oben hatte mich gern. Eine Ampel schaltete auf rot und O’Reilly legte den Rückwärtsgang ein. Wenn er versuchte, möglichst dämlich aus der Wäsche zu glotzen, gelang ihm das hervorragend. Ich sammelte alles, was meine Lunge in Schleimhäuten und Speicheldrüsen finden konnte.
„Was tust Du da ?“ rief er nach oben.
Eiskalt erwischt wurde mein himmlischer Gruß zum letzten Abendmahl. Was ich da tue ? Was ich da tue ? Was ich da verdammt nochmal tue ?
„Wissen sie, Pater, fünfzehn Jahre liegen hinter mir, 15 Meter vor mir und ich weiß nicht, was schwerer zu überwinden ist.“
„Unser Glockenturm ist fast 20 Meter hoch.“ Der Pater konnte anscheinend selber nicht fassen, was er da gerade fasselte. „Du wirst sterben.“ Wenn er meint, ich müsse das nicht tun, tu ich es erst recht.
„Du musst das nicht tun.“
Verdammt. Na gut. Wen hat es denn bis jetzt gekümmert. Ich bin doch sowieso allein.
„Du bist nicht allein.“
Pah, was weiß der schon. Als ob mir jemand helfen kann.
„Ich kann Dir helfen.“
Langsam wird’s unheimlich. Soll ich an meine Familie denken ?
„Denk doch an Deine Familie.“
Willst Du mit mir reden ?
„Lass mich mit Dir reden.“
Ihr liebt mich.
„Wir lieben Dich.“
Gott…
„…ist bei Dir.“
„Wie zum Teufel machen Sie das ?“ schrie ich nach unten.
„Was, Alice ? Was mache ich ?“ erwiderte O’Reilly verdutzt. „O…oh…ja“ stotterte er plötzlich los. „Wie ich das mache, willst Du wissen ? Komm runter, dann erkläre ich es Dir, okay ?“
„Nach unten ? So schnell es geht ?“ fragte ich schnippisch.
„Ja. So schnell es nur geht.“. Der Pater griff sich an die Tonsur „Um Himmels Willen ! NEIN !!! Warte !“ Panik machte sich in seiner Kutte so breit es ging. „Ich komme zu Dir hoch !“ schrie er vollends die Beherr- schung verlierend, bekreuzigte sich überhastet scheinbar in Form eines Pentagrams und versuchte dann die Fassade zu erklimmen anstatt das Treppenhaus zu nehmen. Er kam cirka einen halben Meter. Wie ein dicker, fetter Junikäfer auf dem Rücken liegend, winselte er alle Gebete in den Himmel, die ihm einfielen und machte einen recht jämmerlichen Eindruck. Ich sparte meine Spucke, bin ja kein Sadist. Vielleicht würde ich sie noch für so’nen Psychologen brauchen, der mir weißmachen will, dass die Gemeinde die Reinigung des Vorplatzes nicht übernehmen würde und ich der Kirche doch nicht solch eine Bürde aufbinden solle.
Diverse Aknefarmer betraten das Szenario und fingen an zu fotografieren. Man interessiert sich also doch für mich. Gut, dass mir die Pediküre heute gelungen ist. Ich fing an ein wenig zu posen. Einigen schien dadurch bewusst zu werden, was sie gerade taten, rissen ihre Smartphones an’s Ohr und taten so, als würden sie Hilfe holen. Die letzte Pose in Form zwei gestreckter Arme inklusive Finger war allerdings nicht so glücklich gewählt, da sie meinen Schwerpunkt unglücklich verlagerte und O’Reilly plötzlich auf mich zuflog. Entweder war er ein bekackter Superheld oder ich…oh Mann, das war definitv nicht mein Tag. Zeit für eine Rückblende.


Ich will nicht in dieses beschissene Camp. Wie bringe ich das meinen Eltern nur bei ? Zuerst der direkte Weg.
„Ich will nicht in dieses beschissene Camp !“ schrie ich hysterisch mit einer Prise Gewinsel. Wurde natürlich einfach ignoriert. Gut. Heuchelei.
