Die Mittagssonne brannte unerbittlich auf seiner Haut. Schweiß rann ihm in Strömen über den Körper. Sein Hemd hatte er ausgezogen und zusammengeknotet. Er würde es noch brauchen.
Nie zuvor ist ihm etwas schwerer gefallen, als das, was jetzt vor ihm lag. Aber es musste sein. Er musste es tun. Keiner konnte ihm diese Bürde abnehmen. Jeder würde ihn verstehen, nur er verstand es noch nicht. Er hatte alles um sich herum ausgeblendet und konzentrierte sich auf den Weg, der vor ihm lag.
Eine breite Schneise. Mitten in der Natur. Unendlich lang. Zögerlich setzte er sich in Gang, vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Langsam, sehr langsam. Der Boden knisterte unter seinen Schritten. Er durfte nichts übersehen. Schon nach wenigen Metern hielt er inne und schluckte trocken. Als Kind hatte er mit den Zähnen geknirscht, was er mit einer Aufbissschiene besiegte. Jetzt war es das Einzigste, was er neben dem Pochen des Blutes in seinem Kopf von sich hören konnte. Die Anspannung drohte ihn zu zerreissen.
Er atmete tief ein, bückte sich und hob etwas vom Boden auf. Den Blick abgewandt packte er es hastig in das verknotete Hemd. Immer noch atmete er keuchend. Nach einer langen Pause ging er mit weichen Knien weiter und wusste nicht, wo er als nächstes ankommen würde. Ob er ankommen würde.
Wieder sah er ein Teil in der Sonne glänzen. Mit einem verzweifeltem Versuch, das Denken abzuschalten und nur noch zu funktionieren, legte er das Fundstück zu dem anderen. Seine Hand zitterte und das Hemd fiel zu Boden. Ihm wurde schwarz vor Augen. Zähne knirschten.
Als er das Hemd aufhob, wog es gefühlt wie Blei, obwohl es nicht annährend gefüllt war. Noch nicht. Die Sonne wandelte seinen Weg in ein gleißendes Inferno voller Licht, Hitze und Schmerzen. Abwesend trat er in etwas Weiches. Ein Schlag durchfuhr seine Nervenbahnen vom Fuß bis in den Schädel und drohte ihn in eine Ohnmacht zu reißen.
Er hob den Fuß und sah nach unten. Was hatte er erwartet zu sehen? Was hatte er nur erwartet? Er begann leise in sich hineinzulachen. Ein verzweifeltes Lachen, das langsam anschwoll und die zirpende Umgebung zum Schweigen brachte. Er sah auf eine tote Ratte und lachte. Als sein Lachen zum Wimmern erstarb, war die Sonne über ihrem Zenit und die Schatten wurden langsam länger. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Trotzdem ging er den Weg, der noch vor ihm lag, wie im Delirium. Wieder und wieder fand er etwas, dass Stück für Stück das Hemd füllte und ihn von seinem Verstand entfernte.
Plötzlich war Stille da. Er suchte nach dem Klang des Lebens, aber er hörte nichts. Er wollte einen Schritt machen, was unmöglich war. Er wollte schreien, doch alles war gelähmt. Stille. Er konnte nur sehen. Etwas Blaues. Etwas Blaues, dass er kannte, gut kannte. Nein, das konnte er nicht. Er würde es hier und jetzt beenden. Und sich selbst nie wieder in die Augen sehen können. Keinen Frieden finden. Stillstand. Stille. Für immer.
Zitternd krampften sich seine Hände in das feuchte Hemd. Sein Körper schien ihm nicht mehr zu gehorchen. Fast löste sich sein Geist von dieser schwachen, schwitzenden Masse. Er sah durch seinen Schädel hindurch auf etwas Blaues. Schatten glitten darüber. Ein Schrei holte ihn zurück. Sein Schrei. Hoch über ihm kreisten messerscharfe Blicke und Krallen. Nein. Nicht jetzt. Nicht hier.
Keuchend, knirschend kam er dem Blau näher. Er brauchte beide Hände, um es in das Hemd zu bekommen. Sein Atem kollabierte und er suchte japsend Halt. Das Bündel an sich gepresst stürzte er vorn über. Er fiel weich und Übelkeit entriss ihm das Bewußtsein.
Er wusste nicht, was ihn wieder zurückbrachte. Aber was auch immer es war, es gestattete ihm für einen kurzen Moment das, was er sich zu jedem Zeitpunkt seines Handelns herbeigesehnt hatte. Er funktionierte. Sein Verstand schwieg und er funktionierte. Mechanisch griff er sich das Hemd und pflückte auf dem Weg zum Abschluß seiner Qualen alles vom Boden, was er noch in seinem Dämmerzustand erfassen konnte.
Erschöpft stützte er sich gegen das kalte Metall, dass das Ende der Schneise markierte. Im Schatten der riesigen Maschine lauschte er dem Rauschen des Weizens, das mit dem seiner Venen gleichklang.
Wie oft hatte er das Schneidwerk seines Mähdreschers durch diese goldene Einsamkeit gelenkt?
Wie oft …?
Wie oft hatte er seinem Sohn gesagt, er solle während der Erntezeit nicht im Kornfeld spielen …
Tag der Veröffentlichung: 26.06.2012
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