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In dieser Nacht konnte Niro kaum schlafen, war es doch die Nacht vor seiner großen Weihe. Sein Schilfgrasbett ächzte und knarrte, während er versuchte, die richtige Stellung zu finden, um doch endlich ein kleine Mütze voll Schlaf zu bekommen. Und als ob dies noch nicht genügte, war heute auch noch Vollmond. Wie ein riesiger, strahlender Schein- werfer füllte der Mond Niro‘s kleines Zimmer mit silbernem Licht. Und schwarzen Schatten. „Mama !“ Nichts. Ruhe. Niro hatte natürlich keine Angst. Genau das wollte er auch nur noch schnell seiner Mutter sagen. Und dann könnte sie beruhigt mit dem weitermachen, was die Grossen halt so machen, wenn die Kinder im Bett sind. Und bei der Gelegen- heit auch nur nochmal fix in den Schrank sehen. Und die Tür ein Stück weit offen lassen. Und vielleicht noch ein Schluck Wasser. „Maaama !“ Niro stellte seine spitzen Ohren auf und lauschte angestrengt.
„Niro !“ Zack, war die Decke über’m Kopf.
„Niro !“ kam es wieder von ausserhalb der Decke.
„Wer ist da ?“ hauchte Niro zaghaft.
„Was ?“ wollte die Stimme wissen.
„Wer da ist ?“ fragte Niro diesmal etwas lauter.
„Deine Mama.“
Gleich darauf war Gekicher aus zwei oder drei Mündern zu hören. Niro erkannte jetzt nicht nur die Richtung, aus der die Stimme kam, sondern auch den Witzbold, dem sie gehörte. Er stürzte zum Fenster.
„Bronco, du Hirni, was soll das ? Wegen dir bekomme ich noch Ärger. Ich krieg so schon kein Auge zu !“
Unter dem Fenster stand ein sommersprossiger Rotschopf in einer viel zu grossen Lederhose, einem fellbesetztem Leinenhemd und schweren, schwarzen Stiefeln. Das selbstgeflochtene Stirnband vermochte die rote Mähne des Jungen kaum zu bändigen. Mit einer Riesenzahnlücke grinste er frech nach oben, stemmte beide Hände in die Seiten und beschwerte sich „Na hör mal, wenn ich die ganze Nacht damit beschäftigt wäre nach meiner Mama zu schreien, könnte ich auch nicht schlafen.“
Wieder Gekicher. Neben Bronco standen Neel und Nea, zwei Zwillingsschwestern, die man nur an dem winzigen Leberfleck hinter Neel’s Ohr voneinander unterscheiden konnte. Niro wusste davon, weil er Neel schon oft auf dem Markt beobachtet hatte, während sie ihre selbst gefertigten Haarspangen anbot. Seine Mutter war jedesmal begeistert, wenn Niro sie voller Tatendrang zum Markt begleitete, die schweren Tontöpfe trug und auch auf dem Markt ausdauernd wartete, bis die Handelszeit vorüber war. Dass er dies alles nur tat, um Neel zu sehen, davon wusste seine Mutter natürlich nichts. Und jetzt stand sie unter seinem Fenster. Mitten in der Nacht. Im Mondlicht schien sie mit ihrem silbernem, hüftlangem Haar und der fast weissen Haut nahezu durchsichtig. Wie eine Fee. Eine Glasfee.
„Niro !“ diesmal war die Stimme hinter ihm und kam von seiner Mutter. Niro schreckte herum und sah sie mit grossen Augen an. Nachdem er einfach nur da stand und nichts sagte, übernahm seine Mutter wieder das Reden.
„Was ist ? Du hast mich gerufen. Hast du irgendwas draussen gehört ?“ wollte sie wissen.
„N..nein“ stotterte Niro „Dort ist nichts.“
Seine Mutter beugte sich an ihm vorbei aus dem Fenster. Niro hoffte inständig, dass Bronco und die Schwestern so schlau waren, sich zu verstecken.