„Ma ! Dad ! Bitte ! Der Joint im Wohnzimmer war nicht okay, ich weiß, ich mach es nie, nie wieder. Und der Alkohol ist auch nur ein Hilfeschrei. Ich werde auch nie wieder mit Billy Crystal durchziehn. Was wollt ihr denn noch ? Dass ich jeden Abend vor drei zu Hause bin ?! Dass ich nicht mehr angetrunken Auto fahre ?! Dass ich den Führerschein mache ?! Dass ich…“ Irgendwie gingen mir die Argumente aus.
„Alice. Schatz.“ Mein Vater nannte mich Schatz. Der Beginn einer Predigt. „Es wird Dir gut tun. Du fährst.“ Shit. Es gab eine Regel im Hause Derringer, die über allem stand. Je kürzer die Andacht, desto resoluter das Urteil. Die Chancen auf Begnadigung standen denkbar schlecht. Ich war gerademal fünfzehn und bekam die Höchststrafe. Sechs Wochen Bibelcamp. Fast die gesamten Sommerferien.
Schon die Fahrt erwies sich als reinstes Martyrium. Ich sass neben Zack Baroon. Einer dieser Idioten, die sich für unwiderstehlich hielten, nur weil sie ab und an die grosse Fresse hatten. Knackiger Hintern, aber der Rest stank fürchterlich. Rasierte sich regelmäßig sein bißchen Flaum von der Oberlippe und benutzte dann das Discounter Rasierwasser von seinem Alten. Würde ich ihn darauf ansprechen, hätte er sich nicht mehr einbekommen und mir die ganze Fahrt erklärt, dass er sich jeden Tag rasieren muss. Richtige Männer machen sowas nunmal. Hirni. Gut, wir haben in der Umkleide mal geknutscht. Der Depp fing sofort an zu fummeln und ich hab ihm eine gedonnert. Woher sollte er auch wissen, dass es nur ein Test war, um den „einen“ zu finden. Ich hatte echt geglaubt, das funktioniert so. Ihr wisst schon, Schmetterlinge, Herz- klopfen, Schweißausbrüche, der ganze Kram halt. Fehlanzeige. Bei Zack nicht und auch bei den andern sechz…meisten nicht. Richtig rangelassen habe ich aber niemanden. Wäre ja noch schöner. Naja, ausser Billy, aber das zählt nicht, weil wir stoned waren und keiner von uns so richtig wusste, was wir da gerade taten. Okay, der Typ beim Lollabalooza. Mitten im Lake Michigan. War so schön, dass ich glatt vergessen habe, wie er hieß. Deswegen kommt er auch nicht in die Statistik. Und ja, Frank, aber das zählt auch nicht, weil er ein Kondom benutzt hat. Da kann ich es mir ja gleich mit dem Vibrator meiner Mom machen. Igitt, was für eine schreckliche Vorstellung ! Na gut, das eine Mal… Fuck ! …was bin ich für’ne Schlampe ! Ich habe es wohl doch verdient im Bibelcamp zu schmoren. Sobald wir da sind, lass ich mich sofort auf dem Kreuz nageln…DAS Kreuz nageln ! Oh Mann, ich bin so ein Flittchen...
„Alice ?“
„Klappe, Zack.“
„Damals in der Umkleide…“
„Red ich suaheli ?! Du sollst die Klappe halten.“
„Komm schon. Du fandest es doch auch gut.“
„So hast Du die Zeichen gedeutet, Du Genie ? Dass ich es gut fand ? Wir können gerne dort weitermachen, wo wir damals aufgehört hatten.“ sagte ich und ballte die Faust.
„Hör auf, Alice, ich schlag keine Mädchen.“
„Aber ich.“ Damit versenkte ich meine Faust dort, wo’s wehtat. Nach fünf Minuten Japsen, sah sich der kleine Masochist genötigt, mich mit einem Geschlechtsteil zu vergleichen, woraufhin ich begann, mir seelenruhig die Nägel zu feilen. Mit einer sehr, sehr spitzen Nagelpfeile. Man sollte es nicht glauben, aber selbst Spacken wie Zack haben manchmal helle Momente. Er wusste die Zeichen diesmal zu deuten und sah bis zu unserer Ankunft, wütend vor sich hin murmelnd, aus dem schmierigen Busfenster.
