Mein Name ist Antoine Lacroix. Warum ich Ihnen das erzähle? Nun, ich dachte mir, das gehört sich so, wenn man schonmal jemanden findet, der einem zuhört. Wobei der Einzigste, der mir gerade zuhört, ja der Mann vor der Tastatur ist. Darum will ich Sie nun nicht länger mit Höflichkeitsfloskeln hinhalten und beginne direkt mit meiner Geburt. Ich weiß, so fangen die meisten Lebensgeschichten an und meine Geburt verlief auch völlig normal, soweit ich meiner Mutter Glauben schenken durfte. Gut, da war dieser kleine angeborene Herzfehler, nichts Ernstes, eine Erbkrankheit meines Vater’s, aber der erfreut sich nach wie vor guter Gesundheit, französischer Fremdenlegionär, 74.
Meine Kindheit war eine Mischung aus Vorstadtlangeweile und Abenteuerlust, gebremst durch meine übersensible Mutter, die mich am liebsten in Watte gepackt auf einen Stuhl in unserem Haus gefesselt hätte, nur um mein junges Herz von all der Aufregung kindlichen Übermutes fernzuhalten. Dass mich dies nur motiviert hat, den höchsten Baum, den steilsten Berg und das größte Klettergerüst zu erobern, ist ja sicher klar. Denn ist es nicht der größte Lohn am Ende eines Abenteuers entsetzte Blicke und wilde Schreie seiner Mutter oder gar einiger anderer Erwachsener zu ernten? Erst dann konnte man es geniessen im Mittelpunkt zu stehen, am Leben zu sein. Dort oben auf der obersten Spitze des Klettergerüstes, wo der Herbstwind mein einzigster Begleiter war, da kein anderes Kind sich so hoch hinauf traute, spürte ich erstmals, was Freiheit bedeutet. Aber das war mir damals mit 5 Jahren noch nicht wirklich bewußt.
Und obwohl ich über das Gegenteil von Freiheit natürlich auch noch nicht Bescheid wusste, musste es sich genauso anfühlen. Ich kam in die Schule. Es war ein riesiger, alter Gründerzeitbau aus roten Backsteinen mit schweren, schmiedeeisernen Gittertoren und dicken Eichenholztüren. Die Flure waren endlos lang und immer in diffuses Halbdunkel gehüllt, auch wenn die Sonne draußen schien. Anfangs war ich ganz glücklich, dass mich meine Mutter immer direkt bis zum Klassenraum gebracht hatte. Später in der Dritten fasste ich meinen Mut zusammen und verabschiedete mich bereits an den Gittertoren von ihr. Natürlich nicht ohne ihr durch die Fenster in jeder Etage nochmal zu zuwinken. Und meine Mutter wartete immer, bis ich auch vom letzten Fenster gewunken hatte. Zu jeder Zeit. Bei Regen, Schnee und Sturm.
Sie starb an meinem 9. Geburtstag. Ich war am Morgen vor der Schule noch bei ihr im Krankenhaus. Ich hatte selber einen Kuchen gebacken, meinen Geburtstagskuchen. Ich hatte ihn ihr stolz präsentiert, damit sie sich keine Sorgen machen musste, dass sie mir keinen backen konnte. Und sie versprach mir, sie versprach mir, dass wir ihn am Nachmittag gemeinsam anschneiden würden. Nach der Schule kam ich ins Krankenhaus und man sagte mir, dass sie jetzt schläft und ob ich sie gerne noch einmal sehen möchte. Natürlich wollte ich meine Mutter sehen, was für eine Frage. So bin ich mit meinem Vater an der Hand in das Zimmer. Und dort lag sie, friedlich, lächelnd. Ja, sie schlief.
Und ich musste sie wecken. Ich rief sie, rief ihren Namen, nahm ihre Hand, strich ihr übers Haar, über die Wange, rüttelte an ihrer Schulter und rief immer wieder nach ihr. Bis mein Vater, mein starker, stolzer Vater neben mir auf die Knie fiel und mich anschrie, dass sie tot ist, dass sie nie wieder aufwachen würde, nie wieder, nie wieder. Und mit seinen Schreien weckte er die Wut. Die Wut darüber, dass sie einfach gegangen ist ohne den Kuchen mit mir anzuschneiden, ohne Lebwohl zu sagen, noch nicht einmal gratuliert hatte sie mir.
Ärzte und Schwestern stürmten in das Zimmer, gaben Vater ein Beruhigungsmittel und führten ihn nach draußen. Ein junger Assisstenzarzt sah sich kurz um und fragte ob es okay ist, wenn ich einen Moment alleine wäre. Ob es okay ist. Natürlich war es okay, meine Mutter war ja bei mir. Meine tote Mutter. Ob es okay ist. Ich erinnere mich, dass ich einfach nur an ihrem Bett saß und angestrengt horchte. Nach einem Wort, einem Atemzug, einem Ton aus den Geräten um ihr Bett.
Das war der Moment, als ich sie zum ersten Mal kennenlernte, bewußt kennenlernte. Die Stille. Sie legte sich wie warmer, weicher Wachs in meine Ohren und nahm mich mit in ihre Welt. Einer Welt aus strahlender Ruhe und warmen Licht. Eine schöne Welt. Ich saß am Bett meiner toten Mutter, ich war neun Jahre alt und ich lächelte.