„Ich hatte ein Geräusch gehört und dachte dort draussen würde ein Lichtkitz äsen und man sieht doch so selten eins.“
„Aber du hattest scheinbar kein Glück.“ sagte seine Mutter, während sie noch immer den Kopf aus seinem Fenster reckte. „So, nun aber marsch ins Bett. Du hast morgen deinen grossen Tag und willst doch während der Zeremonie nicht einschlafen, oder ?!“
Niro legte sich brav ins Bett, liess sich von seiner Mutter zudecken und auch den Gute-Nacht-Kuss wehrte er nicht, wie sonst, mit den Worten ,Ich bin doch kein Baby mehr‘, ab.
„Mach die Tür ruhig zu, Mama.“ rief er ihr hinterher.
„Huh, grosser Krieger keine Angst vor Dunkel.“ scherzte seine Mutter noch kurz durch den Türspalt bevor sie ihn vorsichtig schloss. Sofort war Niro wieder am Fenster. „Hey, Bronco ! Wo seid ihr ?“ Keine Spur. Kein Laut. „Bronco !“ Niro sehnte sich eigentlich nicht danach den Dorfrüpel zu sehen, aber immerhin bestand die Hoffnung, dass Neel noch bei ihm war. Neel…meine Neel. Er musste sie unbedingt noch einmal sehen, heute noch. Er warf sich seinen moosgrünen Mantel mit der goldenen Schnalle über, schlüpfte in die braunen Wildlederstiefel und begann vorsichtig aus dem Fenster zu steigen. Zum Glück hatte er darin etwas Übung. Im Frühjahr ist er so schon öfters aus dem Haus geschlichen, um mit Bronco – mit wem sonst – die Revierkämpfe der Schattenfüchse um Mitternacht zu beobachten.
Als er wieder sicheren Boden unter den Füssen hatte, griff plötzlich eine Hand nach seiner Schulter. Niro rutschte das Herz in die Hose.
„W…wer bist du ?“ fragte er zitternd, unfähig sich umzudrehen.
„Der schwarze Mahu.“ hauchte die Stimme bedrohlich. Doch obwohl Bronco sich alle Mühe gab, seine Stimme zu verstellen, erkannte Niro ihn natürlich sofort. Blitzschnell tauchte er unter der Hand weg, wirbelte herum, griff sich Bronco und schleuderte ihn zu Boden.
„Ich werde dich…“
„Psssst ! Oder wollt ihr es verscheuchen ?“ zischte eine Mädchenstimme.
„Neel ! Ich…äh….“ Niro bekam keinen Ton heraus, während Bronco sich neben ihm leise fluchend den Staub aus den Klamotten klopfte.
„Was verscheuchen ?“ fragte Niro. Neel nahm ihn bei der Hand, ging einige Meter auf das Schilf zu und bog es vorsichtig zur Seite.
„Da ! Sieh nur.“ hauchte sie kaum hörbar.
Sie hält meine Hand, dachte Niro nur noch, sie hält meine Hand. Die Zeit blieb für ihn stehen. Möge diese Nacht doch niemals enden.
„Ist es nicht wunderschön ?“ wollte Neel wissen.
„Oh ja, das ist es.“ antwortete Niro seelig lächelnd.
„Hey ! Du siehst ja gar nicht hin !“ verärgert liess Neel seine Hand los und stiess ihm den Finger in die Seite. Aus seiner Träumerei hochgeschreckt, stammelte Niro unbeholfen herum, bis ihm schliesslich der Atem stockte und seine Augen sich weit öffneten.
Über der spiegelglatten, tiefschwarzen Wasseroberfläche des See’s bewegte sich lautlos ein Wesen, dass aus purem Licht zu bestehen schien. Durch die weisse Haut war ein Flimmern und Glitzern wie von fernen Galaxien zu sehen und bei jedem Schwung der vier Läufe, mit denen es sich schwebend vorwärts bewegte, glänzte das Lichterspiel in den schillernsten Farben. Es reckte sein schlankes Haupt in Richtung Mond, um möglichst viel von Luna’s Licht in sich aufzunehmen. Und wie es so grazil posierte, erinnerte es ein wenig an ein junges, zierliches Reh. Ein Kitz. Ein Lichtkitz.