Im Camp angekommen, pfefferte ich meine Klamotten in das erstbeste Doppelstockbett im erstbesten Zimmer der erstbesten Barracke. Da lag ich nun, zählte die Minuten, machte mit‘nem Edding einen Strich an den Lattenrost und wartete darauf, wer es wohl wagt, in das Bett über mir zu klettern. Noch 41 weitere Striche, dann bin ich erlöst. Ich begann Herzchen und Kreuze auf das Holz zu malen und überlegte mir, was ich derjenigen, die über mir schlafen wird, wohl ins Gesicht male. Wer einpennt wird angemalt, alte Pfadfinderregel. Glaub ich. Ein Klacken weckte mich. Verdammt, jetzt war i c h eingeschlafen. Den Edding sah ich gerade noch unter den Schrank rollen. Ich stürzte aus dem Bett und zum Spiegel. Nichts. Keine Schimpfworte, Muschis oder Pimmel zierten meine zerknitterte Visage. Gott, seh ich scheiße aus. Ich blickte mich im Zimmer um und sah, dass ich nach wie vor alleine war. Eigentlich sollte ich froh darüber sein, aber irgendwie kratzte es mich doch ein wenig. Bin wohl keinem gut genug. Oder alle haben Schiss vor mir. Oder ein Wahn- sinniger hatte alle als Geiseln genommen und mich übersehen. Oder auf der Welt ist ein tödlicher Virus ausgebrochen und nur ich bin immun dagegegen. Ein Geräusch unterbrach meine Weltuntergangsvisionen. Es klang wie ein tiefes Knurren. Wieder und wieder. Das Geräusch schien aus mir herauszukommen. Ich hatte Kohldampf. Mit der festen Absicht, aus diesem Zwangsurlaub das Beste zu machen, begab ich mich auf Futtersuche. Draussen bestätigte sich leider keine meiner Visionen.
„Da bist du ja, Alice.“ rief Miss Nagger, unsere freiwillige Begleiterin aus dem Elternrat und dummerweise auch Billys Mom. Eigentlich hätte ich sie auch gerne nach Billy gefragt, aber da unsere Eltern Billy und mir jeden weiteren Umgang verboten hatten, nickte ich nur kurz und ließ sie dann links liegen.
„Hey Alice. Du, vorhin im Bus…“ mit einer Handbewegung versuchte ich Zack zum Schweigen zu bringen „…vielleicht können wir ja nochmal von vorne anfangen. Könnte die sechs Wochen erträglicher machen.“ winselte der Vollpfosten. Was nehmt ihr Männer eigentlich, um ständig Euren Verstand zu reseten ? Ist es das Rasierwasser ? Ihr steht auf, denkt Euch, was war ich gestern für’n Riesenrind, ich sollte mich entschuldigen. Noch schnell frischmachen, dann die Rasur und zack, wieder alles auf Anfang. Gibt’s zum Frühstück ? Wo’s die Zeitung ? Kaffee schmeckt scheiße. Sag den Bälgern, sie soll’n leise sein. Rülpsen, Furzen, Eier kratzen.
Ich zeigte Zackerino meinen besten Finger und legte einen Schritt zu, da ich die Kantine entdeckt hatte. Was für eine skurrile Ansammlung jämmerlicher Kalkleisten. Manchen schien es direkt ins Gesicht gemeißelt, dass sie freiwillig hier sind. Ich schnappte mir ein schmutzig- gelbes Tablett, knallte es voll Donuts und suchte im Kühltresen nach etwas Coke.
„Cola gibt’s hier nicht.“ fauchte mir der Kantinendrachen direkt ins Gesicht. Gerne hätte ich zum Verbalkonter ausgeholt, aber ich zog es vor, weiterhin die Klappe zu halten. Provokativ stellte ich mir drei Butter- milchshakes zu den Donuts und stieß beim Gehen die Zahnstocher in die Fritteuse. Aus Versehen natürlich.
Da ich das Glück hatte, meinen Tisch mit keinem dieser Nullen teilen zu müssen, sah ich mich auch nicht genötigt, irgendwelche schwachsinnigen Fragen zu kommentieren. Mir gefiel das Schweigen der Alice. Ob ich das sechs Wochen durchhalte ? Würde der ganzen Kiste einen neuen Anstrich geben. Hm.