In der Schule lief natürlich weiterhin alles seinen gewohnten Gang. Außer, dass unsere Lehrerin sich verpflichtet fühlte, für mich zu entscheiden, wie es mir ging und jeden bat, besonders behutsam und rücksichtsvoll mit mir umzugehen. Für die anderen Kinder hieß das natürlich, mich kurzerhand links liegen zu lassen. Nur dass ich ihnen darüber nicht böse war. Nein. In dem riesigen Schulgebäude fand ich überall eine Ecke, in der ich meine neue, ruhige, friedvolle Freundin treffen und mich in ihre Arme legen konnte.
Die Schulzeit beendete ich befriedigend und unbeachtet. Meine Ausbildung brachte ich ebenso belanglos, aber einigermaßen erfolgreich hinter mich. Hier wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, für meinen Vater eine Lanze zu brechen. Er hat sich nach dem Tod meiner Mutter so gut es halt ging wieder gefangen und so gut es halt ging um mich gekümmert. Er hat nicht viel geredet, was ich ihm nicht übel nahm, hätte er damit ja nur meine neue Freundschaft betäubt. Ob er je über den Verlust hinweg gekommen ist? Ich weiß es nicht. Mittlerweile redet er gar nicht mehr. Sitzt nur noch am Fenster und starrt in die Leere, die dreimal am Tag ein Pfleger unterbricht, um ihm einen Löffel in den Mund zu schieben. Ich habe aufgehört, ihn zu besuchen, aber trotzdem eine gute Seele, mein Vater. Und falls er das hier mal lesen sollte : Danke.
Nach meiner Lehrzeit fühlte ich mich weder fähig, noch gewillt am öffentlichen Leben teilzunehmen und wenn es doch mal nötig war, verstand ich es hervorragend, mich so lautlos und unauffällig zu bewegen, dass ich nahezu unsichtbar wurde. So konnte ich mit meiner Freundin unentdeckt die entlegensten Orte erobern. Abbruchhäuser, stillgelegte Fabrikhallen, verwilderte Parkwege, Schrottplätze und ja, natürlich, Friedhöfe.
Den Ort, den ich jedoch am meisten mochte, war die Brücke. Dabei war es gar nicht einfach sie zu finden. Auf meinem morgendlichen Streifzug durch die Nebenwege des Parks hätte ich dieses kleine schwarzgelbe Schild zwischen den wild wuchernden Haselnusssträuchern fast übersehen, obwohl ich immer aufmerksam nach solchen Hinweisen suchte. Betreten verboten. Kein Zutritt. Vorsicht. Das waren die Wegweiser zu meiner Glückseeligkeit. Der rote Faden im Labyrinth zu meiner Liebsten.
Als ich mich durch das Strauchwerk gekämpft hatte, trieb mir die Schönheit dieses Ortes Tränen in die Augen. Doch schon war mein stilles Liebchen bei mir, mich zu umgarnen, zu trösten, zu führen. Alles ist gut. Lass es fließen.
In der Mitte der runden, silbern glänzenden Wiese befand sich ein kleiner Tümpel über den eine wunderschön geschwungene, rotbraune Brücke führte. Auf ihr angekommen hielt ich direkt in der Mitte inne und schloß die Augen. Es war perfekt. Die überirdische Schönheit meiner Geliebten entfaltete sich in dieser künstlich geschaffenen Einsamkeit zu ihrer vollen Blüte. Kein Laut, kein Misston, kein Lebenszeichen brach diese Herrlichkeit. Nur ein Blick in die Schwärze des Tümpels unter mir konnte dieses Gefühl noch verstärken. Mein Schatz badete schon längst darin, lockte, verführte, nahm das kühle Nass voll in ihren Besitz und verlieh ihm eine endlose Tiefe und Reinheit. Ewige Ruhe.
Ich kam noch sehr oft an diesen Ort. Das Schild hielt mich lang nicht mehr auf. Klärbecken – Lebensgefahr. Und es war auch seine meditative Ausstrahlung, die etwas in mir bewegte, was ich lange nicht gespürt hatte. Eine tiefe Wehmut, eine Sehnsucht, Heimweh. Ich musste meinen Vater noch einmal sehen.
Als ich seit langem wieder im Strom der Zivilisation schwamm, stiess ich überall auf angenehme Ignoranz. Niemand nahm auch nur die geringste Notiz von mir. Ich fühlte mich wieder wie ein kleiner Schuljunge. Betrat auf listigem Weg den großen Plattenbau, der nun Vaters Hort war. Lugte um jede Ecke, nutzte jeden dunklen Winkel und schlich mich lautlos in sein Zimmer. Er saß wie immer am Fenster, starrte aus stumpfen Augen in eine kalte Welt. Seine kraftlosen Hände lagen gefaltet auf einer alten Zeitung. Ein schwarzes Rechteck mit hübschen Ornamenten zierte die aufgeschlagene Seite. Und einige wenige Worte.
In stillem Gedenken. Antoine Lacroix.
Es war das letzte Mal, dass ich meinen Vater gesehen habe und es ist nun auch Zeit für mich zu gehen. Dank an meinen Schriftführer, dass er sich von mir hat führen lassen und Dank auch an Sie, da Sie bereit waren, in diesen stillen Minuten die Augen für mich zu öffnen. Nun muss ich los. Zu meiner Liebsten. Sie ist der Anfang und das Ende. Und so endlos schön.
Tag der Veröffentlichung: 04.02.2012
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