Der Anblick war so überirdisch schön, dass die Kinder alles um sich herum vergassen und nur noch Augen für dieses überwältigende Schauspiel hatten.
Doch plötzlich gab es von der anderen Uferseite einen lauten Knall und ein kurzer Wortwechsel war zu hören.
„Pass doch auf. Die sollen doch erst morgen zünden.“
„Tut mir leid, ich wusste nicht, dass sie schon scharf sind.“
„Fragen, Hempas, fragen ! Du hast deinen Mund nicht nur zum Essen.“
„Ja, wie gesagt, tut mir leid.“
„Hoffentlich hast du niemanden geweckt, soll doch eine Überraschung sein.“
„Ich hör nix. Scheinbar gut gegangen.“
„Na los, lass uns weitermachen.“
Das Lichtkitz war natürlich verschwunden, noch bevor der Knall verhallt war und die drei Freunde kamen wieder zu sich.
„Wo ist Nea ?!“ fragte Bronco in die Runde.
„Nach Hause.“ antwortete ihre Schwester „Sie möchte morgen ausgeruht der Zeremonie zuschauen. Ist ja schließlich ein besonderer Tag. Gerade für dich, oder ?“ wandte sie sich an Niro.
„Ja.“ flüsterte Niro verlegen und beugte sich schnell nach unten, damit niemand bemerken konnte, wie er erötete.
„Was hast du ?“ fragte Neel etwas besorgt.
„Meine Schnürsenkel.“ antwortete Niro schnell.
Natürlich hatte Neel längst bemerkt, dass Niro Stiefel trug, übersah dies aber rücksichtsvoll. Nur Bronco konnte mal wieder seine Klappe nicht halten.
„Schnürsenkel ?! Seit wann haben…“
„Wollten wir nicht zum Zeremonienplatz ?“ fiel ihm Neel schnell ins Wort. „Deswegen sind wir doch überhaupt erst zu Niro gekommen.“
„Möchtest du mit ?“ fragte sie wieder Niro und hielt ihm ihre Hand hin. Egal wohin wir gehen, wenn nur du dabei bist, dachte er. Niro's Herz schlug so heftig, dass er glaubte, die anderen könnten es hören und antwortete deshalb übertrieben laut.„Oh ja, natürlich ! Das würde ich mir gerne ansehen !“
„Alter ! Was brüllst du so ?!“ fuhr Bronco ihn an „Da können wir ja gleich deine Eltern fragen, ob sie uns noch Schnitt- chen schmieren und das Wolfsgespann leihen !“
„Ja,‘ tschuldige, bin halt nervös wegen…“
„Morgen ?! Oder ?“ zwinkerte ihm Neel zu.
„Ja.“ antwortete Niro, obwohl es natürlich Neel war, die seine Gefühle durcheinander wirbelte.
Er griff ihre Hand und sie liefen los. Nachdem sie sich durch einen schmalen Pfad, der durch riesige Dornenbüsche führte, gewunden hatten, standen sie plötzlich auf einer großen Lichtung. Sie waren etwas irritiert, da sie eigentlich gehofft hatten am Marktplatz rauszukommen. Von dort aus wären es nur noch wenige Strassen bis zum Zeremonien- platz gewesen. Aber so standen sie nun auf dieser Lichtung, umringt von riesigen, knorrigen Bäumen, die im Mondlicht lange Schatten warfen.
„Mist !“ schätzte Bronco die Lage ein „Jetzt müssen wir durch den Wald und ich hab meine Ölfunzel nicht dabei“.
„Aber wir könnten doch nochmal zurück und nach einem anderen Weg suchen.“ warf Neel ein.
„Dann ist längst alles vorbei.“ ärgerte sich Bronco. „Oder was meinst du, Niro ?“
Niro stand nur regungslos da und starrte in eine bestimmte Richtung.
„Hey ! Schlafmütze !“ Bronco stiess ihn an. „Pennst du schon im Stehen ?“
Niro reagierte nicht und bewegte nur schwach die Lippen, als wollte er leise etwas sagen.