„Gott zum Gruß, meine Tochter.“ unterbrach irgendetwas Mittelalterliches meine Tagträume. Gut, ich hab vorerst das Sprechen aufgegeben, wenn ich jetzt auch noch auf’s Sehen verzichten würde, bliebe mir zwar einiges erspart, aber mit Sicherheit nicht die Krankenstation, also hob ich den Kopf. Ich blickte in ein rundes, von einem rotem Haarkranz gekröntes Gesicht, dass zugegebenermassen recht freundlich drein schaute. Der Kopf auf dem es klebte steckte in einer dieser oberhippen, braunen Leinensackkutten. Oh, ich hatte einen ganzen Arsch voller Gehäs- sigkeiten, die ich zu gerne loswerden wollte.
„Darf ich mich setzen ?“ Mir doch wurst.
„Du redest nicht viel.“ Wenn der wüsste.
„Eine Art Schweigegelübde ?“ Wie gesagt. Oder besser, nicht gesagt.
„Du kannst mir ruhig Zeichen geben, wenn Du möchtest. Ich respektiere Deine Entscheidung, nicht reden zu wollen.“ Eine kurze Pause. „Oder hat der Herr entschieden, dass Du nicht reden sollst ?“
Kopfschütteln.
„Also doch das Gelübde ?“
Nicken.
„Gut, gut. Das erfordert einen starken Willen. Wie ist Dein Name ?“
Ich rollte mit den Augen und biss mir auf die Unterlippe.
„Ah, Du bist gut. War nur ein Test. Freut mich Dich kennezulernen. O’Reilly, Pater O’Reilly. Du könntest mich auch Benedict, oder Benny nennen, wenn Du reden würdest.“
Das wurde mir jetzt aber doch langsam zu bunt und ich wollte mich für die Flucht entscheiden, doch der Pfaffe kam mir zuvor.
„Du siehst aus, als würdest Du jetzt lieber Deine Ruhe haben. Entschuldige die Störung. Gott segne Dich. Oder auch : Peace, Schwester.“ zwinkerte er mir zu. Oh Mann, willkommen im 21. Jahrhundert. Trotzdem hatte O‘Reilly irgendwas, was mir bei den anderen Männchen noch nie aufgefallen war. Was auch immer es war, es hielt mich die halbe Nacht wach.
Auf der Suche nach der braunen Kutte betrat ich am nächsten Morgen die Kirche des Campes. Es war eine dieser modernen, durchgestylten Kirchen. Nicht solch ein modriger Schabenpalast, wie er bei uns zu Hause seit der Erschaffung der Welt windschief vor sich hinjammerte. Zwischen einer Fast-Food-Kette und einem Baumarkt. Man könnte fast meinen, die Kirche selbst hätte die Läden dort hochgezogen, denn so war es für Mom ein Leichtes uns am Sonntag in das Gotteshaus zu bekommen. Nach überstandener Predigt dankten wir Gott für Powertools und Triple- fatburger. Aber hier, in dieser Modern Boone & Bane Church, war das anders. Gemeinhin dafür bekannt, dass der Konzern Kirche gewiss in den nächsten zehntausend Jahren nicht Insolvenz anmelden muss, haben sie hier jemanden engagiert, der sich sein meisterliches Spiel auf der achitektonischen Licht & Ton Klaviatur nicht nur einfach mit Geld bezahlen ließ, sondern mit viel Geld. Die großen, goldverzierten Milchglasbogenfenster in cirka zehn Metern Höhe warfen weiche Lichtkegel in das ovale Kirchenschiff, ohne sich jedoch zu kreuzen oder den Boden zu berühren. Das Ergebniss war ein äußerst sanftes, warmes Tageslicht irgendwo zwischen hell und dunkel. Die angedeuteten Kreuzgewölbe und Bögen verschlangen jeden Laut meiner Schritte. Diese gedämpfte Stimmung nahm mich derart gefangen, dass ich erst recht spät bemerkte, dass ich vollkommen alleine in der Kirche war. Auf der Suche nach jemanden oder etwas, fiel mir auf, dass den strahlend weißen Innenraum kein Heilandsgemälde, keine Heiligenstatue, kein Messiah, ja nicht einmal ein Kreuz zierte. Am Ende des Kirchenschiffes angekommen, blickte ich auf eine Art Altar mit Rednerpult. Hier stand wohl dann doch der Mensch im Mittelpunkt. Den Altar zierte ein riesiger vertikaler Balken aus Licht, den ein kleinerer horizontaler Lichtbalken kreuzte. Über diese merkwürdige Lichterscheinung verwundert, wandte ich mich zum Eingang. Über diesem thronte noch ein Fenster in Form eines riesigen Kreuzes, dass wohl auch für das raffinierte Lichterspiel verantwortlich war. Ich gebe so etwas zwar nicht gerne zu, offiziel schon gar nicht, aber ich war beeindruckt. Die strahlende Ruhe, das Licht, die Reinheit dieser Kirche nahm mich voll in ihren Besitz. Ich ließ mich auf den Stufen vor dem Altar nieder und hoffte inständig, in den nächsten Minuten nicht von irgendeinem Primaten gestört zu werden. Kaum gedacht, legte sich auch schon ein Schatten über mich. Ich sah auf und erstmal nichts. Die Tür war verschlossen, die Bänke unbesetzt, die Gänge leer. Ich richtete meinen Blick zum Kreuzfenster. Dort stand jemand. Ich konnte die Umrisse zwar nur schemenhaft erkennen, war mir aber sicher, dass es sich um eine männliche Person handelte. Eigentlich wollte ich den üblichen Fragen- katalog starten : Wer bist du ? Was willst du ? Wie zum Teufel bist du da hoch gekommen ? Erinnerte mich aber an mein „Gelübde“ und war auch stolz genug, es wegen einer Heimsuchung nicht zu brechen. So starrte ich „ihn“ einfach nur an und wartete darauf, dass er sich selbst erklärt.
„ALICE“
Seine Stimme erfüllte die gesamte Kirche, er musste wohl eine Art Verstärker benutzen. Und er kannte meinen Namen.
„KEINEN VERSTÄRKER ALICE“
Er benutzte keinen Verstärker, kannte meinen Namen und konnte Gedanken lesen. Ein guter Zeitpunkt hysterisch zu werden.
„KEINE ANGST ICH MÖCHTE DIR HELFEN“
Langsam wurde es schwierig, sich ohne Worte mitzuteilen, aber trotzdem nickte ich vorerst nur.
„TÜREN WURDEN VERSCHLOSSEN TÜREN ÖFFNETEN SICH TRAUERE NICHT VOR DEN VERSCHLOSSENEN WENDE DICH DEN OFFENEN ZU DURCHSCHREITE SIE LEICHTFÜSSIG NICHT LEICHTSINNIG MUTIG NICHT ÜBERMÜTIG HEITER DOCH NICHT HEMMUNGLOS VERSUCHE NICHT ZU KONTROLLIEREN WAS GESCHIEHT SONDERN WIE DU ÜBER DAS GESCHEHENE DENKST DENN DAS LEBEN IM TOD…“
„Es ist wunderschön, nicht wahr ? So mächtig, lebendig und friedvoll.“
Ich weiß nicht, wie lange Pater O’Reilly schon neben mir stand, aber sicher lange genug, um alles mit anzuhören.
„Haben sie gehört ?“
„Was gehört ?“
„Ihn gehört.“
„Ich höre Dich.“
„Er sprach zu mir !“
„Du sprichst !“
„Ja, ich spreche !“
„Sprich weiter.“
„Da ! Sehen sie.“ Ich deutete auf das leere Lichtkreuz „Aber, aber…dort war etwas, jemand…“
„Nicht Je-mand…Je-sus.“
„Ach kommen sie, Pater, keine schlechten Wortwitze.“
„Jesus ? Ein Witz ? Da lehnt sich aber jemand sehr weit aus dem Fenster.“
„Nein, ich meine, nur weil wir hier in einer Kirche sind, muss ja nicht jeder Seelsorger gleich ein Heiliger sein. Er stand dort oben. Das ist schonmal so sicher wie das Amen in…jetzt fang ich auch schon an. Und er wollte mir etwas extenziell Wichtiges mitteilen, als sie dazwischen geplatzt sind.“
„Ich bin untröstlich Deine Andacht gestört zu haben. Als ich Dich auf den Stufen sitzend das Kreuz betrachten sah, kam mir nicht in den Sinn, dass ein Mädchen wie du, diesen Ort für Meditation und Gebete nutzt.“
„Meditation ? Gebete ? Blödsinn. Ich saß hier und er stand dort. Ich..Ich muss ihn finden.“ maulte ich beleidigt und sprang auf.