„Was ist ? Was hast du ?!“ Bronco verstand gar nichts. „Wo glotzt du denn…“ Er stockte, denn nun sah er es auch. Sah er s i e, obwohl das tiefschwarze Fell sie fast unsichtbar machte. Schattenfüchse. Sechs, zumindest konnte man sechs erkennen. Zwischen den älteren Tieren befand sich ein Jungtier, dass aber auch schon eine beachtliche Schulter- höhe von fast einem Meter hatte und sein unnatürlich langes Maul mit hunderten kleinen spitzen Zähnen bleckte. Der lange, dünne Schwanz stand nicht im Verhältnis zum muskulösen fast plumpen Körper der Füchse und lies ihr Aussehen fast an riesige Ratten erinnern. Ratten der Wälder.
„Aber wie kann das sein ?“ flüsterte Bronco verzweifelt.
„Sie kämpfen doch nur um Mitternacht.“
„Sie sind auch nicht hier, um zu kämpfen.“ Neel's Stimme zitterte. Bronco erkannte nun auch, dass die Nachträuber keineswegs mit sich beschäftigt waren, sondern knurrend zu ihnen herüber sahen.
„Sie sind hier, um zu jagen.“
Kaum ausgesprochen, brach auch schon der junge Fuchs aus der Gruppe und preschte mit gewaltigen Sätzen auf sie zu.
„Oh Sch…! Lauft !“ Bronco machte schlagartig auf dem Absatz kehrt und wollte gerade in das Dornendickicht stürzen.
„Nein !“ Neel packte ihn am Arm. „Was denkst du, was jagen bedeutet ?“ herrschte ihn sie an „In dem Dickicht hätten wir keine Chance und solange wir nicht flüchten, sehen sie uns vielleicht nicht als Beute und lassen ab.“
„Vielleicht ??!!!“ Bronco konnte es nicht fassen, aber es war zu spät darüber nachzudenken.
Der Fuchs war auf wenige Meter herangestürmt und auch die älteren Tiere waren losgelaufen. Bronco kniff die Augen zusammen, Niro zitterte am ganzen Leib und konnte sich nicht rühren, nur Neel machte entschlossen einen Schritt nach vorn. Der Fuchs rannte weiter auf sie zu. Der Geifer hing ihm aus den Lefzen und in seinen Augen funkelte die Gier. Die älteren Tiere stimmten ein wütendes Fauchen an und der Jungfuchs…stoppte. Nur knapp einen Meter vor Neel kam das Tier zum Stehen und betrachtete sie arg- wöhnisch, ja fast frustriert. Hatte Neel noch vor einer Sekunde geglaubt, das Fauchen wäre das Letzte, was sie in ihrem Leben hört, begriff sie nun, dass es eine Warnung war. Eine Warnung für den jungen, unerfahrenen Schattenfuchs. Neel's Plan ging auf. Sie waren keine Beute mehr, sondern etwas Unbekanntes, eventuell Gefährliches. Die Alttiere hatten mittlerweile auch ihren Lauf unterbrochen, um die Nasen in den Wind zu halten. Sie hatten wohl die Witterung einer anderen, lohnenderen Beute aufgenommen. Das Alphatier gab ein kurzes Jaulen von sich und blitzartig stürmten alle Füchse, auch das Jungtier, Richtung Wald und waren Sekunden später in der schwarzen Kulisse ver- schwunden.
„Oh Mann !“ Bronco fand als Erster wieder zu sich „Wie konntest du wissen…“
„Ich wusste es nicht.“ Neel war sich durchaus bewusst, dass ihre Aktion ein reines Glücksspiel war.
„Verdammt mutig.“ gestand Bronco „Also für ein Mädchen.“ verbesserte er sich schnell.