„Alice.“ rief mir der Pater auf meinem forschen Gang Richtung Ausgang hinterher „Ich wünsche Dir Glück. Suche in Dir und Du wirst finden.“
Als ich vor der Kirchentür war, fiel mir auf, dem Pater nie meinen Namen genannt zu haben.
„Dieser kleine, miese…“ knirschte ich einen Verdacht hegend und riss die Kirchentür auf. Klar. Logisch. Nichts. Kein Mensch, kein Pater, kein Jesus. Ich hab den Verstand verloren. Prima. Wenn ich mich in der Campleitung nach einem Pater O’Reilly erkundige, sagen sie mir bestimmt, dass sie einen Geistlichen mit diesem Namen nicht kennen. Oder besser noch, dass O’Reilly sich vor über 500 Jahren hier an diesem Ort geopfert hat und ich wohl seinem Geist begegnet bin. Oder noch viel besser ! Sie sehen mich entgeistert an, während ich von Patern und Bibelcamp rede, ziehen ihre Latexmasken runter und ich merke, dass ich von Ausser- irdischen nach Betlehem 7 entführt wurde. Oder noch viel, viel besser ! Ich schreie, renn auf mein Zimmer und schlaf erstmal bis morgen durch. Da mir der vierte Punkt am naheliegensten schien, entschied ich mich für’s Bett, ohne zu schreien allerdings. Irgendwie hatte der Kirchenvorfall mir den Biss genommen.
Am nächsten Tag wollte mich Mrs. Nagger tatsächlich zu so einem dämlichen Themenspaziergang verpflichten. Ich meinte nur, dass ich erfolgreich davon therapiert wurde, mit Tieren zu reden und anstatt Bäume anzusingen lieber in die Kirche gehen würde. Die Nagger lachte laut los und gratulierte mir zu solch einem köstlichem Scherz. Ich setzte meine finsterste Ich-meine-es-Ernst Miene auf und überzeugte so schließlich die Ungläubige. Nur Minuten später war ich wieder in der Kirche, wieder war ich allein und wieder starrte ich von den Stufen des Altars auf das Kreuz aus Licht. Nichts. War ja klar. Irgendwie hatte ich das schon geahnt. In den darauffolgenden Tagen erfand ich immer haarsträubendere Ausreden, um den Beschäftigungstherapien des Camps zu entgehen und mich ganz und gar meiner „Suche“ widmen zu können. Immer und immer wieder suchte ich die Kirche auf. Zu den unmöglichsten Zeiten, sogar um Mitternacht, man weiß ja nie. Ich rief, ich meditierte, ich betete, ich schrie, ich tanzte, ich fluchte. Nichts. Niemand. Schon bald zweifelte ich an meinem Verstand und der bloßen Existenz der Kirche. Also schnappte ich mir Zack. Der Einzigste, dem ich hier vertrauen konnte, da er einfach zu dämlich war, mich zu verarschen.
„Zack. Mitkommen.“
„Oh wow, Du hast es Dir anders überlegt. Eigentlich müsste ich Dich ein wenig zappeln lassen…“
„Wie wäre es, wenn ich mir einen Taser besorge und Dich ein wenig zappeln lasse ?“
„O…Okay, krieg Dich wieder ein. Was willst Du ?“
„Die Kirche da.“
„Ja ?“
„Siehst Du sie ?!“
„Ja.“
„Gut. Weiter.“ Ich riss die Kirchentür auf. „ Niemand hier. Oder ?!“
„N…Nein.“
„Gut. Komm mit.“ Ich zog ihm am Ärmel zur Mitte und deutete auf das Kreuzfenster.
„Das Kreuz.“
„J…Ja.“
„Niemand dort ?!“
„Nein. Alice ?“
„Was ?!“
„Wirst Du mir wehtun ?“
Entsetzt riss ich meine Augen auf. „BITTE ???!!“
„Du solltest Dich sehen. Du bist völlig von der Rolle.“ Zack zitterte tatsächlich am ganzen Leib.
„Oh Gott, Zack, ich fasse nicht, was ich jetzt tue.“ Ich nahm seine dusslige Visage zwischen meine Hände und verpasste ihm einen langen, feuchten Zungenkuss. Zack klappten die Knie weg und er landete auf dem Hintern. Yes, dachte ich, ich hab’s noch drauf und spuckte aus.
„Das, mein lieber Freund, hatte nur den Zweck, Dir zu zeigen, dass ich Dir heute keine Schmerzen zufüge und mir zu zeigen, dass ich noch klar denken kann. Obwohl, ich habe Dich gerade geküsst, ein wenig Verstand ist wohl doch schon auf der Strecke geblieben.“ Zack saß immer noch auf dem Hintern und sah mich dermassen debil grinsend an, dass man meinen könnte, ich hätte ihm gerade das Hirn rausgeleckt.
„Zack ?“
„Jaaahmm…“
„Ich will Dir nur helfen und, ach ja, vergiss das mit den Schmerzen.“
„Hmmm…“
Zack sass breitbeinig vor mir auf dem Hintern und ich trat zu. Ich erspare der männlichen Leserschaft Details, aber er hat es überlebt. Als er wieder Luft bekam, fühlte ich mich irgendwie verpflichtet, ihm alles zu erzählen. Entweder hatte er Angst oder war zu doof, zumindest hat er mich nicht ausgelacht.
„Vielleicht…solltest…Du…“, mein Erweckungsritual machte ihm immer noch zu schaffen,“…es mit… bewusstsei… weitern… wusswei… mit Drogen… versuchen.“
„Drogen ? Im Bibelcamp ? Langsam glaub ich tatsächlich, dass ihr Männer mit dem Schwanz denkt, denn Deiner hat ja im Moment scheinbar mit einem heftigen Schleudertrauma zu kämpfen. Drogen im Bibelcamp. Das ist ja wie Spareribs auf’ner Modelparty oder Negerküsse zum KKK Veteranentreffen. Wie zur Hölle soll ich hier an Dope kommen ?“
„Baracke 2…Zimmer 29…frag nach Lukas.“
„Zacky, Zacky. Wer hätte gedacht, dass Du mal zu was nütze bist.“ In einem Moment grenzenloser Barmherzigkeit ließ ich mich dazu hinreißen Zack eine kleine Wichsfantasie mit auf den Weg zu geben. Ich beugte mich zu ihm hinunter, gab damit den Blick auf meinen passablen D-Ausschnitt frei, griff ihm sanft in den Schritt und hauchte ein zartes „Danke“. Das sollte ihn für heute ruhig stellen.
Also gut. Barracke 2. Zimmer 29.
„Wer von Euch Nieten ist Lukas ?“
„Wer will das wissen ?“ meldete sich die Hauptniete.
Einen Wimpernschlag später zog ich ihn am Nasenpiercing auf Augenhöhe. „Eine reiche Göre mit ganz viel von dem hier.“ hielt ich ihm einen Hunderter unter die blutende Nase. Dass dies mein gesamtes Bares war, lies ich mir natürlich nicht anmerken.
„Scho gut, nosnassen. Was winnst Du ?“ jammerte Mister Großfresse kleinlaut.
„Von Allem ein bißchen. Muss erstmal testen, ob Dein Shit was taugt. Und versuch nicht mich zu linken, sonst pierce ich Dir die Eier ohne Betäubung.“
Lukas war einer dieser Yuppiebubies, die genug Taschengeld bekamen, um ganze Koksplantagen aufzukaufen, aber nicht genug Schneid hatten, eine große Nummer durchzuziehen. Seine Alten wollten wohl mit den sechs Wochen Bibelcamp siebzehn Jahre verkorkste Erziehung annullieren. So hockte er ziemlich erbärmlich rum, mit seinem Kulturbeutel voller Pillchen, Tütchen, Tickets, Rockets, Bömbchen, Johnnys, Bubbles und einigem mehr. Beherzt griff ich zu und schob ihm Benjamin Franklin weit genug in den Hosenbund um jeden Protest mit aufkeimenden Hormonen zu ersäufen.