„Was ist ?“ auch Niro löste sich aus seiner Starre. „Wollen wir uns nun noch ansehen, was die Instruktoren für den Ritus vorbereiten oder nicht ?!“
„Weiß nicht.“ maulte Bronco „Was wir in dieser Nacht erlebt haben, kann eigentlich nichts mehr toppen, oder ?!“
Neel nickte nachdenklich. „Ich glaube auch, dass uns nach soviel Aufregung das Treiben der Vorbereitungen sicher nicht mehr so spannend vorkommen wird.“
„Lasst uns erst einmal zurück, bevor es sich die Schatten- füchse anders überlegen und für einen Mitternachtssnack zurück kommen.“ schlug Niro vor. Auch Neel und Bronco hielten dies für eine gute Idee. Die drei wanden sich durch den Dornenbuschpfad in die Richtung, aus der sie ver- meindlich gekommen sind, zurück. Und diesmal endete dieser nicht auf einem Acker oder in einer Höhle, sondern glücklicherweise auf der Wiese hinter Niro‘s Haus, auf der das nächtliche Abenteuer begonnen hatte.
Bronco gähnte herzhaft und wuschelte Niro durchs Haar.
„Alter, du kannst Weihepartys feiern !“
„Aber ihr habt mich doch hier rausgelockt !“ Niro war tatsächlich etwas entrüstet.
„Hat es dir denn keinen Spaß gemacht ?“ fragte Neel verwundert.
„Von Dornenbüschen zerkratzt und Bestien fast ver- schlungen zu werden ?“ entgegnete Niro.
„Oh ja !“ lächelte er Neel an. Du warst ja dabei, traute er sich auch diesmal wieder nur zu denken.
„Wir haben uns das Bett redlich verdient, Leute.“ Bronco konnte sich auch ein zweites Gähnen nicht verkneifen.
„Ja, bevor DU uns hier alle verschlingst, sollten wir uns wirklich nach Hause machen.“ feixte Neel.
„Du bist ja schon fast zu Hause.“ wandte sie sich zu Niro „Tschüß.“
„Ja, Tschüß.“ erwiderte Niro. Und leise, fast unhörbar fügte er hinzu „…meine Neel.“
Ein fester Schlag auf die Schulter holte Niro zurück.
„Na dann ! War mir eine Ehre mit ihnen zu reisen, Sir !“ Bronco schaffte es auch immer auf seine eigene, aber herzliche Art jede Situation ihres Zaubers zu berauben.
„Wir sehen uns morgen.“
„Ja, morgen.“ Niro wollte jetzt wirklich nur noch ins Bett. Dass er es noch schaffte die Wand hinauf und unbemerkt durch das Fenster zu kommen, grenzte an ein Wunder. Niro schlief wie ein Stein bis zum nächsten Morgen.


„Hey.“ Niro blinzelte in die Sonnenstrahlen, die sein Zimmer durchfluteten.
“Hey. Guten Morgen, müder Krieger.“
Nachdem der Sandmann wenigstens eines seiner Augen frei gab, konnte Niro den Engel in seinem Zimmer erkennen.
„Mama.“ freute er sich ehrlich. Nach den Abenteuern der letzten Nacht, ist es einfach schön in einem sicherem, behütetem Zuhause aufzuwachen.
„Du kannst es wohl überhaupt nicht erwarten, was ?!“
„Ach naja, geht schon.“ Niro's Aufregung hielt sich tatsächlich in Grenzen.
„Und warum schläfst du dann startbereit in voller Montur ?“ wollte seine Mutter wissen. Erst jetzt fiel Niro auf, dass er sich gestern Nacht nicht einmal die Zeit genommen hatte, die Stiefel und den Mantel auszuziehen.
„Das ist…ich wollte…“ ihm fiel einfach keine passende Ausrede ein.
„Na los“ unterbrach ihn seine Mutter gnädig „Frühstück, Waschen, Zähneputzen, aber dalli. Dein Aufnahmeritual beginnt bald.“ Sie ging zur Tür raus und rief von draussen „Hoffentlich verschlafen Neel und Bronco nicht.“
Sie wusste es, erschrak Niro. Sie wusste es und…es war okay. Ja ! Es war okay ! Es war okay, weil ich jetzt bald nicht mehr der kleine Hosenpuper war, sondern das stolze Mitglied einer großen Gemeinschaft. Mit einmal machte sich doch ein großer Klumpen Aufregung in seinem Magen breit.