Die Woche ( Wochen ? ) danach entzogen sich fast vollständig meinem Langzeitgedächtnis. Ich erinnerte mich lediglich an sprechende Eidechsen, flambierte Ameisen, ein brennendes Zelt, Sex mit Möbelstücken, Winnie Puuh und einigen diversen Gottheiten, nur meiner war nicht dabei. Ich war um keinen Deut schlauer und einige hunderttausend Hirnzellen ärmer. Mal wieder in meinem Mageninhalt erwachend, fragte ich mich in einem Anflug von Vernunft, warum sich kein Aas hier um meine chemie- gestützte Erleuchtungssuche kümmert. Bin ich wirklich so geschickt im Verbergen oder bin ich allen einfach nur egal ? Vielleicht kann ich ihm nur nochmal gegenüber treten, wenn ich befreit von allem Irdischen bin. Beim ersten Mal war ich ja auch völlig frei von Gefühlen und Gedanken. Suche in Dir. Das ist es. Nicht die Kirche, nicht die Drogen, keine Priester waren der Schlüssel, ich selbst war der Weg. Ich musste ihn nur zu Ende gehen. Ich spülte das restliche Gift ins Abwasser und duschte drei Stunden. Maniküre, Pediküre, Make-up. Jeans an. Shirt über. Make-Up runter. Jeans aus. Shirt in den Müll und bei Nettie ein Kleid geborgt. Wer zum Teufel war Nettie ? Egal. Rein in die Flip Flops und ab zur Kirche. Die Kirche war wie immer leer, die Tür zum Turm unverschlossen und oben angekommen, fragte ich mich mit einer frischen Brise in den Haaren, warum mich denn keiner aufhalten will.

Ich lag mitten auf einer grünen Wiese. Eine leichte Brise löste einige Löwenzahnsamen, die mir in der Nase kitzelten.
„Gesundheit.“
Ich setzte mich auf und sah etwas. Jemand. Nur verschwommen, obwohl keine zwei Meter von mir entfernt. Ihn.
„Wer bist Du und woher kennst Du meinen Namen ?“
„Du heißt Gesundheit ?“
„Nein, natürlich nicht, ich dachte nur, dass…dass Du…ich…wo bin ich ?“
„Am Ziel, Alice.“
„Das ?“ ich strich über das feuchte Gras. „Das ist es ? Das ?“
„Enttäuscht ?“
„Weiß nicht…Nein. Nein, ich glaub nicht. Und Du ? Wer bist Du ?“
„Du.“
„Ich ?“
„Sag ich doch.“
„Du bist ich ?“
„Ich bin Du.“
„Es gibt Dich also tatsächlich.“
„Weil es Dich gibt.“
„Und jetzt ?“
„Keine Ahnung. Sag Du es mir. Du hast mich gesucht und gefunden. Womit fangen wir an ?“
„Wieviel Zeit habe ich denn ?“
„Die Ewigkeit. Plusminus zwei Stunden.“
„Das genügt, denke ich. Okay. Punkt Eins : Ausschlafen. Sagen wir zwanzig Jahre. Dann sehen wir weiter.“
„Klingt super. Du weißt, was Du willst.“ sagte ich und legte mich neben mich. Ich nahm mich an der Hand, schloß die Augen und ließ mich sanft in den Schlaf gleiten.

„Es ist unwahrscheinlich, dass sie zurückkommt.“ erwähnte der Weißkittel beiläufig, während er leise fluchend versuchte eine Trauma-Latein / Latein-Trauma App auf seinem Tablet PC zu installieren.
„Warum sollte sie auch ?“
O’Reilly hatte mit seinem völlereigestähltem Körper Alice‘ Fehltrittsuizid in ein Gnadenkoma gerettet
„Sie ist am Ziel.“
Zwischen all den Elektroden, Schläuchen und Überwachungssystemen sah der Pater etwas in Alice‘ Gesicht, was er von ihr bisher nicht kannte. Sie lächelte.

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Tag der Veröffentlichung: 21.07.2012

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