Nachdem Niro erfrischt und gestärkt aus der Tür trat, schlug sein Herz nochmals einige Takte schneller. Dort stand ein prächtig geschmücktes Fuhrwerk, in dessen Geschirr acht anmutige, kräftige Blauwölfe gespannt waren. Unter ihrem azurnem Fell konnte man deutlich das erwartungsvolle Spiel ihrer gewaltigen Muskeln erkennen und der Leitwolf sah herüber, als ob er wüsste, dass es nur noch an Niro lag, wann es endlich losgehen konnte. Niro‘s Vater, der auf dem Bock sass, deutete ihm mit einem Pfiff und Kopfnicken an, dass er sich zu ihm setzen sollte. Niro durfte vorne sitzen ! Vorne auf dem Bock des Wolfsgespannes ! Was für ein Tag ! Niro begriff allmählich, dass es bei dem Ritual heute um mehr ging, als nur ein paar kleine Veränderungen in seinem Tagesablauf. Nein, nach dem heutigen Tag würde ein neues Leben beginnen, man würde ihn respektieren, Ernst nehmen und nicht mehr wie ein Kleinkind behandeln.
Mit lässigen Schwung nahm er auf der Leiter zum Bock zwei Sprossen auf einmal und fand neben seinem Vater Platz.
„Hi, Papa.“
„Na ? Kann es losgehen ?‘“ Und wie es losgehen konnte !
„Ja, Sir, zu allem bereit !“ rief Niro strahlend.
Sein Vater schnalzte kurz mit der Zunge, bewegte kaum merklich die Zügel und schon schossen die Wölfe los.
Die bärengrossen Pranken der acht Wölfe trommelten einen treibenden Rhythmus auf den Waldweg, das Fuhrwerk ächzte und die Schmuckfedern peitschten im Wind. Niro schloss die Augen, breitete die Arme aus und jauchzte.
„Yiieeehaaa !“ Wenn doch Neel ihn jetzt sehen könnte.
„Halt Dich lieber fest !“ Bronco, an dessen Haus sie gerade vorbeipreschten, hielt seine Hände wie einen Trichter vor den Mund. „Sonst hebst du mit deinen Segelohren noch ab !“
Niro konnte tun, was er wollte, für Bronco wird er immer sowas wie der kleine Bruder bleiben. Und doch konnte er einen Funken Neid durch Bronco’s Gesicht huschen sehen.
„Sehen wir uns nachher ?!“ konnte ihm Niro noch zurufen.
Was Bronco antwortete, verstand er leider nicht mehr, da das Gespann eine wirklich erstaunliche Geschwindigkeit an den Tag legte. Hinter der nächsten Kurve sah Niro am Waldrand den Zeremonienplatz auftauchen. Viele, nein, scheinbar alle Einwohner des Dorfes hatten sich dort versammelt. Was für ein grosser Tag ! Und Niro war der Mittelpunkt ! Der Hof vor dem Gebäude der Instruktoren war nicht sonderlich gross und bot den Anwesenden kaum Platz, so dass einige von ihnen auf Bäume oder Mauern geklettert waren. Als sich das Gespann dennoch vorsichtig einen Weg durch die Menge bahnte, machten alle wie selbstver- ständlich Platz, streichelten das Fell der Blauwölfe, riefen Niro zu oder applaudierten. Ja, hier kommt Niro der Grosse ! Die Menge teilte sich noch immer und gab endlich den Blick auf den Ritualplatz frei. Dort stand eine riesige Schiefertafel. Und Neel. Mit einem Lächeln wies sie ihn an, abzusteigen. Langsam trat er auf sie zu.
„Sieh nur.“ sagte sie und deute auf die Schiefertafel.„Dies ist für Dich.“
Auf der Tafel befanden sich viele seltsame Zeichen und Symbole, die Niro nicht alle deuten konnte.
„Ich glaube, das kann ich noch nicht.“ beteuerte er. „Hilfst du mir ?“
„Aber natürlich, mein Niro.“ strahlte sie und nahm sanft seine Hand.
„Dort steht : Lieber Niro ! Willkommen zu Deinem ersten Schultag !“ las sie ohne Probleme vor, denn immerhin ging Neel ja schon in die vierte Klasse.

ENDE

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Tag der Veröffentlichung: 19.01.2012

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